Editorial: Ein gewaltiger Schritt in die Barbarei

Printer-friendly version

Der Krieg in der Ukraine hört nicht auf, seine Flut von Mord, Zerstörung, Vergewaltigungen auszudehnen und das Leid der Flüchtlinge, die versuchen dem wütenden Feuer der Kriegsparteien zu entfliehen, noch zu verschlimmern. Die täglichen Bilder der hemmungslosen Barbarei vor den Toren Westeuropas, dem historischen Zentrum des Kapitalismus, sind unerträglich, apokalyptisch und massiv. Die Konsequenzen, die von dort weltweit ausstrahlen, sind kolossal, allein schon wegen der nuklearen Risiken, die der Konflikt für die Menschheit birgt. Es ist klar, dass dieser Krieg eine Folge der Zuspitzung der imperialistischen Spannungen weltweit, eine enorme Verschärfung des weltweiten Chaos darstellt, das alle imperialistischen Großmächte einbezieht und direkt betrifft.

Der Krieg in der Ukraine ist heute der zentralste und repräsentativste Ausdruck der allgemeinen Zerfallsdynamik in die der Kapitalismus die Welt hineinzieht, insbesondere weil er ein von der Bourgeoisie bewusst entfesseltes Ereignis ist, das die gesamte Gesellschaft dauerhaft und schwer beeinträchtigen wird. Aber er ist auch Teil eines Prozesses, in dem viele Katastrophen und Widersprüche zusammenlaufen, die die herrschende Klasse immer weniger kontrollieren kann:

- die Covid-19-Pandemie ist noch lange nicht eingedämmt, wie die massiven und extrem brutalen Lockdowns in Peking und Shanghai und die Explosion neuer "Corona-Wellen" aufgrund neuer Varianten in Europa zeigen;

- die Wirtschaftskrise vereint nun Inflation, Desorganisation der Produktionsketten und das unaufhaltsame Abgleiten der Weltwirtschaft in eine Rezession, die vorübergehend durch die Rekordsubventionen der Federal Reserve und der EZB eingedämmt worden war;

- die Zahl der Flüchtlinge, die vor Barbarei und Elend in Afrika, Syrien, Libyen, Lateinamerika, Asien und nun auch in Europa fliehen, ist dramatisch angestiegen;
- die Unfähigkeit der Bourgeoisie, das Ziel zu erreichen, den Anstieg der globalen Temperatur des Planeten auf 1,5° C zu begrenzen, ist so offensichtlich, dass selbst die optimistischsten Propagandisten nicht mehr daran glauben.

Und wir könnten noch viele weitere Stigmata hinzufügen, wie die Explosion der Gewalt in den Städten, das individuelle Durchwursteln angesichts des Elends, die Zunahme von wahnhaften "Verschwörungstheorien", Korruption etc.

Der Krieg in der Ukraine markiert jedoch einen neuen, gewaltigen Absturz in die Barbarei. 1991, kurz nach dem Zusammenbruch der UdSSR, versprach Bush Senior in seiner „Rede an die Nation“ über den Golfkrieg eine "neue Weltordnung". Die Bourgeoisie versuchte, die Ausgebeuteten davon zu überzeugen, dass der Kapitalismus endgültig triumphiert hat und eine strahlende Zukunft eröffnet. 30 Jahre später sind diese Versprechungen verflogen und bestätigen jeden Tag aufs Neue die Herausforderungen, die der Erste Kongress der Kommunistischen Internationale 1919 klar erkannt hatte: "Die neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung, die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats [...]. Der Menschheit, deren ganze Kultur jetzt in Trümmern liegt, droht die Gefahr vollständiger Vernichtung. Es gibt nur eine Kraft, die sie retten kann, und diese Kraft ist das Proletariat. Die alte kapitalistische "Ordnung" existiert nicht mehr, sie kann nicht mehr bestehen. Das Endresultat der kapitalistischen Produktionsweise ist das Chaos".

