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IKS-Präsentation
In Fortsetzung der Diskussionsdokumente, die nach dem 23. IKS-Kongress[1] veröffentlicht wurden, veröffentlichen wir weitere Beiträge, die Divergenzen mit der Resolution über die internationale Lage vom 24. IKS-Kongress[2] zum Ausdruck bringen. Wie beim vorangegangenen Beitrag des Genossen Steinklopfer beziehen sich die Meinungsverschiedenheiten auf das Verständnis unseres Zerfallsbegriffs, auf interimperialistische Spannungen und die Kriegsgefahr sowie auf das Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Um weitere Verzögerungen unter dem Druck der aktuellen Ereignisse zu vermeiden, veröffentlichen wir die neuen Beiträge der Genossen Ferdinand und Steinklopfer ohne Gegendarstellung zur Verteidigung der Mehrheitsposition in der IKS, werden aber sicherlich zu gegebener Zeit auf diesen Text eingehen.
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Die IKS verteidigt das wissenschaftliche Prinzip der Klärung durch die Debatte, durch Gegenüberstellung sachlich begründeter Argumente mit dem Ziel, ein tieferes Verständnis der Fragen zu erreichen, mit denen sich die Klasse konfrontiert sieht. Die gegenwärtige Periode ist schwierig für Revolutionäre. Dies war bereits vor der Covid-Pandemie der Fall, aber in den letzten zwei Jahren mussten neue Ereignisse und Trends bewertet werden. So ist es nicht verwunderlich, dass in einer lebendigen revolutionären Organisation Kontroversen über die Analyse der Weltlage entstehen.
Die größten Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Organisation betreffen die folgenden Fragen, die für die Perspektiven des Proletariats von entscheidender Bedeutung sind:
a) Wie ist das gegenwärtige Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zu beurteilen, nachdem das Konzept des Historischen Kurses aufgegeben wurde? Bewegt sich die Klasse von Niederlage zu Niederlage oder bewegt sie sich vorwärts?
b) Wie messen wir die unterirdische Reifung des Klassenbewusstseins, die Arbeit des „alten Maulwurfs“? Gibt es eine bedeutsame Reifung oder umgekehrt einen Rückzug?
c) Zur wirtschaftlichen Situation: Bringt die Pandemiekrise nur Verlierer hervor oder gibt es Gewinner der Situation, die ihre Position verbessern können?
d) Zu den imperialistischen Spannungen: Gibt es signifikante Polarisierungen in der Weltkonstellation, die die Gefahr eines generalisierten Krieges erhöhen? Oder ist die Tendenz Jeder-gegen-alle dominant und damit ein Hindernis für eine neue Blockkonstellation?
Bereits nach dem 23. Kongress der IKS im Jahr 2019 wies der Artikel in der Internationalen Revue, der über die Arbeiten berichtete, auf Kontroversen in unseren Reihen über die Einschätzung der Weltlage hin, und zwar auf der Ebene des Klassenkampfs oder genauer über das Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat. In der Präsentation der Internationalen Revue Nr. 56 hieß es: „Auf dem Kongress gab es unterschiedliche Einschätzungen über den Klassenkampf und seine Dynamik. Hat das Proletariat auf der Ebene des Bewusstseins Niederlagen erlitten, die seine Fähigkeiten ernsthaft schwächen? Gibt es eine unterirdische Reifung des Bewusstseins, oder erleben wir im Gegenteil eine Vertiefung des Rückgangs der Klassenidentität und des Bewusstseins?”
Gleichzeitig haben wir 2019 das Konzept des „Historischen Kurses“ aufgegeben, weil wir erkannt haben, dass die Dynamik des Klassenkampfes in der gegenwärtigen Periode des Zerfalls in diesem Rahmen nicht mehr angemessen analysiert werden kann.
In den Diskussionen zwischen 2019 und 2021 und schließlich in der Vorbereitung der Resolution des 24. Kongresses zur internationalen Lage waren wir mit einer Fortsetzung der Unterschiede in der Einschätzung der aktuellen Weltlage konfrontiert.
Ein wichtiger Teil der Kontroverse wurde im August 2020 unter dem Titel der "internen Debatte" veröffentlicht. Der Artikel des Genossen Steinklopfer, der Minderheitspositionen verteidigte, und die Antwort der IKS zeigten, dass das Feld der Debatte nicht nur die Frage der Dynamik des Klassenkampfes und des Klassenbewusstseins umfasste, sondern in einem breiteren Sinne die Einschätzung der Periode des kapitalistischen Zerfalls, insbesondere die konkrete Anwendung des Begriffs des Zerfalls – ein Begriff, der bisher ein Unterscheidungsmerkmal der IKS innerhalb des proletarischen politischen Milieus ist.
Da ich in der letzten Zeit ähnliche Meinungsverschiedenheiten wie Genosse Steinklopfer mit der Mehrheitsposition hatte, wurde ich eingeladen, sie nicht nur durch interne Beiträge, sondern auch durch einen Artikel zur Veröffentlichung darzulegen und meine Differenzen zur Resolution zur internationalen Lage vom 24. Kongress zu begründen.
Die meisten Änderungsanträge, die ich zur Resolution des Kongresses vorschlug, drehten sich um die wirtschaftliche Frage, nämlich um die Dynamik, das Gewicht und die Aussichten des chinesischen Staatskapitalismus. Gleichzeitig unterstützte ich viele Änderungsanträge des Genossen Steinklopfer, die gleiche oder kompatible Anliegen verteidigten.
Meine Divergenzen lassen sich unter den folgenden Überschriften zusammenfassen (die Zahlen beziehen sich auf die Version der Resolution auf unserer englischen Website):
- China, seine Wirtschaftsmacht und der Staatskapitalismus (Punkte 9 und 16 der Resolution);
- die Entwicklung der globalen Wirtschaftskrise und des Staatskapitalismus im Zerfall (Punkte 14, 15 und 19);
- imperialistische Polarisierung und Kriegsgefahr (Punkte 12 und 13);
- das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und die Frage der unterirdischen Bewusstseinsreifung (Punkt 28).
