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1. Die Situation in Deutschland kann nur vor dem Hintergrund der Existenz der beiden internationalen Dynamiken verstanden werden, die den Weltkapitalismus durchziehen: die phänomenale Verschärfung des Zerfalls des kapitalistischen Systems und der Prozess der Wiederaufnahme des weltweiten Klassenkampfes nach mehreren Jahrzehnten der Flaute.
Die zahlreichen zerstörerischen Kräfte des „Strudel-Effekts“, bei dem alle verschiedenen Ausdrucksformen einer zerfallenden Gesellschaft miteinander interagieren und den Abstieg in die Barbarei beschleunigen und insbesondere die zentrale Rolle, die der imperialistische Krieg als Ergebnis der bewussten Entscheidungen der herrschenden Klasse in dieser Verkettung von Effekten spielt, haben zu tiefgreifenden Umwälzungen für das deutsche Kapital geführt.
„Es ist besonders Deutschland, das alle Widersprüche dieser neuartigen Situation explosionsartig konzentriert. Das Ende der russischen Gaslieferungen bringt das deutsche Kapital in eine beispiellose Situation strategischer und wirtschaftlicher Fragilität: Die Wettbewerbsfähigkeit seiner gesamten Industrie steht auf dem Spiel. Das deutsche Kapital (und Europa) läuft Gefahr, von der Abhängigkeit von russischem Gas in die Abhängigkeit von amerikanischem LNG wechseln zu müssen, welches die USA dem europäischen Kontinent aufzwingen und damit die Rolle übernehmen wollen, die Russland bislang innehatte. Das Ende des Multilateralismus, von dem das deutsche Kapital mehr als jede andere Nation profitiert hat (indem es sich auch einen Teil der Last der Militärausgaben für die „Friedensdividende“ seit 1989 erspart hat), wirkt sich direkter auf seine exportbasierte Wirtschaftskraft aus. Schließlich stellt der Druck der USA, ihre „Verbündeten“ zu zwingen, sich am wirtschaftlichen/strategischen Krieg gegen China zu beteiligen und auf Märkte in China zu verzichten, Deutschland vor ein enormes Dilemma, da die Bedeutung des chinesischen Marktes für Deutschland lebenswichtig ist. Aufgrund seiner führenden Stellung in der EU hat das Schwanken der deutschen Macht Auswirkungen auf ganz Europa, das in unterschiedlichem Maße von denselben Widersprüchen und Dilemmata geprägt ist.“ (Bericht des 25. Kongresses der IKS 2023)
Vor dem weltweiten Hintergrund der Überproduktion und der Verschärfung der Wirtschaftskrise durch die Covid 19-Pandemie und die Aussperrungen, die steigenden Kosten der Umweltkatastrophen und den Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten befindet sich das deutsche Kapital, das durch die Erschütterung der Grundfesten seiner Macht wesentlich geschwächt ist, seit mehreren Quartalen in einer Rezession und wird wieder zum kranken Mann Europas.
Das große historische Ereignis der Wiederbelebung der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse in einer Reihe von Ländern hat sich in Deutschland nicht mit der gleichen Kraft wie in den USA, Großbritannien oder Frankreich manifestiert. Dennoch sind einerseits die Ausdrucksformen der Kampfbereitschaft und die Streiks für Lohnerhöhungen, die in einigen Bereichen (öffentlicher Dienst, Transportwesen) stattgefunden haben, sowie andererseits die Anpassung der Gewerkschaften, die eine „kämpferische und fordernde“ Haltung einnehmen, Indizien für die veränderte Situation, die im Klassenkampf auch in Deutschland am Werk ist. „Heute verändert die Kombination aus einer Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiter und der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise (im Vergleich zu 1968 oder 2008), die keinen Teil des Proletariats verschonen wird und sie alle gleichzeitig trifft, objektiv die Grundlagen des Klassenkampfs. Die Vertiefung der Krise und die Verschärfung der Kriegswirtschaft können sich weltweit nur fortsetzen, und überall kann dies nur wachsende Kampfbereitschaft erzeugen.“ (Resolution des 25. Kongresses der IKS, 2023)
Die Folgen des Ukraine-Krieges
2. Die erste Zäsur war der Krieg in der Ukraine, gefolgt von einer weiteren Phase mit dem Krieg im Nahen Osten, jeweils verbunden mit einer gleichzeitigen Eskalation der Konfrontation zwischen den USA und China und wachsenden Destabilisierungstendenzen in Europa.
Der Druck aus den Konflikten mit Russland, China und den USA hat sich damit in einigen Bereichen geradezu explosionsartig verschärft. Für den deutschen Imperialismus bedeutete der Krieg in der Ukraine:
- Er muss unter dem Druck der USA zur Durchsetzung der amerikanischen und der NATO-Politik eine klare imperialistische Position einnehmen, die seinen Interessen und seiner traditionellen Ostpolitik gegenüber Russland diametral entgegengesetzt ist, was sich u.a. in der Beendigung der privilegierten Beziehungen zu Russland niederschlägt.
- Druck von Seiten der USA, sich einer militärischen Front gegen Russland anzuschließen und sich damit indirekt gegen China zu stellen, sowie die weitere Herausforderung durch die Weigerung der US-Republikaner, die Militärausgaben für den Ukrainekrieg weiterhin zu finanzieren, welches die EU-Staaten, insbesondere aber Deutschland in neue Zugzwänge getrieben hat.
