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Das Vertrauen und die Solidarität im Kampf des Proletariats (2. Teil)
Wir veröffentlichen hier den zweiten Teil eines Orientierungstextes, der während des Sommers 2001 in der IKS diskutiert und an der ausserordentlichen Konferenz im März 2002 angenommen wurde.1 Der erste Teil wurde in der Internationalen Revue Nr. 31 publiziert und behandelte die folgenden Themen:
– Die Auswirkungen der Konterrevolution auf das Selbstvertrauen und die Tradition der Solidarität bei den heutigen Generationen des Proletariats.
– Wie die IKS von den Schwächen beim Vertrauen und der Solidarität betroffen ist.
– Die Rolle des Vertrauens und der Solidarität in der Geschichte der Menschheit.
4. Die Dialektik des Selbstvertrauens der Arbeiterklasse:Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Da die Arbeiterklasse die erste Klasse in der Geschichte ist mit einer bewussten, historischen Vision, ist es logisch, dass die Grundlagen ihres Vertrauens in ihre eigene Mission ebenfalls historisch sind und die Gesamtheit ihres Werdegangs verkörpern. Daher basiert vor allem dieses Vertrauen in entscheidendem Masse auf der Zukunft und somit auf einem theoretischen Verständnis. Und daher ist die Stärkung der Theorie das bevorzugte Mittel zur Überwindung der angeborenen Schwächen der IKS auf dieser Ebene. Vertrauen ist per Definition stets Vertrauen in die Zukunft. Die Vergangenheit kann nicht verändert werden, daher richtet sich das Vertrauen nicht direkt an sie.
Jede im Aufstieg befindliche, revolutionäre Klasse stellt ihr Vertrauen in ihre spezifische Mission auf die Grundlage nicht nur ihrer gegenwärtigen Stärke, sondern auch ihrer vergangenen Erfahrungen und Errungenschaften. Dennoch war das Vertrauen der revolutionären Klassen der Vergangenheit und der Bourgeoisie im Besonderen hauptsächlich in der Gegenwart verwurzelt – in der wirtschaftlichen und politischen Macht, die sie in der herrschenden Gesellschaft bereits erlangt hatten. Da das Proletariat niemals eine solche Macht innerhalb des Kapitalismus besitzen kann, kann es nie solch eine Vorherrschaft der Gegenwart geben. Ohne die Fähigkeit, von seiner vergangenen Erfahrung zu lernen, und ohne eine wirkliche Klärung und Überzeugung in Bezug auf sein Klassenziel kann es niemals das Selbstvertrauen erlangen, um die Klassengesellschaft zu überwinden. In diesem Sinn ist die Arbeiterklasse, mehr als jede andere vor ihr, eine historische Klasse im wortwörtlichen Sinne. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind die drei unerlässlichen Komponenten ihres Selbstvertrauens. Es ist daher kein Wunder, dass der Marxismus, die wissenschaftliche Waffe der proletarischen Revolution, von seinen Gründern historischer oder dialektischer Materialismus genannt wurde.
a) Dies eliminiert überhaupt nicht die Rolle der Gegenwart in der Dialektik des Klassenkampfes. Gerade weil das Proletariat eine ausgebeutete Klasse ist, muss es seinen kollektiven Kampf für die Klasse als eine Gesamtheit entwickeln, um sich seiner wahren Stärke und seines zukünftigen Potenzials bewusst zu werden. Diese Notwendigkeit für die gesamte Klasse, Vertrauen zu erlangen, ist ein völlig neues Problem in der Geschichte der Klassengesellschaft. Das Selbstvertrauen der revolutionären Klassen der Vergangenheit, die Ausbeuter waren, beruhte stets auf einer klaren Hierarchie innerhalb jener Klassen in der Gesellschaft insgesamt. Es basierte auf der Fähigkeit, andere zu kommandieren und dem eigenen Willen unterzuordnen und damit auf der Kontrolle über den Produktions- und Staatsapparat. In der Tat ist es charakteristisch für die Bourgeoisie, dass selbst in ihrer revolutionären Phase andere für sie kämpften und dass, einmal an der Macht, sie immer mehr ihre Aufgaben an bezahlte Knechte „delegierte“.
Das Proletariat kann seine historische Aufgabe nicht an irgend jemanden delegieren. Daher muss die gesamte Klasse Selbstvertrauen entwickeln. Und daher ist das Vertrauen in das Proletariat stets auch Vertrauen in die Klasse als Ganzes, niemals nur in einen Teil der Klasse.
Es ist diese Tatsache, eine ausgebeutete Klasse zu sein, die ihrem Vertrauen einen schwankenden und gar ziellosen Charakter verleiht, der mit der Bewegung des Klassenkampfes auf- und abschwillt. Mehr noch, revolutionäre politische Organisationen selbst sind tief von dem Auf und Ab betroffen, bis zu dem Grad, dass die Weise, wie sie sich organisieren, sammeln und wie sie in der Klasse intervenieren, von dieser Bewegung abhängt. Und wie wir wissen, waren in Perioden schwerer Niederlagen nur winzige Minderheiten in der Lage gewesen, ihr Vertrauen in die Klasse aufrechtzuerhalten.
Doch diese Schwankungen im Vertrauen sind nicht nur mit dem Auf und Ab des Klassenkampfes verknüpft. Als eine ausgebeutete Klasse kann das Proletariat jederzeit, auch in der Hitze revolutionärer Kämpfe, einer Krise seines Selbstvertrauens zum Opfer fallen. Die proletarischen Revolutionen „unterbrechen sich ständig in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen“, etc. Insbesondere „schrecken (sie) stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke“E(die im Folgenden mit Buchstabenbezeichneten Fussnoten zu den Quellenangaben befinden sich am Ende des Artikels), wie Marx sagte. Die Russische Revolution von 1917 zeigt deutlich, dass nicht nur die Klasse insgesamt, sondern auch die revolutionäre Partei von solchen Schwankungen betroffen ist. Tatsächlich durchlebten die Bolschewiki zwischen Februar und Oktober etliche Krisen des Vertrauens in die Fähigkeit der Klasse, die anstehenden Aufgaben zu erfüllen. Krisen, die in einer Panik des Zentralkomitees der Bolschewiki angesichts des Aufstandes kulminierte.
Die Russische Revolution ist also die beste Illustration dafür, warum die tiefsten Wurzeln des Vertrauens des Proletariats im Gegensatz zur Bourgeoisie niemals in der Gegenwart liegen können. Während jener dramatischen Monate war es vor allem Lenin, der das unerschütterliche Vertrauen in die Klasse verkörperte, ohne das ein Sieg unmöglich ist. Und er tat dies, weil er nicht einen einzigen Moment lang die theoretische und historische Methode aufgab, die das Kennzeichen des Marxismus ist.