Der Krieg in die Ukraine – ein gewaltiger Schritt in die Barbarei und ins allgemeine Chaos

Für diejenigen, die eine Blitzkrieg-Invasion erwartet hatten, allen voran die russische Bourgeoisie selbst (oder zumindest die Putin-Clique), wie es bei der Krim-Offensive 2014 der Fall war, haben diese vier Monate Krieg im Gegenteil gezeigt, dass der Konflikt von langer Dauer sein wird. Das anfängliche Scheitern der russischen Invasion führte zu einer systematischen Zerstörung von Städten wie Mariupol, Sewerodonezk oder nun Lyssytschansk, was an die Vernichtung von Städten wie Grosny (Tschetschenien), Falludscha (Irak) oder Aleppo (Syrien) erinnerte. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Städte immer massiver und systematischer zerstört, obwohl der Ausgang des Konflikts bereits feststand: Hiroshima und Nagasaki in Japan, Arbeiterstädte in Deutschland. Im aktuellen Konflikt dauerte es nur wenige Wochen, bis Bilder von gewaltigen Zerstörungen und dem Erdboden gleichgemachten Städten zu sehen waren.

Im Gegensatz zu denjenigen die behaupten, der Krieg würde einen neuen Zyklus kapitalistischer Akkumulation eröffnen und damit die Möglichkeit des Kapitalismus, eine "Lösung" für die Krise zu finden, zeigt die Realität, dass der Krieg nichts anderes ist als die Zerstörung von Produktivkräften. Wie die Kommunistische Linke Frankreichs bereits 1945 feststellte: "Der Krieg war das unentbehrliche Mittel des Kapitalismus, das ihm Möglichkeiten der weiteren Entwicklung eröffnete, und zwar zu der Zeit, als diese Möglichkeiten bestanden (die Periode des Aufstiegs des Kapitalismus) und nur mit dem Mittel der Gewalt eröffnet werden konnten. Ebenso findet der Zusammenbruch der kapitalistischen Welt, die historisch alle Entwicklungsmöglichkeiten ausgeschöpft hat, im modernen Krieg, dem imperialistischen Krieg, den Ausdruck dieses Zusammenbruchs, der, ohne irgendwelche Möglichkeiten für die weitere Entwicklung der Produktion zu eröffnen, nur die Produktivkräfte in den Abgrund stürzt und in beschleunigtem Tempo Ruine um Ruine anhäuft". All das trifft zuerst, und vor allem, die arbeitende Bevölkerung. Erste Schätzungen der Opferzahlen gehen von bisher über 50.000 Toten in der Ukraine und etwa 6 Millionen Flüchtlingen aus. Zelensky spricht von 100 getöteten ukrainischen Soldaten pro Tag und 500 Verwundeten (die meisten von ihnen schwerst beeinträchtigt fürs ganze Leben). Auf russischer Seite sind die Verluste höher als während der gesamten Invasionskampagne in Afghanistan 1979-1989. Fabriken, Straßen und Krankenhäuser werden in Schutt und Asche gelegt. Laut der Wirtschaftsfakultät in Kiew wird jede Woche zivile Infrastruktur im Wert von 4,5 Milliarden US-Dollar zerstört.

Die Bombardierungen und die militärische Besetzung in der unmittelbaren Nähe von Tschernobyl ließen eine radioaktive Verseuchung befürchten, doch das Ausmaß des Krieges und seine Auswirkungen auf die Umwelt gehen weit darüber hinaus: "Chemische Fabriken wurden in einem besonders anfälligen Land bombardiert. Die Ukraine nimmt 6 % des europäischen Territoriums ein, enthält aber 35 % seiner biologischen Artenvielfalt mit etwa 150 geschützten Arten und zahlreichen Feuchtgebieten". Allgemein: "Nach dem Waffenstillstand von 1918 setzen Dutzende Tonnen von Granaten, die von den Kriegsparteien zurückgelassen wurden, weiterhin ihre chemischen Verbindungen im Untergrund der Departements Somme und Meuse frei. Millionen von Minen, die in Afghanistan oder Nigeria verstreut sind, verseuchen ständig landwirtschaftliche Flächen und verurteilen die Bevölkerung zu Angst und Elend, ganz zu schweigen von dem Atomwaffenarsenal, das eine in der Geschichte der Menschheit beispiellose ökologische Bedrohung darstellt"... "Der industrielle Krieg ist die Matrix aller Umweltverschmutzungen". (Le cout écologique exorbitante des guerres, un impensé politique, Le Monde).