- Der Verlust der Energielieferungen aus Russland und die Entwicklung eines neuen Abhängigkeitsverhältnisses von den USA in Energiefragen, mit der Möglichkeit der Erpressung durch die USA,
- Eine Explosion der Energiepreise und die Notwendigkeit einer „Neuorientierung“ im Energiesektor.
Deutscher Militarismus und neuer Führungsanspruch
3. Diese Schwächung des deutschen Imperialismus durch die USA wurde im Gegenzug von Deutschland ausgenutzt, indem die Militärausgaben verdoppelt und die Hindernisse für Waffenlieferungen an die Ukraine aufgehoben wurden. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wurde die Notwendigkeit, Deutschland kriegstüchtig zu machen, ausdrücklich ideologisch begründet. Vor dem Hintergrund eines neuen Wettrüstens werden Forderungen wie die nukleare Aufrüstung und die Schaffung eines militärischen Arms der EU deutlicher formuliert.
Die Einführung von Kriegsführungsfähigkeiten und die damit verbundene Umwandlung der Wirtschaft in eine viel stärker ausgeprägte Kriegswirtschaft wird jedoch auf Schwierigkeiten stoßen, da allein die Rekrutierung zusätzlicher Soldaten große Probleme aufwirft. Gleichzeitig fordert der deutsche Imperialismus eine größere Führungsrolle in Europa. Dies wird wiederum neue Reibungspunkte mit Frankreich hervorrufen, da trotz aller Zwänge zur deutsch-französischen Zusammenarbeit in vielen Bereichen ein solcher Führungsanspruch, insbesondere auf dem Hintergrund der Dynamik des Jeder-für-sich, nur auf Kosten von Frankreich durgesetzt werden könnte.
Deutschland will sich nicht von den USA gegen China an die Wand drücken lassen
4. Im Rahmen der globalen Präventionsstrategie der USA, um zu verhindern, dass China die USA von ihrer Führungsposition verdrängt, haben die USA neben der strategischen Einbettung des Ukraine-Russland-Krieges in diese Strategie eine Reihe direkter Sanktionen gegen China beschlossen, die sie auch allen anderen Staaten aufzwingen wollen. Deutschland (und z.B. Frankreich) sind davon besonders betroffen. Ziel ist es, die Abhängigkeit des deutschen Kapitals von China zu verringern und Deutschland direkt in die Militärstrategie gegen China einzubinden. Die deutsche Bourgeoisie wehrt sich gegen diesen Ansatz, was wiederum zu Konflikten mit den USA führt.
Deutschlands Politik gegenüber Israel – ein Klotz am Bein
5. Die bis vor kurzem grenzenlos loyale Unterstützung des deutschen Imperialismus für Israel, die lange Zeit Teil des gemeinsamen Vorgehens mit den USA war, erweist sich angesichts des jüngsten Krieges im Nahen Osten als große Belastung, da dies Deutschland nicht nur viel zu eng an die USA bindet, sondern auch in die Isolation gegenüber den arabischen Staaten treibt. Wie Deutschland aus diesem Dilemma herauskommen kann, bleibt auch deshalb unklar, weil ideologisch der Schatten des Faschismus noch immer über der deutschen Bourgeoisie hängt und die Angst, des Antisemitismus bezichtigt zu werden, den Handlungsspielraum einschränkt.
Ob mit Trump oder Biden – verschärfte Konflikte zwischen den USA und Deutschland
6. Unter Trump hatte die Dynamik des Jeder-für-sich, und damit z.B. die Infragestellung der Nato und ein möglicher Rückzug der USA aus ihr, an Dynamik gewonnen. Auch verfolgte Trump einen sehr offensiven Kurs, insbesondere gegenüber dem deutschen Kapital. Zwar hatte sich der Ton unter Biden geändert, aber in den praktischen „Daumenschrauben“, die der amerikanische Imperialismus den Nato-Mitgliedsstaaten und insbesondere Deutschland angelegt hatte, wurde auf Deutschland viel mehr Druck ausgeübt als unter Trump. Dennoch wird eine mögliche zweite Amtszeit Trumps als eine Katastrophe für das deutsche Kapital angesehen, da ein Kurswechsel in der Russlandpolitik unter Trump als wahrscheinlich gilt. Dies könnte zwar theoretisch neue Handlungsspielräume für das deutsche Kapital eröffnen, wäre aber aus Sicht der USA unter Trump vor allem mit einem stärkeren Druck auf China verbunden und damit der Notwendigkeit, dass sich andere Länder diesem Druck der USA beugen. Deshalb wird die Bewegung zur Distanzierung Deutschlands von den USA weitergehen, unabhängig davon, ob Biden oder Trump der nächste Präsident ist. Im Einklang mit dieser Dynamik wird Deutschland seine Bemühungen verstärken, stärkere Beziehungen zu Ländern aufzubauen, die sich von den USA distanzieren (Indien, Brasilien usw.). Insgesamt hängt die weitere Entwicklung der USA wie ein Damoklesschwert über dem deutschen Imperialismus.