Dennoch ist der Klassenkampf ein unerlässliches Moment in der Entwicklung des revolutionären Vertrauens. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist er der Schlüssel für die gesamte historische Situation. Indem er die Wiedereroberung der Klassenidentität erlaubt, ist er die Vorbedingung für die gesamte Klasse, sich die Lehren der Vergangenheit wieder anzueignen und wieder eine revolutionäre Perspektive zu entwickeln.
Daher müssen wir, wie bei der Frage des Klassenbewusstseins, die eng damit verknüpft ist, zwei Dimensionen dieses Vertrauens unterscheiden: einerseits die historische, theoretische, programmatische und organisatorische Vermehrung des Vertrauens, die von den revolutionären Organisationen repräsentiert wird, und, etwas weiter gefasst, der Prozess der unterirdischen Reifung innerhalb der Klasse sowie andererseits der Grad und die Ausbreitung des Selbstvertrauens in der Klasse insgesamt zu einem gegebenen Moment.
b) Der Beitrag der Vergangenheit zu diesem Vertrauen ist nicht weniger elementar. Erstens, weil die Geschichte unleugbare Beweise für das revolutionäre Potenzial der Klasse enthält. Die Bourgeoisie selbst begreift die Bedeutung der vergangenen Beispiele für ihren Klassenfeind, weswegen sie pausenlos dieses Erbe und vor allem die Oktoberrevolution attackiert. Zweitens gibt es wenige Faktoren, die beruhigender sind als die Fähigkeit, vergangene Irrtümer zu korrigieren und die Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Im Gegensatz zur bürgerlichen Revolution, die von einem Triumph zum nächsten eilte, wird der endgültige Sieg des Proletariats durch eine Reihe von Niederlagen vorbereitet. Das Proletariat ist somit in der Lage, vergangene Niederlagen in Elemente für das Vertrauen in die Zukunft umzuwandeln. Dies war eine der Hauptgrundlagen für das Vertrauen, das Bilan in der tiefsten Konterrevolution aufrechterhielt. In der Tat, je tiefer das Vertrauen in die Klasse ist, desto gnadenloser müssen mutige Revolutionäre ihre eigenen Schwächen und die der Klasse kritisieren; je weniger sie es nötig haben, sich etwas vorzumachen, desto mehr sind sie von nüchterner Klarheit und dem Fehlen von sinnloser Euphorie gekennzeichnet. Wie Rosa Luxemburg immer und immer wieder sagte, ist es die Aufgabe der Revolutionäre zu sagen, was Sache ist.
Drittens war die Kontinuität, insbesondere die Fähigkeit, Lehren von einer Generation zur nächsten weiterzureichen, stets fundamental für die Pflege des Selbstvertrauens der Menschheit gewesen. Die verheerenden Auswirkungen der Konterrevolution des 20. Jahrhunderts auf das Proletariat ist der negative Beweis dafür. Um so wichtiger ist es für uns, die Lehren der Geschichte zu studieren, um unsere eigenen Erfahrungen und jene der gesamten Arbeiterklasse an die Generationen von Revolutionären weiterzureichen, die uns folgen werden.
c) Doch es ist die zukünftige Perspektive, die die grösste Grundlage für unser Vertrauen in das Proletariat bildet. Das mag paradox erscheinen. Wie ist es möglich, sein Vertrauen auf etwas zu fussen, das noch gar nicht existiert? Doch diese Perspektive existiert. Sie existiert als ein bewusstes Ziel, als eine theoretische Konstruktion, genauso wie die Bauten, die errichtet werden, bereits im Kopf des Architekten existieren. Das Proletariat ist der Architekt des Kommunismus.
Wir haben bereits gesehen, dass zusammen mit dem Proletariat als einer unabhängigen Kraft in der Geschichte die Perspektive des Kommunismus auftritt: das kollektive Eigentum nicht der Konsummittel, sondern der Produktionsmittel. Diese Idee war das Produkt der Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln durch die Lohnarbeit und die Vergesellschaftung der Arbeit. Mit anderen Worten, sie war ein Produkt des Proletariats, seiner Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft. Oder wie Engels im Anti-Dühring formulierte: Der Hauptwiderspruch im Herzen des Kapitalismus ist jener zwischen zwei gesellschaftlichen Prinzipien, dem kollektiven auf der Grundlage der modernen Produktion, repräsentiert vom Proletariat, und dem anarchischem, das auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln basiert, repräsentiert von der Bourgeoisie.
Die kommunistische Perspektive entstand bereits, bevor der proletarische Kampf sein revolutionäres Potenzial enthüllte. Was diese Ereignisse daher klären, ist, dass es der Arbeiterkampf ist, der allein zum Kommunismus führen kann. Doch die Perspektive an sich existierte schon zuvor. Sie basierte hauptsächlich weder auf den vergangenen noch auf den gegenwärtigen Lehren der proletarischen Schlacht. Und selbst in den 1840er-Jahren, als Marx und Engels begannen, den Sozialismus von einer Utopie in eine Wissenschaft umzuwandeln, hatte die Klasse noch keinen Beweis für ihre revolutionäre Macht abgegeben.
Dies bedeutet, dass von Anbeginn die Theorie selbst eine Waffe des Klassenkampfes war. Und bis zur Niederlage der revolutionären Welle war, wie wir gesagt haben, diese Vision ihrer revolutionären Rolle elementar, um der Klasse das Vertrauen zu verleihen, damit es das Kapital konfrontiert.
Somit ist die revolutionäre Theorie neben dem unmittelbaren Kampf und den Lehren der Vergangenheit ein unerlässlicher Faktor des Vertrauens, besonders seiner Entwicklung in die Tiefe, aber langfristig auch in die Breite. Da die Revolution nur ein bewusster Akt sein kann, kann sie nur siegreich sein, wenn die revolutionäre Theorie die Massen erobert.
In der bürgerlichen Revolution war die Perspektive nicht viel mehr als eine Projektion des Geistes vergangener und gegenwärtiger Entwicklungen: die allmähliche Eroberung der Macht innerhalb der alten Gesellschaft. Sofern die Bourgeoisie Theorien über die Zukunft entwickelte, kehrten sich diese in krude Mystifikationen um, die hauptsächlich die Aufgabe hatten, die revolutionäre Leidenschaft zu entflammen. Der unrealistische Charakter dieser Visionen schadete nicht der Sache, der sie dienen sollten. Für das Proletariat dagegen ist die Zukunft der Ausgangspunkt. Weil es nicht allmählich seine Klassenmacht innerhalb des Kapitalismus aufbauen kann, ist die theoretische Klarheit seine unentbehrlichste Waffe.
