Bericht über die imperialistischen Spannungen (Mai 2022): Bedeutung und Auswirkungen des Krieges in der Ukraine

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Anfang 2020 war die globale Covid-19-Krise das Produkt, aber vor allem ein mächtiger Beschleuniger des Zerfalls des kapitalistischen Systems auf verschiedenen Ebenen: erhebliche wirtschaftliche Destabilisierung, Verlust der Glaubwürdigkeit der Staatsapparate, Verschärfung der imperialistischen Spannungen.

Heute drückt der Krieg in der Ukraine eine weitere Stufe dieser Zuspitzung durch ein Hauptmerkmal des Abstiegs des Kapitalismus in seine Niedergangsperiode und insbesondere in die Zerfallsphase aus: die Verschärfung des Militarismus.

Die Brutalität dieser Beschleunigung war in den vorherigen Berichten nicht vorhergesehen worden (siehe Bericht und Resolution zur internationalen Lage des 24. Kongresses der IKS), und obwohl der Bericht über imperialistische Spannungen vom November 2021 in seinem letzten Punkt die Ausweitung des Militarismus und der Kriegswirtschaft (§ 4.3) und die Ausbreitung von Chaos, Instabilität und kriegerischer Barbarei (§ 4.1) behandelte, war deren brutale Beschleunigung in Europa durch die massive russische Invasion in der Ukraine für die IKS trotz allem überraschend.

Der Krieg in der Ukraine markiert eine brutale Beschleunigung des Militarismus

Aus allgemeiner Sicht ist daran zu erinnern, dass die Entwicklung des Militarismus nicht nur typisch für die gegenwärtige Zerfallsphase, sondern untrennbar mit dem Verfall des Kapitalismus verbunden ist: "In der Tat bilden der Militarismus und der imperialistische Krieg die zentralen Manifestationen des Eintritts des Kapitalismus in den Zeitraum seiner Dekadenz (...), was so weit ging, daß für die damaligen Revolutionäre der Imperialismus und der dekadente Kapitalismus zu Synonymen wurden. Der Imperialismus war keine besondere Erscheinungsform des Kapitalismus, sondern seine Überlebensform in der neuen historischen Periode. Nicht der eine oder andere Staat war imperialistisch geworden, sondern alle Staaten, wie Rosa Luxemburg enthüllte. Wenn der Imperialismus, der Militarismus und der Krieg an diesem Punkt mit der Epoche der Dekadenz identifiziert werden konnten, dann deshalb, weil die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu einer Fessel für die Entwicklung der Produktivkräfte geworden sind“ (Orientierungstext: Militarismus und Zerfall, in Internationale Revue Nr. 13, 1991).

In den 75 Jahren zwischen August 1914 und November 1989 stürzte der Kapitalismus die Menschheit in mehr als zehn Jahre Weltkriege und anschließend in fast 45 Jahre "Kalten Krieg" und bewaffnete "Koexistenz" zwischen dem amerikanischen und dem sowjetischen Block, die sich in mörderischen Konfrontationen auf den Kriegsschauplätzen beider Bündnisse (Vietnam, Naher Osten, Angola, Afghanistan) und in einem wahnwitzigen "Wettrüsten" konkretisierte, das sich schließlich als tödlich für den Ostblock herausstellte.

In einer Situation, in der sowohl die Bourgeoisie als auch das Proletariat nicht in der Lage waren, eine Lösung für die historische Krise des Kapitalismus durchzusetzen, leitete der Zusammenbruch des Sowjetblocks die Phase des Zerfalls ein, die sich durch eine Explosion des Jeder-für-sich und des Chaos auszeichnet, die das Produkt des Auseinanderbrechens der Blöcke und des Wegfalls der von ihnen auferlegten Disziplin sind. Der Militarismus manifestierte sich in einer Vielzahl barbarischer Konflikte, oft in Form von Bürgerkriegen, der Explosion imperialistischer Ambitionen und dem Zerfall staatlicher Strukturen: Somalia, Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Syrien, Donbass und Krim, Islamischer Staat, Libyen, Sudan (Nord- und Südsudan), Jemen, Mali. Diese Konflikte tendierten auch dazu, sich Europa zu nähern (Jugoslawien, Krim, Donbass) und es durch Flüchtlingsströme stark zu betreffen.

Der aktuelle Krieg in der Ukraine ist jedoch nicht nur die Fortsetzung der oben beschriebenen Entwicklung des Militarismus in der Zerfallsphase, sondern stellt zweifellos eine äußerst wichtige qualitative Vertiefung des Militarismus und seiner barbarischen Konkretisierungen dar, und zwar aus mehreren Gründen:

- Er ist die erste militärische Konfrontation dieser Größenordnung zwischen Staaten, die seit 1945 vor den Toren Europas stattfindet, und diese Konfrontation führt zu wirtschaftlichem Chaos und einem Strom von Millionen von Flüchtlingen in die anderen europäischen Länder, so dass das Zentrum Europas heute zum zentralen Schauplatz der imperialistischen Konfrontationen wird;

- dieser Krieg bezieht direkt die beiden größten Länder Europas ein, von denen das eine über Atomwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen verfügt und das andere von der NATO finanziell und militärisch unterstützt wird. Dieser Gegensatz zwischen Russland und der NATO weckt Erinnerungen an die Blockkonfrontation der 1950er bis 1980er Jahre und den damit verbundenen nuklearen Terror, aber er findet in einem noch weniger vorhersehbaren Kontext statt, gerade weil es keine konstituierten Blöcke und die damit verbundene Blockdisziplin gibt (wir werden später darauf zurückkommen);

- das Ausmaß der Kämpfe, Zehntausende von Toten, die systematische Zerstörung ganzer Städte, die Hinrichtung von Zivilisten, die verantwortungslose Beschießung von Atomkraftwerken, die enormen wirtschaftlichen Folgen für den gesamten Planeten unterstreichen sowohl die Barbarei als auch die wachsende Irrationalität von Konflikten, die in einer Katastrophe für die Menschheit münden können.

Die Grundlagen des Ukraine-Konflikts

Die Entwicklung des Krieges in der Ukraine kann nur verstanden werden, wenn man sie als direktes Produkt zweier vorherrschender Tendenzen begreift, die die imperialistischen Beziehungen in der gegenwärtigen Zerfallsperiode prägen und die die IKS in ihren früheren Berichten herausgestellt hat: Einerseits der Kampf der Vereinigten Staaten gegen den unaufhaltsamen Niedergang ihrer globalen Hegemonie, der dazu führt, dass die Entwicklung des Chaos in der Welt gefördert wird, und andererseits die Verschärfung der imperialistischen Ambitionen in alle Richtungen, die insbesondere die Aggressivität Russlands wiederbelebt hat, das rachsüchtig danach strebt, wieder einen wichtigen Platz auf der imperialistischen Bühne einzunehmen.

1. Der Kampf der USA gegen den Niedergang ihrer Hegemonie

Seit Obamas Präsidentschaft hat sich die US-Bourgeoisie in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht zunehmend auf ihren Hauptherausforderer China konzentriert. In diesem Punkt gibt es eine absolute Kontinuität zwischen der Politik der Trump- und der Biden-Regierung. Wie in diesem Zusammenhang Russland "neutralisiert" werden soll, darüber gab es jedoch Differenzen: Trump zielte eher darauf ab, Russland gegen China einzuspannen, aber diese Option stieß auf den Widerstand und die Opposition großer Teile der amerikanischen Bourgeoisie sowie der staatlichen Strukturen (Geheimdienste, Armee, Diplomatie ...) angesichts der undurchsichtigen Verbindungen Trumps zur russischen Führungsfraktion, aber vor allem wegen des Misstrauens gegenüber einer Allianz mit einem Land, das 50 Jahre lang der Todfeind gewesen war. Die Strategie des herrschenden Teils der amerikanischen Bourgeoisie, der heute von der Biden-Regierung vertreten wird, zielt vielmehr darauf ab, Russland entscheidende Schläge zu versetzen, sodass es keine potenzielle Bedrohung für die USA mehr darstellt: "Wir wollen, dass Russland so geschwächt wird, dass es Dinge wie die Invasion der Ukraine nicht mehr tun kann", sagte der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin bei seinem Besuch in Kiew am 25.04.2022.[1]

Diese Politik der Schwächung Russlands ermöglicht es den USA auch, China indirekt zu warnen („das erwartet euch, wenn ihr beschließt, in Taiwan einzumarschieren“) und ihm einen strategischen Rückschlag zuzufügen, da der Konflikt Putins militärische Fähigkeiten drastisch reduziert und sein "Bündnis" daher zu einer Belastung für Xi Jinping wird.