Wirtschaftskrise – größte Auswirkungen des Krieges in der Ukraine
7. Während die Wirtschaftskraft des deutschen Kapitals hauptsächlich auf ihrer Industrie und ihren Exporten beruht, wirken sich die Verlangsamung der Weltwirtschaft ebenso wie die Auswirkungen des Zerfalls auf die Weltwirtschaft, aber insbesondere die Schockwelle des imperialistischen Krieges in der Ukraine, direkt auf den Zustand der nationalen Wirtschaft aus. Die Covid 19-Pandemie, die Kosten der Umweltzerstörung und die mittlerweile beträchtlichen Kriegskosten im Rahmen der internationalen Verschärfung des Wettbewerbs, vor allem zwischen China und den USA, die das Bestreben der USA einschließt, ihre europäischen Rivalen (imperialistisch wie wirtschaftlich) zu schwächen, haben zu einer massiven Destabilisierung und Umwälzung geführt, die das deutsche Kapital schwächt.
Die Verschlechterung der Lage des deutschen Kapitals zeigt sich durch:
- den starken Anstieg der Inflation – insbesondere der Energie- und Lebensmittelpreise;
- eine neue Abhängigkeit von Gas- und Öllieferungen, die von russischem Gas zu amerikanischem LNG wechselt;
- steigende Energiepreise, die die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen verringern und ganze energieintensive Branchen wie die Chemiebranche, ein Flaggschiff der heimischen Wirtschaft, destabilisieren und eine komplette Neuorganisation der Branche, teilweise die Verlagerung von Standorten in Länder außerhalb der EU und Standortschließungen und Arbeitsplatzabbau erforderlich machen;
- Verlangsamung der Investitionen aufgrund der Zinserhöhung, die eingeleitet wurde, um die Entwicklung der Inflation zu begrenzen;
- das Eintreten der Wirtschaft in eine Rezession.
Angesichts der Verschärfung der gesamten historischen Situation des Zerfalls und des Krieges in der Ukraine, sowie auch angesichts des Krieges im Nahen Osten schwinden die Grundlagen und die Bedingungen, die die Macht des deutschen Kapitals begründet haben. Gleichzeitig wachsen die neuen entscheidenden Herausforderungen, denen es gegenübersteht:
- die Verdoppelung der Militärausgaben sowie die Umstellung der Wirtschaft auf Kriegswirtschaft, der Boom der Rüstungsindustrie und deren Bündelung und massive Förderung durch den Staat;
- die Aufnahme von etwa 1,5 Millionen ukrainischen Flüchtlingen – zusätzlich zu den Migranten aus anderen Teilen der Welt, deren Zustrom immer größer wird;
- die Kosten, die sich aus den Folgen der Klima- und Ökologiekrise und den Versuchen, die nationale Produktion an diese Situation anzupassen, ergeben, werden die Wirtschaft stark belasten, indem sie einen großen Teil des produzierten nationalen Reichtums absorbieren. Das kann nur zu einer weiteren Zunahme der nationalen Verschuldung führen, um direkt oder indirekt die Kriegswirtschaft zu finanzieren. Die Kriegsspirale wird die deutsche Wirtschaft also weiterhin hart treffen, während Unsicherheit und Instabilität weiterhin vorherrschen werden, wie die Unterbrechung der logistischen Versorgungsketten infolge des Krieges im Nahen Osten zeigt, die den Schiffsverkehr im Roten Meer gefährdet.
Folgen der globalen US-Strategie keep/MAGA
8. Die US-Regierung unter Biden hat ihre Offensive gegen China an mehreren Fronten verschärft:
- Verschärfung des Sanktionspakets gegen China selbst und damit einhergehende Androhung von Sanktionen gegen Unternehmen, die in kritischen Bereichen in China investieren. Angesichts der in den letzten Jahren entstandenen Abhängigkeit vom chinesischen Markt (einige deutsche Automobilhersteller wie VW sind bis zu 40% von China abhängig) besteht die Gefahr, dass ganze Marktanteile verloren gehen.
- Verschärfung der Sanktionen gegen US-Unternehmen, die in Europa investieren.
- Verschärfung des Kampfes zur Schaffung von Investitionsanreizen in den USA (Anti-Inflationsgesetz) – und damit „Abschreckung“ von Investitionen in Deutschland – also die Gefahr der längerfristigen Deindustrialisierung in Europa.
Das deutsche Kapital kann nicht davon ausgehen, dass der Druck aus den USA nach den nächsten Präsidentschaftswahlen nachlassen wird. Im Gegenteil: Ob unter Trump oder Biden – die deutsche Bourgeoisie muss sich auf noch mehr Konflikte mit den USA einstellen. Das alles wird auch mit zusätzlichen Staatsausgaben verbunden sein, etwa um im Investitionskrieg überhaupt mithalten und Subventionen für Investitionen in Deutschland anbieten zu können.
Eine Eskalation zwischen China und den USA um Taiwan würde der Weltwirtschaft insgesamt und der deutschen Wirtschaft im Besonderen einen entscheidenden Schlag versetzen. Fazit: Die USA werden Deutschland unter enormen wirtschaftlichen Druck setzen.
Gleichzeitig gerät Deutschland zunehmend unter Druck durch China:
- Nach Jahren der Expansionsmöglichkeiten nach China ist dieses nun selbst zu einem starken Konkurrenten geworden (z.B. in der E-Autoproduktion) und drängt nun auf verschiedene Weise nach vorne (Seidenstraße, Kauf von Werken und Standorten, Unternehmen).
- Die Scherenbewegung des Drucks aus den USA sowie zunehmende protektionistische Maßnahmen in China und sogar gegen in China tätige Unternehmen gefährden den in den letzten Jahren erreichten Aufbau einer Präsenz in China massiv. Dies wird schwerwiegende Folgen z.B. für die deutsche Automobilproduktion haben, die seit vielen Jahren führend ist und nun Gefahr läuft, große Marktanteile in Europa (und anderswo) an China zu verlieren. Dies wird einen Kernsektor der deutschen Wirtschaft bis ins Mark treffen – mit dem Verlust zahlreicher Arbeitsplätze und technologischer Vorteile.