“Die klassische, idealistische Philosophie postulierte stets, dass die Menschheit in zwei verschiedenen Welten lebt: in der materiellen Welt, in der die Notwendigkeit herrscht, und in der Welt des Kopfes oder des Geistes, in der Freiheit herrscht. (...)Ungeachtet der Notwendigkeit, die Existenz zweier Welten zurückzuweisen, zu der die Menschheit gemäss Plato und Kant gehört, ist es dennoch korrekt, dass die menschlichen Wesen gleichzeitig in zwei Welten leben (...) Die beiden Welten, in denen die Menschheit lebt, sind die Vergangenheit und die Zukunft. Die Gegenwart ist die Grenze zwischen ihnen. Ihre ganze Erfahrung liegt in der Vergangenheit. (...) Sie kann nichts daran ändern, alles, was sie tun kann, ist, ihre Notwendigkeit zu akzeptieren. Somit ist die Welt der Erfahrung, die Welt der Erkenntnis auch eine Welt der Notwendigkeit. Sie unterscheidet sich von der Zukunft. Ich habe keine endgültige Gewissheit über sie. Sie liegt offensichtlich vor mir, als eine Welt, die ich nicht auf der Basis des Wissens erforschen kann, aber in der ich mich durch die Tat behaupten muss. (...) Handeln bedeutet stets, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen, und auch wenn ich mich zwischen Handeln und Nicht-Handeln befinde, bedeutet dies Akzeptieren oder Nicht-Akzeptieren, Verteidigen oder Angreifen. (...) Doch nicht nur das Gefühl von Freiheit ist eine Vorbedingung der Tat, sondern auch die gegebenen Ziele. Wenn die Welt der Vergangenheit von dem Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung (Kausalität) regiert wird, so die Welt der Tat, der Zukunft von der Zweckhaftigkeit (Teleologie).“F
Noch vor Marx löste Hegel theoretisch das Problem des Verhältnisses zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Freiheit ist, das zu tun, was notwendig ist. Hegel sagte: Mit anderen Worten, nicht durch die Auflehnung gegen die Bewegungsgesetze der Welt, sondern durch ihr Verständnis und ihre Ausnutzung für die eigenen Zwecke vergrössert der Mensch seine Freiheit. „Blind ist die Notwendigkeit nur in dem Masse, wie sie nicht verstanden wird.“G Die Bewegungsgesetze der Geschichte zu verstehen ist deshalb für das Proletariat notwendig, um seine Klassenmission zu erfüllen. Es ist die marxistische Theorie, die Wissenschaft von der Revolution, die der Klasse die Mittel und damit das Vertrauen verleiht, um diese Mission zu verstehen und zu erfüllen. Wenn die Wissenschaft und mit ihr das Vertrauen der Bourgeoisie zu einem grossen Teil auf dem wachsenden Verständnis der Naturgesetze beruhte, so basiert die Wissenschaft und das Vertrauen der Arbeiterklasse auf dem Verständnis von Gesellschaft und Geschichte.
Wie MC in einem der klassischen Texte des Marxismus über diese Frage aufzeigte2, muss die Zukunft in einer revolutionären Bewegung die Vorherrschaft über Vergangenheit und Zukunft ausüben, weil sie ihre Richtung bestimmt. Die Vorherrschaft der Gegenwart führt unweigerlich zu Schwankungen, die eine enorme Verwundbarkeit gegenüber dem Einfluss des Kleinbürgertums schaffen, zur Personifizierung dieser Schwankungen führen. Die Vorherrschaft der Vergangenheit führt zum Opportunismus und somit zum Einfluss der Bourgeoisie als Bastion der modernen Reaktion. In beiden Fällen ist es der Verlust der langfristigen Sichtweise, die zum Verlust der revolutionären Richtung führt.
Wie Marx sagte: „Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft.“H
Daraus müssen wir den Schluss ziehen, dass der Immediatismus der Hauptfeind des Vertrauens in das Proletariat ist, nicht nur, weil der Weg zum Kommunismus quälend lang ist, sondern auch, weil dieses Vertrauen in der Theorie und der Zukunft verwurzelt ist, während der Immediatismus die Kapitulation vor der Gegenwart, die Anbetung der unmittelbaren Tatsachen bedeutet. Die ganze Geschichte hindurch war der Immediatismus ein führender Faktor bei der Desorientierung der Arbeiterbewegung gewesen. Er war die Wurzel für all die Tendenzen gewesen, „die Bewegung vor das Ziel“ zu stellen, wie Bernstein es formuliert hat, und so die Klassenprinzipien abzuschaffen. Ob er die Gestalt des Opportunismus annimmt, so wie die Revisionisten zur Jahrhundertwende oder wie die Trotzkisten in den 30er-Jahren, oder die Form des Abenteurertums, wie die Unabhängigen 1919 und die KPD 1921 in Deutschland, diese kleinbürgerliche politische Ungeduld steigerte sich stets bis zum biblischen Verrat an der Zukunft für ein Linsengericht. Die Wurzel dieser Narreteien ist stets ein Verlust an Vertrauen in die Klasse.
Im historischen Aufstieg des Proletariats formen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine Einheit. Gleichzeitig warnt uns jede dieser „Welten“ vor einer spezifischen Gefahr. Die Gefahr, die die Vergangenheit betrifft, ist, dass ihre Lehren vergessen werden können. Die Gefahr der Gegenwart besteht darin, unmittelbaren, oberflächlichen Erscheinungen zum Opfer zu fallen. Die Gefahr bezüglich der Zukunft ist, dass die theoretische Arbeit vernachlässigt und geschwächt wird.
Dies mahnt uns daran, dass die Verteidigung und Weiterentwicklung der theoretischen Waffen der Klasse die spezifische Aufgabe revolutionärer Organisationen ist und dass Letztere eine besondere Verantwortung dafür haben, das historische Vertrauen in die Klasse zu schützen.
5. Vertrauen, Solidarität und Parteigeist sind niemals endgültige Errungenschaften
Wie wir gesagt haben, sind die Klarheit und die Einheit die wesentlichen Grundlagen der selbstbewussten, gesellschaftlichen Tat. Im Falle des internationalen proletarischen Klassenkampfes ist diese Einheit natürlich nur eine Tendenz, die eines Tages durch einen weltweiten Arbeiterrat möglicherweise verwirklicht wird. Doch politisch sind die Einheitsorganisationen, die im Kampf entstehen, bereits Ausdrücke dieser Tendenz. Ausserhalb dieser organisierten Ausdrücke manifestiert auch die Arbeitersolidarität – auch wenn sie auf individueller Ebene ausgedrückt wird – diese Einheit. Das Proletariat ist die erste Klasse, in der es keine konkurrierenden wirtschaftlichen Interessen gibt, und in diesem Sinn deutet seine Solidarität die Natur der Gesellschaft an, für die es kämpft.
Der wichtigste und dauerhafteste Ausdruck seiner Klasseneinheit ist jedoch die revolutionäre Organisation und das Programm, das sie vertritt. Als solche ist sie die ausgereifteste Verkörperung des Vertrauens in das Proletariat – und auch die komplexeste.