1. Die Entwicklung Chinas, seiner Wirtschaftsmacht und seines Staatskapitalismus
Nachdem die Resolution den politischen und ideologischen Zerfall in den USA und Europa aufgezeigt hat, heißt es: „Und während die chinesische Staatspropaganda die wachsende Uneinigkeit und Inkohärenz der "Demokratien" hervorhebt und sich selbst als Bollwerk globaler Stabilität präsentiert, ist Pekings zunehmender Rückgriff auf Repression im Innern, wie gegen die "Demokratiebewegung" in Hongkong und die uigurischen Muslime, in Wirklichkeit ein Beweis dafür, dass China eine tickende Zeitbombe ist. Das außergewöhnliche Wachstum Chinas ist selbst ein Produkt des Zerfalls.“ (Punkt 9)
Dann erklärt sie: "Die wirtschaftliche Öffnung während der Deng-Periode in den 1980er Jahren mobilisierte riesige Investitionen, vor allem aus den USA, Europa und Japan. Das Tiananmen-Massaker 1989 machte deutlich, dass diese wirtschaftliche Öffnung von einem unflexiblen politischen Apparat durchgesetzt wurde, der nur durch eine Kombination aus Staatsterror, einer rücksichtslosen Ausbeutung der Arbeitskraft, die Hunderte Millionen Arbeiter einem Dauerzustand als Wanderarbeiter unterwirft, und einem rasenden Wirtschaftswachstum, dessen Fundamente nun zunehmend wackelig erscheinen, dem Schicksal des Stalinismus im russischen Block entgehen konnte. Die totalitäre Kontrolle über den gesamten Gesellschaftskörper, die repressive Verhärtung der stalinistischen Fraktion von Xi Jinping, ist kein Ausdruck von Stärke, sondern eine Manifestation der Schwäche des Staates, dessen Zusammenhalt durch die Existenz von Fliehkräften innerhalb der Gesellschaft und wichtigen Cliquenkämpfen innerhalb der herrschenden Klasse gefährdet ist." (ebd.)
In Punkt 16 der Resolution wird zunächst behauptet, dass China mit der Verkleinerung der Märkte in der ganzen Welt, sowie mit dem Wunsch zahlreicher Staaten, sich aus der Abhängigkeit von der chinesischen Produktion zu befreien, und zudem mit der Gefahr der Zahlungsunfähigkeit einer Reihe von Ländern, die am Seidenstraßenprojekt beteiligt sind, konfrontiert ist. China strebe daher eine Verlagerung hin zur Stimulierung der Binnennachfrage und zur Autarkie auf der Ebene der Schlüsseltechnologien an, um über seine eigenen Grenzen hinaus Fuß zu fassen und seine Kriegswirtschaft entwickeln zu können. Diese Entwicklung, so heißt es in der Resolution, "verursacht mächtige Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse, zwischen den Anhängern der Lenkung der Wirtschaft durch die Kommunistische Partei Chinas und denen, die mit der Marktwirtschaft und dem Privatsektor verbunden sind, zwischen den "Planern" der Zentralbehörde und den lokalen Behörden, die die Investitionen selbst lenken wollen" (Punkt 16).
Die Behauptungen, China sei eine tickende Zeitbombe, sein Staat sei schwach und sein Wirtschaftswachstum erscheine wackelig, sind Ausdruck einer Unterschätzung der tatsächlichen wirtschaftlichen und imperialistischen Entwicklung Chinas in den letzten 40 Jahren. Prüfen wir zuerst die Fakten und dann die theoretischen Grundlagen, auf denen diese falsche Analyse beruht.
Es mag sein, dass die inneren Spannungen in China in Wirklichkeit stärker sind, als es scheint – auf der einen Seite die gesellschaftlichen Widersprüche im Allgemeinen, auf der anderen die Widersprüche innerhalb der Regierungspartei im Besonderen. Wir können der chinesischen Propaganda hinsichtlich der Stärke ihres Systems nicht trauen. Aber das, was uns westliche oder andere nicht-chinesische Medien über die Widersprüche in China erzählen, ist auch Propaganda – und zudem oft Ausdruck von Wunschdenken. Die in der Resolution genannten Elemente sind nicht überzeugend: Eine totalitäre Kontrolle über die gesamte Gesellschaft und Unterdrückung der „demokratischen Meinungsfreiheit“ können Zeichen einer Schwäche der herrschenden Klasse sein. Dem stimme ich zu. Wie wir aus der Zeit nach 1968 mit einer aufstrebenden proletarischen Bewegung wissen, ist die Demokratie bei der Kontrolle der Arbeiterklasse und sozialer Widersprüche im Allgemeinen viel effektiver als autoritäre Regime. Beispielsweise ersetzte die Bourgeoisie in Spanien, Portugal und Griechenland in den 1970er Jahren autoritäre Regime durch demokratische, weil sie mit den sozialen Unruhen fertig werden musste. Aber befindet sich die Arbeiterklasse in China in einer ähnlichen Dynamik wie das Proletariat in Südeuropa in den 1970er Jahren? Ich stelle diese Frage mit Blick auf das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, das wir letztlich nur als weltweites Kräfteverhältnis richtig beurteilen können.
Die Resolution behandelt in ihrem letzten Teil die Frage des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, und ich werde darauf zurückkommen. Aber eines können wir vorwegnehmen: Für die These, dass das Proletariat das Regime von Xi Jinping bedroht, spricht nichts.
Dasselbe gilt für andere Widersprüche innerhalb Festlandchinas und seines politischen Apparats. Obwohl die Interessensunterschiede zwischen der regierenden Partei und sehr reichen chinesischen Tech-Tycoons wie Jack Ma (Alibaba) und Wang Xing (Meituan) offensichtlich sind, scheinen letztere kein alternatives Modell für die Volksrepublik vorzuschlagen, und noch weniger bilden sie eine organisierte Opposition. Auch innerhalb der Partei scheinen wichtige ideologische Kämpfe der Vergangenheit anzugehören. Vor 2012 und der Präsidentschaft Xi Jinpings fand die sogenannte „Kuchendebatte“ in hohen Parteikreisen statt: Es gab zwei Fraktionen. Eine sagte, China sollte sich darauf konzentrieren, den Kuchen – Chinas Wirtschaft – größer zu machen. Die andere wollte den vorhandenen Kuchen gerechter verteilen. Ein Anhänger der zweiten Position war Bo Xilai, der ein Jahr nach Xi Jinpings Aufstieg zum Partei- und Staatschef wegen Korruption und Machtmissbrauchs zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Inzwischen ist die Position der „gerechteren Verteilung“ zur offiziellen Doktrin geworden[3] und es gibt keine Anzeichen für eine weitere Debatte.
Nach den verfügbaren Informationen[4] begannen die Säuberungen im Repressionsapparat Anfang 2021. Bei der Polizei, der Geheimpolizei, der Justiz und im Strafvollzug wurden offiziell mehr als 170'000 Menschen wegen Korruption bestraft. Das ist eine zynische Machtdemonstration. Dasselbe gilt für das Orwellsche Überwachungssystem. Ebenso verrückt ist der Personenkult um Xi Jinping. Aber sind dies Beweise für eine „Schwäche des Staates“? Für eine „tickende Zeitbombe“ unter dem Präsidentensessel?
Die herrschenden Kreise in diesem Land nutzen die Pandemiekrise, um ihre Wirtschaft, ihre Armee, ihr gesamtes Imperium umzustrukturieren. Auch wenn sich das Wirtschaftswachstum in China in letzter Zeit verlangsamt hat, steckt dahinter zum Teil ein kalkulierter Plan der herrschenden politischen Elite, die Exzesse des Privatkapitals zu zügeln und den Staatskapitalismus für die imperialistische Herausforderung zu stärken. Die Partei stutzt einigen der profitabelsten Unternehmen und reichsten Tycoons die Flügel; sie lässt Luft aus manchen Spekulationsblasen entweichen, um das gesamte Wirtschaftsgeschehen strenger zu kontrollieren – mit der Propaganda, dass all dies dem Schutz der Arbeiter, der Kinder, der Umwelt und des freien Wettbewerbs diene.
Die Säuberungen im Repressionsapparat und die Zurschaustellung autoritärer Macht sind Hinweise auf verborgene Spannungen (nicht nur in Xinjiang und Hongkong). Aber es ist kein Alternativmodell für den Kurs des chinesischen Staatskapitalismus erkennbar.
Dies ist meine Lesart der Fakten.
Wenn wir die Bedeutung der gegenwärtigen Divergenzen in der Analyse von China verstehen wollen, müssen wir die Theorie hinter der Mehrheitsposition in der IKS und somit der vorliegenden Resolution betrachten.
Die Entwicklung Chinas wird in unseren Reihen seit Jahrzehnten heruntergespielt. Damit verbunden ist ein falsches, schematisches Verständnis kapitalistischer Dekadenz. Einer unserer Referenztexte aus der Anfangszeit der Existenz der IKS, Der Kampf des Proletariats im aufsteigenden und im dekadenten Kapitalismus, drückte es so aus: „Die Periode der kapitalistischen Dekadenz zeichnet sich dadurch aus, dass die Entstehung neuer Industrienationen unmöglich geworden ist. Jene Länder, die ihren industriellen Rückstand vor dem Ersten Weltkrieg nicht wettmachen konnten, waren dazu verdammt, in totaler Unterentwicklung zu stagnieren oder in eine chronische Abhängigkeit gegenüber den hochindustrialisierten Ländern zu geraten. So verhält es sich mit Nationen wie China oder Indien, denen es trotz angeblicher "nationaler Unabhängigkeit" oder gar "Revolution" (d.h. die Einführung eines drakonischen Staatskapitalismus) nicht gelang, Unterentwicklung und Armut abzustreifen.“ (Der Kampf des Proletariats im aufsteigenden und im dekadenten Kapitalismus, Internationale Revue Nr. 8)
Erst 2015, im Rahmen der kritischen Bilanz von 40 Jahren IKS-Analysen, haben wir den Fehler in diesem Schema offiziell erkannt:
„Diese „katastrophistische“ Sichtweise gründet zu einem guten Teil auf einem Mangel an Verständnis unserer Analyse des Staatskapitalismus (…) Dieser Fehler, der darin besteht, jegliche Möglichkeit zur Expansion des Kapitalismus in seiner Niedergangsphase zu negieren, erklärt die Schwierigkeiten der IKS, den Aufstieg und die rasante industrielle Entwicklung Chinas (und anderer peripherer Länder) nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zu verstehen.“ (40 Jahre nach der Gründung der IKS, in Internationale Revue 53, 2016)
Aber diese Anerkennung war halbherzig. Bald schlichen sich die alten Schemata wieder in unsere Analysen ein. Die Implikationen des Widerspruchs zwischen unseren „klassischen“ Ansichten und der Realität waren zu radikal. Um diesen Widerspruch zu überbrücken, wäre es notwendig gewesen, den ökonomischen Bewegungsgesetzen auf den Grund zu gehen, die auch im dekadenten Kapitalismus am Werk sind. Stattdessen wurde das Problem mit der Formulierung „das außergewöhnliches Wachstum Chinas ist selbst ein Produkt des Zerfalls“ (Punkt 9 der vorliegenden Resolution, vgl. oben) geregelt – brillant in ihrer Schwammigkeit. Die Idee wurde 2019 mit der Resolution des 23. internationalen Kongresses eingeführt, in der es heißt: „Es bedurfte der beispiellosen Umstände der historischen Epoche des Zerfalls, um China den Aufstieg zu ermöglichen; ohne diese Umstände des Zerfalls wäre es nicht dazu gekommen.” (Internationale Revue Nr. 56)
Wobei diese letztgenannte Formulierung insofern richtig ist, als die Öffnung der Welt für die Kapitalanlage (Globalisierung) hauptsächlich in der Zeit des Zerfalls am Vorabend des Zusammenbruchs des Blocksystems und danach stattfand und dies Teil der Bedingungen war, die den Aufstieg Chinas zur Werkbank der Welt ermöglichten. Der Satz von Chinas Wachstum als "Zerfallsprodukt" ist aber ein Rückschritt in Richtung der "katastrophistischen Sichtweise". Alles ist Produkt des Zerfalls – und somit ist jedes Wachstum nichtig und fake. Außerdem: Alles zerfällt auf homogene Weise, eine Art gleichmäßiger Zerfall nicht nur der menschlichen Beziehungen, der Moral, der Kultur und der Gesellschaft, sondern des Kapitalismus selbst.
Die vorliegende Resolution ist nicht in der Lage, die Realität des Aufstiegs Chinas in den letzten vier Jahrzehnten zu erfassen und zu erklären. Wie ich bereits oben zitiert habe, heißt es dort lediglich:
"(...) diese wirtschaftliche Öffnung [wurde] von einem unflexiblen politischen Apparat durchgesetzt (...), der nur durch eine Kombination aus Staatsterror, einer rücksichtslosen Ausbeutung der Arbeitskraft, die Hunderte Millionen Arbeiter einem Dauerzustand als Wanderarbeiter unterwirft, und einem rasenden Wirtschaftswachstum, dessen Fundamente nun zunehmend wackelig erscheinen, dem Schicksal des Stalinismus im russischen Block entgehen konnte" (Punkt 9).
Ein Teil dieser Argumentation ist tautologisch: „Diese wirtschaftliche Öffnung wurde durch … ein rasendes Wirtschaftswachstum umgesetzt “ – der wirtschaftliche Erfolg war auf den wirtschaftlichen Erfolg zurückzuführen.
