Flucht des Kapitals nach vorne – in die Militarisierung

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Mit den jüngsten Beschlüssen zur grenzenlosen Erhöhung des Rüstungsetats und dem zusätzlichen Verschuldungsprogramm wird ersichtlich, wie sehr sich die herrschende Klasse in Deutschland der Tatsache bewusst ist, dass in der Weltlage ein entscheidender Einschnitt eingetreten ist. Tatsache ist, dass sich für das deutsche Kapital (wie für alle EU- und Nato-Staaten) die Lage schlagartig mit dem nun stattgefundenen Bruch des jahrzehntelangen Militärbündnisses zwischen USA und Nato und der seitens der USA gegen die EU gerichteten Maßnahmen, der neuen Russlandpolitik der USA und der Abkehr von der US-Unterstützung der Ukraine für die Welt – insbesondere für Europa und vor allem für Deutschland – tiefgreifend verändert und rasant zugespitzt hat. Dies auch wenn die dahinter liegende tiefer greifende Entwicklung seit langem sichtbar war.

Europäische Regierungen haben eine Konferenz nach der anderen einberufen, um erste kurzfristige und langfristige Gegenmaßnahmen vorzunehmen. Deutschland ist dabei gewissermaßen Vorreiter geworden. Deren gemeinsamer Nenner ist die Ausrichtung auf „ReArm Europe“ („Europa wiederbewaffnen“) und verharmlost das wahre Ausmaß der jüngsten Explosion der Rüstungsausgaben.[1]

Parteienübergreifende Einigkeit der zentralen Teile der deutschen Bourgeoisie

Genauso schnell wie die Ampelregierung unter Scholz nur wenige Tage nach der Auslösung des russischen Angriffs gegen die Ukraine 2022 eine Zeitenwende ausrief und innerhalb kürzester Zeit eine Verdoppelung des Rüstungshaushalts beschloss, haben die EU unter der ehemaligen deutschen Verteidigungsministerin Von der Leyen ein 800 Milliarden schweres Rüstungspaket und SPD und CDU/CSU im Handumdrehen ein nationales Aufrüstungsprogramm mit Unterstützung der Grünen beschlossen. Dies wirft im Prinzip alle vorherigen Haushaltsfesseln über Bord und ermöglicht grenzenlose Aufrüstung.

Diese Steigerungszahlen des Rüstungshaushalts scheuen keinen Vergleich mit den Steigerungszahlen des ersten Militärhaushaltes, den die Nazis nach ihrer Machtübernahme 1933 beschlossen. Vorbei sind auch die Illusionen und Versprechen von 1989 oder nach der Wiedervereinigung 1990 von einem friedlichen Deutschland, als eine Zeitlang „Abrüstung“ betrieben wurde.  Das weltweit sich verschärfende Kriegstreiben wird seit geraumer Zeit wieder voll von der deutschen Bourgeoisie mitgetragen. Lautstark schreien alle Vertreter des deutschen Kapitals: „Wir müssen unser Land grundlegend aufrüsten, keine Grenzen bei den Staatsausgaben für die Aufrüstung Deutschlands… whatever it takes!“ Neben den unbegrenzten Ausgaben wird der Staatsapparat organisatorisch umgebaut werden, um alles für Kriegsanstrengungen zu mobilisieren. Joschka Fischer, ex-Außenminister der Grünen, der sich schon im Balkankrieg als Rechtfertiger der Bombardierungen von Belgrad hervorgetan hatte, kritisiert rückblickend die Abschaffung der Wehrpflicht und plädiert für deren schnellstmögliche Wiedereinführung. Und die Diskussion über atomare „Schutzschilde“ zur Ersetzung des US-amerikanischen ist auch schon angelaufen. Die EU, lange Zeit hauptsächlich ein gemeinsamer Wirtschaftsraum, soll durch eine Koalition der „Willigen“ auch zu einem militärischen Bündnis umgebaut werden. Die neue Regierung hat mit dem neuen Aufrüstungspaket den ganzen Ballast um die Schuldengrenze, die u.a. mit zum Zerwürfnis innerhalb der alten Ampelkoalition geführt hatte, abgeworfen und sich kopfüber in den Aufrüstungswettlauf gestürzt. Wir alle sollen uns der ganzen Spirale der Aufrüstung und Kriegsdynamik unterwerfen.

Alles für Kriegsvorbereitungen ...