Vertrauen als solches steht auch im Zentrum des Aufbaus einer solchen Organisation. Hier wird das Vertrauen in die proletarische Mission direkt durch das Vertrauen in das politische Programm der Klasse ausgedrückt, in die marxistische Methode, die historische Fähigkeit der Klasse, in die Rolle der Organisation gegenüber der Klasse, in ihre Funktionsprinzipien, das Vertrauen der Militanten und der verschiedenen Bestandteile der Organisation in sich selbst und gegenseitig in die anderen: Insbesondere ist es die Einheit der verschiedenen politischen und organisatorischen Prinzipien, die sie verteidigt, und die Einheit zwischen den verschiedenen Teilen der Organisation, die die direktesten Ausdrücke des Vertrauens in die Klasseneinheit von Zweck und Ziel, des Klassenziels und der Mittel zu seiner Erlangung sind.
Die beiden Hauptaspekte dieses Vertrauens sind das politische und organisatorische Leben. Der erste Aspekt wird durch Loyalität zu politischen Prinzipien, aber auch durch die Fähigkeit ausgedrückt, die marxistische Theorie in Erwiderung auf die Evolution der Wirklichkeit weiterzuentwickeln. Der zweite Aspekt wird durch die Loyalität zu den Prinzipien der proletarischen Funktionsweise und die Fähigkeit ausgedrückt, ein wirkliches Vertrauen und eine wahre Solidarität innerhalb der Organisation zu entwickeln. Die Folge einer Schwächung des Vertrauens auf einer dieser beiden Ebenen wird stets die Einheit – und somit die Existenz – der Organisation in Frage stellen.
Auf der organisatorischen Ebene ist der ausgereifteste Ausdruck dieses Vertrauens, dieser Solidarität und Einheit der, wie Lenin ihn genannt hat, Parteigeist: In der Geschichte der Arbeiterbewegung gibt es drei berühmte Beispiele für die Erlangung solch eines Parteigeistes: die deutsche Partei in den 1870er und 1880er-Jahren, die Bolschewiki von 1903 bis zur Revolution und die italienische Partei sowie die Fraktion, die nach der revolutionären Welle aus ihr hervorging. Diese Beispiele werden helfen, uns die Natur und Dynamik dieses Parteigeistes und die Gefahren, die ihn bedrohen, zu zeigen.
a) Was die deutsche Partei auf dieser Ebene auszeichnete, war, dass sie ihre Funktionsweise auf die Grundlage der Organisationsprinzipien stellte, die von der Ersten Internationalen im Kampf gegen den Bakunismus (und Lassalleanismus) ausgearbeitet worden waren, dass diese Prinzipien in der gesamten Partei durch eine Reihe von organisatorischen Auseinandersetzungen verankert worden waren und dass im Kampf zur Verteidigung der Organisation gegen staatliche Repression eine Tradition der Solidarität zwischen den Militanten und den verschiedenen Teilen der Organisation geschmiedet worden war. Tatsächlich entwickelte die deutsche Partei während dieser „heroischen“ Periode der Klandestinität die Traditionen der kompromisslosen Verteidigung der Prinzipien, des theoretischen Studiums und der organisatorischen Einheit, die sie zum natürlichen Führer der internationalen Arbeiterbewegung machten. Die tägliche Solidarität in ihren Reihen war ein mächtiger Katalysator all dieser Qualitäten. Doch um die Jahrhundertwende war dieser Parteigeist nahezu tot, so dass Rosa Luxemburg feststellte, dass es mehr Menschlichkeit in einem sibirischen Dorf gebe als in der gesamten deutschen Partei.I In der Tat hatte schon lange zuvor das Verschwinden dieser Solidarität den kommenden programmatischen Verrat angekündigt.
b) Doch das Banner des Parteigeistes wurde von den Bolschewiki weitergetragen. Hier finden wir erneut dieselben Charakteristiken. Die Bolschewiki erbten ihre Organisationsprinzipien von der deutschen Partei, verankerten sie in jeder Sektion und in jedem Mitglied durch eine Reihe von organisatorischen Auseinandersetzungen, schmiedeten eine lebendige Solidarität durch Jahre der illegalen Arbeit. Ohne diese Qualitäten hätte die Partei nie die Prüfung der Revolution bestanden. Obwohl zwischen August 1914 und Oktober 1917 die Partei eine Reihe von politischen Krisen durchlitt und wiederholt auf die Penetration von offen bürgerlichen Positionen in ihren Reihen und in ihrer Führung (z.B. die Unterstützung des Krieges 1914 und nach dem Februar 1917) reagieren musste, wurde die Einheit der Organisation, ihre Fähigkeit, Divergenzen zu klären, ihre Irrtümer zu korrigieren und gegenüber der Klasse zu intervenieren, nie in Frage gestellt.
c) Wie wir wissen, war schon lange vor dem endgültigen Triumph des Stalinismus der Parteigeist in der Partei Lenins im vollen Rückgang begriffen. Doch auch im Angesicht der Konterrevolution wurde das Banner hochgehalten, diesmal von der italienischen Partei und daraufhin von der Fraktion. Die Partei wurde zum Erbe der Organisationsprinzipien und -traditionen des Bolschewismus. Sie entwickelte ihre Vision des Parteilebens im Kampf gegen den Stalinismus weiter und bereicherte es später mit der Vision und der Methode der Fraktion. Und dies wurde bewerkstelligt unter den fürchterlichsten Bedingungen, angesichts derer aufs Neue eine lebendige Solidarität geschmiedet werden musste. Am Ende des Zweiten Weltkrieges gab die Italienische Linke jedoch die Organisationsprinzipien auf, die ihre Pfeiler gewesen waren. In der Tat haben weder die halbreligiöse Parodie des kollektiven Parteilebens, die vom Nachkriegs-Bordigismus entwickelt worden war, noch der föderalistische Informalismus von Battaglia irgendetwas mit dem Organisationsleben der italienischen Partei unter Bordiga zu tun. Besonders das Konzept der Fraktion als solche wurde aufgegeben.
Es waren die französischen Linkskommunisten, die zu den Erben dieser Organisationsprinzipien und des Kampfes für den Parteigeist avancierten. Und heute obliegt es der IKS, das Erbe weiter zu tragen und es am Leben zu erhalten.
d) Der Parteigeist ist keine ewige Errungenschaft. Jene vergangenen Organisationen und Strömungen, die ihn am besten verkörpert hatten, gingen seiner eine nach der anderen vollkommen und endgültig verlustig. (...)