Im Übrigen erklärt die Resolution den Erfolg Chinas im Gegensatz zum Schicksal des russischen Blocks vor 1989 damit, dass die Leistungsfähigkeit das Ergebnis einer „Kombination aus Staatsterror“ und „einer rücksichtslosen Ausbeutung der Arbeitskraft war, die Hunderte Millionen Arbeiter einem Dauerzustand als Wanderarbeiter unterwirft“. Was erklärt das? Will die Resolution nahelegen, dass eine „Kombination aus Staatsterror“ und „rücksichtsloser Ausbeutung“ die Zutaten für einen erfolgreichen Kapitalismus seien? Und unterscheidet sich China diesbezüglich vom Stalinismus in der ehemaligen Sowjetunion?
Ich schlug vor, den Satz zu streichen und unterstützte stattdessen eine Formulierung, die Genosse Steinklopfer in einem seiner Änderungsanträge vorgeschlagen hatte: "(...) Es ist kein Zufall, dass China im Gegensatz zur UdSSR und ihrem ehemaligen imperialistischen Block gegen Ende des 20. Jahrhunderts nicht zusammengebrochen ist. Chinas Aufschwung beruhte auf zwei spezifischen Vorteilen: auf dem Vorhandensein gigantischer interner außerkapitalistischer Bereiche, die auf der Bauernschaft beruhten, die in ein Industrieproletariat umgewandelt werden konnte, und auf einer besonders alten und hoch entwickelten kulturellen Tradition (bis zum Beginn der modernen Industrialisierung in Europa war China immer eines der wichtigsten Zentren der Weltwirtschaft, des Wissens und der Technologie)."
Ob der Begriff der „außerkapitalistischen Bereiche“ noch geeignet ist, diese allerdings bedeutsame Tatsache zu beschreiben, nämlich die Integration neuer verfügbarer Arbeitskräfte in das formelle Verhältnis und den Austausch zwischen Kapital und Lohnarbeit, ist fraglich. Die Idee ist aber klar: Der Prozess der Kapitalakkumulation in China war durchaus real, nicht nur vorgetäuscht. Sie geschah dank Ressourcen, die noch nicht formell als zu verkaufende Arbeitskraft zur Aneignung ihres Gebrauchswerts durch die Kapitalisten bestimmt waren. Wie jede Akkumulation im Kapitalismus erforderte dieser Prozess in China nach Mao neu verfügbare Arbeitskraft (und Rohstoffe, d.h. zu einem großen Teil Natur, also auch ein „außerkapitalistischer Bereich“ in gewissem Sinne).
Um das Schicksal des Stalinismus im russischen Block zu verhindern, war es für China auch notwendig, auf die Sanktion des kapitalistischen Marktes (Adam Smiths „unsichtbare Hand“) wieder zurückzugreifen, insbesondere auf zwei Ebenen: der Entlassung von ArbeiterInnen und dem Bankrott von nicht rentablen Unternehmen. Erst diese Maßnahmen der herrschenden Kreise um und nach Deng Xiaoping ermöglichten das Funktionieren des privaten Kapitalsektors und die Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Wirtschaft gegenüber dem Rest der Welt. All dies wird von der bestehenden Resolution vernachlässigt. Die Änderungsanträge, die die Mängel beheben sollten, wurden mit der Begründung abgelehnt, dass sie „die Auswirkungen des Zerfalls auf den chinesischen Staat“ in Frage stellen oder relativieren würden.
Tatsächlich wurzelt die Abneigung der Resolution, die Realität der Stärke Chinas anzuerkennen, im Verständnis der kapitalistischen Dekadenz – und damit des Zerfalls. Wir haben die Debatte über die verschiedenen Analysen des Wirtschaftsbooms nach 1945 nie abgeschlossen. Die Mehrheitsposition innerhalb der IKS scheint diejenige zu sein, die behauptet, der Hauptgründe für diesen Wirtschaftsboom nach 1945 seien "außerkapitalistischen Märkte und Verschuldung“ (vgl. Internationale Revue 42-46).[5] Diese theoretische Position glaubt, dass die notwendigen neuen Märkte für den Verkauf der gesteigerten Produktion nur entweder außerkapitalistisch sein oder irgendwie künstlich durch Schulden geschaffen werden können. Diese Idee steht zwar im Einklang mit einem wörtlichen Verständnis eines zentralen Arguments in Rosa Luxemburgs Die Akkumulation des Kapital [6] – aber im Widerspruch zur Realität. Für eine tiefere Analyse dieser Achillesferse der Wirtschaftsanalyse der IKS ist hier nicht der richtige Ort.
Für das Verständnis der Divergenzen reicht es aus, dass die offizielle IKS-Position die Tatsache leugnet, dass kapitalistische Akkumulation auch die Schaffung neuer zahlungsfähiger Märkte innerhalb des kapitalistischen Milieus bedeutet, und zwar auf der Grundlage des Austausches zwischen Lohnarbeit und Kapital (wenn auch nicht ausreichend im Vergleich zu den Bedürfnissen einer ungehinderten Akkumulation – dieser Punkt ist unstrittig). Da offensichtlich auch in der Dekadenz des Kapitalismus neue zahlungsfähige Märkte entstanden sind, muss die gegenwärtige IKS-Position ihre Herkunft irgendwie erklären. Und da bedeutende außerkapitalistische Märkte (im Sinne einer zahlungsfähigen Käuferschaft der produzierten Waren) nicht mehr ausfindig gemacht werden können, wird die fortschreitende Akkumulation durch die Verschuldung „erklärt“, oder durch Machenschaften, die „das Wertgesetz austricksen“. Ich werde auf diese Frage im Zusammenhang mit den nachfolgenden Punkten der Resolution zurückkommen.
