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Bei den Mobilisierungen am 19. Januar gegen die Renten-"Reform" konnte man den Spruch hören: "Irgendwann reicht es! Dieses "Es reicht!" kann nur ein Echo des "Enough is enough" ("Zu viel ist zu viel") sein, das sich seit Juni in Großbritannien von Streik zu Streik ausbreitet.
Seit mehreren Monaten und überall auf der Welt klettert die Inflation auf ein Niveau, das seit Jahrzehnten nicht mehr erreicht wurde. Überall auf der Welt trifft der Preisanstieg bei lebensnotwendigen Produkten und Gütern wie Lebensmitteln, Gas, Strom oder Wohnraum die Ausgebeuteten mit voller Wucht, von denen ein immer größerer Teil nicht mehr über die Mittel für ein menschenwürdiges Leben verfügt, auch nicht in den am weitesten entwickelten Ländern. Die rapide Verschlechterung der Wirtschaftslage muss zwangsläufig zu immer schwierigeren und sogar elenden Lebensbedingungen für Millionen von Menschen führen.
Die Wut von mehr als einer Million Demonstranten in Frankreich war daher - über die Rentenreform hinaus - ein klarer Ausdruck eines allgemeineren Überdrusses und der Realität, dass die Kampfbereitschaft der Ausgebeuteten in vielen Ländern angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten, der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der Prekarität zurückgekehrt ist. Die Massivität dieses ersten Mobilisierungstages bestätigt nur den Stimmungsumschwung, der sich auf internationaler Ebene vollzieht und dessen Auftakt die Streiks der Arbeiterklasse in Großbritannien seit dem letzten Sommer waren.
Die Rentenreform ist eine Notwendigkeit für die Bourgeoisie
Warum unternimmt die französische Bourgeoisie unter diesen Umständen einen solchen Angriff auf die Arbeiterklasse? Die jahrelange Verzögerung, mit der die französische Bourgeoisie das Rentensystem "reformiert", bleibt eine wesentliche Schwäche gegenüber konkurrierenden Bourgeoisien. Dieser ist umso gravierender als die Intensivierung der Kriegswirtschaft eine unaufhaltsame Verschärfung der Ausbeutung der Arbeitskraft erzwingt.[1] Nachdem sie 2019 ein erstes Mal gescheitert sind, machen Macron und seine Clique diesen neuen Versuch zu einer Herausforderung für ihre Glaubwürdigkeit und ihre Fähigkeit, ihre Rolle bei der Verteidigung der Interessen des nationalen Kapitals voll auszuspielen.
Zunächst für den Sommer 2023 geplant, dann auf Ende 2022 vorgezogen und schließlich auf Januar 2023 verschoben, hat die Regierung den ihrer Meinung nach besten Zeitpunkt für diesen Angriff gewählt, wohl wissend, dass sie noch auf die zahlreichen "Unterstützungsmaßnahmen" bauen kann, mit denen der Schock der Krise teilweise abgefedert werden kann.
Wenn die Bourgeoisie entschlossen war, einen neuen Schlag gegen die Renten und für die Verlängerung der Lebensarbeitszeit zu führen, dann weiß sie auch, dass der vorherige Versuch 2019-2020 fast zwei Monate lang in Massenprotesten endete. Und obwohl die damals zum Ausdruck gebrachte Wut und Kampfgeist durch den Ausbruch der Covid-19-Pandemie abrupt gestoppt wurde, wurde dies in den Augen der Arbeiterklasse nicht als "Niederlage" empfunden. Vielmehr blieben in der Zwischenzeit die Wut und der Wille zum Kampf ungebrochen. Dieser neue Angriff auf die Renten in Frankreich hatte also alle Chancen, einen großen Teil der Arbeiterklasse auf der Straße und bei Streiks zu mobilisieren. Und das war auch der Fall! Es ist in der Tat ein direkter Angriff, der noch brutaler ist und die gesamte Arbeiterklasse betrifft.
Obwohl die Bourgeoisie sich dieser Situation und vor allem der Kampfbereitschaft, die sich auf internationaler Ebene (jenseits des Kanals und anderswo) ausdrückt, sehr wohl bewusst ist, könnte sich dessen Durchsetzung schwieriger erweisen als erwartet. Aus diesem Grund haben sich die Regierung und die Gewerkschaften über Monate hinweg immer wieder getroffen, um die effektivste Strategie zur Anpassung und Reaktion auf die zu erwartende Reaktion der Arbeiterschaft zu entwickeln.