In jedem der geschilderten Beispiele waren die Umstände, unter denen der Parteigeist verschwand, sehr verschieden. Die Erfahrung der langsamen Degeneration einer Massenpartei oder die Integration einer Partei in den Staatsapparat einer isolierten Arbeiterbastion werden vielleicht niemals wiederholt werden. Dennoch gibt es allgemeine Lehren, die man aus jedem dieser Fälle ziehen kann:
– Der Parteigeist verschwand an einem historischen Wendepunkt: in Deutschland zwischen dem aufsteigenden und niedergehenden Kapitalismus, in Russland mit dem Rückzug der Revolution und im Falle der Italienischen Linken zwischen Revolution und Konterrevolution. Heute ist es der Eintritt in die Zerfallsphase, der die Existenz des Parteigeistes bedroht.
– Die Illusion, dass die vergangenen Errungenschaften die Notwendigkeit der Wachsamkeit unnötig machen. Lenins „Kinderkrankheit“ ist ein perfektes Beispiel für diese Illusion. Heute birgt die Überschätzung der organisatorischen Reife der IKS dieselbe Gefahr.
– Es waren der Immediatismus und die Ungeduld, die dem programmatischen und organisatorischen Opportunismus Tür und Tor öffneten. Das Beispiel der Italienischen Linken ist besonders markant, da es sich uns historisch am nächsten befindet. Es war der Wunsch, auf lange Sicht den eigenen Einfluss und die Mitgliederzahl zu erhöhen, der die Italienische Linke 1943–45 dazu veranlasste, die Lehren der Fraktion aufzugeben, und die IKP 1980–81 dazu veranlasste, die programmatischen Prinzipien aufzugeben. Heute ist die IKS ihrerseits mit ähnlichen Versuchungen, gebunden an die Entwicklung der historischen Lage, konfrontiert.
– Dieses Aufgeben war auf der organisatorischen Ebene Ausdruck eines Verlustes des Vertrauens in die Arbeiterklasse, was sich unweigerlich auch auf der politischen Ebene ausdrückte (Verlust programmatischer Klarheit). Bis jetzt geschah dies noch nie mit der IKS selber. Doch waren davon die verschiedenen „Tendenzen“ betroffen, die sich von ihr abspalteten (wie die EFIKS oder der „Pariser Zirkel“, die beide die Analyse über die Dekadenz des Kapitalismus aufgaben).
In den vergangenen Monaten war es vor allem das gleichzeitige Auftreten einer Schwächung unserer theoretischen Bemühungen und Wachsamkeit, einer gewissen Euphorie im Verhältnis zum Fortschritt der Organisation und demzufolge einer Blindheit gegenüber unserem Versagen sowie das Wiederauftreten des Clanwesens, die die Gefahr des Verlustes des Parteigeistes, der organisatorischen Degeneration und theoretischen Sklerose aufdeckten. Die Untergrabung des Vertrauens in unseren Reihen und die Unfähigkeit, entscheidende Schritte in der Weiterentwicklung der Solidarität zu machen, waren entscheidende Faktoren in dieser Tendenz gewesen, die potenziell zum programmatischen Verrat oder zum Verschwinden der Organisation führen kann.
6. Kein Parteigeist ohne individuelle Verantwortlichkeit
Nach dem Kampf von 1993–96 gegen das Clanwesen begannen sich Misstrauen gegenüber den politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Genossen ausserhalb des formellen Rahmens der Treffen und mandatierter Aktivitäten breit zu machen. Freundschaften, Liebesbeziehungen, soziale Bande und Handlungen, Gesten der persönlichen Solidarität, politische und andere Diskussionen unter Genossen wurden manchmal praktisch als notwendiges Übel, ja, als das bevorzugte Terrain der Entwicklung des Clanwesens behandelt. Im Gegensatz dazu wurden die formellen Strukturen unserer Aktivitäten als eine Art von Garantie gegen die Rückkehr des Clanwesens angesehen.
Solche Reaktionen gegen das Clanwesen enthüllen die ungenügende Verinnerlichung unserer Analyse und eine Preisgabe gegenüber der Gefahr, die von ihm ausgeht. Wie wir gesagt haben, tritt das Clanwesen teilweise als eine falsche Antwort auf das reale Problem eines Mangels an Vertrauen und Solidarität in unseren Reihen auf. Ferner war die Zerstörung der Beziehungen des gegenseitigen Vertrauens und der Solidarität zwischen den Genossen grösstenteils das Werk des Clanwesens und die Voraussetzung seiner weiteren Entwicklung. Es war in erster Linie das Clanwesen, das den Geist der Freundschaft zerstörte: Wirkliche Solidarität richtet sich niemals gegen Dritte und schliesst niemals gegenseitige Kritik aus. Das Clanwesen zerstört die unerlässliche Tradition der politischen Diskussionen und der sozialen Bande zwischen den Genossen, indem sie in „informelle Diskussionen“ hinter dem Rücken der Organisation umgewandelt werden. Indem es die Atomisierung steigert und das Vertrauen zerstört, indem es auf unverantwortliche Weise in das persönliche Leben von Genossen eingreift und sie sozial von der Organisation isoliert, untergräbt das Clanwesen die natürliche Solidarität, die sich auch ausdrückt in der „Pflicht der Organisation, die Augen offen zu halten“ gegenüber persönlichen Schwierigkeiten der Mitglieder.
Es ist unmöglich, das Clanwesen zu bekämpfen, indem man dessen Waffen benutzt. Nicht das Misstrauen gegenüber der vollen Entwicklung des politischen und sozialen Lebens ausserhalb der Sektionstreffen, sondern ein wirkliches Vertrauen in diese Tradition der Arbeiterbewegung macht uns gegenüber dem Clanwesen resistenter.
Diesem ungerechtfertigten Misstrauen gegenüber dem „informellen“ Leben einer Arbeiterorganisation liegt die kleinbürgerliche Utopie einer Garantie gegen den Zirkelgeist zugrunde, die nur zu einem illusorischen Dogma eines Katechismus gegen das Clanwesen führen kann. Solch eine Herangehensweise neigt dazu, die Statuten in starre Gesetze, das Recht, die Augen offen zu halten, in eine Überwachung und die Solidarität in ein leeres Ritual umzuwandeln.
Eine Erscheinungsweise der kleinbürgerlichen Zukunftsangst ist der morbide Dogmatismus, der einen Schutz gegen die Gefahr des Unvorhergesehenen anzubieten scheint. Diese Haltung verleitete die „alte Garde“ der russischen Partei dazu, Lenin ständig zu beschuldigen, die Prinzipien und Traditionen des Bolschewismus aufgegeben zu haben. Es ist eine Art von Konservatismus, der den revolutionären Geist untergräbt. Niemand ist vor dieser Gefahr gefeit, wie die Debatte über die polnische Frage zeigte, in der nicht nur Wilhelm Liebknecht, sondern auch teilweise Engels eine solche Haltung eingenommen hatte.