2. Die Entwicklung der kapitalistischen Krise und des Staatskapitalismus im Zerfall
Unter dem Titel „Eine noch nie dagewesene Wirtschaftskrise“ versucht die Resolution eine Analyse der Folgen der Covid-19-Pandemie auf die Weltwirtschaft anzubieten. Ich stimme zwar zu, dass die Situation beispiellos ist und daher die Folgen nicht leicht vorhersehbar sind, aber das Verständnis der kapitalistischen Akkumulation und Krise im Rahmen der Resolution reicht nicht aus, um die aktuelle Realität und ihre treibenden Kräfte zu analysieren. Nach Ansicht der Mehrheit der IKS, die die Resolution in ihrer jetzigen Form angenommen und die von Steinklopfer und mir vorgeschlagenen Änderungsanträge abgelehnt hat, ist alles dem „Zerfall“, einer Art homogener Fragmentierung, untergeordnet. Dieses Verständnis der Zerfallsperiode ist schematisch und – insofern es das Fortbestehen elementarer kapitalistischer Gesetzmäßigkeiten – etwa der Konzentration und Zentralisation des Kapitals – leugnet, eine Abkehr vom Marxismus. Diese Ansicht der Mehrheit lehnt ausdrücklich ab, dass das wirtschaftliche Erdbeben als Folge der Pandemie nicht nur Verlierer, sondern auch Gewinner hervorbringt. Sie bestreitet implizit das Fortbestehen der Zentralisation und der Konzentration des Kapitals, des Transfers von Profiten aus technologieärmeren Bereichen in solche mit höherer organischer Zusammensetzung des Kapitals und damit eine weitere Polarisierung zwischen Erfolgreichen und Verlierern. Die Pandemie beschleunigte die für die Zeit der Zerfalls typischen zentrifugalen Tendenzen, jedoch nicht in homogener Weise. Es finden unterschiedliche Polarisierungen statt. Die Reichen werden reicher; die profitablen Unternehmen attraktiver; die Staaten, die Covid 19 gut gemeistert haben, erweitern ihre Märkte auf Kosten der Inkompetenten und stärken ihren Apparat. Diese Polarisierungen und zunehmenden Unterschiede in der Weltwirtschaft sind Teil einer Realität, die von der vorliegenden Resolution vernachlässigt wird. Diese sieht nur Fragmentierung, Verlierer und Unsicherheit. In Punkt 14 heißt es: „Dieses Eindringen der Auswirkungen des Zerfalls in die Wirtschaftssphäre wirkt sich direkt auf die Entwicklung der neuen Phase der offenen Krise aus und läutet eine in der Geschichte des Kapitalismus noch nie dagewesene Situation ein. Die Auswirkungen des Zerfalls, welche die Mechanismen des Staatskapitalismus, die bisher zur ‚Begleitung‘ und Begrenzung der Auswirkungen der Krise eingerichtet wurden, tiefgreifend verändern, bringen einen Faktor der Instabilität und Zerbrechlichkeit, der wachsenden Unsicherheit in die Situation ein.”
Die Resolution unterschätzt die Tatsache, dass es den starken nationalen Wirtschaften weitaus besser geht als den schwachen: „Eine der wichtigsten Erscheinungsformen der Schwere der gegenwärtigen Krise liegt – im Gegensatz zu vergangenen Situationen offener Wirtschaftskrisen und im Gegensatz zur Krise von 2008 – darin, dass die zentralen Länder (Deutschland, China und die USA) gleichzeitig getroffen wurden und zu den am stärksten von der Rezession betroffenen Ländern gehören, in China durch einen starken Rückgang der Wachstumsrate 2020.“ (Punkt 15)
Und sie bestreitet, dass China ein Gewinner der Situation ist: „Als einzige Nation mit einer positiven Wachstumsrate im Jahr 2020 (2 %) ist China nicht als großer Sieger oder gestärkt aus der Pandemiekrise hervorgegangen, auch wenn es auf Kosten seiner Rivalen vorübergehend an Boden gewonnen hat. Ganz im Gegenteil." (Punkt 16)
Die treibende Kraft eines Kapitalisten ist die Suche nach dem höchsten Profit. In Zeiten der Rezession, wenn alle oder die meisten Kapitalisten Verluste machen, verwandelt sich der höchste Gewinn in den niedrigsten Verlust. Diejenigen Unternehmen und Staaten mit weniger Verlusten als ihre Konkurrenten schneiden besser ab. In dieser Logik gehört China bisher zu den Gewinnern der Pandemiekrise. Übrigens: Den USA geht es auch wirtschaftlich besser als den meisten hochindustrialisierten und Schwellenländern, entgegen dem zitierten Satz in Punkt 15 der Resolution.
Die polarisierenden Tendenzen, die ich hervorhebe, stehen nicht im Widerspruch zum Rahmen des Zerfalls. Im Gegenteil; die wachsenden Ungleichheiten verstärken die globale Instabilität. Aber diese Instabilität ist ungleichmäßig. Die Pandemie führt zu einer weiteren Konzentration des konkurrenzfähigen Kapitals, zum Ersatz lebendiger Arbeitskräfte durch Maschinen und Roboter, zu einer erhöhten organischen Zusammensetzung. Das Kapital mit der höchsten organischen Zusammensetzung saugte Teile der Gewinne auf, die von den weniger Wettbewerbsfähigen produziert werden. All dies geschieht auf einer relativ schrumpfenden Basis lebendiger Arbeit, weil diese je länger je überflüssiger wird.
Einerseits bedeutet dies eine wachsende und schwindelerregende Kluft zwischen den profitablen Teilen der Weltwirtschaft und denen, die es nicht sind. Auf der anderen Seite bedeutet es einen gnadenlosen Wettlauf unten den fortgeschrittensten Rivalen um die verbleibenden Gewinne.
Diese beiden Tendenzen erhöhen die Stabilität keineswegs – ihre Existenz wird jedoch von der Position „Zerfall allüberall“ bestritten. Diese Position ist ständig auf der Suche nach Phänomenen der Auflösung und Desintegration und verliert dabei jene tieferen und konkreteren Tendenzen aus den Augen, die für die aktuellen Verschiebungen so typisch sind.
Schließlich spricht die Resolution von der „Missachtung des Wertgesetzes “ bzw. der „Überlistung der Gesetze des Kapitalismus “, ohne zu erklären, was diese Gesetze sind und was ihr Überlistung bedeute:
„Die Schuldenlast verurteilt das kapitalistische System nicht nur zu immer verheerenderen Konvulsionen (Bankrott von Unternehmen und sogar von Staaten, Finanz- und Währungskrisen usw.), sondern kann auch, indem sie den Spielraum der Staaten, die Gesetze des Kapitalismus zu überlisten, immer mehr einschränkt, ihre Fähigkeit zur Wiederbelebung ihrer jeweiligen Volkswirtschaften nur behindern." (Punkt 19)
„Die Bourgeoisie wird weiterhin bis zum Tode um das Überleben ihres Systems kämpfen, sei es mit direkten wirtschaftlichen Mitteln (wie der Ausbeutung unerschlossener Ressourcen und potenzieller neuer Märkte, typisch für Chinas Projekt der Neuen Seidenstraße) oder politisch, vor allem durch die Manipulation von Krediten und die Missachtung des Wertgesetzes. Das bedeutet, dass es immer noch Phasen der Stabilisierung zwischen den wirtschaftlichen Erschütterungen mit immer schwerer wiegenden Folgen geben kann.“ (Punkt 20)
Diese Formulierungen erklären nichts. Sie sind eine improvisierte Verschleierung des Mangels an einem klaren Begriff. Ohne diesen wird alles nur noch zu „Instabilität und Zerbrechlichkeit“ und „wachsender Unsicherheit“.