Die Auswirkungen des Krieges auf die Wirtschaftskrise

Während bei der vorherigen Krise 2008 viele Arbeiter ihren Arbeitsplatz oder sogar ihr Haus verloren, weil sie ihre Hypothek nicht bezahlen konnten, so wird in diesem Krieg direkt die Aussicht auf eine Hungersnot in mehreren Teilen der Welt eröffnet, und zwar nicht nur wegen der Unterbrechung des Handels mit Getreide und Saatgut in die Länder der Peripherie. Die Bedrohung durch Hunger betrifft auch direkt die wirtschaftlich schwächsten Bevölkerungsgruppen in den USA und anderen Kernländern. Die Bourgeoisie kann den Produktionsrückgang, der sich seit der Pandemie stark verschlechtert hat, nicht weiter durch Schulden kompensieren, insbesondere angesichts einer anhaltend hohen Inflation und des durch den Krieg in der Ukraine ausgelösten Drucks des Militarismus. Biden, der 30 Milliarden zur Unterstützung der Wirtschaft versprochen hatte, erklärt nun, wie alle Regierungen in Europa, dass "die guten Zeiten vorbei sind".

Dennoch haben sie keine Skrupel, die Militärausgaben exorbitant zu erhöhen (was auch die Inflation hochhalten wird). Macron hat erklärt, dass Frankreich in eine "Kriegswirtschaft" eingetreten ist. In Deutschland hat die sozialdemokratische Regierung von Scholz, an der auch die Grünen beteiligt sind, einen Nachtragshaushalt von 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung bewilligt, was ein historisches Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg darstellt. Japan plant seinen Verteidigungshaushalt auf 2 % seines BIP zu erhöhen und wäre damit die drittgrößte Militärmacht der Welt. China, das seine Ausgaben seit 2020 um 4,7 % erhöht hat (293 Milliarden US-Dollar in diesem Jahr), und die USA (801 Milliarden US-Dollar) belegen den zweiten bzw. ersten Platz.

Eine weitere Dimension der Auswirkungen des Krieges auf die Wirtschaftskrise ist die Beschleunigung des Deglobalisierungsprozesses (auch wenn der Krieg selbst nicht die Ursache dafür ist), in erster Linie durch die schwere Beschädigung des militärisch-geostrategischen und handelspolitischen Projekts Chinas und seiner "neuen Seidenstraße". Die Pandemie hatte die Desorganisation der globalen Produktion und den Trend zur "Produktionsrückverlagerung" bereits stark beschleunigt, doch der Krieg versetzt ihr einen weiteren großen Schlag: Handelsrouten über das Schwarze Meer werden stark beeinträchtigt und viele Unternehmen müssen Russland verlassen. Die nationalen Bourgeoisien der am stärksten deindustrialisierten Länder stellen den Trend zur Standortverlagerung bereits als "Chance" für die Beschäftigung und die nationale Wirtschaft dar, auch wenn die WTO hat bereits vor den Gefahren eines solchen Prozesses gewarnt hat: Der Wettlauf um die Anhäufung von Rohstoffen in jeder Nation, weit davon entfernt die Unsicherheit der Wirtschaft zu verringern, könne im Gegenteil die Lieferketten noch mehr stören und die weltweite Produktion aufgrund des Jeder-für-sich selbst deutlich verlangsamen. Man braucht sich nur an die Piraterie zu erinnern, die die Staaten während des "Maskenkriegs" betrieben haben. All dies trägt zur Logistikkrise und den damit verbundenen fehlenden Gütern bei und erzeugt das scheinbare Paradoxon, dass eine Krise, die ihren Ursprung in einer allgemeinen Überproduktion hat, zu einem Mangel an Waren führt. Die Folgen der Vertiefung der Krise für die Arbeiterklasse sind schon jetzt brutalste Prekarität und Entlassungen aufgrund von Firmenpleiten.