In Wirklichkeit ist das Clanwesen, gerade weil es eine Ausgeburt labiler Zwischenschichten ohne jegliche Zukunft ist, nicht nur fähig, sondern faktisch auch dazu verdammt, ständig wechselnde Formen und Charakteristiken anzunehmen. Die Geschichte zeigt, dass das Clanwesen nicht nur die Form der Unverbindlichkeit der Boheme und der von den Deklassierten sehr beliebten parallelen Strukturen annimmt, sondern auch in der Lage ist, die offiziellen Strukturen der Organisation wie auch das Auftreten des kleinbürgerlichen Formalismus und der Routiniertheit zu nutzen, um seine parallele Politik zu fördern. Während in einer Organisation, wo der Parteigeist schwach und die Streitsucht stark ist, ein informeller Clan die besten Erfolgsaussichten hat, sucht das Clanwesen in einer strengeren Atmosphäre, in der ein starkes Vertrauen in die Zentralorgane herrscht, den Erfolg im formalistischen Auftreten und in der Ausnutzung der offiziellen Strukturen für seine Zwecke. In Wirklichkeit enthält das Clanwesen beide Seiten dieser Medaille. Historisch ist es dazu verdammt, zwischen diesen beiden, sich scheinbar gegenseitig ausschliessenden Polen hin und her zu schwanken. Im Falle der Politik Bakunins sehen wir beide in einer „höheren Synthese“ zusammengefasst: die von der offiziellen Allianz verkündete absolute, individuelle, anarchistische Freiheit und das von der geheimen Allianz eingeforderte blinde Vertrauen sowie ihr bedingungsloser Gehorsam.
„Wie die Jesuiten, aber nicht mit dem Ziel der Knechtschaft, sondern der Emanzipation der Menschen, hat sich jeder von ihnen seinem eigenen Willen entsagt. Im Komitee wie in der gesamten Organisation ist es nicht das Individuum, das denkt, wünscht und handelt, sondern das Ganze“, schreibt Bakunin. Was diese Organisation auszeichnet, ist, wie er fortfährt, „das blinde Vertrauen, das bekannten und respektierten Persönlichkeiten geschenkt wird“.J
Es ist klar, welche Rolle die sozialen Beziehungen in einer solchen Organisation spielen sollen:
„Alle Gefühle der Zuneigung, all die verhätschelnden Empfindungen der Vertrautheit, Freundschaft, Liebe, Dankbarkeit müssen in ihm durch die kalte Leidenschaft der revolutionären Aufgabe erstickt werden.“K
Hier sehen wir deutlich, dass der Monolthismus keine Erfindung des Stalinismus ist, sondern bereits im clanmässigen Mangel an Vertrauen in die historische Aufgabe, in das kollektive Leben und in die proletarische Solidarität enthalten ist. Für uns ist dies nicht neu oder überraschend. Es ist die altbekannte kleinbürgerliche Furcht vor der individuellen Verantwortlichkeit, die heutzutage zahllose höchst individualistische Existenzen in die Arme diverser Sekten treibt, wo sie aufhören können, zu denken und selbst zu handeln.
Es ist gewiss eine Illusion zu glauben, dass man das Clanwesen ohne die Verantwortlichkeit der individuellen Mitglieder der Organisation bekämpfen kann. Und es wäre paranoid zu denken, dass individuelle Überzeugung und Wachsamkeit durch eine „kollektive“ Überwachung ersetzt werden könnten. In Wahrheit verkörpert das Clanwesen einen Mangel an Vertrauen sowohl in das reale kollektive Leben als auch in die Möglichkeit einer realen individuellen Verantwortlichkeit.
Worin besteht der Unterschied zwischen Diskussionen unter Genossen ausserhalb der Treffen und den „informellen Diskussionen“ des
Clanwesens? Ist es die Tatsache, dass Erstere, nicht jedoch Letztere der Organisation mitgeteilt werden? Ja, auch wenn es nicht möglich ist, über jede Diskussion formell zu berichten. Weitaus fundamentaler und entscheidender ist jedoch das Verhalten, mit dem eine solche Diskussion geführt wird. Dies ist der Parteigeist, den wir alle weiterentwickeln müssen, da dies niemand für uns erledigt. Dieser Parteigeist wird immer ein toter Buchstabe bleiben, wenn die Militanten nicht lernen, gegenseitiges Vertrauen zu haben. Ebenso wenig kann es eine lebendige Solidarität ohne das persönliche Engagement jedes Militanten auf dieser Ebene geben.
Wenn der Kampf gegen den Zirkelgeist allein von der Gesundheit der formellen kollektiven Strukturen abhinge, gäbe es nie ein Problem des Clanwesens. Clans entwickeln sich aufgrund der Schwächung der Wachsamkeit und des Verantwortlichkeitssinns auf der individuellen Ebene. Daher widmet sich ein Teil des Orientierungstexts von 19933 der Identifizierung der Verhaltensweisen, gegen die sich jeder Genosse selbst wappnen muss. Diese individuelle Verantwortlichkeit ist unerlässlich nicht nur im Kampf gegen das Clanwesen, sondern auch für die positive Weiterentwicklung eines gesunden proletarischen Lebens. In einer solchen Organisation haben die Militanten gelernt, selbst zu denken, und ihr Vertrauen ist in einem tiefgreifenden theoretischen, politischen und organisatorischen Verständnis der Natur der proletarischen Sache verwurzelt, und nicht in der Loyalität oder Furcht gegenüber diesem oder jenem Genossen oder Zentralkomitee.
“Der neue Kurs muss mit dem Gefühl eines jeden in dem Apparat – vom einfachen bis zum höchsten Funktionär – beginnen, dass niemand die Partei terrorisieren kann. Unsere Jugend muss die revolutionären Parolen erobern, sie in Fleisch und Blut übernehmen. Sie muss ihre eigene Meinung und ihr eigenes Profil gewinnen und in der Lage sein, mit einem Mut für ihre eigene Meinung zu kämpfen, der einer tiefen Überzeugung und einem unabhängigen Charakter entspringt. Raus mit dem passiven Gehorsam, mit der mechanischen Orientierung an die Amtsträger, mit der Unpersönlichkeit, der Kriecherei und des Karrierismus in unserer Partei! Ein Bolschewik ist nicht nur ein diszipliniertes Wesen, nein, er ist eine Person, die an die Wurzeln der Dinge geht und seine eigene Meinung bildet und sie nicht nur im Kampf gegen den Feind, sondern auch in seiner eigenen Partei vertritt.“L
Und Trotzki fügt hinzu: „Der grösste Heroismus in militärischen Angelegenheiten und in der Revolution ist der Heroismus der Wahrheitsliebe und Verantwortung.“M Kollektive und individuelle Verantwortung hängen, weit entfernt davon, sich gegenseitig auszuschliessen, voneinander ab und bedingen sich gegenseitig.