3. Imperialistische Polarisierung und Kriegsgefahr
Eine Folge der Vernachlässigung der wirtschaftlichen Polarisierung durch den letzten Internationalen Kongress ist die Unterschätzung der imperialistischen Spannungen und der Kriegsgefahr.
Nach dem Eingeständnis, dass die wachsende Konfrontation zwischen den USA und China tendenziell im Mittelpunkt steht, und dem Aufführen von Beispielen für neue Allianzen, spielt die Resolution die Gefahr einer zukünftigen Blockkonstellation mit den folgenden Worten herunter: „Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir auf die Bildung stabiler Blöcke und einen allgemeinen Weltkrieg zusteuern. Der Weg zum Krieg wird immer noch durch die starke Tendenz des „Jeder-für-sich“ und Chaos auf imperialistischer Ebene behindert, während der Kapitalismus in den zentralen kapitalistischen Ländern noch nicht über die politischen und ideologischen Elemente verfügt – einschließlich insbesondere einer politischen Niederlage der Arbeiterklasse –, welche die Gesellschaft ‚vereinigen‘ und den Weg zum Weltkrieg ebnen könnten. Die Tatsache, dass wir immer noch in einer im Wesentlichen multipolaren Welt leben, wird insbesondere durch das Verhältnis zwischen Russland und China verdeutlicht. Während Russland sich in bestimmten Fragen sehr willig gezeigt hat, sich mit China zu verbünden, im Allgemeinen in Opposition zu den USA, ist es sich nicht weniger der Gefahr bewusst, sich seinem östlichen Nachbarn unterzuordnen, und ist einer der Hauptgegner von Chinas "Neuer Seidenstraße" in Richtung imperialistischer Hegemonie.“ (Punkt 12)
Diese Sätze stimmen mit der „Ungewissheit“ in der Wirtschaftsfrage überein und vermeiden eine klare Aussage zu den gegenwärtigen imperialistischen Tendenzen. Die Resolution ist halbherzig, wenn sie die offensichtliche Konfrontation zwischen den USA und China zugibt und darauf besteht, dass dies „jedoch“ nicht die „Bildung stabiler Blöcke“ bedeute. Die Mehrheitsposition in unserer Organisation hat noch nicht die Konsequenzen aus unserer Erkenntnis auf dem 23. Internationalen Kongress gezogen, dass der Begriff des Historischen Kurses für die Analyse der Gegenwart nicht mehr brauchbar ist. Sie versucht immer noch, die aktuelle Situation innerhalb des alten Schemas des Kalten Krieges zu verstehen, das zusammen mit der Berliner Mauer eingestürzt ist. Ob die neu entstehenden Bündnisse zu „stabilen Blöcken“ werden oder nicht, ist nicht die zentrale Frage, wenn wir die Gefahr eines allgemeinen oder nuklearen Krieges analysieren wollen – beides sind die ernsthaftesten Bedrohungen für eine kommunistische Perspektive.
Die Resolution beantwortet Fragen, die sich nicht mehr stellen, und übergeht die eigentlich vor uns stehenden. Auf diesen Punkt werde ich im folgenden Teil der Kritik zurückkommen, in dem es um das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen geht.
Ein weiteres aufschlussreiches Zeichen für das Fortbestehen der alten Sichtweise ist die folgende Formulierung in der Resolution: „Wir sehen zwar keinen kontrollierten Marsch in Richtung Krieg, der von disziplinierten Militärblöcken angeführt würde, aber wir können die Gefahr einseitiger militärischer Ausbrüche oder sogar grotesker Unfälle nicht ausschließen, die eine weitere Beschleunigung des Abgleitens in die Barbarei bedeuten würden.“ (Punkt 13)
Die kapitalistische Logik der Polarisierung zwischen China und den USA treibt beide dazu, Verbündete zu finden, am Wettrüsten teilzunehmen und in den Krieg zu ziehen. Ob dieser Marsch kontrolliert wird oder nicht, ist eine andere Frage. Aber zuerst sollten wir feststellen, dass sowohl China als auch die USA nach Allianzen suchen und einen Krieg vorbereiten. Obwohl uns eine statische Sichtweise zu dem Schluss führen könnte, dass „wir immer noch in einer im Wesentlichen multipolaren Welt leben“ (Punkt 12), geht die Dynamik in Richtung Bipolarität.
Zur Frage der Stabilität der Allianzen und der Disziplin ihrer Bestandteile: Tatsache ist, dass die USA offensiv nach Verbündeten gegen China suchen. Dieses ist in mehrfacher Hinsicht im Nachteil – auf der Ebene seiner Armee, seiner Technologie, der Geografie. Doch das Reich der Mitte holt auf den ersten beiden Gebieten entschlossen auf.
Dies sollte uns an eine alte in Klassengesellschaften geltende These erinnern, die als Thukydides-Falle bezeichnet wird und besagt: „Wenn eine Großmacht droht, eine andere zu verdrängen, ist fast immer Krieg die Folge“ (Alison Graham, 2015). Thukydides, der Urahn der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, schrieb vor mehr als 2400 Jahren über die Hauptursache des Peloponnesischen Krieges, dass sie im „Machtzuwachs Athens und dem Alarm, den er in Sparta auslöste“, gegründet habe. Sicherlich leben wir in einer ganz anderen Welt, aber immer noch in einer Klassengesellschaft. Sollten wir etwa denken, dass der Kapitalismus in seiner Phase des Zerfalls rationaler sei und daher eher dazu neige, Krieg zu vermeiden?
Ich denke, dass das Proletariat in den zentralen Ländern immer noch eine Bremse auf dem Weg zu einem allgemeinen Krieg ist. Ich stimme dieser Idee zu, die in dem oben zitierten Punkt der Resolution zum Ausdruck kommt. Ich teile jedoch nicht die Ansicht, dass die in der Resolution angesprochenen typischen Ausdrucksformen des Zerfalls wie die „starke Tendenz des „Jeder-für-sich“ und Chaos auf imperialistischer Ebene“ echte Hindernisse für verallgemeinerte oder nukleare Kriege sind. Deshalb habe ich einem weiteren Änderungsantrag des Genossen Steinklopfer zugestimmt und ihn unterstützt, der jedoch mehrheitlich abgelehnt wurde und lautete:
"Während des gesamten dekadenten Kapitalismus bis heute hat von den beiden Hauptäußerungen des Chaos, das durch den Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft erzeugt wurde – imperialistische Konflikte zwischen Staaten und Kontrollverlust innerhalb jedes nationalen Kapitals – in den zentralen Zonen des Kapitalismus die erstere Tendenz über die letztere gesiegt. Unter der Annahme, von der wir ausgehen, dass dies auch im Kontext des Zerfalls weiterhin der Fall ist, bedeutet dies, dass nur das Proletariat ein Hindernis für Kriege zwischen den Hauptmächten sein kann, nicht jedoch die Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse in diesen Ländern. Obwohl diese Spaltungen unter bestimmten Umständen den Ausbruch des imperialistischen Krieges verzögern, können sie ihn auch katalysieren."