Es ist schwer zu sagen, wie der Stand der Pandemie in Russland und der Ukraine ist. Wie 1918 bei der sogenannten "Spanischen Grippe" hatte der Krieg die verheerenden Auswirkungen der Infektion erheblich verschlimmert. Es ist jedoch nicht abwegig anzunehmen, dass jetzt die Bourgeoisie zwar schon vor dem Ukraine-Krieg nicht in der Lage war, die Pandemie einzudämmen, wie das Fiasko des Sputnik-Impfstoffs zeigt, die Situation aber nun mit den durch den Krieg erzwungenen schlechten hygienischen Bedingungen und der Zerstörung der Gesundheitsinfrastruktur völlig außer Kontrolle geraten ist. Aber die Pandemie ist, obwohl sie letztlich das Produkt der Zersetzung des Systems und seines Versinkens im Zerfall ist (was neue Pandemien in der Zukunft ankündigt), ein Phänomen im Leben des Kapitalismus, das die herrschende Klasse nicht bewusst entschieden hat und das sich ihrem Willen aufdrängt. Im Gegenteil dazu: Der Krieg ist eine bewusste und willentliche Entscheidung der Bourgeoisie, ihre einzige „Antwort“ auf den Zusammenbruch des Kapitalismus!

Der Krieg in der Ukraine ist ein imperialistischer Krieg

Wie Rosa Luxemburg bereits während des Ersten Weltkriegs analysiert hatte, sind in der Dekadenz des Kapitalismus alle Länder imperialistisch. Der Imperialismus ist die Form, die der Kapitalismus in einem bestimmten Moment seiner Entwicklung, nämlich seiner niedergehenden Phase, der Dekadenz, annimmt. Jedes nationale Kapital verteidigt mit Zähnen und Klauen seine Interessen auf der Weltbühne, auch wenn nicht alle über gleichwertige Mittel verfügen.

Die bürgerliche Propaganda prangert in der Ukraine und im Westen die Offensive und die Kriegsverbrechen von Diktator Putin und auf russischer Seite die "Nazi-Bedrohung" für die Ukraine an, so wie im Ersten Weltkrieg die alliierte Seite zur Rekrutierung gegen den Militarismus des Kaisers aufrief und die Achsenmächte gegen den Expansionismus des Zaren. Während des Zweiten Weltkriegs präsentierte jede Seite auch ihre "legitimen" Rechtfertigungen: Antifaschismus gegen Hitler oder die Verteidigung Deutschlands gegen die Überwältigung durch die Kriegs-Reparationen.

Die westliche Bourgeoisie hebt auch hervor, dass die Ukraine ein kleines Land ist, das dem russischen Bären zum Opfer fällt. Aber hinter der Ukraine stehen die NATO und die USA, und Russland sucht andererseits die Unterstützung Chinas. Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland ist insofern Teil eines größeren Konflikts, in dem sich die führende Macht der USA und ihr erklärter Herausforderer China gegenüberstehen. Der Ursprung des aktuellen Krieges liegt in dem Bestreben der USA, ihre globale Hegemonie, die seit dem Zusammenbruch des stalinistischen Blocks und zuletzt nach dem Fiasko von Bush Junior im Irak 2003 und dem Rückzug aus Afghanistan bis 2021 im Schwinden begriffen ist, wieder zu stärken. Ähnlich wie Bush Senior 1991 Saddam Hussein in die Irre führte, berichtete die US-Regierung von der Mobilisierung russischer Truppen an der ukrainischen Grenze und machte klar, dass die USA im Falle einer drohenden Invasion nicht eingreifen würden, wie 2014 auf der Krim. Die russische Regierung konnte ihrerseits nicht tolerieren, dass die Ukraine der NATO beitrat, nachdem sie einen großen Teil ihres historischen Einflussbereichs (u.a. Polen, Ungarn und die baltischen Staaten) integriert hatte. Sie hatte also keine andere Wahl, als mit der ursprünglichen Idee einer „schnellen Aktion“, um ein Veto gegen die Ambitionen der Ukraine zu erzwingen, in den amerikanischen sauren Apfel zu beißen. Die Unterstützung der USA für Zelenski, und ihr Druck auf die NATO-Mitglieder sich in die gleiche Richtung zu bewegen, haben Russland jedoch in einen auf beiden Seiten mit brutalsten Mitteln geführten Zermürbungskonflikt verwickelt, der länger anhalten wird als erwartet.

Die US-Regierung versucht auf diese Weise, die Schwäche des russischen Imperialismus, der einer Weltmacht im 21. Jahrhundert nicht gewachsen ist, bloßzustellen und ihn so weit wie möglich zu zermürben. Darüber hinaus ist es den USA gelungen, den europäischen Mächten ihre Disziplin aufzuzwingen, insbesondere angesichts der Unabhängigkeitsbestrebungen des französischen Imperialismus (Macron hatte erklärt, dass "die NATO hirntot ist") und Deutschlands, die infolge der Sanktionen nicht nur den Rückgang der russischen Gaslieferungen und die Schließung des russischen Marktes für ihre eigenen Waren hinnehmen mussten, sondern auch die Haushaltskosten der unter amerikanischem Druck beschlossenen Aufrüstung. Vor allem aber besteht das strategische Ziel der USA hinter dem Ukraine-Konflikt darin, ihren größten Herausforderer, den chinesischen Imperialismus, zu schwächen.

Den USA ist es gelungen, jegliche Unterstützung Chinas für Russland zu erschweren, wodurch die größte asiatische Macht als unzuverlässiger Partner erscheint. Neben der Blockade einer auch für das Projekt der „neuen Seidenstraße“ sehr wichtigen Region, demonstrierte Amerika seine Stärke und seine "internationale diplomatische Strategie", die eine sehr explizite Warnung an Peking darstellt.

Alles in allem haben die USA wieder einmal nicht gezögert, ein Chaos zu entfesseln, das neue, noch schlimmere Stürme ankündigt, um ihre imperialistischen Interessen und ihre globale Führungsrolle zu verteidigen. Die Schwächung des russischen Imperialismus könnte langfristig dazu führen, dass Russland in verschiedene kleine, mit Atomwaffen ausgestattete Imperialismen zerfällt. Ebenso führt die Bevormundung der europäischen Mächte faktisch zu ihrer Wiederbewaffnung, insbesondere Deutschlands, was seit seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg nicht mehr vorgekommen ist. Xi Jinping sieht seine neue Seidenstraße von einer Blockade bedroht und den "strategischen Verbündeten" Russland in größten Schwierigkeiten. Das wahre Opfer dieses Krieges ist jedoch nicht die Ukraine, Russland, China oder Europa, sondern die Arbeiterklasse, von der im Westen, aber auch überall auf der Welt, im Namen der Kriegsanstrengungen immense Opfer verlangt werden, und die an der Front das höchste Opfer ihres eigenen Lebens bringen soll!

Das Proletariat und der Krieg in der Ukraine

Die Arbeiterklasse in der Ukraine war bereits seit der "Orangen Revolution" 2004 darauf eingestimmt worden, in den Konflikten zwischen verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie Partei für die eine oder andere Seite Position zu ergreifen, und wurde seit 2014 weitgehend an der Front gegen Russland mobilisiert. Heute werden die Arbeiter als Kanonenfutter auf das Schlachtfeld geschickt, während ihre Familien verzweifelt vor dem Krieg fliehen, wenn sie nicht in den Städten, Krankenhäusern oder Bahnhöfen massakriert werden. Die ukrainische Arbeiterklasse ist heute völlig besiegt und nicht in der Lage, eine Klassenantwort auf die Situation zu geben, geschweige denn eine revolutionäre Perspektive zu erheben wie in Russland oder Deutschland während des Ersten Weltkriegs.

In Russland ist es Putin, entgegen den Spekulationen der internationalen Presse, nicht gelungen, die allgemeine Mobilisierung der Bevölkerung für den Krieg durchzusetzen. Das Proletariat hatte sich schon in den nationalistischen Konflikten nach dem Zerfall der ehemaligen UdSSR nicht direkt zur Verteidigung Russlands heranziehen lassen. Aber die Tatsache, dass das Proletariat beim Zusammenbruch des Stalinismus 1990 keine bewusste Rolle spielen konnte und sich von den demokratischen Kampagnen über den „Tod des Kommunismus" mitreißen ließ, lastet auf der Arbeiterklasse in allen östlichen Ländern - wie die demokratischen Illusionen die schon während der Bewegung in Polen 1980 sehr deutlich gezeigt hatten. In Russland ist das Gewicht des Demokratismus aufgrund der Propaganda der bürgerlichen Fraktionen, die gegen Putins Autoritarismus sind jetzt sogar noch größer. Während einzelne, winzige Minderheiten wie die Gruppe KRAS mutigst eine internationalistische Position gegen beide kriegsführenden Lager vertreten, ist die Arbeiterklasse in Russland nicht in der Lage, in der unmittelbaren Situation die Initiative für einen Kampf gegen den Krieg zu ergreifen. Die konkrete Situation der Kämpfe, Diskussionen und Bewusstwerdung der Arbeiter in Russland bleibt aber nach wie vor weitgehend ein Rätsel.