Wie Plechanow argumentierte, ist die Eliminierung der Rolle des Individuums in der Geschichte mit einem Fatalismus verbunden, der mit dem Marxismus unvereinbar ist.“Während einige Subjektivisten – darauf aus, das ‚Individuum‘ mit der grösstmöglichen Rolle in der Geschichte auszustatten – sich geweigert haben, die historische Entwicklung der Menschheit als einen gesetzmässigen Prozess anzuerkennen, waren einige ihrer aktuelleren Gegner, die versucht haben, die gesetzmässige Natur jener Entwicklung deutlicher herauszuarbeiten, augenscheinlich darauf aus, zu vergessen, dass die Geschichte von Menschen gemacht wird und dass die Handlungen der Individuen daher überaus wichtig in der Geschichte sein können.“N
Eine solche Verkennung der individuellen Verantwortung ist mit dem kleinbürgerlichen Demokratismus verbunden, mit dem Wunsch, unser Prinzip des „Jeder-nach-seinen-Fähigkeiten“ durch die reaktionäre Utopie der Egalisierung aller zu ersetzen. Dieses Projekt, das bereits im 1993er Orientierungstext verurteilt wurde, ist weder das Ziel der heutigen Organisation noch das der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft.
Eine unserer Aufgaben ist es, aus dem Beispiel all der grossen Revolutionäre (die berühmten und all die namenlosen Kämpfer unserer Klasse) zu lernen, die unsere programmatischen und organisatorischen Prinzipien nicht verrieten. Dies hat nichts mit einem Personenkult zu tun. Wie Plechanow in seiner berühmten Schrift über die Rolle des Individuums schlussfolgerte:“Es liegt nicht nur an den ‚Pionieren‘ und an den ‚grossen‘ Männern allein, dass ein weites Betätigungsfeld sich eröffnet hat. Es wartet auf all diejenigen, die Augen zum Sehen, Ohren zum Hören und Herzen haben, um ihre Mitmenschen zu lieben. Das Konzept der Grösse ist ein relatives. Im moralischen Sinn ist jeder gross, der, um das Neue Testament zu zitieren, ‚sein Leben für seine Freunde hingibt‘.“P
Anstelle einer Schlussfolgerung
Daraus folgt, dass die Verinnerlichung und Vertiefung der Fragen, die wir vor mehr als einem Jahr zu diskutieren begonnen haben, heute von grösster Priorität sind.
Es ist die Aufgabe des Bewusstseins, einen politischen und organisatorischen Rahmen zu schaffen, der die Pflege des Vertrauens und der Solidarität am meisten begünstigt. Diese Aufgabe steht im Mittelpunkt des Organisationsaufbaus, dieser schwierigsten aller Künste und Wissenschaften. Auf der Grundlage dieser Arbeit erfolgt die Stärkung der Einheit der Organisation, dieses „heiligsten“ Prinzips des Proletariats. Und wie bei jeder anderen kollektiven Gemeinschaft gehört zu ihrer Vorbedingung die Existenz allgemeingültiger Verhaltensregeln. Konkret haben die Statuten, die Texte von 1981 über Funktion und Funktionsweise und jener von 1993 über die organisatorische Frage bereits die Elemente für solch einen Rahmen beigesteuert. Es ist notwendig, wiederholt auf diese Texte zurückzukommen, vor allem dann, wenn die Einheit der Organisation in Gefahr ist. Sie müssen der Ausgangspunkt einer ständigen Wachsamkeit sein. Es ist notwendig, sie, ihren Geist und die von ihnen verkörperte Methode noch tiefer zu verinnerlichen.
In diesem Rahmen ist der Gedanke, dass diese Fragen leicht und unkompliziert sind, eine falsche Auffassung, die in unseren Reihen überwunden werden muss. Gemäss dieser Herangehensweise reicht es aus, das Vertrauen zu erklären, damit es existiert. Und da Solidarität eine aktive Handlung ist, reiche es aus, „sich ans Werk zu machen“. Nichts liegt der Wahrheit ferner! Der Aufbau der Organisation ist ein extrem kompliziertes und noch delikateres Unternehmen. Es gibt kein anderes Produkt in der menschlichen Kultur, das so schwierig und zerbrechlich ist wie das Vertrauen. Nichts anderes ist schwerer aufzubauen und leichter zu zerstören. Aus diesem Grund ist im Angesicht dieses oder jenes Vertrauensmangels durch diesen oder jenen Teil der Organisation die erste Frage, die gestellt werden muss, die, was kollektiv getan werden muss, um Misstrauen oder gar Furcht in unseren Reihen abzubauen. Was die Solidarität angeht, so lebt die Arbeiterklasse in einer bürgerlichen Gesellschaft und ist umgeben von Faktoren, die gegen die Solidarität arbeiten, auch wenn diese für sie „praktisch“ und „natürlich“ ist. Darüber hinaus führt die Penetration fremder Ideologien zu abwegigen Auffassungen über diese Fragen, wie der Haltung, man müsse aus Solidarität die Veröffentlichung von Texten bestimmter Genossen verweigern, oder der Anwendung von „Küchenpsychologie“, mit welcher Methode aus dem persönlichen Leben von Genossen die Herkunft bestimmter politischer Divergenzen abgeleitet und erklärt werden soll.4 (...)
Insbesondere im Kampf um das Vertrauen muss unsere Losung Geduld und noch einmal Geduld lauten.
Die marxistische Theorie ist unsere hauptsächliche Waffe im Kampf gegen den Vertrauensverlust. Allgemein ausgedrückt, ist sie das bevorzugte Mittel gegen den Immediatismus und zur Verteidigung einer langfristigen Vision. Sie ist die einzig mögliche Grundlage für ein wirkliches, wissenschaftliches Vertrauen in das Proletariat, das umgekehrt die Basis des Vertrauens all der verschiedenen Teile der Klasse in sich selbst und gegenüber dem anderen ist. Spezifisch ausgedrückt, ermöglicht uns nur eine theoretische Vorgehensweise, zu den tiefsten Wurzeln der organisatorischen Probleme zu gelangen, die als theoretische und historische Themen im eigenen Namen behandelt werden müssen. Ähnlich muss die IKS in Abwesenheit einer lebendigen Tradition in dieser Frage und in Ermangelung einer Feuerprobe durch die Repression sich selbst bei der bewussten und gewollten Weiterentwicklung einer Tradition der aktiven Solidarität in ihren Reihen auf die Grundlage einer Untersuchung der vergangenen Arbeiterbewegung stellen.
