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Die bürgerliche Gesellschaft in ihrer wahren, nackten Gestalt
Der gegenwärtige Krieg im Irak offenbart seinen ganzen barbarischen Schrecken. Zwei Wochen nach dem Beginn dieses dritten Golfkriegs – nach demjenigen von 1980–88 zwischen Irak und Iran und demjenigen von 1991 unter der Führung von Bush senior – ist noch nicht klar, wann und wie er enden wird. Schon jetzt zeichnet sich aber ab, dass er wesentlich länger dauern wird, als es die Prognosen der Administration von Bush junior gewollt haben. Der „saubere Krieg“, den George W. Bush angekündigt hat, enthüllt seine Todesfratze. Jeden Tag hören wir von weiteren zivilen Opfern, von getöteten Proletariern auf beiden Seiten, verstümmelten Kindern in den Spitälern, durch den Bombenhagel Traumatisierten. Zwei Wochen nach diesem neuen Ausbruch des Horrors ist „der ‚saubere Krieg‘ zum schmutzigsten Krieg geworden, zum blutigsten und scheußlichsten. Die ‚intelligenten Waffen‘ werden plötzlich von einer vorsätzlichen Dummheit befallen, die blind tötet, zerstört und ihre hysterische Wut auf die bevölkerten Marktplätze schleudert“ (aus der ägyptischen Tageszeitung Al Achram). Das amerikanische Oberkommando hat zugegeben, Splitterbomben abgeworfen zu haben. In Bagdad ist eine Geburtsklinik des Roten Kreuzes zur Zielscheibe von Bombardierungen geworden. Sie sei am heiterhellen Tag durch Bomben weggefegt worden, die eigentlich den Markt hätten treffen sollen. Einmal mehr ist es die irakische Zivilbevölkerung, die von allen Armeen vor Ort massakriert und terrorisiert wird, auch von den Einheiten der irakischen Armee. Und es gibt nicht allein die Opfer im Hagel der Gewehrkugeln und Raketen, sondern auch all die Kranken, die keine Pflege erhalten, die Kinder, die verschmutztes Wasser trinken müssen, die Opfer der Unterernährung, die seit dem Iran-Irak-Krieg grassiert und sich mit dem Wirtschaftsembargo nach dem Golfkrieg von 1991 verschärft hat.
Saddams Truppen sind den hochgerüsteten Waffen der USA und Großbritanniens militärisch weit unterlegen. Aus diesem Grund weicht das irakische Regime den offenen Schlachten aus und verlegt sich immer mehr auf eine Guerillataktik, die die Zivilbevölkerung als menschlichen Schutzschild benützt. Eine Besatzungsmacht kann aber, selbst wenn sie militärisch weit überlegen ist, größte Schwierigkeiten haben, ihre Herrschaft über ein erobertes Gebiet aufrecht zu erhalten, wie dies Vietnam für die USA und Afghanistan für die Sowjetunion bewiesen haben. Und es wäre falsch zu denken, dass mit der Beseitigung oder dem Tod Saddams alles vorbei wäre. Der Krieg in Israel/Palästina hängt auch nicht von Sharon oder Arafat ab und dauert bereits Jahrzehnte, ohne dass es eine Friedensperspektive gäbe. Die Selbstmordattentate von Hamas sind das Vorbild für den Heiligen Krieg, zu dem Saddam die Moslems aufgerufen hat. Die Freiwilligen aus anderen arabischen Ländern sind bereits zu Hunderten auf dem Weg in den Irak. Um die Guerilla des Vietcong zu bekämpfen, bombardierten die USA die vietnamesischen Dörfer mit Napalm. Welche noch „effizientere“ Waffe wird nun diesmal eingesetzt, um dieser neuen Bedrohung entgegen zu treten?
1915 drückte Rosa Luxemburg ihren Abscheu gegenüber der Barbarei des Kriegs in den folgenden Worten aus: „Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.“ (Junius-Broschüre) Leider regiert immer noch der gleiche Kapitalismus die Welt, ein Kapitalismus aber, der schon vor 90 Jahren dekadent geworden und heute in seinem Verwesungsprozess begriffen ist.
Die höllische Spirale
Der 11. September und der Kreuzzug gegen den internationalen Terrorismus haben eine wichtige Stufe in der Beschleunigung der imperialistischen Spannungen dargestellt, und der Krieg, der soeben im Irak ausgebrochen ist, stellt eine weitere Konkretisierung dieser Ernsthaftigkeit dar.