Angesichts der Spaltung sollten wir mit vereintem und solidarischem Kampf antworten
Nach der sehr gut besuchten branchenübergreifenden Demonstration vom 29. September haben die Gewerkschaften unaufhörlich Streiktage in den einzelnen Branchen veranstaltet und vervielfacht. Während des Herbstes hatte die konzertierte Aktion der Regierung, der linken und linksextremen Parteien sowie der Gewerkschaften kein anderes Ziel, als so lange wie möglich jede wirkliche Einheit und Solidarität in den verschiedenen Bereichen der Arbeiterklasse zu schwächen und zu verhindern. Dies war beispielsweise im Oktober 2022 während des Streiks in den Raffinerien der Fall: Indem die "Sozialpartner", die Hauptsaboteure der Kämpfe, die Vorzüge einer echten Verhandlung anpriesen, ermöglichten sie es dem Staat, als verantwortlicher Schiedsrichter gegenüber den Arbeitgebern zu erscheinen, und der CGT und FO, von den Medien als entschlossen, radikal, unbeugsam und somit glaubwürdig für den Kampf dargestellt zu werden ... obwohl diese Gewerkschaft selbst perfekt institutionalisierte Staatsorgane sind.[2]
Während die Möglichkeiten der Solidarität im Kampf immer mehr zutage treten, haben die Gewerkschaften die Organisation von Bewegungen in ihren Händen, die sie zerstreuen und in ebenso viele Branchen, Berufsgruppen und spezifische Forderungen trennen und so jede mögliche Spaltung ausnutzen, um die Kämpfe zu behindern und ihre Entwicklung zu hemmen.
Dieser Wille, jeden Vorstoß der Klasse zu vereiteln, zeigte sich beim Streik der Schaffner der SNCF im Dezember letzten Jahres. Angesichts der Tatsache, dass mehr als die Hälfte der Schaffner die Arbeit niedergelegt hatte, setzten die Gewerkschaften alles daran, die Bewegung so schnell wie möglich zu beenden. Dies führte zu Verhandlungen mit der SNCF-Leitung und zur Erfüllung eines Teils der Forderungen, um die Streikankündigung für das Silvesterwochenende aufzuheben. Die Gewerkschaften arbeiteten also daran, jeden Versuch eines autonomen Kampfes zu verhindern. Dasselbe hatten wir 1986 im Kampf bei der SNCF gesehen, wo die Entstehung von Koordinationen, die von den Gewerkschaftszentralen unabhängig waren, die CGT dazu veranlasste, ganz zu Beginn der Bewegung "streikfeindliche" Streikposten einzurichten, die sich den Streikenden physisch entgegenstellten, um dann in einem zweiten Schritt ihre Jacke zu wechseln. Diese Koordinationen, so "radikal" sie auch waren, konnten einen engen berufsbeschränkten Blick nicht überwinden, welcher damals vor allem unter den Lokführern vorhanden war, die fest von der trotzkistischen Organisation Lutte Ouvrière unterstützt wurden. Heute hat das Gewicht des Denkens in Branchen oder Berufsgruppen trotz eines gewissen Misstrauens gegenüber den Gewerkschaftsführungen die Schaffner und anderen Eisenbahner gegenüber anderen, "radikaleren", "inoffizielleren" Gewerkschaftsformen wie dem "Collectif National des Agents du Service Commercial Train" (CNASCT) sehr anfällig und verwundbar gemacht, die genauso branchenfixiert sind.
Seit dem 10. Januar, als die Rentenreform angekündigt wurde, riefen Gewerkschafter in allen Fernseh- und Radiosendungen abwechselnd dazu auf, "alle auf die Straße zu gehen", und verkündeten die "Einheit der Gewerkschaften" als angebliches Symbol für ihren Willen, den Angriff abzuwehren. In Wirklichkeit war dies ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie den Zorn, der sich auf der Straße entladen sollte, eindämmen wollten. So hatten die Gewerkschaften neben ihren verlogenen Reden Anstrengungen zur Zersplitterung der Kämpfe und zur Spaltung unternommen:
- Aufruf zum Streik und zur spezifischen Mobilisierung eines wichtigen Sektors der Arbeiterklasse, des Bildungswesens ... aber am 17. Januar, d. h. zwei Tage vor dem Aktionstag am 19. Januar, um diese Branche an diesem Tag besser demobilisieren zu können!
- Streik in den Krankenhäusern ab dem 10. Januar!
- Streik bei der RATP (Pariser Verkehrsbetriebe) am 13. Januar ...
- Streik in der Ölindustrie Ende Januar, dann Anfang Februar ...
- "Schwarzer Tag"(Aktionstag), der in den öffentlichen Verkehrsmitteln in Paris für den 19. Januar auf Aufruf der Gewerkschaften organisiert wurde, um viele Menschen daran zu hindern, zu den Orten der Demonstrationen zu gelangen.