Nicht nur im Hinblick auf die Frage der Blockkonstellationen, sondern auch im Hinblick auf die Rolle der Arbeiterklasse müssen wir die Konsequenzen unserer 2019 erfolgten Überwindung des Konzepts des Historischen Kurses bedenken. 1978 formulierte die IKS in International Review 18 (deutsch in Internationale Revue 5, 1980) die Kriterien zur Bewertung des Historischen Kurses wie folgt: „Aus der Analyse der Bedingungen, die den Ausbruch der beiden Weltkriege ermöglichten, kann man die folgenden allgemeinen Lehren ziehen:
* das Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat kann nur auf Weltebene beurteilt werden und darf nicht auf Ausnahmefällen beruhen, die in zweitrangigen Gebieten auftreten; es ist wichtig, dass wir aus der Untersuchung der Situation in einigen großen Ländern auf die tatsächliche Natur des Kräfteverhältnisses schließen können;
* um den imperialistischen Krieg auslösen zu können, muss der Kapitalismus dem Proletariat zuvor eine schwere Niederlage zufügen, vor allem eine ideologische Niederlage, aber auch eine physische, sofern das Proletariat zuvor eine große Kampfbereitschaft gezeigt hatte (wie in Italien, Deutschland und Spanien zwischen den Kriegen);
* diese Niederlage darf die Klasse nicht nur zur Passivität verurteilen, sondern muss die Arbeiter auch dazu bringen, begeistert den bürgerlichen Idealen ("Demokratie", "Antifaschismus", "Sozialismus in einem Land") zuzustimmen. Die Unterstützung dieser Ideale setzt voraus:
a) dass sie einen Anschein von Wirklichkeit besitzen (die Möglichkeit einer unbeschränkten, problemlosen Entwicklung des Kapitalismus und der "Demokratie", der proletarische Ursprung des Regimes in der UdSSR);
b) dass sie auf die eine oder andere Weise mit der Verteidigung proletarischer Interessen verbunden ist;
c) dass diese Assoziation von Organisationen verteidigt wird, die das Vertrauen der Arbeiter genießen, was darauf zurückzuführen ist, dass sie in der Vergangenheit tatsächlich deren Interessen verteidigt haben. Mit anderen Worten: diese bürgerlichen Ideale müssen von ehemals proletarischen Organisationen, die die Klasse verraten haben, propagiert werden.
Dies sind in groben Zügen die Bedingungen, die in der Vergangenheit den Ausbruch von imperialistischen Kriegen begünstigten. Das soll nicht heißen, dass ein zukünftiger imperialistischer Krieg a priori gleiche Bedingungen zur Voraussetzung haben muss. Aber da die Bourgeoisie sich den Gefahren bewusst geworden ist, die mit einem vorzeitigen Ausbruch von Feindseligkeiten verbunden sind (trotz all der Vorbereitungen löste der II. Weltkrieg in Italien 1945 und in Deutschland 1944/45 Reaktionen der Arbeiter aus), wäre es ein Fehler anzunehmen, dass sich die Bourgeoisie selbst in eine Konfrontation stürzt; es sei denn, sie hat denselben Grad an Kontrolle erlangt wie 1939 oder zumindest wie 1914. Mit anderen Worten: bevor ein neuer imperialistischer Krieg möglich ist, müssen die eben aufgezählten Bedingungen zumindest vorhanden sein, andernfalls müssen andere Bedingungen die fehlenden ersetzen.“
Auf dem 23. Kongress im Jahr 2019 haben wir festgestellt, dass diese Kriterien für die gegenwärtige Situation nicht mehr gelten. Wir müssen uns also die Frage stellen, ob die Bourgeoisie zur Entfesselung des Krieges noch eine „physische Niederlage“ des Proletariats und seine „begeisterte Zustimmung zu bürgerlichen Idealen“ braucht.
4. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und die Frage der unterirdischen Bewusstseinsreifung
Trotz dieser allgemeinen theoretischen Kontroverse scheinen wir uns auf der Ebene der Konzepte und Bewertungskriterien darin einig zu sein, dass das Proletariat immer noch ein Hindernis für die Bourgeoisie darstellt, um einen Krieg zu führen, den die großen Bastionen des Proletariats in den zentralen Ländern irgendwie unterstützen müssten. Die Resolution behauptet, dass das Proletariat die entscheidende „politische Niederlage“ (Punkt 12) noch nicht erlitten habe. Dabei beharrt die Mehrheitsposition auf dem Leitgedanken des Konzepts des Historischen Kurses: entweder Kurs zum Krieg oder Kurs zur Revolution. Damit bleibt die Matrix aus der Zeit des Kalten Krieges relevant, obwohl wir auf dem 23. Internationalen Kongress festgestellt haben, dass dieses Schema letztlich nicht mehr geeignet ist, wenn wir das heutige Kräfteverhältnis beurteilen wollen. „Trotz der enormen Probleme, vor denen das Proletariat steht, lehnen wir die Vorstellung ab, dass die Klasse bereits im Weltmaßstab besiegt sei oder kurz vor einer solchen Niederlage stehe, die mit der der Konterrevolution vergleichbar wäre, einer Niederlage, von der sich das Proletariat möglicherweise nicht mehr erholen könne.“ (Punkt 28)
Der Satz ist in doppelter Hinsicht falsch: sowohl in seiner Voraussetzung – als auch in Bezug auf deren scheinbar logische Schlussfolgerung.
Die Ausgangsfrage ist nicht, ob das Proletariat bereits global besiegt worden sei – also definitiv geschlagen oder fast, nämlich in einem vergleichbaren Ausmaß wie in der Zeit der Konterrevolution. Wenn wir uns darüber einig sind, dass das Weltproletariat in den letzten 40 Jahren eine Reihe von Niederlagen erlitten hat, müssen wir Kriterien finden, um das Ausmaß der Niederlage(n) zu messen. Die Frage ist nicht die des Schreckens der physischen Niederlage der 1930er Jahre – Tod oder Leben, Vernichtung des Nichtidentischen. Im Moment ist es keine Alles-oder-Nichts-Situation, sondern ein allmähliches Schwinden des Klassenbewusstseins zumindest in seiner Ausbreitung. Meine Hypothese ist, dass es sich um einen asymptotischen Prozess (Annäherungsprozess) hin zur endgültigen Niederlage handelt.