In einer Welt, die vom Gesetz des „Jeder-gegen-jeden“ beherrscht wird und wo insbesondere die früheren Verbündeten des westlichen Blocks darauf abzielen, sich so weit wie möglich der US-amerikanischen Vormundschaft zu entledigen, die sie früher angesichts der Drohung des gegnerischen Blocks haben ertragen müssen, besteht das einzige und entscheidende Mittel der USA zur Aufrechterhaltung ihrer Autorität in der militärischen Stärke, denn hier besitzen sie eine absolute Überlegenheit gegenüber allen anderen Staaten. Doch wenn die USA dies tun, begeben sie sich in ein Dilemma: Je mehr sie die nackte Gewalt anwenden, desto mehr werden ihre Gegner dazu gedrängt, die geringste Gelegenheit auszunützen, um sich zu revanchieren und die Vorhaben der einzig übrig gebliebenen Supermacht zu sabotieren; und umgekehrt, wenn die USA darauf verzichten ihre Überlegenheit auszuspielen, so kann dies die Herausforderer nur ermuntern, in ihrer Sabotagearbeit noch weiter zu gehen.
Dieser Widerspruch, in dem sich die USA seit dem Zusammenbruch des Ostblocks befinden, ist die Grundlage für eine sich aufschaukelnde Bewegung zwischen einerseits amerikanischer Offensive, die die Gegner zum Schweigen bringen soll, und andererseits einem neuen Aufflammen der Auflehnung auf erweiterter Stufenleiter. Doch ist eine solche Bewegung naturgemäß nicht einfach eine gleich bleibende Wiederholung, sondern eine Schwingung, die immer heftiger ausschlägt.
Das veranschaulichen gerade die verschiedenen Stufen der Konflikte seit dem Golfkrieg von 1991. Und es wird weiter belegt durch die neue Welle des Widerstands gegen die amerikanische Vorherrschaft, die im Frühling 2002 angerollt ist und seither „historische Rekorde“ gebrochen hat. Frankreich hat die USA mit einer Ausdauer und Entschlossenheit herausgefordert, die zuvor unbekannt war, indem es nun offen die Karte des Vetorechts im UNO-Sicherheitsrat ausgespielt hat. Die Kühnheit des gallischen Hahns kann aber nicht getrennt werden von der Tatsache, dass er alles andere als allein ist und einstimmen kann in ein Konzert zusammen mit dem russischen Bären, dem chinesischen Drachen und vor allem dem deutschen Adler. Dieses Aufbegehren ist der Hintergrund, vor dem ein ‚Wind der Revolte‘ die ganze Welt erfasst hat. Die widerspenstigen Haltungen reichen von der offenen Provokation durch Nordkorea bis zum Verhalten der Türkei oder Mexikos, die beide den USA Knüppel zwischen die Beine geworfen haben, die Türkei auf militärischer Ebene, Mexiko auf dem diplomatischen Parkett.
Auch auf ideologischer Ebene haben sich die Dinge seit 1999 verändert, als die NATO Belgrad noch unter dem Deckmantel einer „militärischen Intervention“ bombardierte, um „die Kosovoalbaner vor dem Völkermord zu retten“. Die humanitären Vorwände der Regierungen Bush und Blair finden keinen Widerhall mehr. Der Krieg hat auch nicht mehr den Schein einer Rechtfertigung, zeigt sich in seiner nackten Gestalt und stinkt unparfümiert.
Der Krieg im Irak ist nicht der Dritte Weltkrieg. Aber die einzige Perspektive, die der im Zerfall begriffene Kapitalismus anbietet, heißt immer noch mehr Krieg und jedes Mal solche, die noch mehr Verheerungen anrichten. Die klassische Alternative der Internationalisten während des Ersten Weltkriegs: „Sozialismus oder Barbarei“ muss heute präzisiert werden: „Sozialismus oder Untergang der Menschheit“.
Die Verantwortung der Arbeiterklasse
Die Barbarei der heutigen Welt hebt die gewaltige Verantwortung hervor, die auf den Schultern des Proletariats lastet, das einer Kampagne und unzähligen Manövern gegenüber steht, die in ihrem Ausmaß neu sind und darauf abzielen, es nicht nur von seiner historischen Perspektive abzulenken, sondern auch vom Kampf zur Verteidigung seiner unmittelbaren und elementaren Interessen. Und dies geschieht in einem Moment, in dem die Weltwirtschaft erneut in die Krise taucht.
Die Kommunisten haben die Aufgabe, die Pazifisten mit der gleichen Energie an den Pranger zu stellen wie die Kriegstreiber. Der Pazifismus ist einer der schlimmsten Feinde des Proletariats. Er schürt die Illusion, dass der ‚gute Wille‘ oder die ‚internationalen Verhandlungen‘ den Kriegen ein Ende setzen könnten, und verbreitet somit die Lüge, nach der es eigentlich einen ‚guten Kapitalismus‘ geben könnte, der den Frieden wahrt und die ‚Menschenrechte‘ beachtet. