Resolution zur internationalen Lage, Dezember 2023 (Ergänzung zur Resolution des 25. Internationalen Kongresses der IKS zur internationalen Lage)

Printer-friendly version

 

Einführung

Die Entwicklung der Weltlage seit dem 25. Kongress der IKS im Frühling 2023 bestätigt voll und ganz, was wir in der damals angenommenen Resolution zur internationalen Lage sagten. Nicht nur, dass der Zerfall zum entscheidenden Faktor in der gesellschaftlichen Entwicklung wird, wie wir bereits 1990 vorausgesehen haben,[1] sondern in diesem Jahrzehnt «führt die Aggregation und Interaktion zerstörerischer Phänomene zu einem 'Strudeleffekt', der jede seiner Teilwirkungen bündelt, katalysiert und vervielfacht, indem er noch verheerendere Verwüstungen verursacht».[2]

Konkret verschärft sich die Wirtschaftskrise, und die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse verschlechtern sich erheblich, was einen "Bruch" mit der Situation der Passivität und die Entwicklung von Kampfbereitschaft und möglicherweise eines Bewusstseins begünstigt, das eine Bewegung hin zur Annahme einer revolutionären Perspektive zum Ausdruck bringt, auch wenn sie noch langsam und zerbrechlich ist. Gleichzeitig zeigen die ökologischen Verschlechterungen und die Vervielfachung der imperialistischen Kriegsgebiete (Ukraine, Armenien/Aserbaidschan, Bosnien, Afrika, Naher Osten) die Perspektive der Zerstörung und des Ruins, die der Kapitalismus der Menschheit bietet.

Im Bereich der Umweltkatastrophe lassen die jüngsten Ereignisse keinen Raum für Zweifel oder Relativierung der Folgen ökologischer Schäden für die Bewohnbarkeit des Planeten und das Überleben vieler Arten (einschließlich der menschlichen Spezies). Jüngste Beispiele sind die massiven Überschwemmungen in Pakistan oder der Temperaturanstieg in diesem Sommer auf über 40 Grad in den Ländern Südeuropas, die Umweltverschmutzung, die in Indien zur Schließung der Schulen während der Weihnachtsferien im November geführt hat und bei jedem dritten Kind Atemprobleme verursacht, die aktuelle Lungenentzündungsepidemie bei Kindern in China, die Hungersnöte in Afrika usw.

Von allen Elementen des "Strudeleffekts" ist es jedoch der imperialistische Krieg, der den Gang der Ereignisse in der Weltlage unmittelbar beschleunigt. Seit dem 25. Kongress im Frühling 2023 erleben wir eine Art Patt im Krieg in der Ukraine, das Wiederaufflammen des Krieges in Berg-Karabach, die kriegerischen Spannungen auf dem Balkan und vor allem den Krieg zwischen Israel und der Hamas. Im Hintergrund steht die wachsende Konfrontation zwischen den USA und China. Diese Häufung von Konflikten ist nicht Ausdruck einer Dynamik zur Bildung imperialistischer Blöcke, sondern bestätigt die "Jeder für sich"-Tendenz der imperialistischen Konfrontationen in dieser Periode.

---

1. Was die Analyse der imperialistischen Konfrontationen während des Kalten Krieges anbelangt, so haben sich die Koordinaten der marxistischen Analyse in der gegenwärtigen Situation verändert, vor allem, was die Möglichkeit der Bildung imperialistischer Blöcke und die Konfrontation der Klassen anbelangt. Trotzdem beharren die Bordigisten (Programma, Le Prolétaire, Il Partito) und Damenisten (ICT) darauf, in der gegenwärtigen Situation die Bildung von zwei gegensätzlichen imperialistischen Blöcken um China und die USA zu sehen und damit den Marsch in Richtung eines dritten Weltkriegs, der auf der Annahme der Niederlage des Proletariats beruht. In der Tat neigen selbst die "Experten" der Bourgeoisie dazu, die vorherrschende Tendenz der imperialistischen Konflikte in Richtung "Multipolarität" anzuerkennen.[3]

In der Resolution des 24. Kongresses 2021 zur internationalen Lage haben wir geschrieben:

"Der Weg zum Krieg wird immer noch durch die starke Tendenz des „Jeder-für-sich“ und Chaos auf imperialistischer Ebene behindert, während der Kapitalismus in den zentralen kapitalistischen Ländern noch nicht über die politischen und ideologischen Elemente verfügt – einschließlich insbesondere einer politischen Niederlage der Arbeiterklasse –, welche die Gesellschaft ‚vereinigen‘ und den Weg zum Weltkrieg ebnen könnten. Die Tatsache, dass wir immer noch in einer im Wesentlichen multipolaren Welt leben, wird insbesondere durch das Verhältnis zwischen Russland und China verdeutlicht. Während Russland sich in bestimmten Fragen sehr willig gezeigt hat, sich mit China zu verbünden, im Allgemeinen in Opposition zu den USA, ist es sich nicht weniger der Gefahr bewusst, sich seinem östlichen Nachbarn unterzuordnen, und ist einer der Hauptgegner von Chinas "Neuer Seidenstraße" in Richtung imperialistischer Hegemonie."[4]

2. Die Anerkennung des unkontrollierten Verhältnisses der imperialistischen Kräfte, das im Wesentlichen durch die Tendenz zum "Jeder für sich" gekennzeichnet ist, darf nicht dazu führen, dass die Gefahr der Explosion unkontrollierter militärischer Konflikte unterschätzt wird, wie es zu Beginn des Krieges in der Ukraine 2022 der Fall war. Der Konflikt zwischen den USA und China könnte durchaus zu einer direkten militärischen Konfrontation führen, so dass die Gefahr eines offenen Konflikts in diesem Bereich (die in der Resolution des 25. Kongresses zur internationalen Lage etwas unterschätzt wurde) weiter analysiert werden muss.

Die erklärte geopolitische Strategie der USA seit 1989 besteht darin, das Entstehen einer Macht zu verhindern, die es mit ihrer massiven militärischen Überlegenheit auf der Weltbühne aufnehmen könnte. Diese Doktrin bestätigte gleichzeitig, dass ihr primäres Ziel nicht die Wiederherstellung eines Blocks war, und deutete darauf hin, dass sie im Gegensatz zum Ersten und Zweiten Weltkrieg, wo sie in einer defensiven Haltung abwarteten, bevor sie als Sieger hervorgingen, jetzt auf der Weltbühne in die militärische Offensive gehen und die dominierende Kraft der imperialistischen Destabilisierung werden mussten.

Die Fiaskos im Irak und in Afghanistan haben gezeigt, dass die Politik des Weltpolizisten nur noch mehr Chaos erzeugt und gleichzeitig den Niedergang des US-Imperialismus verdeutlicht. In jüngster Zeit haben sie versucht, mit einer strikteren Verteidigung ihrer eigenen Interessen zu reagieren (Trumps "America first" und Bidens "America is back"), auch wenn dies ein noch größeres Chaos auslöst. Wie wir bereits festgestellt hatten, stellt Chinas enorme wirtschaftliche, technologische und militärische Entwicklung eine Bedrohung für die amerikanische Vorherrschaft dar.

Aus diesem Grund entwickeln die USA eine Politik, die darauf abzielt, das Fortschreiten der wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Entwicklung in China zu behindern, und zwar durch die Verlagerung von Unternehmen, die Einschränkung der Zusammenarbeit in der universitären Spitzenforschung, die Blockierung von Technologieexporten, die "Quadrupel-Chip-Allianz" zwischen den USA und Taiwan, Japan und Südkorea, die darauf abzielt, China von den weltweiten Lieferketten für Mikrochips zu isolieren, usw. Auf der militärischen Seite versuchen die USA mit Initiativen wie QUAD, der "NATO Asiens", in der sich die USA mit Japan, Indien, Australien und Südkorea zusammenschließen, oder AUKUS, einem militärischen Kooperationsabkommen mit Australien und dem Vereinigten Königreich, eine geopolitische Einkreisung zu erreichen, um die Kontrolle über den Indopazifik und den asiatischen Kontinent zu gewährleisten. Die Einkreisung der USA wird immer enger, und die letzten Schritte waren die Einrichtung amerikanischer Militärstützpunkte auf den Philippinen und die Gewinnung Vietnams als Verbündeten in der Region. Letztlich verfolgen die USA mit dem Krieg in der Ukraine auch das Ziel, China strategisch und militärisch zu isolieren, Russland auszubluten, ihm jegliche weltmachtpolitische Bedeutung zu nehmen und zu verhindern, dass China seine Militärtechnologie, seine Energieressourcen und seine Erfahrung im imperialistischen "Great Game" der Welt nutzen kann. Der blutige Stillstand des Krieges in der Ukraine hat dieses US-Projekt des Ausblutens Russlands vorangetrieben.

In jüngster Zeit wurde die Politik der Einkreisung Chinas durch eine Reihe von Provokationen verstärkt, wie den Besuch von Pelosi in Taipeh, den Abschuss von Wetterballons, die angeblich der Spionage dienten, die Ankündigung von 345 Millionen Dollar Militärhilfe für Taiwan oder Bidens Erklärungen, dass die USA nicht zögern würden, Truppen auf die Insel zu schicken, um sie vor einer chinesischen Invasion zu verteidigen.

All diese amerikanischen Initiativen deuten auf eine Strategie der Isolierung und Provokation Chinas hin, das die USA in verfrühte Konfrontationen zu drängen versuchen, für die es noch nicht gerüstet ist und die zu militärischen Zusammenstößen führen könnten. Damit wird die Politik der Einkreisung der "UdSSR" wiederholt, die diese dazu zwang, sich in imperialistische Abenteuer zu verwickeln, die ihre realen wirtschaftlichen und militärischen Möglichkeiten überstiegen, und die schließlich zum Zusammenbruch des von ihr angeführten imperialistischen Blocks führte.

Es besteht kein Zweifel daran, dass China dazugelernt und die Lehren aus dem Zusammenbruch des Ostblocks zur Kenntnis genommen hat; aber wir sollten nicht ausschließen, dass es angesichts der Fortsetzung und Verschärfung des Drucks der USA am Ende keine andere Wahl hat, als zu reagieren; und deshalb sollten wir die Möglichkeit eines Konflikts, insbesondere im Chinesischen Meer um Taiwan, nicht unterschätzen. Es liegt auf der Hand, dass im Falle eines solchen Konflikts die Folgen für die ganze Welt katastrophal und schrecklich wären, auch wenn das Ausmaß eines solchen Konflikts durch mehrere Faktoren begrenzt wäre, insbesondere durch das Fehlen globaler imperialistischer Blöcke und die Unfähigkeit der US-Bourgeoisie, eine unbesiegte Arbeiterklasse in eine umfassende Mobilisierung für einen Krieg zu ziehen.

3. Der blutige Konflikt, der derzeit im Nahen Osten herrscht, ist gerade im Zusammenhang mit der chaotischen und unvorhersehbaren Ausweitung der Tendenz jeder imperialistischen Macht entstanden, für sich selbst zu handeln, und nicht aus einer Bewegung zur Festigung von Blöcken.

Der Rückzug einer starken US-Militärpräsenz im Nahen Osten übertrug Israel die Aufrechterhaltung der Pax Americana in der Region im Rahmen der Osloer Abkommen (1993), die den Grundsatz der "zwei Staaten" (also eines lokalen palästinensischen Staates) anerkannten. Es herrschte scheinbar Ruhe, die sogar die Unterzeichnung des Abraham-Abkommens im Jahr 2020 ermöglichte, das den Frieden zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten unter Ausschluss des Irans sanktionierte. In der Praxis hat Israel jedoch seine Politik der Schikanierung der arabischen Bevölkerung und der Unterstützung der Siedler im Westjordanland fortgesetzt und intensiviert und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) sabotiert, indem es die Hamas unterstützte, die nun ihr Todfeind ist, und damit in der Praxis das amerikanische Mandat sabotierte. Die Situation hat mit der Netanjahu-Regierung in Verbindung mit der extremen Rechten eine Grenze erreicht. Der Finanzminister hat die Armee aufgefordert, sich für die Angriffe auf die Siedler mit dem Niederbrennen palästinensischer Häuser zu rächen, und die Präsenz der israelischen Soldaten konkurriert mit der der PA-Polizei. Die Hamas, die die letzten Wahlen im Gazastreifen gewonnen hat, wollte das Schicksal des Westjordanlandes nicht tatenlos abwarten und hat einen verzweifelten Angriff gestartet. Dieser Angriff fiel jedoch mit den Ambitionen einer anderen Regionalmacht – dem Iran – zusammen, der seine Präsenz in der Region geschwächt sah und der seinerseits unter der Schirmherrschaft Chinas im März ein Abkommen mit Saudi-Arabien über die "Seidenstraße" unterzeichnet hatte, das in direkter Konkurrenz zu dem von Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten steht.

Das Wall Street Journal machte öffentlich, was alle wussten: Der Hamas-Anschlag wurde offen vom Iran und der Hisbollah im Südlibanon vorbereitet und unterstützt.

Israels Antwort, die Zerstörung des Gazastreifens unter dem Vorwand, die Hamas auszulöschen, zeigt eine Politik der verbrannten Erde auf beiden Seiten. Die mörderische Wut der Hamas findet in Israels vernichtender Rache die andere Seite der Medaille. Und auf globaler Ebene ist das Feuer in der Region ein Aufruf zum Eingreifen anderer regionaler Mächte, insbesondere des Iran, der der Hauptnutznießer der Situation ist, in der das regionale Gleichgewicht gestört ist.

Dies ist jedoch nicht im Sinne der USA. Die Biden-Administration hatte keine andere Wahl, als die Reaktion der israelischen Armee widerwillig zu unterstützen, indem sie – wenn auch vergeblich – versuchte, die Spannungen abzubauen, und war gezwungen, ihre militärische Präsenz in der Region wiederherzustellen, indem sie "neben dem Flugzeugträger Ford den Kreuzer Normandy und die Zerstörer Thomas Hudner, Ramage, Carney und Roosevelt entsandte und die Präsenz von F-35-, F-15-, F-16- und A-10-Kampfflugzeugstaffeln in der Region verstärken wird".[5] Einige mussten bereits angesichts der Angriffe auf amerikanische Truppen im Irak eingreifen. Ziel ist es, den Iran um jeden Preis von einer direkten oder über die Hisbollah durchgeführten Intervention abzuhalten, aber auch Israel davon abzuhalten, seine Drohung, den Iran "von der Landkarte zu tilgen", wahr zu machen.

Russland seinerseits profitiert zweifellos davon, dass sich der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit und der Kriegspropaganda von der Ukraine nach Palästina verlagert. Dies beeinträchtigt die finanziellen und militärischen Ressourcen, die die USA an der russischen Front einsetzen könnten, und "verschafft eine Atempause" für die Intensität ihres Krieges dort. Darüber hinaus profitiert Putin von der Unterstützung der USA für die Grausamkeit der israelischen Unterdrückung, indem er die Heuchelei der amerikanischen Gesellschaft und des "Westens" anprangert, der seinerseits die Besetzung der Krim kritisiert, aber der Invasion in Gaza zustimmt. Russland kann jedoch seine eigenen Interessen in der Region durch diesen Krieg nicht wesentlich voranbringen.

China mag die Abschwächung der US-Politik des "Schwenks nach Osten" ebenfalls begrüßen, aber Krieg und die Destabilisierung der Region laufen seinen eigenen geopolitischen Interessen bei der Gestaltung der neuen Seidenstraße zuwider.

Der gegenwärtige Krieg im Nahen Osten ist daher nicht das Ergebnis der Dynamik der imperialistischen Blockbildung, sondern des "Jeder für sich". Ebenso wie die Konfrontation in der Ukraine bestätigt dieser Krieg die vorherrschende Tendenz der globalen imperialistischen Situation: eine wachsende Irrationalität, die durch die Tendenz jeder imperialistischen Macht, für sich selbst zu handeln, und die blutige Politik der dominierenden Macht, der USA, genährt wird, um ihrem unvermeidlichen Niedergang entgegenzuwirken, indem sie den Aufstieg jedes potenziellen Herausforderers verhindert.