Die Ukraine-Krise bot der Biden-Administration eine erstklassige Gelegenheit, eine solche Strategie der radikalen Schwächung Russlands und der Einkesselung Chinas auf machiavellistische Weise umzusetzen.

2. Überall grenzenlose imperialistische Forderungen und russische Ambitionen

Die herrschende Fraktion der russischen Bourgeoisie ihrerseits machte den entscheidenden Fehler, das taktische Debakel der USA in Kabul mit einer strategischen Niederlage zu verwechseln, obwohl es sich im Grunde nur um eine Neupositionierung der US-Streitkräfte gegenüber ihrem zentralen Gegner China handelte. Mit der Absicht nach dem Zusammenbruch der UdSSR die Rückkehr des russischen Imperialismus auf die Weltbühne zu unterstreichen, hielt sie den Zeitpunkt für günstig, um mit der Rückeroberung der Ukraine (oder zumindest großer Teile ihrer strategischen Regionen) einen großen Schlag zu landen. Während diese für die Putin-Fraktion Teil des "historischen Russlands" ist, entglitt sie nicht nur zunehmend ihrem Einflussbereich, sondern lief auch Gefahr, weniger als 500 km von Moskau entfernt zur Speerspitze der NATO zu werden.

Damit tappte Putin in die von den USA gestellte Falle. Die USA stellten eine machiavellistische Falle, ähnlich der, die sie im ersten Golfkrieg gegen Saddam wegen dessen Invasion Kuwaits aufgestellt hatten: Sie schrien von den Dächern, dass russische Truppen davor stünden, massiv in die Ukraine einzumarschieren, und machten gleichzeitig klar, dass sie selbst nicht eingreifen würden, da "die Ukraine nicht zur NATO gehöre". Folglich konnte Putin kaum anders handeln, ohne dass es als Rückzug gegenüber Bidens harter Linie interpretiert worden wäre, zumal es zunächst so aussah, als würde sich der amerikanische Gegenschlag im Großen und Ganzen auf die Art von Vergeltungsmaßnahmen beschränken, die bei der Besetzung der Krim im Jahr 2014 angewendet wurden.

Die russische Invasion kommt den USA kurzfristig zugute

Indem es den USA gelang, Russland in einen groß angelegten Krieg in der Ukraine hineinzuziehen, verhalf ihnen das machiavellistische Manöver kurzfristig zweifellos zu wichtigen Punkten an drei entscheidenden Fronten:

1. Restauration der NATO

Der Krieg ermöglichte es den USA, die europäischen Länder, die eine gewisse Unabhängigkeit an den Tag legten, dazu zu zwingen sich wieder einzufügen (während dies zum Zeitpunkt der Invasion des Irak 2003 überhaupt nicht gelungen war). Tatsächlich wurde die amerikanische Kontrolle über die NATO in ihrer ganzen Bandbreite wiederhergestellt, obwohl Trump sogar mit dem Gedanken spielte, sich aus der NATO zurückzuziehen (gegen den Willen des Militärs). Die protestierenden europäischen "Verbündeten" wurden zur Ordnung gerufen: So brachen Deutschland oder Frankreich ihre Handelsbeziehungen zu Russland ab und leiteten in Windeseile die militärischen Investitionen ein, die die USA seit 20 Jahren gefordert hatten. Neue Länder wie Schweden oder Finnland bewerben sich um eine Mitgliedschaft und die EU wird sogar teilweise energiepolitisch von den USA abhängig werden. Kurzum, das genaue Gegenteil von Putins illusionären Hoffnungen, dass sich die europäischen Staaten in der Ukraine-Frage spalten würden.

2. Schwächung Russlands

Der Krieg bedeutet schon jetzt eine erhebliche militärische, aber auch wirtschaftliche Schwächung Russlands, eine Schwächung, die sich mit der Fortsetzung des Krieges noch verstärken wird. Die Ergebnisse sind nach fast drei Monaten "Sonderoperation" für Russland bereits jetzt dramatisch:

  • Die russischen Streitkräfte erlitten bittere Niederlagen auf dem Schlachtfeld: Die Blitzoffensive gegen Kiew, die auch auf die Beseitigung des Selenskyj-Regimes abzielte, die Übernahme der Kontrolle über den Luftraum in der gesamten Ukraine, die Einnahme von Kiew und Charkow, die Offensive in Richtung Odessa, die die Ukraine von den Schifffahrtswegen abschneiden und den Zusammenschluss mit der Republik Transnistrien herbeiführen sollte, scheiterten. Der Rückzug der russischen Truppen aus dem Norden der Ukraine und die Rückkehr zu begrenzteren Zielen im Donbass und zu einer weniger ehrgeizigen, aber ebenso blutigen Militärstrategie, bei der das Gebiet Kilometer für Kilometer, Stadt für Stadt abgeknabbert und mit Artillerie intensiv beschossen wird (so wie in Mariupol, wie in Aleppo in Syrien), ist ein Eingeständnis, dass die ursprünglichen Ziele für die militärischen Fähigkeiten des russischen Imperialismus zu ehrgeizig waren.
  • Bei der russischen Armee wurden unzählige Panzer und gepanzerte Fahrzeuge außer Gefecht gesetzt, Dutzende von Hubschraubern und Flugzeugen abgeschossen, das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte (die Moskwa) versenkt und immer häufiger Treibstoff- und Waffendepots sowie Logistikzentren in Russland selbst angegriffen. Abgesehen von diesen Zahlen ist es vor allem die Modernisierung der russischen Waffen, die ihre Grenzen aufzeigt, mit hochentwickelten Waffen, die eine Vielzahl von Fehlern aufweisen und deren Vorräte zur Neige gehen, sowie das organisatorische Chaos innerhalb der Armee, das zu Problemen bei der Versorgung mit Lebensmitteln und Treibstoff führt, die durch die Korruption in der Armee und sogar durch Sabotage in den eigenen Reihen noch verstärkt werden.
  • Die russischen Truppen haben (nach Angaben von Militäranalysten) sehr hohe menschliche Verluste erlitten: über 15.000 Tote und fast 40.000 kampfunfähige Soldaten (Tote, Verwundete, Gefangene und – Deserteure), d. h. etwa 20 % der ursprünglich eingesetzten Kräfte, was den Verlusten entspricht, die sie in 8 Jahren in Afghanistan in den 1980er Jahren erlitten haben. Die Moral der Soldaten, die nicht verstehen, warum sie hier sind, oder erwartet haben, als Befreier empfangen zu werden, ist niedrig und der Krieg ist nicht populär. Die russische Bourgeoisie vermeidet es daher, Wehrpflichtige zu entsenden (was sogar der Grund dafür sein könnte, dass Russland von einer "Sonderoperation" und nicht von Krieg spricht) und greift stattdessen massiv auf Söldner (die Wagner-Organisation oder tschetschenische "Kadyrowzy") zurück oder schaltet Tausende von Stellenangeboten auf spezialisierten Websites für "Kontraktniki" (Kurzverträge für spezialisierte Soldaten), die in der Regel aus den ärmsten Regionen Russlands stammen. Während "Kriegsverbrechen" per Definition zu den "Nebenwirkungen" eines jeden Krieges gehören, sind Massaker an Zivilisten und die Zerstörung ganzer Städte in diesem Krieg besonders auffällig, zum einen aufgrund der Demoralisierung und Verzweiflung innerhalb der russischen Einheiten und zum anderen aufgrund der von den Ukrainern angestrebten Art des "urbanen" Krieges angesichts des militärischen Machtgefälles zwischen den Protagonisten.

Putin kann die Feindseligkeiten in diesem Stadium jedoch nicht einstellen, da er um jeden Preis Trophäen braucht, um die Operation innenpolitisch zu rechtfertigen und zu retten, was vom militärischen Prestige Russlands noch zu retten ist, was zu noch mehr militärischen, menschlichen und wirtschaftlichen Verlusten führen wird. Da andererseits, je länger der Krieg dauert, Russlands Militärmacht und Wirtschaft immer mehr bröckeln werden, haben die USA zynischerweise auch kein Interesse daran, eine Beendigung der Feindseligkeiten zu fördern, selbst wenn sie dafür Militär, Zivilisten und städtische Zentren in der Ukraine opfern müssen, denn sie wollen Russland ausbluten lassen. In diesem Sinne sind die aktuellen Kampagnen rund um die Verteidigung der gemarterten Ukraine, die russischen Kriegsverbrechen (Butcha, Kramatorsk, Mariupol ...) und die Durchführung eines "Völkermords an den Ukrainern" – Kampagnen, die insbesondere von den USA und Großbritannien inszeniert werden und persönlich auf Putin abzielen ("Putin hat den Verstand verloren"; "Russland ist kein Teil unserer Welt"). Sie ermöglichen es, jede Aussicht auf kurzfristige Verhandlungen (die von Frankreich und Deutschland oder auch von der Türkei gesponsert werden) zu konterkarieren und die Schwächung Russlands auf die Spitze zu treiben oder sogar einen Regimewechsel anzuregen. Kurzum, unter den derzeitigen Bedingungen kann das Blutvergießen nur weitergehen und kann sich die Barbarei nur ausweiten, wahrscheinlich über Monate oder sogar Jahre hinweg, und dies in besonders blutigen und gefährlichen Formen, wie z.B. der Drohung mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen.

3. China wird unter Druck gesetzt

Hinter Russland zielen die USA grundsätzlich auf China ab und setzen es unter Druck, denn das grundlegende Ziel des machiavellistischen Manövers der USA ist es, das russisch-chinesische Paar zu schwächen und China eine Warnung zukommen zu lassen. China reagierte zurückhaltend auf die russische Invasion, indem es die "Rückkehr des Krieges auf den europäischen Kontinent" bedauerte und zur "Achtung der Souveränität" und der "territorialen Integrität gemäß den Grundsätzen der Vereinten Nationen" aufrief (Xi Jinping, 08.03.2022). Tatsächlich hat auch China enge Beziehungen zur Ukraine (14,4% der ukrainischen Importe und 15,3% der ukrainischen Exporte) und hat mit Präsident Selenskyj ein "Abkommen über strategische Zusammenarbeit" unterzeichnet, "das die zentrale Rolle seines Landes in den eurasischen Projekten der neuen Seidenstraßen festschreibt" (Le Monde Diplomatique [LMD], April 2022, S. 9). Der Ukraine-Konflikt blockiert jedoch verschiedene Zweige der "Seidenstraße", was zweifellos ein nicht zu unterschätzendes Ziel des amerikanischen Manövers darstellt.

Das ohnehin schon geschwächte Russland ist gezwungen, China um Hilfe zu bitten, doch China ist vorsichtig und hat es bislang vermieden, die "Sonderoperation" seines Verbündeten offen zu unterstützen, da die Unterstützung eines geschwächten Russlands auch China schwächen könnte: Es würde wirtschaftliche Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen und zum Verlust von Handelsrouten und Märkten nach Europa und sogar in die USA führen, die ansonsten wichtiger sind als der Handel mit Russland (3% der chinesichen Importe und 2% seiner Exporte). Andererseits würden der Zusammenbruch der russischen Militärmacht und die immensen Schwierigkeiten seiner Wirtschaft Russland zu einem Verbündeten machen, der nicht mehr auf seine Stärke (sein militärisches Fachwissen) bauen kann und stattdessen eine peinliche Belastung für China darstellen könnte.

Peking missbilligt die Sanktionen zwar, wendet sie aber eher symbolisch als behindernd für Russland an: Die Asiatische Bank für Infrastrukturinvestitionen hat ihre Geschäfte mit Russland und Weißrussland eingestellt, und die großen staatlichen chinesischen Raffinerien haben ihre Öleinkäufe in Russland aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der westlichen Länder gestoppt. Ebenso weigern sich die großen Staatsbanken, Energieabkommen mit Russland zu finanzieren, weil sie zu riskant sind. Hinter den Kulissen jedoch kaufen dieselben Staatsunternehmen über Scheinfirmen und langfristige Verträge auf den internationalen Märkten billige Vorräte an russischem LNG und Öl auf, die niemand haben will.

Die längerfristigen Folgen des Krieges

Kurzfristig mag der Krieg in der Ukraine zwar eine Atmosphäre der Bipolarisierung begünstigt haben, insbesondere durch das propagierte Bild einer Konfrontation zwischen dem "Block der Autokratien" und dem "Block der Demokratien", das im Übrigen von den USA intensiv propagiert wird, doch dieser Eindruck muss bereits wieder überdacht werden, wenn man die Positionierung Chinas analysiert (siehe den vorherigen Punkt). Und auf längere Sicht werden die Auswirkungen der derzeitigen kriegerischen Feindseligkeiten keineswegs eine stabile Umgruppierung der imperialistischen Staaten fördern, sondern im Gegenteil die Gegensätze in allen Bereichen und die Spannungen zwischen den Geiern verschärfen.

1. Trotz der amerikanischen Opposition: eine Intensivierung des Jeder-gegen-jeden

Indem die USA im Ukraine-Konflikt bis zum Äußersten gehen, schüren sie trotz der Europa vorübergehend aufgezwungenen Einheit die Entwicklung des Jeder-für-sich. Bei der Abstimmung in der UNO über den Ausschluss Russlands aus dem Menschenrechtsrat stimmten 24 Länder dagegen und 52 enthielten sich: Indien, Brasilien, Mexiko, Iran, aber auch Saudiarabien und die Emirate (VAE) entwickeln ihre eigene imperialistische Positionierung, ohne sich hinter die USA oder Russland zu stellen, und beteiligen sich nicht am Boykott Russlands: "Im Gegensatz zur Mehrheit der westlichen Nationen, allen voran den USA, nehmen die Länder des Südens eine vorsichtige Haltung gegenüber dem bewaffneten Konflikt zwischen Moskau und Kiew ein. Die Haltung der Golfmonarchien, die doch mit Washington verbündet sind, ist bezeichnend für diese Weigerung, Partei zu ergreifen: Sie verurteilen sowohl die Invasion in der Ukraine als auch die Sanktionen gegen Russland. So setzt sich eine multipolare Welt durch, in der bei fehlenden ideologischen Differenzen die Interessen der Staaten Vorrang haben" (LMD, Mai 2022, S. 1). Japan, das mit seiner Aufrüstung begonnen hat und gegenüber Russland und China aggressiv auftritt, macht seine eigenen imperialistischen Ambitionen deutlich, indem es sich weigert, das Projekt einer Gaspipeline mit Russland zu stoppen. Das NATO-Mitglied Türkei verfolgt trotz dieser Bindung seine eigenen imperialistischen Ziele, indem es gute Beziehungen zu Russland unterhält (obwohl es gleichzeitig Streitigkeiten wegen Libyen und dem Krieg Armenien/Aserbaidschan gibt). Selbst europäische Länder brechen nicht alle Kontakte zu Russland ab (Frankreich oder Italien schließen nur ungern die Niederlassungen ihrer Unternehmen, die Gaspipeline von Russland nach Europa durch die Ukraine funktioniert noch immer, wenn auch mit gelegentlichen Kürzungen, und liefert beiden Kriegsparteien finanzielle Einnahmen, Belgien nimmt den Diamantensektor von den Boykottmaßnahmen aus usw.), und Ungarn schielt sogar gierig auf das ukrainische Transkarpatien mit seinen ungarischen Minderheiten. Diese Tendenz zur Verschärfung eines brutalen Jeder-gegen-jeden wird durch die schweren imperialistischen und wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine noch verstärkt werden.

2. Russland blutet aus

Für die Russische Föderation sind die Folgen dieser "Sonderoperation" schwerwiegend und könnten nach der Fragmentierung infolge der Implosion ihres Blocks ('89-92) eine zweite tiefgreifende Destabilisierung darstellen: Militärisch wird sie wahrscheinlich ihren Rang als zweitgrößte Armee der Welt verlieren; ihre bereits geschwächte Wirtschaft wird noch weiter in den Abgrund stürzen (ein Rückgang der Wirtschaft um 12% laut dem russischen Finanzministerium, der stärkste Rückgang seit 1994). Die Kampagne um die russischen Kriegsverbrechen und der Aufbau von Ermittlungs- und Gerichtsstrukturen auf internationaler Ebene zielen letztlich darauf ab, Putin und seine Berater vor ein internationales Gericht wegen "Kriegsverbrechen" oder sogar "Völkermord" zu stellen. Auf diese Weise werden die internen Spannungen zwischen den Fraktionen der russischen Bourgeoisie nur noch größer, während die Putin-Fraktion in die Enge getrieben wird und mit der Energie der Verzweiflung um ihr Überleben kämpft. Mitglieder der herrschenden Fraktion (vgl. Medwedew) warnen bereits vor den Folgen: einem möglichen Zusammenbruch der Russischen Föderation und dem Entstehen verschiedener Mini-Russland mit unberechenbaren Führern und Atomwaffen.

3. China sieht sich mit einer Anhäufung von Problemen konfrontiert

Die Folgen der Ukraine-Krise sind für den größten Herausforderer der USA, China, gefährlich destabilisierend. Dies betrifft in erster Linie das Dilemma seiner Haltung gegenüber Russland, da es Sanktionen für seine Wirtschaft befürchtet, aber auch die Blockade wichtiger Verkehrsadern seiner Seidenstraße: "Im Moment ist das große Werk des chinesischen Präsidenten – Seidenstraßen, die ihr Netz über Zentralasien bis nach Europa spinnen – gefährdet. Ebenso wie seine Hoffnung auf engere Beziehungen zur Europäischen Union als Gegengewicht zu den USA" (LMD, April 2022, S. 9). Der russisch-ukrainische Krieg kommt für Xi Jinping wenige Monate vor dem Parteitag der KPCh, auf dem er für eine dritte Amtszeit bestätigt werden soll, zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt, zumal die Pandemie wieder zu grassieren beginnt und die wirtschaftlichen Aussichten schlecht sind.[2]

Die chinesische Wirtschaft leidet immer noch schwer unter der Pandemie, wobei im März und April die 27 Millionen Einwohner:innen der Industrie- und Handelsmetropole Shanghai und nun auch große Teile der Hauptstadt Peking eingesperrt wurden. Die Bevölkerung zeigt immer offener ihre Panik und Unzufriedenheit mit dem wochenlangen, unmenschlichen Lockdown. Die Regierung kann ihre Null-Covid-Politik jedoch kaum revidieren, (a) wegen der extrem niedrigen Impfrate bei älteren Menschen und der schlechten Qualität der chinesischen Impfstoffe gegenüber den aktuellen Varianten, aber vor allem (b) angesichts der politischen Auswirkungen, die ein Wechsel der Strategie im Vorfeld des XX. Parteitags der KPCh auf die Fraktion Xi haben würde, die sich zu deren hartnäckigen Verfechterin gemacht hat. So verhängte Xi in Shanghai einen drastischen Lockdown gegen die "Sabotage" der örtlichen Kader, was zu großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung führte. Er entsandte 50.000 Mitglieder der bewaffneten Sonderpolizei von Shandong, die der Zentralregierung untersteht, um "die Kontrolle über die Situation zu übernehmen". Für Xi "muss die ‚Null-Covid-Strategie‘ funktionieren, Shanghai muss ‚gesäubert‘ werden. Ein Scheitern würde bedeuten, der Opposition, die versucht, sich seiner Wiederwahl zu widersetzen, zumindest teilweise Recht zu geben" ("Zero Covid in Shanghai: Xi Jinping's political battle", A. Payette, Asialyst, 14.04.22). Und das um jeden Preis: Experten der japanischen Investmentbank Nomura haben Anfang April errechnet, dass 45 chinesische Städte, die 40% des chinesischen BNP ausmachen, einem vollständigen oder teilweisen Lockdown unterzogen werden. Diese drastischen Maßnahmen führen zu erheblichen Problemen im Straßenverkehr und in den Häfen (Ende April warteten in Shanghai über 300 Schiffe auf ihre (Ent-)Ladung, dreimal so viele wie im Jahr 2020, als die Lage bereits kritisch war) sowie zu Störungen in der Industrieproduktion und in den nationalen und internationalen Lieferketten.

Infolgedessen wird die Verlangsamung der Wirtschaft, die durch die seit zwei Jahren wiederholten Lockdowns im Rahmen der "Zero Covid"-Politik und durch den Krieg in der Ukraine noch verstärkt wird, immer offensichtlicher. Das Wachstum wird derzeit auf 4,5 % des BIP geschätzt (die chinesische Regierung rechnete mit einem Anstieg um 5,5 %, die pessimistischsten Prognosen gehen jedoch von 3,5 % aus; vgl. "Zero covid in Shanghai: the political battle of Xi Jinping", A. Payette, Asialyst, 14.04.22) und das in dem Jahr, in dem der Volkskongress zusammentreten muss, um einen neuen Präsidenten zu wählen. Was die chinesische Bourgeoisie besonders beunruhigt, sind verschiedene miserable Zahlen im März: So gingen die Einzelhandelsumsätze um 3,5 % zurück, die Arbeitslosigkeit stieg um 5,8 % (die offiziellen Zahlen sind zu niedrig angesetzt) und die Importe kamen praktisch zum Stillstand. Schließlich geht es auch im Immobiliensektor, der im letzten Jahr vom Staat radikal reguliert wurde, um den Zusammenbruch einiger großer Unternehmen zu begleiten, weiter bergab: Der Verkauf von Häusern ging um 26,7 % zurück, der stärkste Rückgang seit Februar 2020. "Laut einem Bericht des Institute of International Finance in einem Ende März [2022] veröffentlichten Bericht ‚sind die Finanzströme, die China verlassen, beispiellos. Die russische Invasion in der Ukraine wird die chinesischen Märkte wahrscheinlich in ein neues Licht rücken. Diese Kapitalflucht sei ‚sehr ungewöhnlich‘, heißt es in dem Bericht weiter. Chinesische Anleihen, die von ausländischen Investoren gehalten werden, fielen allein im Februar um 80,3 Milliarden Yuan, der drastischste Rückgang seit Januar 2015, als diese Statistiken erstmals erfasst wurden. [...] Westliche Sanktionen gegen sein Land würden zu einem Rückgang der ausländischen Investitionen sowie zu einer Abwanderung von chinesischem Kapital führen. [...] Diese wirtschaftlichen und finanziellen Bedrohungen sind ernst zu nehmen, da sie das wachsende Misstrauen ausländischer Investoren gegenüber China widerspiegeln" ("Krieg in der Ukraine: Chinas Doppelmoral könnte es teuer zu stehen kommen", P.-A. Donnet, Asialyst, 16.04.22).

Die schwierige Wirtschaftslage belastet schließlich auch die Aufrechterhaltung der gigantischen Finanzierung des Projekts der neuen Seidenstraßen, das zudem durch die Blockade mehrerer seiner Zweige aufgrund des Ukraine-Konflikts stark beeinträchtigt wird, aber auch durch das zunehmende Chaos, das mit dem Zerfall verbunden ist, wie die Destabilisierung Äthiopiens, das ein zentraler "Hub" für den afrikanischen Zweig darstellen sollte, oder die Unfähigkeit von Ländern, die bei China verschuldet sind, ihre Schulden zu begleichen (Sri Lanka).

Die USA scheuen sich nicht, diese Schwierigkeiten zu verschärfen und in ihrer Konfrontation mit Peking auszunutzen, und das in einem schwierigen Umfeld für die chinesische Bourgeoisie, die wirtschaftlich, politisch und sozial immer stärker unter Druck gerät.

4. Bekräftigung der imperialistischen Ambitionen der europäischen Länder trotz des Drucks der USA

In Europa könnte die Entscheidung Deutschlands, massiv aufzurüsten und seinen Militärhaushalt zu verdoppeln, mittelfristig eine wichtige imperialistische Begebenheit darstellen. Zu Beginn der Zerfallsperiode betonte unsere Analyse: „Was Deutschland angeht, das einzigen Land, das möglicherweise wieder in die Rolle schlüpfen kann, die es schon in der Vergangenheit innehatte,  so gestattet es seine gegenwärtige Militärmacht (es verfügt nicht einmal über Atomwaffen!) ihm nicht, auf absehbare Zeit den USA auf diesem Terrain entgegenzutreten“("Militarismus und Zerfall", Internationale Revue 13, 1991), und obwohl wir heute den Aufstieg Chinas berücksichtigen müssen, den wir übersehen hatten, dürfte die massive Wiederaufrüstung Deutschlands ein entscheidender Faktor für die Ausweitung künftiger imperialistischer Konfrontationen in Europa und der Welt sein.

Tatsächlich muss diese Aufrüstung in einem Kontext gesehen werden, in dem sich mit der Verlängerung des Ukraine-Konflikts die Meinungsverschiedenheiten nicht nur zwischen den osteuropäischen Ländern (das fanatisch antirussische Polen gegenüber dem Moskau-nahen Ungarn), sondern auch zwischen den europäischen Mächten (Frankreich, Deutschland, Italien) und den USA über die Aufrechterhaltung der kriegerischen Politik gegenüber Russland immer deutlicher abzeichnen. Angesichts der Möglichkeit, dass die Trump-Fraktion in den USA wieder an die Macht kommt und sich ein "unnachgiebiger" Pol USA-Großbritannien-Polen gegenüber Russland bildet, wird die militärische Autonomie der europäischen Mächte durch die Entwicklung eines EU-Pols außerhalb der NATO immer mehr zu einer zwingenden Notwendigkeit.

5. Intensivierung einer aggressiven Politik der US-Bourgeoisie, die trotz der Spaltungen innerhalb der US-Bourgeoisie das Chaos fördert

Schließlich sind die innere Lage in den USA und insbesondere die Spannungen innerhalb der Bourgeoisie selbst ein starker unvorhersehbarer Faktor. Wie groß wird Bidens Handlungsspielraum nach den Zwischenwahlen im November sein und wer wird der nächste Präsident der Vereinigten Staaten, vielleicht wieder Trump? Tatsächlich ist Bidens Popularität in den letzten Monaten gesunken, während ein seit vier Jahrzehnten nicht mehr gesehener Anstieg der Verbraucherpreise die Ausgaben für Benzin, Lebensmittel, Mieten und andere Waren in die Höhe treibt. "Die Zustimmungsraten für Joe Biden schwanken laut dem Umfrageaggregator FiveThirtyEight nun um 42,2 Prozent. Da in sieben Monaten die Zwischenwahlen stattfinden, wird zunehmend erwartet, dass die demokratischen Abgeordneten ihre hauchdünne Kontrolle über eine oder vielleicht sogar beide Kammern des Kongresses verlieren werden" (20 minutes und Agenturen, 15.04.22). Die Europäer wissen genau, dass Bidens Zusagen und das "Comeback" der NATO zunächst mal für maximal zwei Jahre gelten.
Aber unabhängig davon, welche Fraktion der Bourgeoisie an der Regierung ist, ist klar, dass es seit Beginn der Zerfallsperiode (siehe die Irakkriege 1991 und 2003) die USA sind, die in ihrem Bestreben, ihre schwindende Vorherrschaft zu verteidigen, durch ihre Interventionen und Manöver die wichtigste Kraft zur Ausweitung des Chaos sind: Sie haben in Afghanistan und im Irak Chaos geschaffen und das Aufblühen von Al-Qaida wie IS begünstigt. Im Herbst 2021 haben sie bewusst die Spannungen mit China um Taiwan angestachelt, um die anderen asiatischen Mächte hinter sich zu scharen – in diesem Fall allerdings mit weniger Erfolg als in der Ukraine. Ihre Politik ist heute nicht anders, auch wenn ihr machiavellistisches Manöver sie als friedliche Nation erscheinen lassen, die sich gegen die russische Aggression wehren. Dieses Schüren des kriegerischen Chaos durch die USA ist für sie die wirksamste Barriere gegen die Entfaltung Chinas als Herausforderer: "Diese Krise wird sicherlich nicht das letzte Kapitel in Washingtons langem Kampf um die Sicherung einer dominanten Position in einer instabilen Welt sein" (LMD, März 2022, S. 7). Gleichzeitig wird der Krieg in der Ukraine ausgenutzt, um eine unmissverständliche Warnung an Peking vor einer möglichen Invasion Taiwans auszusprechen.

Merkmale der aktuellen Verschärfung des Militarismus

Die Zerfallsphase verschärft eine ganze Reihe von Merkmalen des Militarismus stark und fordert dazu auf, die Formen, die die aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen annehmen, genauer zu untersuchen.

1. Die Irrationalität des Krieges nimmt halluzinierende Ausmaße an

Das Fehlen jeglicher wirtschaftlicher Motivation oder Vorteile für Kriege war seit dem Beginn des kapitalistischen Niedergangs offenkundig: "Der Krieg war ein unabdingbares Mittel, mit welchem der Kapitalismus sich unerschlossene Gebiete für die Entwicklung eröffnete, zu einer Zeit, als solche Gebiete noch existierten und nur mit Gewalt erschlossen werden konnten. Auf derselben Weise findet die kapitalistische Welt, nachdem historisch alle Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft sind, im modernen imperialistischen Krieg den Ausdruck ihres Zusammenbruchs, der die Produktivkräfte nur noch tiefer in den Abgrund reißt und nur noch schneller Ruine auf Ruine häuft.“ ("Rapport à la Conférence de la Gauche Communiste de France de juillet 1945", wiedergegeben im "Bericht zum historischen Kurs“, angenommen auf dem 3. Kongress der IKS, Internationale Revue 5, 1979)

Der Krieg in der Ukraine zeigt deutlich, wie der Krieg nicht nur seine wirtschaftliche Funktion, sondern sogar seine strategischen Vorteile verloren hat: Russland führt einen Krieg im Namen der Verteidigung der russischsprachigen Bevölkerung, massakriert aber Zehntausende Zivilisten in den überwiegend russischsprachigen Gebieten, verwandelt diese Städte und Regionen in Ruinenfelder und erleidet selbst erhebliche materielle und infrastrukturelle Verluste. Wenn es am Ende dieses Krieges im besten Fall den Donbass und die Südostukraine einnimmt, hat es ein Trümmerfeld erobert, eine Bevölkerung, die es hasst, und einen erheblichen strategischen Rückschlag in Bezug auf seine Großmachtambitionen erlitten. Was die USA betrifft, so müssen sie bei ihrer Politik, China ins Visier zu nehmen, eine Politik der "verbrannten Erde" betreiben, die außer einer unermesslichen Explosion des wirtschaftlichen, politischen und militärischen Chaos keine wirtschaftlichen oder strategischen Vorteile mit sich bringt. Die Irrationalität des Krieges war noch nie so offensichtlich.

Diese zunehmende Irrationalität kriegerischer Auseinandersetzungen geht mit einer wachsenden Verantwortungslosigkeit der jeweils die Macht ausübenden Fraktion der Bourgeoisie einher, wie das unverantwortliche Abenteuer von Bush junior und den "Neocons" im Irak 2003, das Abenteuer von Trump von 2018 bis 2021 oder die Putin-Fraktion in Russland illustrieren. Sie sind Ausfluss der Verschärfung des Militarismus und des Kontrollverlusts der Bourgeoisie über ihren politischen Apparat, was zu einem Abenteurertum führen kann, das langfristig für diese Fraktionen katastrophal, aber auch für die Menschheit gefährlich ist.

2. Die Wirtschaft im Dienste des Krieges

Mehr denn je steht die Wirtschaft im Dienste des Krieges, und die Sinnlosigkeit der hohen Militärausgaben inmitten einer Wirtschafts- und Pandemiekrise tritt offen zutage: "Heute kristallisiert sich in den Waffen die ultimative technologische Perfektionierung. Die Herstellung hochentwickelter Zerstörungssysteme ist zum Symbol einer modernen und erfolgreichen Wirtschaft geworden. Doch diese technologischen "Wunder", die im Nahen Osten ihre mörderische Wirkung gezeigt haben, sind vom Standpunkt der Produktion und der Wirtschaft aus gesehen nichts weiter als eine gigantische Verschwendung. Im Gegensatz zu den meisten anderen Waren haben Waffen die Besonderheit, dass sie, sobald sie produziert sind, aus dem Produktionszyklus des Kapitals herausgeworfen werden. Sie können nämlich weder dazu dienen, das konstante Kapital zu erweitern oder zu ersetzen (anders als etwa Maschinen), noch die Arbeitskraft der Arbeiter zu erneuern, die dieses konstante Kapital in Bewegung setzen. Waffen dienen nicht nur der Zerstörung, sondern sind an sich schon eine Kapitalvernichtung, eine Sterilisierung des Reichtums" ("Where is the crisis? Wirtschaftskrise und Militarismus", International Review Nr. 65 [engl./frz./span. Ausgabe], 1991). Seit 1996 haben sich die Militärausgaben in allen Ländern verdoppelt, was eine verstärkte Militarisierung zeigt. Laut dem Stockholm Institute for Peace Studies (SIPRI) wurden 2021 2 Billionen US-Dollar für Rüstung ausgegeben, ein neuer Rekord. Davon gaben die USA 34 %, China 14 % und Russland 3 % aus. Der Krieg in der Ukraine wird die Militärbudgets in Europa explodieren lassen, während Pandemie-, Wirtschafts- und Umweltkrisen massive Investitionen erfordern.

Außerdem werden wirtschaftliche Waffen massiv im Dienste des Militarismus eingesetzt: China hatte Australien bereits mit wirtschaftlichen Vergeltungsmaßnahmen gedroht, weil das Land die chinesische Politik in Hongkong oder Xinjiang kritisierte, und Algerien, das mit Marokko im Konflikt steht, hat die Gaslieferungen an dieses Land eingestellt, aber der Krieg in der Ukraine verleiht dieser Art von Politik noch eine andere Dimension: Die USA und die europäischen Länder nutzen sie, um Russland in die Knie zu zwingen, und die USA drohen China mit Vergeltungsmaßnahmen, falls es Russland unterstützt; letztere nutzen sie auch, um Druck auf Europa auszuüben (US-Gas als Ersatz für russisches Gas). Das Krebsgeschwür des Militarismus belastet zunehmend den Handel und die Wirtschaftspolitik der Staaten.

3. Lokaler Krieg, globale Folgen

Die Folgen des Ukraine-Krieges für die wirtschaftliche Situation vieler Länder sind dramatisch: Russland ist ein wichtiger Düngemittel- und Energielieferant, Brasilien ist für seine Ernten auf Düngemittel angewiesen. Die Ukraine ist ein großer Exporteur von Agrarprodukten, und die Preise für Lebensmittel wie Weizen drohen in die Höhe zu schießen; Staaten wie Ägypten, die Türkei, Tansania oder Mauretanien sind zu 100 % von russischem oder ukrainischem Weizen abhängig und stehen am Rande einer Hungerkrise; Sri Lanka oder Madagaskar, die bereits überschuldet sind, sind bankrott. Laut UN-Generalsekretär droht die Ukraine-Krise "bis zu 1,7 Milliarden Menschen – mehr als ein Fünftel der Menschheit – in Armut, Not und Hunger zu stürzen" (UN info, 13. April 2022); die wirtschaftlichen und sozialen Folgen werden weltweit und unabsehbar sein: Verarmung, Elend, Hunger, Aufstände...

Die Ausweitung der gegenwärtigen kriegerischen Auseinandersetzungen verstärkt die Unvorhersehbarkeit

Die erhebliche Beschleunigung des Militarismus verlangt von Revolutionären, die aktuelle Kriegsdynamik konkret zu untersuchen und die Herausforderungen und Gefahren der gegenwärtigen Periode genau zu benennen. Es geht keineswegs darum, über das "Geschlecht der Engel" zu diskutieren, sondern darum, alle Konsequenzen dieser Dynamik für die Bestimmung des Kräfteverhältnisses, der Verbindung von Krieg und Klassenkampf und der Dynamik der heutigen Arbeiterkämpfe sowie für unsere Intervention in Bezug auf diese zu erfassen.

1. Welche Bedeutung hat die Polarisierung auf der Ebene der imperialistischen Konfrontationen?

In den letzten zehn Jahren hat sich tatsächlich eine Polarisierung zwischen den USA und China entwickelt. Diese Polarisierung ist in erster Linie das Ergebnis einer Änderung der US-Politik, die sich im Laufe der Obama-Regierung durchgesetzt hat. "2011 war die US-Führung zu dem Schluss gekommen, dass ihr obsessiver Krieg gegen den Terrorismus – obwohl er im Kongress und in der Öffentlichkeit immer noch populär war – ihren Status als Supermacht geschwächt hatte. Bei einem geheimen Treffen im Sommer jenes Jahres beschloss die Regierung von Barack Obama, einen Schritt zurück zu machen und der Konkurrenz mit China eine höhere strategische Bedeutung beizumessen als dem Krieg gegen den Terrorismus. Dieser neue Ansatz, der als ‚Tilt to the East‘ [Neigung nach Osten] bezeichnet wird, wurde vom US-Präsidenten während einer Rede vor dem australischen Parlament in Canberra am 17. November 2011 angekündigt" (LMD, März 2022, S. 7). Die wachsende Erkenntnis, dass der gefährlichste Herausforderer für die Aufrechterhaltung der schwindenden Führungsrolle der USA China ist, hat dazu geführt, dass die wirtschaftlichen und militärischen Mittel neu positioniert wurden, um dieser Hauptgefahr zu begegnen. Der Widerstand der Taliban in Afghanistan und das Entstehen der Organisation Islamischer Staat verzögerten und verlangsamten die Umsetzung dieser Politik durch die Obama-Regierung, sodass sie erst mit der Trump-Regierung voll zum Tragen kam und in der vom damaligen Verteidigungsminister James Mattis entworfenen "Nationalen Verteidigungsstrategie" formuliert wurde.