In Anbetracht dieses „Notfalls für die Verteidigung des Vaterlandes“ stellte sich der ganze Wahlzirkus wieder einmal nur als ein lästiges Hindernis heraus, dessen Ergebnisse die verantwortlichen Drahtzieher des deutschen Kapitals im Bewusstsein der Verteidigung der übergeordneten Staatsinteressen schleunigst mit parlamentarischen Tricks umgingen. Dies indem man das neue Rüstungsprogramm noch mit der alten parlamentarischen Mehrheit durchboxte, bevor der neue Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentrat. Im neuen Bundestag sind die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zur Änderung des Grundgesetzes, das für diese Finanzpakete erforderlich war, mit einer 2/3-Mehrheit nicht vorhanden … also schnell nochmal die alten parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse ausnutzen. Wir sehen hier keinen „Verrat an den demokratischen Prinzipien“, sondern genau deren Scheinheiligkeit und die wahren Entscheidungsschienen. Zugleich wurde dieses Rüstungsprogramm von CDU/CSU-SPD aus dem Boden gestampft, noch bevor diese überhaupt zu Koalitionsvereinbarungen zusammengekommen waren – soviel Einigkeit und Sinn für die Interessen des Staates und die notwendige nationale Einheit in dieser Frage waren selbstverständlich.

Vorbei die ursprüngliche Zögerlichkeit oder Ablehnung der Lockerung der Schuldenbremse seitens der CDU/CSU – den Bedürfnissen des Krieges darf man offenbar nicht ausweichen. Fehlen durften dabei natürlich nicht die Grünen, die sich während der letzten Jahre immer als geradezu fanatische Verfechter von Waffenlieferungen und Aufrüstung erwiesen haben. Jetzt erwiesen sie sich als Zünglein an der Waage, die ihre Zustimmung nach ein wenig Hin und Her bereitwilligst gaben, nachdem man eine “Erweiterung” der Ausgaben für “Sicherheit” auf zusätzliche Bereiche wie Cyberkriegsführung, Geheimdienste und Ähnliches vorgenommen hatte. Auch wurde in das „Infrastrukturpaket“ die Absicht aufgenommen, zusätzliches Geld für Umweltschutz aufzubringen, was dem Maßnahmenpaket sogar so etwas wie einen Anschein von „Klimaschutz“ verschafft. Merz hatte ja schon 2018 über die Grünen geurteilt: „Sehr bürgerlich, sehr offen, sehr liberal und sicherlich auch partnerfähig" (11.11.2018).

Und die Sozialdemokratie, deren Führung im August 1914 zum ersten Mal die Vaterlandsverteidigung über die Interessen der Arbeiterklasse stellte und unwiederkehrbar ins Lager des Kapitals wechselte und kurze Zeit später 1918-1919 für die Niederschlagung der revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse in Deutschland gesorgt hatte, bewies einmal mehr ihre mehr als 110 Jahre lange Treue gegenüber dem Kapital.

Neben der grenzenlosen Aufrüstung tritt man auch im Bereich der „Infrastruktur“ zu einer bislang nie dagewesenen Flucht nach vorne an. 500 Mrd. Euro sollen bereitgestellt werden, nicht zuletzt, um flankierend das Transportnetz kriegstauglich zu machen – schließlich ist Deutschland ein strategisch wichtiges Aufmarschgebiet und eine zentrale Drehscheibe für die ganze Kriegslogistik gegen Russland. Während alle deutschen Regierungen gegenüber der EU insgesamt und gegenüber einzelnen Mitgliedsstaaten lange Zeit als Zuchtmeister bei Finanzfragen aufgetreten sind, wirft man jetzt jegliche eigene Zurückhaltung über Bord. Denn ohne staatliche Subventionen z.B. in der E-Strom-Versorgung hat man im internationalen Konkurrenzkampf gegen China oder die USA keine Chance, E-Autos zu verkaufen. Dies zeigt die wilde Entschlossenheit, das ganze Gewicht des Staates in den sich nun gnadenlos verschärfenden Konkurrenzkampf zu werfen. Auch wenn man damit in Kauf nehmen muss, dass dieses noch größere Aufdrehen des staatlichen Schuldenhahns zu einem Ansteigen der Inflation führen und einen nicht kalkulierbaren Schuldenberg hinterlassen wird.[2]