Danach hatten die Gewerkschaften mit ihren dröhnenden Lautsprecheranlagen leichtes Spiel, ein scheinheiliges "Tous ensemble, tous ensemble" (Alle zusammen, alle zusammen) am 19. Januar zu brüllen!
Hinzu kam auf denselben Fernsehbühnen und in denselben Radiosendungen eine ohrenbetäubende "Debatte" darüber, wie ungerecht die Reform für diese oder jene Bevölkerungsgruppe sei. Man müsse sie gerechter machen, indem man die besonderen Profile von Auszubildenden, bestimmten Berufsgruppen mit beschwerlichen Arbeiten sowie Frauen besser einbeziehe, lange Laufbahnen besser berücksichtige etc. Kurzum, immer wieder die gleiche Falle: Man drängt darauf, dass sich jeder über seine eigene Situation Gedanken macht, und stellt dabei nur das Schicksal der "Besonderheiten und sich abgrenzenden Kategorien" in den Vordergrund, die angesichts dieses Angriffs am meisten benachteiligt sind!
Aber letztlich haben all diese Gegenfeuer, die in den letzten drei Wochen gelegt wurden, nicht funktioniert. Und der von ein bis zwei Millionen Demonstranten zum Ausdruck gebrachte Kampfgeist zwingt die Gewerkschaften nun dazu, sich an die Situation anzupassen. Daher die Verschiebung des nächsten Mobilisierungstages vom 26. auf den 31. Januar. Die "Sozialpartner" der Bourgeoisie rechtfertigen diese Änderung zwar mit der Notwendigkeit, "die Bewegung langfristig auszurichten“, in Wirklichkeit geht es ihnen aber darum, sich Zeit zu verschaffen, um Spaltung und Sabotage des Kampfes fortzusetzen. Im Übrigen beeilten sie sich ab dem 20. Januar, die "Ortsgruppen aufzurufen, sich zu organisieren", indem sie zu völlig sinnlosen Kampfmethoden aufriefen, wie "vor eine Präfektur zu gehen und Lärm zu machen", "den Strom in den Büros der Abgeordneten abzustellen" oder "vor diesen seine schlechte Laune zu demonstrieren". All dies, ohne zu vergessen, die Bereiche voneinander zu isolieren, indem man beispielsweise für den 26. Januar zu einem eintägigen Streik in den Raffinerien aufruft. All dieses Spektakel zielt nur darauf ab, die Zerstreuung zu organisieren und uns bis zum 31. Januar zu erschöpfen und den Kampfgeist zu untergraben. Zweifellos werden sich bis dahin auch die Mobilisierungen in den einzelnen Branchen vervielfachen.
Die Arbeitnehmer müssen den Kampf selbst in die Hand nehmen
Wie kann im Gegensatz zu dieser präventiven Sabotagearbeit an den Kämpfen ein Kräfteverhältnis geschaffen werden, das es ermöglicht, den Angriffen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu widerstehen?
- Indem man Unterstützung und Solidarität über die eigene Berufsgruppe, das eigene Unternehmen, die eigene Branche, die eigene Stadt, die eigene Region, das eigene Land hinaus sucht.
- Durch autonome Organisation, insbesondere durch Vollversammlungen, ohne den Gewerkschaften die Kontrolle darüber zu überlassen.
- Durch eine möglichst breite Diskussion über die allgemeinen Bedürfnisse des Kampfes, über die Lehren, die aus den Kämpfen und auch aus den Niederlagen zu ziehen sind. Denn es wird Niederlagen geben, aber die größte Niederlage wäre es, die Angriffe zu erdulden, ohne zu reagieren.
Der Eintritt in den Kampf ist der erste Sieg der Ausgebeuteten. Autonomie, Solidarität und Einheit sind die unerlässlichen Meilensteine für die Vorbereitung der Kämpfe von morgen. Denn die heutigen Kämpfe sind nicht nur Ausdruck des Widerstands gegen die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Sie sind auch der einzige Weg zur Wiedererlangung des Bewusstseins, einer einzigen Klasse anzugehören. Sie bilden den wichtigsten Ansatzpunkt anhand dessen das Proletariat eine Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft erahnen kann: den Kommunismus.
Stopio, 21. Januar 2023
[1]Nach dem Vorbild seiner ausländischen Amtskollegen hat Macron gerade eine beträchtliche Erhöhung der Rüstungsbudgets angekündigt.
[2]Siehe auf französisch: « Grèves dans les raffineries françaises et ailleurs… La solidarité dans la lutte, c’est la force de notre classe ! », Révolution internationale n° 495.