Schweiz–EU: Ausdruck des Zerfalls des Kapitalismus

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Beschuldigungen innerhalb der Schweizer Regierung wegen Uneinigkeiten in der EU-Politik füllen regelmässig die Zeilen der Presse. Bundespräsident Deiss rügt seinen Justizminister Blocher wegen mangelnder Loyalität. Dieser stellt scharfzüngig bei öffentlichen Auftritten die neu geplanten bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU zur Erweiterung des Personenfreizügigkeits-Abkommens und des Schengen/Dublin-Abkommens in Frage. Die Schweizerische Regierung scheint sich in den Haaren zu liegen. Ist dies belangloses bürgerliches "Polittheater" oder stecken hinter den Uneinigkeiten zur EU-Frage tatsächliche Probleme?

Zwischen den verschiedenen Teilen der Schweizerischen Bourgeoisie, von Links bis Rechts, und deren Regierungsvertretern herrscht natürlich allemal eine grundsätzliche Einigkeit über die Wahrnehmung der Interessen des nationalen Kapitals im Konkurrenzkampf gegenüber allen anderen Staaten. Am selben Strick ziehen sowohl die Sozialdemokratie, die rechtsbürgerliche SVP um Justizminister Blocher und alle anderen Parteien gegenüber der Arbeiterklasse - vor allem dann, wenn es darum geht, die Krise auf die Arbeiter abzuwälzen. Erinnert sei hier an die Rentenreform. Dennoch sind die in der Öffentlichkeit ausgetragenen Querelen um die EU zwischen den Ministern nicht wie oftmals in der bürgerlichen Politik simple Ablenkungsmanöver. Mit der strittigen Frage "Europa" bricht regelmässig ein für den Schweizerischen Kapitalismus schon historisch gewordenes Problem auf: die drohende Bestrafung seitens der kapitalistischen Nachbarn und Konkurrenten für eine Politik des Sonderwegs der Schweiz. Die helvetischen Streitereien um die EU-Verträge sind heute mehr denn je Ausdruck dafür, dass der zerfallende Kapitalismus die herrschende Klasse mit neuen Problemen konfrontiert, bei denen sie ans Ende ihres althergebrachten Lateins zu geraten droht. Für die Schweizerische Bourgeoisie wird ihr Verhältnis zur EU vor allem auf wirtschaftlicher Ebene immer mehr zu einer heiklen Überlebensfrage.

Die EU-Verträge: Zweckbündnis aber Notwendigkeit für die Schweizer Wirtschaft

Die EU ist keineswegs von Einheit unter den Mitgliedstaaten gekennzeichnet. Noch viel weniger ist die EU auf dem Wege einen neuen imperialistischen Block zu formieren, wie sie zur Zeit zwischen 1945 bis zum Zusammenbruch des stalinistischen Ostblocks 1989 bestanden.1 Ganz im Gegenteil: die EU selbst wird immer offensichtlicher ein Terrain imperialistischer Spannungen und Manöver, bei dem jedes Land vor allem aus einem Kalkül zur Realisierung seiner eigenen Vorteile und besseren Kontrolle der anderen europäischen Staaten teilnimmt. Angesichts der sich unbarmherzig verschärfenden internationalen Krise der kapitalistischen Wirtschaft jedoch sind die wirtschaftlichen Übereinkünfte unter den EU-Staaten zwar nur zeitweilige aber unabdingbare Zweckbündnisse, um gegenüber dem Druck der amerikanischen oder japanischen Wirtschaft noch einigermassen konkurrenzfähig zu bleiben. Ein anderes gemeinsames Kalkül der EU-Mitgliedsstaaten ist die Errichtung eines Bollwerks, um die Auswirkungen der Krise möglichst lange von Europa fern zu halten und auf Länder der kapitalistischen Peripherie abzuschieben. Ein "gemeinsames Projekt" des europäischen Kapitals, welches aber immer deutlicher zum Scheitern verurteilt ist. In diesem internationalen Rahmen, welcher durch einen verzweifelten Kampf des Kapitals gegen das ökonomische Desaster und das kriegerische Chaos gekennzeichnet ist, sind die zähen Verhandlungen um die bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU alles andere als ein Ringen um endlose Profite in einem kapitalistischen Schlaraffenland, in dem es immerzu aufwärts geht. Zu solchen naiven Analysen greifen lediglich linke Antiglobalisierer, welche sich einen gerechten Kapitalismus des fairen Handels zum Ziel gesetzt haben. Sie sind vielmehr Ausdruck davon, dass die herrschende Klasse aller Länder immer mehr Schwierigkeiten hat, die Widersprüche ihres System unter Kontrolle zu behalten und unter dem Druck der Krise zu einer dauernden Gratwanderung zwischen Verteidigung der nationalen Interessen einerseits und Konzessionen andererseits gezwungen ist. Der Schweizerische Kapitalismus ist davon in einer besonderen Art und Weise betroffen, da er über eine ausgeprägte isolationistische Tradition verfügt, die schon nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem latenten Problem heranwuchs. Vom Kriegsgewinner USA wurde das Schweizerische Kapital für die sogenannte Neutralität, beziehungsweise die Händel mit beiden Kriegsfronten im Zweiten Weltkrieg, mit der Einfrierung Schweizer Gelder in den USA bestraft. Um die Interessen des nationalen Kapitals auf einem von zwei Blöcken kontrollierten Weltmarkt der Nachkriegszeit weiterhin verteidigen zu können, begann die Schweizer Bourgeoisie schon damals mit der althergebrachten Tradition der Isolation schrittweise zu brechen. Dies geschah zur Zeit des Wiederaufbaus der 50er Jahre jedoch vor allem unter dem Druck der imperialistischen Spannungen zwischen den Blöcken und weniger aus rein wirtschaftlichen Überlegungen. Die Schweizer Bourgeoisie musste sich aus der geografischen Lage im Herzen Europas heraus klar als Teil des westlichen Blocks engagieren, nicht auf dem Hintergrund einer sich zuspitzenden Wirtschaftskrise und einem imperialistischen Jeder gegen Jeden wie heute. Darüber kann auch das berühmte Schweizer Bankgeheimnis nicht hinwegtäuschen, welches viel weniger das Produkt einer erfolgreichen trotzigen Abgrenzung gegenüber den anderen Staaten des westlichen Blocks war, sondern von vielen Bourgeoisien anderer Länder unterstützt wurde, um, wie in Luxemburg, Bastionen für Fluchtgelder zu haben. Der Grossangriff auf das Bankgeheimnis begann dementsprechend auch nach dem Zusammenbruch der Blöcke 1989.

Der Zerfall vertieft die Widersprüche des Kapitalismus

Seit dem Ende des Wiederaufbaus Ende 60er Jahre ist der Kapitalismus erneut mit einer dauernden ökonomischen Krise konfrontiert. Diese fand ihren heftigsten Ausdruck im Zusammenbruch des Ostblocks, welche unter anderem ein Resultat des die Wirtschaft erdrückenden imperialistischen Wettrüstens war. Der Zusammenbruch des Ostblocks läutete auch definitiv eine neue Phase des Kapitalismus ein: den Zerfall des Kapitalismus. Nur wer die Augen vor der Realität vollkommen verschliesst, kann leugnen, dass die unkontrollierbaren zerstörerischen Kriege wie in Ex-Jugoslawien während der 90er Jahre und heute in Afghanistan und dem Irak die Wirtschaft aller beteiligten Staaten erdrosseln, keineswegs im Ganzen gesehen profitabel sind und einen irrationalen Charakter angenommen haben. Eine Situation, welche grundsätzlich schon seit dem Ersten Weltkrieg existiert, als der Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seine niedergehende Phase eintrat, und sich grundlegend von der Zeit des aufsteigenden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Der Zerfall des Kapitalismus jedoch, von dem wir seit Ende der 80er Jahre sprechen, zeichnet sich dadurch aus, dass das Kapital immer mehr die Kontrolle in einer Welt des Jeder gegen Jeden verliert. Die Bourgeoisien der führenden europäischen Länder versuchen heute darauf ähnlich zu reagieren wie schon der zerfallende Feudalismus ab dem 16. Jahrhundert auf den Zerfall mit der Bildung absolutistischer Staaten antwortete: mit einer verzweifelten Zentralisierung der Macht. Wenn zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Errichtung des Staatskapitalismus die Antwort des Kapitals auf die niedergehende Phase des Kapitalismus war, welche es dem Kapital ermöglichte, Weltkriege zu führen, die das System selbst aber ruinierten, so stossen die Versuche der Koordinierung und Zentralisierung der Wirtschaft auf EU-Ebene auf zunehmende Schwierigkeiten. Das Problem des gesättigten Weltmarktes kann auch mit einer Koordination einzelner Staaten nicht überwunden werden. Die EU mit ihren Wirtschaftsabkommen drückt damit nicht eine neue Perspektive des Wachstums oder der wirklichen Konkurrenzfähigkeit aus, sondern ist ein genauso verzweifelter Versuch, den Kopf noch so lange wie möglich über Wasser zu halten und ein Bollwerk gegen das Chaos zu errichten. Grundsätzlich bleibt im Kapitalismus die Konkurrenz zwischen den einzelnen Nationen als ehernes Gesetz bestehen. Die heutige Krise des Kapitalismus und das zunehmende Chaos in der Peripherie des Systems zwingt jedoch die entwickelten Industriestaaten zu wirtschaftlichen und polizeilichen Übereinkünften, um überhaupt bestehen zu können. All dies bedeutet aber keinesfalls eine "Globalisierung" oder die Entstehung eines "international geeinten Kapitals", sondern verhindert nur, dass die Verschärfung der Konkurrenz zu einem Auseinanderbrechen der Weltwirtschaft wie in den 1930er Jahren führt.