Deshalb: Verschärfte Auseinandersetzungen auf verschiedenen Schauplätzen um/mit China sind zu erwarten.
Erdrückende Schuldenlast ... und Staatskapitalismus
9. Die deutsche Bourgeoisie konnte das Projekt der Wiedervereinigung und des Aufbaus im Osten nur dank einer astronomischen Verschuldung realisieren. Einerseits verbesserte dies die Position Deutschlands auf der imperialistischen Leiter, andererseits wurde ein gigantischer Schuldenberg aufgetürmt. Dieser wurde durch die riesigen Rettungspakete während der Corona 19-Pandemie und jetzt durch den Krieg in der Ukraine weiter erhöht.
Im internationalen Wettbewerb ist die staatskapitalistische Unterstützung auf verschiedenen Ebenen unerlässlich. Keine neuen Hightech-Unternehmen, keine ökologische Umstellung, keine Windräder, keine Wärmepumpen, keine neuen Hightech-Investitionen usw. ohne Steuergelder. Gleichzeitig wurde jahrzehntelang eine tiefgreifende Vernachlässigung von Infrastruktur, Gesundheitswesen und Bildung in Kauf genommen. Der Kampf um die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit wurde also durch den Abbau in anderen Bereichen „erkauft“.
Angesichts der Wahlmöglichkeiten und Dilemmata, mit denen sie sich konfrontiert sieht, sind die Entscheidungen zwischen den dominierenden Fraktionen der deutschen Bourgeoisie in Bezug auf die Optionen, die für die Verteidigung der Interessen des nationalen Kapitals am besten geeignet sind (wie z.B. die Haltung gegenüber Russland, den USA, China, der Staatsverschuldung, der Entwicklung der Kriegswirtschaft... ) im Augenblick unklar. Auch lässt sich zurzeit die Tiefe und der Umfang der Divergenzen innerhalb der Bourgeoisie zu diesen Fragen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen noch nicht ermessen. Doch in der Zwischenzeit nutzt die deutsche Bourgeoisie die Debatte über den Sinn der Schuldenbremse, um ihren Angriff auf die Arbeiterklasse zu verstärken. Das Zusammenspiel der oben genannten Faktoren setzt die herrschende Klasse unter Druck, vor allem aber verschlingt die ganze Kriegsdynamik riesige Geldsummen, die in erster Linie der Arbeiterklasse auferlegt werden sollen.
10. Die eingetretene Entwicklung ist durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass zum ersten Mal eine Verschärfung der Wirtschaftskrise mit einem gleichzeitigen Mangel an Arbeitskräften (qualifizierten und unqualifizierten) in vielen Bereichen einhergeht. Dies hat verschiedene Ursachen:
- Das demographische Problem (sinkende Geburtenraten der einheimischen Bevölkerung).
- Die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen (vor allem in den Bereichen Gesundheit + Altenpflege, Bildung, Verkehr) als Folge des jahrelangen gnadenlosen Personalabbaus mit einem hohen Verschleiß an Arbeitskräften (Burn-outs), stilles Ausscheiden.
- Veränderte Einstellung zur „Work-Life-Balance“.
- Benachteiligungen durch schrumpfende Ausgaben und Leistungen im Bildungsbereich.
- Hindernisse für den Zustrom qualifizierter ausländischer Arbeitskräfte aufgrund politischer Rückständigkeit, Fremdenfeindlichkeit des Populismus (Kampagne gegen illegale Einwanderung).
Wie sich dies auf den Klassenkampf auswirken wird, ist derzeit schwer abzuschätzen.
Europa und die schwindende Stabilität
11. Die IKS analysierte schon 1989 in den Thesen zum Zerfall und der Aktualisierungen der Thesen zum Zerfall von 2023 umfangreich die einzelnen Aspekte des Zerfalls des Kapitalismus. Heute, mit dem zunehmenden Zerfall, insbesondere dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine, hat Europa (die EU) seinen größten Trumpf verloren: seine Stabilität.
Nach 1989 machte Deutschland die EU durch die Bildung eines Tandems mit Frankreich zu einer Säule seiner Macht. Der Beginn des Aufbaus eines militärischen Arms, die Einführung des Euro und die Entwicklung größerer Entscheidungskompetenzen auf europäischer Ebene sorgten dafür, dass der Staatskapitalismus in der EU stärker koordiniert und gelenkt wurde (und sich damit selbstverständlich als Bürokratie weiter aufblähte). Die derzeitige Entwicklung multipler Bruchlinien aufgrund des Vordrängens des Jeder-für-sich auf wirtschaftlicher und imperialistischer Ebene, die die EU mit Fragmentierung bedrohen, können die Stabilität und Macht des deutschen Kapitals nur beeinträchtigen, während die Tendenz, die Verteidigung der Interessen des nationalen Kapitals durch Deutschland in den Vordergrund zu stellen, Deutschland auch zu einer treibenden Kraft der Entwicklung des Jeder-für-sich innerhalb der EU macht.