Das deutsche Kapital wird natürlich Ambitionen zeigen, in dieser neuen Phase des Konkurrenzkampfes und des Aufbaus neuer Militärstrukturen in Europa eine besondere Führungsrolle zu übernehmen. So betonen regierungsnahe „Think-tanks“, dass man die „deutsche Bevölkerung darauf vorbereiten muss, dass Deutschland zur europäischen Führungsmacht wird, diplomatisch und militärisch“. Dazu gelte es „die Zeitenwende in den Köpfen zu verankern“. Einerseits ist Deutschland enger als je zuvor auf eine möglichst enge Zusammenarbeit insbesondere mit Frankreich, Polen und Großbritannien angewiesen (allein ist man viel zu klein). Andererseits sind die Reibungspunkte insbesondere mit Frankreich nicht aus der Welt geschafft. So steuert das deutsche Kapital mit Volldampf auf weitere Konflikte innerhalb der sich neu definierenden EU zu, während es gleichzeitig Beziehungen zu einigen Ländern anpassen muss. Solche Umstellungen laufen nie friedlich und in Eintracht ab. Kapitalismus ist und bleibt ein Haifischbecken! Und die Epoche des beschleunigten Zerfalls hat die nationale Verteidigung der Partikularinteressen gegen die rationale Notwendigkeit der Zusammenarbeit und Absprache in Stellung gebracht und somit speziell die Achse Deutschland Frankreich schwer beschädigt. Die EU ist ein notwendiges zentrales Instrument in der politischen und militärischen europäischen Formierung und zur selben Zeit durch interne Fliehkräfte unter enormen Druck. Ein Haifischbecken in einem Bassin mit ersten Rissen.

Die Flucht in die Aufrüstung und Verschuldung – auf Kosten der Arbeiterklasse!

Genauso entschlossen, wie die neue Bundesregierung den Geldhahn für Rüstung und viele kriegsrelevante Infrastrukturmaßnahmen aufgedreht hat, wird sie Sparbeschlüsse gegenüber der Arbeiterklasse durchboxen müssen. Die seit Sommer 2024 im Amt befindliche britische Labour-Regierung, welche die verschlissene und verabscheute Tory-Regierung ablöste, hat schmerzhafte Einschnitte im ohnehin schon maroden Gesundheitssystem und in anderen Sozialbereichen angekündigt. Die gleiche Stoßrichtung hat die neue belgische Regierung eingeschlagen[3], und in Frankreich werden ähnliche Maßnahmen ins Auge gefasst.

In Deutschland hat das Kapital keine andere Wahl, als durch die neue Bundesregierung die Kosten für das astronomische Verschuldungsprogramm auf die Schultern der Arbeiterklasse abzuwälzen. Dabei wird der SPD zusammen mit den Gewerkschaften die besondere Rolle zufallen, die zu erwartenden Konfrontationen mit der Arbeiterklasse abzufedern. Auf die Bedeutung der derzeit stattfindenden (Warn-)Streiks und Proteste im öffentlichen Sektor, aber auch während Betriebsversammlungen in der Industrie müssen wir zu einem anderen Zeitpunkt eingehen. Wichtig ist festzuhalten, dass die Demokratie- und Brandmauerkampagne vor der vorgezogenen Bundestagswahl diese Kämpfe nicht infiltriert oder abgeschwächt hat. Doch muss ebenfalls die Rolle der Gewerkschaften und der Trotzkisten und auch der Partei Die Linke denunziert werden, die diese Kämpfe einhegen wollen.

Dass die deutsche Bourgeoisie, deren Kernbereiche sich um die neue Bundesregierung mit Unterstützung der Grünen im Handumdrehen auf diese neue auf Krieg ausgerichtete Orientierung zielstrebig geeinigt haben, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die herrschende Klasse selbst in einer politischen und  historischen Krise steckt. Darauf sind wir in einem weiteren Artikel eingegangen.

18.03.2025 TW


[1] Dabei haben die EU-Staaten und Großbritannien tatsächlich schon zwischen 2014 und 2024 ihre Militärausgaben von insgesamt 147 Milliarden Euro auf 326 Milliarden Euro mehr als verdoppelt. Und ersten Delegationen der EU waren auch schon unterwegs, um z.B. mit Indien eine viel engere Zusammenarbeit aufzubauen. 

[2] Wir sind in weiteren Artikeln auf die historische und internationale Bedeutung der ganzen Entwicklung eingegangen und wir werden auch die dramatischen Änderungen, die sich für das deutsche Kapital ergeben haben, in zukünftigen Artikeln eingehen.

[3]Siehe unser Flugblatt auf Französisch: Ça suffit ! Face aux attaques, développons un mouvement massif, uni et solidaire, ICConline 2025

Rubric: 

Lage Deutschlands