Somit geht diese Tendenz zur Polarisierung hauptsächlich von den USA aus und ist die aktuelle Strategie der untergehenden Supermacht, um ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten. Nachdem ihre Positionierung als "Weltpolizist" gescheitert ist, konzentriert sie sich nun auf eine Politik, die darauf abzielt, ihren gefährlichsten Herausforderer zu kontern. Für China hingegen ist eine solche Polarisierung derzeit höchst störend[3]: Trotz seiner derzeitigen massiven Investitionen in seine Armee ist sein Rückstand bei der Entwicklung seiner militärischen Ausrüstung immens und seine technologische und wirtschaftliche Entwicklung (Seidenstraße) erfordert derzeit die Aufrechterhaltung der Globalisierung und der Multipolarität. Wie schon seit 1989 mit der imperialistischen Politik der USA wird auch die derzeitige Politik der Polarisierung das Chaos und das imperialistische Jeder-gegen-jeden nur noch weiter verschärfen. Dies zeigt sich heute deutlich an der russischen Invasion in der Ukraine, der massiven Aufrüstung Deutschlands, der zunehmenden Aggressivität des japanischen Imperialismus, der Sonderstellung Indiens, den Manövern der Türkei etc.

2. Führt diese Polarisierung zu einer Dynamik stabiler Allianzen oder gar zur Neubildung von Blöcken?

Erinnern wir uns zunächst an die Position der IKS zur Blockbildung nach 1990: "Während sich die Konstituierung von Blöcken historisch als die Konsequenz aus der Entwicklung des Militarismus und Imperialismus darstellt, bildet die Zuspitzung der beiden in der gegenwärtigen Phase im Leben des Kapitalismus paradoxerweise ein Haupthindernis bei der Bildung eines neuen Blocksystems, das an die Stelle der alten Blockkonstellation treten könnte“ („Militarismus und Zerfall“, 1991, in Internationale Revue Nr. 13, Punkt 9). Inwieweit begünstigen die aktuellen Konflikte die Faktoren, die für die Entstehung einer Dynamik in Richtung Blockbildung angeführt werden?

(a) Da Waffengewalt zum wichtigsten Faktor geworden ist, um das globale Chaos einzudämmen und sich als Blockführer zu behaupten, und die USA über eine Militärmacht verfügen, die der gesamten Militärmacht der anderen Großmächte entspricht, verfügt derzeit kein Land über ein "militärisches Potenzial, um die Führungsrolle in einem Block zu beanspruchen, der mit dem von dieser Macht geführten Block konkurrieren könnte", was durch den Krieg in der Ukraine noch einmal verdeutlicht wird. Da „die Herausforderungen und die Dimension der Konflikte zwischen den Blöcken immer globalere, allgemeinere Ausmaße annehmen (je mehr Gangster kontrolliert werden müssen, desto stärker muß der "Gangsterboß" sein); (…) Und je mehr Schäden die historische Krise und ihre offene Form anrichtet, desto stärker muß ein Blockführer sein, um die Auflösungstendenzen der verschiedenen nationalen Fraktionen einzugrenzen und zu kontrollieren. Es liegt auf der Hand, daß sich in der letzten Phase der Dekadenz, im Zerfall, ein solches Phänomen nur noch ins Unermessliche steigern kann.“ (ebenda, Punkt 11)

(b) „Gleichermaßen entspricht die Formierung von imperialistischen Blöcken der Notwendigkeit, eine solche Disziplin auch den verschiedenen nationalen Bourgeoisien aufzuzwingen, um ihre wechselseitigen Antagonismen einzuhegen und sie für die Hauptkonfrontation, nämlich die zwischen den beiden militärischen Lagern, zusammenzuschließen“ ("Militarismus und Zerfall“, Pkt. 4). Sehen wir heute angesichts dieser Tatsache eine Tendenz, diese Disziplin zu verstärken? Die Tatsache, dass die USA den europäischen Staaten im Rahmen des Krieges in der Ukraine eine Disziplin innerhalb der NATO auferlegt haben, ist nur vorübergehend und zeigt bereits Risse auf: Die Türkei macht "Alleingänge", Ungarn bricht die Brücken zu Russland nicht ab, Deutschland, das die Füße stillhält, Frankreich drängt auf die Bildung eines europäischen Pols. Das Bündnis zwischen China und Russland ist seinerseits von begrenzter Reichweite und China hütet sich davor, sich zu sehr an der Seite Russlands zu engagieren, während andere Länder in der Welt sehr zurückhaltend sind, was ein Engagement an der Seite von Konfliktmächten angeht.
Kurzum, obwohl es eine Polarisierung insbesondere um die amerikanische Supermacht gibt und in diesem Rahmen punktuelle Allianzen entstehen können (USA-Japan-Korea; Türkei-Russland in Syrien; China-Russland) oder alte Allianzen vorübergehend wiederbelebt werden (NATO), deuten die Tendenzen in den gegenwärtigen imperialistischen Konfrontationen nicht auf eine Dynamik in Richtung der Bildung von zwei antagonistischen Blöcken hin, wie wir sie vor dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg oder während des "Kalten Krieges" beobachten konnten: "(...) in der Ära nach dem Kalten Krieg haben die Staaten keine dauerhaften Freunde oder Sponsoren mehr, sondern fluktuierende, schwankende, zeitlich begrenzte Verbündete" (LMD, Mai 2022, S. 8).

Die Blockbildung war bis zur Zerfallsphase eine vorherrschende Tendenz. In dieser Phase geht die Tendenz angesichts der in dieser Phase verschärften Merkmale eher in Richtung Krieg ohne Blockbildung: "In der neuen historischen Epoche, in die wir eingetreten sind und die von den Ereignissen am Persischen Golf bestätigt wird, zeigt sich die Welt als ein riesiger Hexenkessel, in dem die Tendenz zum "Jeder für sich" voll zum Tragen kommt und in dem die zwischenstaatlichen Allianzen weit entfernt von jener Stabilität sind, die die Blöcke auszeichnen,  sondern von den Bedürfnissen des Moments diktiert sind. Eine Welt in tödlicher Unordnung, in blutigem Chaos, in dem der amerikanische Gendarm für ein Minimum an Ordnung durch den immer massiveren und brutaleren Einsatz seiner Militärmacht zu sorgen versucht. ("Militarismus und Zerfall“, Punkt 11)

Ist die gegenwärtige Dynamik auf einen Weltkrieg ausgerichtet, d.h. eine allgemeine Konfrontation zwischen Ländergruppen, die sich hinter ihren jeweiligen "Bossen" gruppieren?