Osteuropa: Hier sind zahlreiche zentrifugale Kräfte auf Kosten Deutschlands am Werk. Nach 1989 ermöglichte das durch das Verschwinden des Ostblocks entstandene Vakuum den osteuropäischen Staaten den Beitritt zur EU und ihre Integration in die NATO. Dies gestattete es Deutschland zunächst, seinen Einfluss zu vergrößern, und bot dem Kontinent gleichzeitig eine gewisse Stabilität. Doch nun bildet das Streben der meisten Staaten, die dem ehemaligen sowjetischen Machtbereich angehörten, nach NATO-Schutz, und die eher pro-amerikanische Ausrichtung einiger dieser Länder, welche sich wiederum dem Einfluss Deutschlands widersetzt, die wichtigste Bruchlinie. Andere Faktoren (die pro-russische Haltung einiger Regierungen, Chinas Bestreben, seinen Einfluss auf den alten Kontinent auszuweiten), die durch die Machtübernahme populistischer Regierungen, die ihre Autonomie gegenüber der EU einfordern, noch verstärkt werden, führen dazu, dass die destabilisierenden Kräfte unweigerlich zunehmen werden.
Auf wirtschaftlicher Ebene droht der „Globalisierung“ auch in Osteuropa eine Umkehrbewegung.
Westeuropa: Die jüngsten Entwicklungen – seit der Krise von 2008, der Covid 19-Pandemie, den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten – haben auch hier die Tendenz verstärkt, dass jeder auf sich selbst gestellt ist. So verschärfen sich die Interessenkonflikte innerhalb des damaligen deutsch-französischen Tandems in Bezug auf die Steuerung und die Ausübung der Führungsrolle in der EU, vor allem in folgenden Bereichen:
-
Militärische Abkommen oder Projekte (notwendigerweise gemeinsam).
- Energiepolitik mit einer zunehmenden Interessenkollision in Bezug auf die Kernenergie.
- Haushalts- und Verschuldungspolitik der EU-Staaten.
- Der Zusammenhalt der EU und der Handlungsspielraum des deutschen Kapitals werden zunehmend auf die Probe gestellt durch:
- Die Entwicklung der Weltwirtschaft, die imperialistische Frage, der Druck von China und den USA, der Aufstieg des Populismus.
- Die Verlängerung des Krieges in der Ukraine, seine wirtschaftlichen Folgen und seine Finanzierung (vor allem, wenn die USA ihre Finanzierung reduzieren), die ein wichtiger Streitpunkt in der EU ist.
- Immer wieder auftretende unterschiedliche Haltungen gegenüber den Kriegsparteien im Nahen Osten.
- Die mögliche Destabilisierung des Balkans im Zusammenhang mit der Kosovo-Frage.
- Die große Unbekannte, wie sich das negative Wachstum der deutschen Wirtschaft, der größten Volkswirtschaft Europas, auf das Wachstum in den anderen Ländern auswirken wird.
Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft
12. Lediglich aus Platzgründen gehen wir an dieser Stelle nur kurz auf die verheerenden Auswirkungen der Umweltzerstörung und die Vernachlässigung der sozialen Infrastruktur ein.
Die Auswirkungen der Umweltzerstörung haben in Deutschland auf verschiedenen Ebenen katastrophale Folgen gehabt (z.B. Dürre, Überschwemmungen, Waldbrände etc.). Unter grüner Regierungsbeteiligung wurden alle (ohnehin fragwürdigen) ökologischen Maßnahmen in der einen oder anderen Form den Erfordernissen der Kriegswirtschaft geopfert.
Da die Wiedervereinigung nach dem Zusammenbruch der DDR u.a. durch die gleichzeitige Vernachlässigung der Infrastruktur im Westen sowie des Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesens finanziert wurde, sind diese Strukturen besonders stark vom Zerfall betroffen. Der Zerfall ist jedoch viel umfassender und tiefgreifender als die Auswirkungen des Zusammenbruchs des Stalinismus und der Wiedervereinigung und deren langfristige Folgen.
Diese Entwicklung betrifft die herrschende Klasse und ihren Macht- und Parteiapparat. Er äußert sich in der Tendenz, dass die herrschende Klasse die Kontrolle über ihr politische Strategie verliert, was sich in Folgendem äußert:
- Das Erstarken der populistischen Partei AfD.
- Der Verlust der Glaubwürdigkeit der traditionellen bürgerlichen Parteien und sogar die Tendenz zu ihrer Zersplitterung.
Die deutsche Bourgeoisie
13. In den letzten 30 Jahren waren alle Parteien mit sinkender Glaubwürdigkeit und zunehmender Desillusionierung konfrontiert. Eine Folge: sinkende Wahlbeteiligung (zumindest bis Anfang 2013), bis insbesondere die Protestpartei AfD aufkam und es schaffte, bisherige Nichtwähler an die Urnen zu locken, um aus Protest die AfD zu wählen.
Die Protestpartei AfD ist inzwischen zur zweitstärksten Partei geworden, der Niedergang der SPD ist unaufhaltsam und auch die CDU befindet sich – mit einigen temporären, eher geringen Zuwächsen – langfristig im Niedergang. Obwohl es innerhalb der Parteienlandschaft Gewichtsverschiebungen gibt, ist der Rückgang historisch und zieht sich durch alle Parteien mit Ausnahme von 2 Parteien (AfD und Grüne).
Am deutlichsten ist die historische Schwächung der beiden Flaggschiffe der Marktwirtschaft zu erkennen – die CDU mit ihrer offenen Propaganda über die Tugenden des Kapitalismus und die SPD mit ihren Reformversprechen – beide sind stark abgenutzt und haben in den letzten Jahren keine wirkliche Erneuerung erreicht.