All dies bedeutet jedoch nicht, dass das Weltproletariat besiegt ist. Seine Hauptteile in Westeuropa, wo die historischen und jüngsten Erfahrungen aus den wichtigsten Kämpfen gegen den Kapitalismus gesammelt werden, wo seine Minderheiten ihr revolutionäres politisches Programm verteidigen und entwickeln, wurden bislang nicht direkt in den Krieg hineingezogen. Auch hier hat die antikommunistische Kampagne zu einem Rückgang der Kampfkraft und des Bewusstseins des Proletariats geführt, zu einem Verlust der Klassenidentität; obwohl wir seit 2003 Ausdrucksformen verschiedener Versuche gesehen haben eine Kampfkraft zu entwickeln, oder die Entstehung von Minderheiten, auch wenn diese nur klein sind.

Im Übrigen führt die Bourgeoisie in den Kernländern eine regelrechte demokratisch-ideologische Kampagne zur Unterstützung der ukrainischen Armee gegen Putin, insbesondere unter dem Motto: "Waffen für die Ukraine". Die kombinierten Auswirkungen der Schwäche der Arbeiterklasse seit 1990 und dieser aktuellen Kriegskampagne führen zu einer Demobilisierung und einem Gefühl der Ohnmacht angesichts des Ernstes der Lage. Daher ist auch in diesen Ländern nicht mit einer sofortigen Reaktion der Arbeiterklasse auf den Krieg zu rechnen.

Während des Ersten Weltkriegs war die Antwort der Arbeiterklasse, die den Krieg beendete, eine Folge der Kämpfe in den Fabriken im Hinterland gegen das Elend und die Opfer, die der Krieg auferlegte. Auch in der aktuellen Situation fordert die Bourgeoisie im Namen des Krieges Opfer, angefangen bei Energieeinsparungen bis hin zu Lohnkürzungen und Entlassungen. Die Arbeiterklasse, vor allem in den Kernländern, wird gezwungen sein, für die Verteidigung ihrer Lebensbedingungen zu kämpfen. In diesem Kampf werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das Proletariat seine Identität und seine revolutionäre Perspektive wiederfindet. In der gegenwärtigen Situation wird dieser Kampf zum Verständnis der Beziehung zwischen den Opfern im Hinterland und dem höchsten Opfer des Lebens an der Front führen müssen.

Die Intervention revolutionärer Gruppen (und der sie umgebenden Minderheiten) in die Klasse ist unerlässlich. Im Ersten Weltkrieg war die internationalistische Zimmerwalder Konferenz 1915, die zensiert wurde und anfangs der gesamten Klasse kaum bekannt war, ein Leuchtfeuer für das Weltproletariat inmitten der Dunkelheit der Schlachtfelder. Die revolutionären Gruppen sind heute in der Klasse weit weniger anerkannt als damals, und die Situation ist eine andere: kein allgemeiner Krieg und keine generelle Niederlage des Proletariats. Dennoch sind die Methode der Zimmerwalder Konferenz und die Verteidigung der historischen Tradition und Prinzipien des Proletariats (welche die Sozialdemokratie damals verraten hatte), durch die linkskommunistischen Fraktionen immer noch hochaktuell. Das Terrain der Verteidigung des proletarischen Internationalismus und des Erbes der Kommunistischen Linken ist in der Tat das, was die Gemeinsame Erklärung von Gruppen der internationalen Kommunistischen Linken zum Krieg in der Ukraine fordert, die wir auf unserer Website und in dieser Internationalen Revue veröffentlichen.

10.07.2022

Rubric: 

Internationale Revue 58