Wenn uns die Geschichte gegenüber den Gefahren des Clanwesens besonders verwundbar gemacht hat, so hat sie uns auch die Mittel gegeben, um selbiges zu überwinden. Insbesondere dürfen wir nie vergessen, dass der internationale Charakter der Organisation und die Einrichtung von Informationskommissionen unerlässliche Mittel zur Wiederherstellung von gegenseitigem Vertrauen in Momenten der Krise sind, wenn dieses Vertrauen beschädigt wird und verloren geht.
Der alte Liebknecht sagte über Marx, dass er sich der Politik als Studienobjekt angenähert habe.P Wie wir gesagt haben, ist es die Vergrösserung der Zone des Bewusstseins im gesellschaftlichen Leben, die die Menschheit von der Anarchie blinder Kräfte befreit, die Vertrauen schafft, die Solidarität bewirkt, die den Sieg des Proletariats möglich macht. Um die gegenwärtigen Schwierigkeiten zu überwinden und die gestellten Fragen zu lösen, muss die IKS sie studieren. Denn wie der Philosoph sagte: „Ignorantia non est argumentum“ (“Ignoranz ist kein Argument“, aus Spinoza: Ethik).
IKS, 15.6.2001
Fußnoten:
1 Für Einzelheiten zu dieser Konferenz siehe: „Der Kampf für die Verteidigung der organisatorischen Prinzipien“ in Internationale Revue Nr. 30.
2 MC war unser Genosse Marc Chirik, der 1990 starb. Er erlebte 1917 die Revolution in seinem Geburtsort Kischiniev (Moldau). Mit 13 Jahren wurde er schon Mitglied der Kommunistischen Partei Palästinas, doch wurde er später ausgeschlossen, da er mit den Positionen der Kommunistischen Internationale zur nationalen Frage nicht einverstanden war. Er emigrierte nach Frankreich, wo er der KPF beitrat, bevor er auch hier wieder zusammen mit den Mitgliedern der Linken Opposition ausgeschlossen wurde. Er wurde zunächst Mitglied der (trotzkistischen) Ligue Communiste und dann der Union Communiste, welche er 1938 verliess, um der Italienischen Fraktion der Internationalen Kommunistischen Linken (IKL) beizutreten, da er deren Position zum spanischen Bürgerkrieg im Gegensatz zu derjenigen der Union Communiste teilte. Während des Kriegs und der deutschen Besetzung Frankreichs erachtete es das Internationale Büro der IKL, das durch Vercesi geführt wurde, als sinnlos, die Arbeit der Fraktion fortzusetzen. MC setzte sich aber für den Wiederaufbau der Italienischen Fraktion um einen kleinen Kern in Marseille ein. Im Mai 1945 widersetzte er sich dem Entscheid der Konferenz der Italienischen Fraktion, die Fraktion aufzulösen und der kürzlich gegründeten Internationalistischen Kommunistischen Partei individuell beizutreten. Er trat der Französischen Fraktion der Kommunistischen Linken bei, die 1944 gegründet worden war und dann den Namen Gauche Communiste de France (GCL) annahm. Ab 1964 in Venezuela, dann ab 1968 wieder in Frankreich spielte MC eine entscheidende Rolle beim Aufbau der Gruppen, die später die IKS gründen sollten, indem er ihnen die politischen und organisatorischen Erfahrungen vermitteln konnte, die er in den verschiedenen Organisationen, in denen er Mitglied gewesen war, hatte sammeln können. Für mehr Einzelheiten aus der politischen Biographie unseres Genossen vgl. unsere Broschüre La Gauche communiste de France (frz.) und zwei Artikel der International Review Nr. 65 und 66 (engl./frz./span.Ausgabe).
MCs Text, der hier erwähnt wird, ist ein Beitrag zu einer internen Debatte der IKS im März 1984 und trägt den Titel „Revolutionärer Marxismus und Zentrismus in der Gegenwart und der heutigen Debatte in der IKS“.
3 Der Text, auf den wir uns hier beziehen, ist der Orientierungstext „Die Frage der Funktionsweise in der IKS“, in der Internationalen Revue Nr. 30.
4 Diese Stelle bezieht sich besonders auf Vorkommnisse, auf die wir bereits in unserem Artikel „Der Kampf für die Verteidigung der organisatorischen Prinzipien“ in der Internationalen Revue Nr. 30 eingegangen sind, in dem wir über die Ausserordentliche Konferenz von März 2002 und die Organisationsprobleme berichten, die dazu geführt haben, diese Konferenz einzuberufen: „Es war nie ein Problem für die IKS gewesen, dass einige Teile der Organisation einen vom Zentralorgan verabschiedeten Text kritisieren. Im Gegenteil, die IKS und ihre Zentralorgane haben stets darauf bestanden, dass jede Meinungsverschiedenheit oder jeder Zweifel offen innerhalb der Organisation ausgedrückt wird, um grösstmögliche Klarheit zu erzielen. Das Verhalten des Zentralorgans gegenüber Meinungsverschiedenheiten bestand stets darin, ihnen so ernsthaft wie möglich zu antworten. Doch im Frühjahr 2000 nahm die Mehrheit des IS eine völlig andere Haltung an, als es in der Vergangenheit der Fall gewesen war. Für diese Mehrheit konnte die Tatsache, dass eine kleine Minderheit von Genossen einen Text des IS kritisiert, nur aus einem Geist der Opposition um der Opposition willen oder aus der Tatsache herrühren, dass einer von ihnen von familiären Problemen betroffen sei oder ein anderer an Depressionen leide. Ein Argument, das von IS-Mitgliedern benutzt wurde, lautete, dass der Text von einem besonderen Militanten verfasst worden sei und eine andere Aufnahme gefunden hätte, wäre dies das Werk eines anderen Genossen gewesen. Die Antwort auf die Argumente jener Genossen, die anderer Auffassung waren, bestand also nicht darin, Gegenargumente zu suchen, sondern darin, die Genossen zu verunglimpfen oder gar zu versuchen, die Veröffentlichung ihrer Texte mit der Begründung zu verhindern, dass sie „Scheisse in der Organisation verbreiten“ würden, oder dass eine der GenossInnen, die unter dem Druck, der ihr gegenüber ausgeübt wurde, litt, die Antworten, die die anderen Genossen der IKS ihren Texten erteilen würden, nicht „aushalte“. Kurz, das IS betrieb eine völlig heuchlerische Politik, um im Namen der Solidarität die Debatte zu ersticken.“
E Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte.
F Karl Kautsky, Ethische und materialistische
Geschichtsauffassung.
G Hegel, Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften.
H Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte.
I Rosa Luxemburg, Korrespondenz mit Konstantin
Zetkin.
J Bakunin, Appell an die Offiziere der russischen
Armee.
K Bakunin, Der revolutionäre Katechismus.
L Trotzki, Der neue Kurs.
M Trotzki, Über Routinismus in der Armee und
anderswo.
N Plechanow, Über die Rolle des Individuums in der
Geschichte.
O a.a.O.
P Liebknecht, Karl Marx.