- Trotz dieser historischen Schwächen bleibt die SPD in globaler Perspektive der beste Trumpf der deutschen Bourgeoisie, da sie die Interessen Deutschlands, insbesondere gegenüber den USA, im einzelstaatlichen und internationalen Kontext am geschicktesten vertreten hat und auch bereit war, deutsche Alleingänge gegenüber der EU und Frankreich voranzutreiben.
- Die CDU verliert ihre Geschlossenheit gegenüber der AfD; eine konservativere Minderheit der CDU tendiert zur offenen oder versteckten Tolerierung bzw. gar Zusammenarbeit mit der AfD. Aus der CDU hat sich die „Werteunion“ abgespalten, um eine eigene Partei zu gründen, die eine Zusammenarbeit mit der AfD anstrebt.
- Derzeit befindet sich die FDP, wie die beiden großen Altparteien CDU/CSU und SPD, in einer Krise des Glaubwürdigkeitsverlustes, weil sie alle die unpopulären staatskapitalistischen und kriegstreiberischen Maßnahmen in vollem Umfang mitträgt.
- Grüne: Nach der vollständigen Eingliederung in den Staat ist der Verlust an Glaubwürdigkeit und die dahinterstehende tiefere Entwicklung bei den Grünen am auffälligsten. Jahrelang konnten sie erfolgreich Stimmen für „Abrüstung“ und den Schutz der Ökologie gewinnen, und seit mehr als einem Vierteljahrhundert sind sie zu einer effizienten Stütze des deutschen Staates für die Modernisierung der Wirtschaft und für die ideologische Rechtfertigung aller direkten Kriegsbeteiligungen und Einsätze Deutschlands geworden. Inzwischen haben sie aber einerseits durch ihre Politik bei einem Teil ihrer Wähler an Glaubwürdigkeit verloren, andererseits ist ihr allzu offenes Auftreten mit ihren „Predigten zum Schutz der Menschenrechte“ und ihrer ungezügelten Unterstützung Israels für das deutsche Kapital kontraproduktiv. Es muss davon ausgegangen werden, dass ihr Zenit überschritten ist.
- Auch Die Linke ist in eine Krise geraten, die zu einer Spaltung und zur Bildung einer neuen Gruppe um Wagenknecht BSW geführt hat. Zwar kann die deutsche Bourgeoisie mit dieser Wagenknecht-Abspaltung ein kleines „links-populistisches“ Hindernis schaffen und so der AfD Wähler abjagen, doch bleibt die weitere Entwicklung der Linken und der Abspaltung abzuwarten.
14. Während es international in fast allen europäischen Ländern einen Aufschwung populistischer und rechtsextremer Kräfte gibt, ist diese Entwicklung auch in Deutschland zu beobachten.
Hauptprofiteur ist die AfD. Insofern spiegelt die Popularität dieser populistischen und rechten Parteien die Perspektivlosigkeit und die Tatsache wider, dass viele, die sonst aus Frust etc. nicht wählen gegangen wären, wieder an die Wahlurnen gelockt wurden. Diese Popularität bedeutet nicht, dass die Protestwähler einen größeren Glauben an die Möglichkeit haben, das bürgerliche System zu verbessern und zu reformieren. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, in denen populistische oder rechtsextreme Gruppierungen direkt an der Spitze der Regierung beteiligt sind, ist dies in Deutschland noch nicht der Fall. Die Wahlaussagen der AfD stehen zu sehr im Widerspruch zu den Interessen des deutschen Kapitals – (sofern sie für bare Münze genommen werden können): EU-Feindlichkeit (wobei die Machtposition Deutschlands untrennbar mit seiner Dominanz in der EU verbunden ist), Offenheit gegenüber Russland, krude Fremdenfeindlichkeit und allzu brachiale Abwehr von Einwanderern, Blockade der Zuwanderung von ausländischen Fachkräften, unsinnige Verleumdung der ökologischen Katastrophe usw.. Diese „Unfähigkeit zu regieren“ und damit zur „ewigen Opposition auf Bundesebene“ verdammt zu sein, wird die AfD noch lange Zeit zu einem Sammelbecken für Protestwähler machen.
Im Zusammenhang mit dem Erstarken populistischer Kräfte haben rechtsradikale Parteien in den letzten Jahren an Zulauf gewonnen, so dass kleine rechtsradikale Parteien neben und/oder innerhalb der AfD zu einem Sammelbecken für rechtsradikale, oft gewaltbereite Anhänger geworden sind. Gleichzeitig haben rechtsradikale Kräfte eine größere Präsenz im Staatsapparat, insbesondere in den Sicherheitsdiensten, entwickelt. Diese Gruppen propagieren und planen auch immer häufiger offen oder verdeckt gewalttätige Aktivitäten.
Weder die AfD noch die rechtsradikalen Gruppen haben bisher Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung. Diese Kräfte spiegeln aber vor allem die wachsende Gewaltbereitschaft bis hin zu Pogromen in Teilen der Bevölkerung wider, die insbesondere durch eine Hetzkampagne gegen Migrantinnen und Migranten angeheizt wird.