4. Der Krieg im Nahen Osten wirkt sich auf die gesamte Arbeiterklasse in den zentralen Ländern noch stärker aus als derjenige in der Ukraine. Einerseits, weil in einigen Ländern wie Frankreich ein großer Prozentsatz der Einwanderer aus arabischen Ländern kommt[6]. Zum anderen aber auch, weil die "Verteidigung des palästinensischen Volkes" seit langem zum Gepäck der "linken Ideologie" der trotzkistischen und anarchistischen Gruppen gehört und auch, das muss gesagt werden, zur Unterstützung der "nationalen Befreiung" einiger bordigistischer Gruppen wie Programma. So haben wir Demonstrationen zur Verteidigung der Palästinenser und für den Frieden von 30.000 Leuten in Berlin, 40.000 in Brüssel und 35.000 in Madrid, mehr als 500.000 in London gesehen. Auf der anderen Seite geht der Zionismus in Deckung hinter der "Judenfrage", die nicht nur historisch aufgeladen ist, sondern auch einen Teil der Bevölkerung in Europa und den USA betrifft. Dies erklärt die Demonstrationen und Aktionen gegen den Antisemitismus in Frankreich, in letzter Zeit in London, Paris oder in Deutschland; und auch die Kampagnen an amerikanischen Universitäten wie Harvard, wo Studierende, die die Massaker anprangerten, des Antisemitismus bezichtigt wurden.

Trotzdem wird der Krieg im Nahen Osten wahrscheinlich nicht die Dynamik des "Bruchs" der Passivität der Arbeiterklasse beenden, die wir ausgehend vom "Sommer der Unzufriedenheit" in Großbritannien identifiziert haben, die zwar nicht von einer Reaktion auf den Krieg ausgeht, die in der gegenwärtigen Situation eine Bewusstseinsentwicklung und eine Politisierung der Klasse als Ganzes erfordern würde, was im Moment nicht der Fall ist, sondern eher die Verschärfung der Wirtschaftskrise.

Als Internacionalismo in den 1960er Jahren die Perspektive einer Wiederaufnahme des Klassenkampfes einbrachte, beruhte seine Analyse im Wesentlichen auf zwei Elementen: 1. dem Ende der Periode des "Wohlstands" nach dem Zweiten Weltkrieg und der Perspektive der Krise; 2. dem Vorhandensein einer neuen Generation im Proletariat, die keine Niederlage erlitten hatte. Die Dimension, die die Kämpfe im Mai 68 in Frankreich und im Heißen Herbst 69 in Italien usw. annahmen, war neben den oben genannten Faktoren auch das Ergebnis der mangelnden Vorbereitung der Bourgeoisie.

Die Bedingung, dass das Proletariat nicht besiegt ist, ist in der gegenwärtigen Situation ebenso entscheidend und am wichtigsten. Umgekehrt weist die gegenwärtige Situation des sich verschärfenden Zerfalls und des Strudeleffekts Elemente auf, die ein Hindernis für den Kampf und die Bewusstseinsbildung des Proletariats darstellen; sie beinhaltet aber auch eine qualitative Verschärfung der Wirtschaftskrise, die sich in einer erheblichen Verschlechterung der Lebensbedingungen des Proletariats ausdrückt. Die Entscheidung, in den Kampf zu ziehen, nicht zu resignieren, nicht zu vertrauen und auf "eine neue Entwicklung der Wirtschaft" zu warten, bedeutet eine Reflexion über die globale Situation, ein Misstrauen gegenüber den Erwartungen, die der Kapitalismus bieten kann, eine minimale Bilanz dessen, was uns versprochen wurde und nicht erfüllt wurde. In diesem Sinne impliziert "genug ist genug" eine unterirdische Reifung des Bewusstseins. Dieser Ansatz hat eine internationale Dimension für die Arbeiterklasse als Ganzes. Das Beispiel der Kämpfe in Frankreich und im Vereinigten Königreich und jetzt in den USA ist auch Teil einer Überlegung, durch die sich die ArbeiterInnen in anderen Ländern mit denen identifizieren, die an diesen Kämpfen teilnehmen. Dies ist auch Teil des Beginns einer Reflexion über die Klassenidentität.

Es ist wahr, dass die Frage des Krieges in diesem Prozess indirekt präsent ist. Diese Reifung hat während zwei Jahrzehnten der Verschärfung der imperialistischen Konflikte gleichzeitig mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise stattgefunden; außerdem hat der "Bruch" trotz des Ausbruchs des ukrainischen Krieges stattgefunden. In der Tat führt die Entwicklung der Kämpfe notwendigerweise zu den Anfängen einer Reflexion, die die Krise und den Krieg miteinander verbindet, zum Beispiel wenn man sieht, dass die Inflation aufgrund der Rüstungsausgaben steigt und dass uns Opfer abverlangt werden, um die Verteidigungshaushalte zu erhöhen.