Eine Politik der politischen und wirtschaftlichen Isolation, wie sie noch von rückständigen Teilen der Schweizerischen Bourgeoisie wie der SVP vertreten wird, entspricht den Zwängen des krisengeschüttelten Kapitalismus nicht. Die Schweizerische Exportwirtschaft ist enorm vom deutschen Markt abhängig, der grössten ‚Volkswirtschaft' der EU. Allein schon diese Tatsache zwingt den schweizerischen Staatskapitalismus, mit der EU in Verträge einzutreten, um der nationalen Wirtschaft Leitplanken zu bieten. Zusammenschlüsse mit anderen europäischen Industriekonzernen wie die schwedisch-schweizerische ABB-Fusion waren schon in den 80er Jahren Anzeichen des Zwangs wirtschaftliche Allianzen einzugehen, um noch konkurrenzfähig zu bleiben.

Ein Problem des Zerfalls: Die fehlende Harmonie innerhalb der herrschenden Klasse

Die Schweizer Bourgeoisie hat auch erkannt, dass sie durch die fragilen Bedingungen des kapitalistischen Zerfalls immer mehr gezwungen ist, eine kohärente Aussenpolitik zu führen. Die verstärkte Integration desjenigen Teils der herrschenden Klasse rund um Blocher (den Justizminister), welcher sich noch in der Regierung an der Tradition der "absoluten Eigenständigkeit" festklammert, ist ein deutlicher Versuch einem weiteren Problem des kapitalistischen Zerfalls zu Leibe zu rücken: eine gewisse Tendenz hin zur Schwächung der Wirksamkeit der politischen Kontrolle des Staats. Die schweizerische Bourgeoisie hat vor einigen Monaten durch die Eingliederung Blochers in die Regierung bewusst den Versuch unternommen, einen ‚undisziplinierten Mitspieler' gerade in der Aussenpolitik, besser zu kontrollieren. Auch wenn der Staatskapitalismus die Kontrolle des Staates über alle Bereiche der Gesellschaft zur Zeit des Ersten Weltkrieges notwendig machte, und dieser jahrzehntelang der herrschenden Klasse weltweit in jeder Nation eine Kontrolle über die eigene Nation garantierte, so nagt der Zerfall heute selbst in den Industriestaaten am Zusammenhalt und der Zielgerichtetheit des Staatskapitalismus. Diese Tendenz zeigt sich in der sog. Dritten Welt am deutlichsten, wo in Ländern wie Afghanistan, dem Sudan, Gebieten im Süden des ehemaligen Ostblocks oder afrikanischen Ländern der Staat die Kontrolle komplett verloren hat und Kriegsherren und deren Banden das Feld überlassen muss. Diese Situation ist zwar keineswegs mit derjenigen in den zentralen europäischen Ländern vergleichbar. Dennoch zeigt sich die Perspektivlosigkeit des zerfallenden Kapitalismus immer mehr auch bei der herrschenden Klasse in den zentralen Ländern selbst. Die fast schon berühmten Streitigkeiten innerhalb der französischen Bourgeoisie sowie das Phänomen des ‚politischen Populismus' sind Ausdrücke davon. Der Zerfall des Kapitalismus hat auch den Mythos einer herrschenden Klasse, welche immer alles fest im Griff hat, zu erschüttern begonnen. Wenn heute Uneinigkeiten zwischen Ministern der Schweizer Regierung über die Frage des Verhältnisses zur EU öffentlich mit Beschuldigungen ausgetragen werden, so wiederspiegelt dies die Schwierigkeiten für den Kapitalismus, auf die heutige Krise eine Lösung zu finden und innerhalb der herrschenden Klasse jederzeit die Disziplin zu garantieren. Schlussendlich sind die Widersprüche des eigenen kapitalistischen Systems stärker als der Wunsch der Bourgeoisie, dass auch in ihren Reihen alles reibungslos über die Bühne geht.

Nicht "Für oder Gegen" die EU

Wir haben zu Beginn des Artikels schon darauf hingewiesen, dass diese Streitigkeiten innerhalb der Schweizer Regierung nicht lediglich Scheinwidersprüche oder Ablenkungsmanöver gegenüber der Arbeiterklasse darstellen. Selbstverständlich jedoch versucht die Bourgeoisie aus der Not ihrer Schwierigkeiten eine Tugend zu machen und die Arbeiterklasse in eine politische Logik des "Für oder Gegen" die EU zu lotsen. Bei den Bestrebungen, die Arbeiterklasse ins Gefängnis einer Identifikation mit den Interessen des eigenen Kapitals zu sperren, sind sich Linke, Sozialdemokraten und auch Blochers SVP mehr als einig, auch wenn sie sich öffentlich einer falschen Haltung gegenüber der EU bezichtigen.

Für die Arbeiterklasse stellt sich nicht die Frage, welche Strategie des Schweizer Staates gegenüber der EU die vorteilhafteste sei, sondern wie sie ihre Interessen als Arbeiterklasse verteidigen und den Kapitalismus im gemeinsamen Kampf mit den Arbeitern aller andern Länder überwinden kann. 9. 9. 04

1 Wir möchten den Leser an dieser Stelle die Lektüre unseres Artikels "Europa: Wirtschaftsbündnis und Terrain imperialistischer Manöver" in der Internationale Revue Nr. 31 empfehlen.

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