15. Die beiden großen Parteien sind nun auf Koalitionspartner angewiesen. Ohne Koalitionspartner kann keine der beiden großen Parteien eine Koalition führen; lange Zeit bildete eine „große“ Koalition die Regierung, was dem Ruf der Demokratie und dem Ansehen der beiden beteiligten Parteien schadete. Noch konfliktträchtiger sind jedoch „Dreierkoalitionen“. In der jetzigen Konstellation sind die drei Parteien der Koalition jedoch auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen und werden wohl bis zum Ende der Legislaturperiode zusammenbleiben müssen.
Die Situation der Arbeiterklasse
16. Um die aktuellen Perspektiven der Arbeiterklasse zu verstehen und eine zukünftige Entwicklung des Klassenkampfes zu prognostizieren, müssen wir uns die historischen Schwächen der Arbeiterklasse in Deutschland in Erinnerung rufen.
Ein Jahrhundert der historischen Schwächen und des Rückstands der Arbeiterklasse in Deutschland
Neben der russischen Arbeiterklasse erlitt die Arbeiterklasse in Deutschland die schwerste Niederlage in den revolutionären Kämpfen während der revolutionären Welle 1917-1923. Das Gewicht der Konterrevolution, der desorientierende Einfluss des Rätekommunismus, die Unfähigkeit der schnell im Stalinismus versunkenen KPD und das Unvermögen der KAPD, die wirklichen Lehren aus der revolutionären Welle zu ziehen, und der politische Einfluss der Frankfurter Schule nach 1945 hatten tiefe Narben hinterlassen, als die Arbeiterklasse Ende der 1960er Jahre wieder auf die Bühne trat.
Bei ihrem Wiederauftauchen war die Arbeiterklasse in Deutschland stark durch den kleinbürgerlichen Druck der Studentenbewegung belastet – insbesondere Spontaneität und Organisationsfeindlichkeit in alter rätekommunistischer Tradition wirkten wie eine Fessel. Tausende von jungen Menschen wurden von der extremen Linken aufgesogen und politisch vernichtet oder instrumentalisiert.
In den zwei Jahrzehnten von 1969 bis 1989 folgte die Arbeiterklasse weitgehend den internationalen Entwicklungen, aber sie war nie in der Lage, sich durch massive oder besonders radikale Momente an die Spitze einer internationalen Bewegung zu setzen. Nach 1989 wurde die Arbeiterklasse mit der Euphorie der Wiedervereinigung konfrontiert, durch welchen sie sich jedoch nie wirklich einspannen ließ. Zwar war auch ihre (ohnehin schwache) Kampfbereitschaft im Westen im Rückfluss, und auch ihr Bewusstsein litt unter der Kampagne gegen den Kommunismus.
Darüber hinaus sorgten verschiedene Spaltungskräfte (durch die Millionen Arbeitssuchenden Niedriglohnarbeiter aus Osteuropa) und die Einführung extrem prekärer Arbeitsbedingungen für eine immer größere Zahl von Beschäftigten für weitere Spaltungen innerhalb der Belegschaft, während gleichzeitig in florierenden Branchen relativ hohe Löhne gezahlt wurden.... Inzwischen ist in Deutschland der vielleicht größte Fachkräftemangel in Europa entstanden. Insofern kann man von Spaltungsfaktoren sprechen, die jahrelang dominiert haben – die nun aber durch die Inflation und die Angriffe, die aus der Verschlechterung der Situation resultieren, nivelliert werden und die Basis für ein größeres Zusammengehörigkeitsgefühl bilden können.
17. Die Arbeiterklasse in Deutschland ist von den ideologischen Auswirkungen des Zerfalls in einer Weise geprägt, die sie von anderen Teilen des Proletariats in Europa unterscheidet: Während verschiedene Teile der Arbeiterklasse mit der Frage der Abspaltung bestimmter nach Autonomie strebender Regionen (Spanien, GB) oder des Regionalismus konfrontiert sind, war kein anderer Teil der Arbeiterklasse mit solchen politischen Konsequenzen konfrontiert, die mit den Auswirkungen der Wiedervereinigung vergleichbar sind. Rasch löste dies im Osten eine Nostalgie nach der alten (angeblich) „sicheren Existenz“, Reaktionen der Flucht vor der Realität des Kapitalismus und die Suche nach Sündenböcken sowie Ressentiments im Westen aus.
Die für den Zerfall typische politische und ideologische Verwirrung, die aus der Schwierigkeit oder Unfähigkeit resultiert, die Ursachen und Folgen der Ausbeutung als im Kapitalismus verwurzelt zu verstehen, hat zum Aufkommen von Sündenbockdenken, Fremdenfeindlichkeit, verstärktem Nationalismus, Verschwörungsideologien, reinem Protestverhalten gegenüber „denen da oben“ anstelle von Klassenkonfrontation, Polarisierung um Identitätsfragen, Festhalten an religiösem Fundamentalismus, wachsender Gewaltbereitschaft, Populismus und dem Wiederaufleben rechtsradikaler Bewegungen geführt. Durch das Aufkommen von Bewegungen wie Fridays-for-future und Protesten von Klimaaktivisten sollte die Perspektivlosigkeit dieser Bewegungen noch mehr Verwirrung und Demoralisierung stiften.
Die allgemeine historische Rückständigkeit des Bewusstseins der Arbeiterklasse in Deutschland, in Verbindung mit der politischen Rückständigkeit des Teils der Arbeiterklasse in Ostdeutschland, erklärt die besondere Verwundbarkeit des deutschen Proletariats für die Auswirkungen des Zerfalls und die Wirkung bürgerlicher Kampagnen, die diese ausnutzen, um sie gegen das Proletariat zu wenden. All diese Phänomene haben sich mit der Pandemie, der Verschärfung der Krise und dem ungebremsten Zustrom von Flüchtlingen, der Wohnungsnot, der Verarmung und der ständigen Hetze und dem Aufstacheln durch die Herrschenden aller Couleur usw. noch verschärft.