5. Die sich verschlechternde Weltlage birgt jedoch Gefahren für die Arbeiterklasse. Wer kann die Folgen eines Krieges zwischen den USA und China vorhersagen, dessen Ausmaß jeden Konflikt seit 1945 in den Schatten stellen könnte? Oder die Auswirkungen anderer Katastrophen, die die Zeit des Zerfalls mit sich bringen wird?

In dieser Periode des Zerfalls haben sich nicht nur die Bedingungen für die Verschärfung der imperialistischen Konflikte geändert, die vom "Kalten Krieg" zwischen zwei imperialistischen Blöcken zum "Jeder für sich" übergegangen sind; sie haben sich auch unter dem Gesichtspunkt der Klassenkonfrontation verändert.

In der Zeit des Kalten Krieges bedeutete der Widerstand des Proletariats – die Tatsache, dass es der Bourgeoisie nicht gelungen war, die Arbeiterklasse zu besiegen –, dass diese das Haupthindernis für den totalen imperialistischen Krieg war. Und die Klassenkonfrontation konnte im Sinne eines "historischen Kurses" analysiert werden, wie es die Italienische Linke im Exil (Bilan) in den 1930er Jahren angesichts des Krieges in Spanien 1936 und des Zweiten Weltkrieges getan hatte: entweder ein Kurs in Richtung Niederlage des Proletariats und Weltkrieg oder ein Kurs in Richtung entschiedener Konfrontationen und revolutionärer Perspektive.

In der gegenwärtigen Periode der chaotischen Verschärfung der imperialistischen Konflikte nach dem Motto "jeder für sich" verhindert die Tatsache, dass das Proletariat nicht besiegt ist, nicht die Ausbreitung kriegerischer Auseinandersetzungen, die zwar im Moment Länder betreffen, in denen das Proletariat schwächer ist, wie Russland/Ukraine oder den Nahen Osten, aber nicht die Möglichkeit ausschließen, dass einige der zentralen Länder sich auf kriegerische Abenteuer einlassen.

Während also in den Jahren 1960-90 die Zeit für das Proletariat günstig war, Lehren aus seinen Misserfolgen und seinem Zögern aufzunehmen und weiterzuentwickeln, um neue Angriffe in seinem Kampf gegen den Kapitalismus vorzubereiten, hat seither, wie wir in den "Thesen zum Zerfall" 1990 schrieben, die Periode des Zerfalls für die Arbeiterklasse in der Tat einen Wettlauf gegen die Zeit geschaffen. Deshalb müssen die revolutionären Organisationen in ihrer Intervention auch auf die Entwicklung des Bewusstseins für diese Tatsache in der Arbeiterklasse hinwirken. 

IKS, 2.12.2023

 

[1] Die Dekadenz des Kapitalismus ist kein homogener und regelmäßiger Prozess: Sie hat vielmehr eine Geschichte mit verschiedenen Phasen. Die Phase des Zerfalls wurde in unseren Thesen zum Thema: Der Zerfall, die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus (Internationale Revue Nr. 13) als «Eintritt des Kapitalismus in eine besondere Phase, in die ultimative Phase seiner Geschichte» identifiziert, «eine Phase, in welcher der Zerfall ein, wenn nicht gar der entscheidende Entwicklungsfaktor der Gesellschaft sein wird» (These 2). Es ist offensichtlich, dass, wenn das Proletariat nicht in der Lage wäre, den Kapitalismus zu stürzen, wir Zeugen einer schrecklichen Agonie würden, die zur Zerstörung der Menschheit führte.

[3] Aktualisierung der Thesen zum Zerfall (2023), Internationale Revue Nr. 59 (2023)

[5] Dies entspricht etwa 5000 Soldaten (Los Angeles Times, 8. Oktober 2023)

[6] 10 % der französischen Bevölkerung sind Muslime, d. h. etwa 6 Millionen.

Rubric: 

Imperialistische Konflikte