Die logische Konsequenz ist also nicht „eine solche Niederlage, von der sich das Proletariat möglicherweise nicht mehr erholen könne“. Wenn die Hypothese richtig ist (ein allmählicher Prozess des Bewusstseinsverlusts, vor allem des Bewusstseins über eine besondere Klassenidentität), muss die Schlussfolgerung lauten: Die Arbeiterklasse kann den Prozess immer noch umkehren, eine Art Kehrtwende vollziehen. Aber sie muss sich der negativen Dynamik bewusst werden. Die Revolutionäre stehen in der Verantwortung, dies so klar wie möglich auszusprechen.
Die falsche Matrix liegt in der Beschreibung und dem Verständnis der Resolution über den konkreten Stand des Klassenkampfs: Wesentlich sei, „dass wir vor der Pandemie einige embryonale und sehr zerbrechliche Anzeichen für ein Wiederaufleben des Klassenkampfes sahen, insbesondere in Frankreich 2019. Und auch wenn diese Dynamik dann durch die Pandemie und die Lockdowns weitgehend blockiert wurde, gab es in mehreren Ländern auch während der Pandemie einige Arbeiterproteste, vor allem zu Fragen der Sicherheit, insbesondere der Hygiene, am Arbeitsplatz“ (ebd.).
Die zugrunde liegende Vision ist die einer glatten Dynamik hin zu einem stärkeren Klassenbewusstsein – also eine positive Dynamik, oder zumindest eine Art statischer Zustand: weder positiv noch negativ, also irgendwie neutral, auf der Basis einer intakten Kampfbereitschaft der Klasse.
Meine Einschätzung hingegen ist die einer Dynamik des Rückganges des Klassenbewusstseins – eine negative Dynamik, die umgedreht werden muss. Glücklicherweise zeigt die Kampfbereitschaft hier und da noch ihren Kopf. Aber Kampfbereitschaft ist noch nicht Bewusstsein, auch eine Steigerung der ersteren impliziert noch keine Erweiterung oder Vertiefung des proletarischen Bewusstseins.
Wesentlich für das Proletariat und seine politischen Organisationen ist die richtige Einschätzung der gegenwärtigen Situation samt ihrer inneren Dynamik. Die Aufgaben der Stunde für Revolutionäre hängen offensichtlich vom Verständnis dieser objektiven und konkreten Situation ab.
Auf einer weiteren Ebene müssen wir uns mit der Frage nach dem „alten Maulwurf“ von Marx (in seinem Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte) befassen. Wir verwenden für dieses Phänomen auch den Begriff der unterirdischen Reifung des Klassenbewusstseins. Die Resolution unterstreicht das Potenzial für eine tiefgreifende proletarische Wiederbelebung, die unter anderem bezeugt wird durch: „ die kleinen, aber bedeutenden Anzeichen einer unterirdischen Reifung des Bewusstseins, die sich in Bemühungen um eine globale Reflexion über das Scheitern des Kapitalismus und die Notwendigkeit einer anderen Gesellschaft einiger Bewegungen manifestieren(insbesondere der Indignados im Jahr 2011), aber auch durch das Auftauchen junger Elemente, die nach Klassenpositionen suchen und sich dem Erbe der kommunistischen Linken zuwenden “ (ebd.)
Die vage Formulierung von den „kleinen, aber bedeutsamen Anzeichen einer unterirdischen Reifung des Bewusstseins“ ist ein Kompromiss zwischen zwei unvereinbaren Gegensätzen: vorwärts oder rückwärts? Welche Richtung in der Bewegung, Zunahme oder Rückzug des Klassenbewusstseins auch in seinen unterirdischen, nicht sichtbaren Schichten?
In Diskussionen vor und während des Kongresses habe ich die Ansicht vertreten, dass es keine bedeutsame unterirdische Reifung in der Klasse gibt. Wir benötigen den Begriff der unterirdischen Reifung, um rätistischen Auffassungen und ihrer Praxis entgegen zu treten. Es ist eine theoretische Errungenschaft der IKS, dass die unterirdische Reifung auch in Momenten des Rückzugs der Kämpfe oder sogar in Zeiten der Konterrevolution stattfindet.
Aber es ist etwas anderes zu sagen – wie die Mehrheit in der Organisation behauptet –, dass die Bewegung dieser Reifung immer eine nach oben gerichtete ist.
Wenn man behauptet, dass die Reifung in allen Perioden eine Aufwärtsbewegung ist, ist eine Regression ausgeschlossen. Das bedeutet, zwei Dinge zu unterschätzen. Erstens unterschätzen wir damit die Tiefe der Schwierigkeiten unserer Klasse, einschließlich ihrer bewusstesten Teile, und zweitens unterschätzen wir die Rolle und die spezifischen Aufgaben der Revolutionäre in der gegenwärtigen Periode. Diese Aufgabe ist nicht nur eine quantitative, die Verbreitung revolutionärer Positionen, sondern vor allem eine qualitative, nämlich theoretische Arbeit, mit der die gegenwärtigen Tendenzen in den verschiedenen Bereichen vertieft analysiert werden: Verschiebungen in der Wirtschaft, die imperialistischen Spannungen und die Dynamik in der Klasse, vor allem auf der Bewusstseinsebene. Es ist richtig, es gibt sicherlich das Potenzial für eine Bewusstseinsentwicklung in der Klasse, aber Möglichkeit und Wirklichkeit sind nicht dasselbe.
Ferdinand, Januar 2022
[1] Interne Debatte in der IKS über die internationale Lage, IKSonline Januar 2021
[2] 24. Internationaler Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Lage, Internationale Revue Nr. 57
[3] Das half Bo Xilai nicht, denn offiziell saß er ja nicht wegen angeblich falscher politischer Orientierung im Gefängnis, sondern wegen Korruption und Machtmissbrauch.
[4] Wenn ich nicht wörtlich aus anderen Quellen zitiere, stütze ich mich für die Informationen in diesem Artikel auf Wikipedia und The Economist.
[5] Die/der aufmerksame Leser*in unserer Resolutionen wird zu diesem Schluss kommen, obwohl die IKS-Kongresse klugerweise nie die theoretischen Konzepte zur Abstimmung gestellt haben.
[6] Kap. 26, gegen Ende: „Im innern kapitalistischen Verkehr können im besten Fall nur bestimmte Wertteile des gesellschaftlichen Gesamtprodukts realisiert werden: das verbrauchte konstante Kapital, das variable Kapital und der konsumierte Teil des Mehrwerts; hingegen muss der zur Kapitalisierung bestimmte Teil des Mehrwerts ‚auswärts‘ realisiert werden.“