18. Die Haltung der herrschenden Klasse, die Anpassungen, die von ihren Organen zur Kontrolle des Klassenkampfes in Deutschland produziert werden, belegen, dass die veränderte Situation im internationalen Klassenkampf, die Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiter nach mehreren Jahren der Passivität, auch in Deutschland sehr wohl existiert. Die Bourgeoisie setzt alles daran, dem entgegenzuwirken:
- Die mehrjährigen Lohnabschlüsse, die im Herbst 2023 in fast allen Branchen unterzeichnet wurden, um Zeit zu gewinnen, haben zunächst ein weiteres Hindernis für eine schnelle Gegenwehr geschaffen.
- Die Radikalisierung der Gewerkschaften, die in kämpferischeren Bereichen wie dem Transportwesen Streiks organisieren.
- Das Sprießen trotzkistischer Organisationen (z.B. Klasse gegen Klasse, Der Funke-IMT), mit einer angriffigen und kritischen Positionierung gegenüber den großen offiziellen Gewerkschaftsbünden und der Sozialdemokratie. Ihre besondere Rolle ist es, als „radikale Verteidiger der Arbeiterinteressen“ aufzutreten und der Arbeiterklasse eine angebliche Kampfperspektive zu bieten. In Wahrheit sabotieren sie jegliche Reaktion der Arbeiterklasse auf ihrem eigenen Klassenterrain und führen sie in Sackgassen.
Entwicklung der Kampfbereitschaft
19. Die Entwicklung der Kampfbereitschaft der Arbeiter zur Verteidigung ihrer Lebensbedingungen muss sich einen schwierigen Weg bahnen und stößt auf zahlreiche Hindernisse.
Die Angst vor der Zukunft, die demokratischen Illusionen und die Perspektivlosigkeit, die das Proletariat bietet, werden vom Staat in hohem Maße ausgenutzt. Sie geben dem Staat jede Menge Spielraum, um die Ergebnisse der Fäulnis seines Systems, den Aufstieg der extremen Rechten, gegen die Klasse zu wenden und eine riesige Kampagne zur Verteidigung der Demokratie und ihres Systems zu entfachen, die seine Verantwortung für den bestehenden Zustand der Dinge verschleiern und die Klasse auf das Terrain der Verteidigung der bürgerlichen Ordnung locken und sie somit lähmen soll.
Die Existenz von Bewegungen nicht-proletarischer kleinbürgerlicher Zwischenschichten, die Opfer der kapitalistischen Krise sind, wie die aktuellen Proteste von Landwirten (denen sich Kleinunternehmer, Händler und sogar Arbeiter anschließen), birgt für das Proletariat die Gefahr, in klassenübergreifende Kämpfe hineingezogen zu werden, in denen die Klasse in das undifferenzierte Ganze der Masse der 'Bürger' der kapitalistischen Gesellschaft aufgelöst wird.
Die Herausforderung für die Arbeiterklasse besteht darin, ihre eigene Stärke auf ihrem Klassenterrain zu entwickeln, ihre Klassenautonomie zu verteidigen, indem sie Forderungen formuliert, die ihren spezifischen Klasseninteressen entsprechen, und die spezifischen Waffen ihres Kampfes schmiedet, die Vollversammlungen und die Solidarität im Kampf über die Branchengrenzen hinweg.
2024 und die Welle von Angriffen
20. Der Druck auf die Arbeiterklasse, auf die sich verschlechternde Situation zu reagieren, wird zwar zunehmen, doch gibt es mehrere unvorhersehbare Faktoren:
- Wie wird sich der Arbeitskräftemangel auf die Kampfbereitschaft auswirken; wird dies als Bremse oder als Beschleuniger wirken?
- Gibt es so etwas wie ein „Genug ist genug“ aus Wut und Empörung über unerträgliche Arbeitsbedingungen – aus Branchen, die wenig oder keine Kampferfahrung haben?
- Einen gemeinsamen Kampf der Arbeiter in Ost- und Westdeutschland hat es bisher nicht gegeben.
- Ob der Zusammenhang zwischen der Verschlechterung der Situation, den jetzt beginnenden Angriffen und dem Krieg hergestellt wird, bleibt abzuwarten.
Mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise beginnen sich die Angriffe in vielen Bereichen zuzuspitzen: Ein Tsunami von mehreren tausend Stellenstreichungen betrifft die Automobilhersteller (ZF, Michelin, Continental, Bosch), die Automobilindustrie (Ford, VW), die Chemieindustrie (BASF, Bayer), die Versicherungsbranche (Allianz), Siemens, den Handel (Zalando, Karstadt/Kaufhof), Postbank. Kein einziger Bereich wird ausgespart bleiben.
Auch wenn es noch keine offene Reaktion gegen die deutsche Kriegsbeteiligung gibt, ist die Arbeiterklasse nicht bereit, ihr Leben für die Interessen des deutschen Kapitals zu opfern und steht nicht hinter ihrer herrschenden Klasse bei deren Kriegsvorbereitungen. Angesichts der massiven Angriffe auf die Beschäftigung, der Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und der Inflation kann die Zukunft nur von der Entwicklung der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse geprägt sein.
IKS, Anfang März 2024