Die Weltkriege, die wir in der kapitalistischen Dekadenz erlebt haben, waren alle mit der Existenz von Koalitionen hinter einem "Anführer" verbunden, deren Architektur lange vor dem Ausbruch des Konflikts festgelegt wurde, der aufgrund der Blocklogik in weltweite Konfrontationen mündete: 1914 standen sich zwei große Allianzen gegenüber: die Entente (die Triple-Entente England, Frankreich und Russland, ab 1907 und später die Quadruple-Entente nach dem Beitritt Italiens 1915) gegenüber der Triplice (die Triple-Allianz zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien, gegründet 1882, verlängert 1887 und bestätigt 1891/1896); zwei Bündnisachsen standen sich 1939 gegenüber: die Achse Rom-Berlin-Tokio (1936 geschlossen und im August '39 durch den Deutsch-Sowjetischen Pakt ergänzt) und der Bündnispakt zwischen Frankreich und Großbritannien in Kombination mit zwei Dreierbündnissen (Frankreich-Großbritannien-Polen und Frankreich-Großbritannien-Türkei) sowie einer "Verständigungspolitik" zwischen Großbritannien und den USA; schließlich standen sich zwischen 1945-1989 die beiden Blöcke des Westens und des Ostens (die NATO und der Warschauer Pakt) gegenüber. Außerdem bedeuteten solche Kriege die massive Mobilisierung riesiger Armeen, während die Bourgeoisie heute Massenmobilisierungen von Bevölkerungen vermeidet (außer teilweise in der Ukraine) und die Armeen der Hauptimperialismen seit den 1990er Jahren sich neu strukturiert haben (Verringerung ihrer Massivität, Aufbau spezialisierter Berufstruppen und Entwicklung von Technologien im Zusammenhang mit militärischer Robotik und Kybernetik im Fall der Armeen der USA, Chinas, Russlands und Europas) und weitgehend private Söldner und 'Vertragsarbeiter' einsetzen.

3. Führt eine solche Analyse dazu, die Gefährlichkeit der heutigen Kriege zu unterschätzen?

Die oben dargelegte Analyse darf uns keineswegs beruhigen, was die Gefahr von Kriegen in der Zerfallsphase trotz fehlender Blockdynamik betrifft. Wir müssen uns nämlich bewusst sein, dass ein solcher Kontext keineswegs bedeutet, dass ein bedeutender kriegerischer Konflikt ausgeschlossen und dass die Gefahr einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Großmächten vernachlässigbar wäre, ganz im Gegenteil: "In der Tat befand sich nicht die Bildung zweier imperialistischer Blöcke am Ausgangspunkt des Militarismus und des Imperialismus. Das Gegenteil ist der Fall: die Bildung der Blöcke ist nur die äußerste Konsequenz (die in einem gegebenen Zeitpunkt die Ursachen selbst verschärfen kann), eine Manifestation (und sicher nicht die einzige) des Versinkens des dekadenten Kapitalismus im Militarismus und im Krieg" („Militarismus und Zerfall“, Punkt 5).

Das Nichtexistenz von Blöcken macht die Situation paradoxerweise gefährlicher, da Konflikte durch eine größere Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet sind: "Mit seiner Ankündigung, seine ‚Waffen der nuklearen Abschreckung‘ in Alarmbereitschaft zu versetzen, hat der russische Präsident Wladimir Putin alle Generalstäbe gezwungen, ihre Doktrinen, die meist aus dem Kalten Krieg stammen, zu aktualisieren. Die Gewissheit der gegenseitigen Vernichtung – das englische Akronym MAD bedeutet ‚verrückt‘ – reicht nicht mehr aus, um die Möglichkeit taktischer, angeblich begrenzter Nuklearschläge auszuschließen. Mit dem Risiko eines unkontrollierten Amoklaufs" (LMD, April 2022, S. 1). Paradoxerweise kann man nämlich argumentieren, dass die Blockbildung die Möglichkeiten eines Ausrutschers einschränkte

- wegen der Blockdisziplin;

- auch wegen der Notwendigkeit, dem Weltproletariat in den Zentren des Kapitalismus zuvor eine entscheidende Niederlage zuzufügen (vgl. die Analyse des historischen Kurses in den 1980er Jahren).

Obwohl es also derzeit keine Aussicht auf eine Blockbildung oder einen 3. Weltkrieg gibt, ist die Situation gleichzeitig durch eine größere Gefährlichkeit gekennzeichnet, die mit der Intensivierung des Jeder-gegen-jeden und der zunehmenden Irrationalität zusammenhängt: Die Unvorhersehbarkeit der Entwicklung der Konfrontationen, die Möglichkeiten ihrer Entgleisung, die stärker ist als in den 50er bis 80er Jahren, kennzeichnen die Phase des Zerfalls und stellen eine der besonders besorgniserregenden Dimensionen dieser qualitativen Beschleunigung des Militarismus dar.

Welche Auswirkungen hat das auf die Arbeiterklasse?

Abschließend müssen wir verstehen, dass sich die Bedingungen des Krieges zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg einerseits und den heutigen Bedingungen andererseits grundlegend unterscheiden und dementsprechend auch die Perspektiven für das Proletariat. Während das Abgleiten in die Barbarei in der Ukraine zerstörerisch und brutal ist, ist auch die Bedeutung solcher Konflikte für die Arbeiterklasse schwieriger zu begreifen. Während Verbrüderungen im Ersten Weltkrieg technisch und politisch möglich geworden waren – Arbeiter waren immer noch in der Lage, über die Schützengräben hinweg zu kommunizieren –, gibt es heute kein solches Potenzial. Es gibt auch keine Hunderttausende von Menschen, die gemeinsam an den Fronten zusammengezogen sind, mit Möglichkeiten für Diskussionen, massive Reaktionen gegen ihre Vorgesetzten und Revolten.

Wir können daher im Moment keine Klassenreaktion an der Kriegsfront erwarten, auch wenn russische Soldaten desertieren oder sich weigern könnten, für die Ukraine eingezogen zu werden. Die Arbeiterklasse hat heute nicht die Fähigkeit, Klassenwiderstand gegen den imperialistischen Krieg zu leisten – weder in der Ukraine noch in Russland – und im Moment auch nicht im Westen. Was die allgemeineren Perspektiven für die Entwicklung des Klassenkampfes heute betrifft, so werden sie im Bericht über die Lage des Klassenkampfes behandelt.

IKS 09.05.2022
IKS 09.05.2022

 

[1] Die Biden-Fraktion will Russland auch "zur Rechenschaft ziehen" für seine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der USA, zum Beispiel durch die Versuche, die jüngeren Präsidentschaftswahlen zu manipulieren.

[2] "Xi hat nur eine 50%ige Chance, für eine dritte Amtszeit als Präsident wiedergewählt zu werden, weil er drei große Fehler begangen hat, erklärt eine anonyme Quelle, die von dem britischen Journalisten Mark O'Neill, einem in Hongkong lebenden China-Kenner, zitiert wird. Der erste ist der, dass er die diplomatischen Beziehungen Chinas seit 2012 ruiniert hat. Als er an die Macht kam, unterhielt China gute Beziehungen zu den meisten Ländern der Welt. Nun sind seine Beziehungen zu vielen dieser Länder, insbesondere zum Westen und zu seinen Verbündeten in Asien, durch ihn geschädigt. Zweitens hat die ‚Null-Covid‘-Politik der chinesischen Wirtschaft großen Schaden zugefügt, die das für dieses Jahr erwartete BIP-Wachstum von 5,5 Prozent nicht erreichen wird. Nahezu 50 Städte sind gesperrt und ein Ende ist nicht in Sicht. Der dritte Grund ist seine Ausrichtung auf Putin. Dadurch wurden die ohnehin schon schlechten Beziehungen zu Europa und Nordamerika noch weiter beschädigt. Chinesische Unternehmen sind nun angewiesen, keine neuen Verträge mit russischen Firmen abzuschließen, da dies Sanktionen nach sich ziehen könnte. Wo ist der Nutzen für China?" (zitiert aus „‘Zero Covid‘ in China: Xi Jinping stramm in seinen Stiefeln, taub für Wirtschaftsalarm", P.-A. Donnet, Asialyst, 07.05.22)

[3] Durchgesickerte Informationen aus dem Pentagon enthüllten, dass das chinesische militärische Oberkommando gegen Ende der Amtszeit Trumps heimlich Kontakt mit dem Pentagon aufgenommen hatte, weil es sich über die Gefahr eines atomaren Angriffs auf China durch Trump beunruhigte.

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Internationale Revue 58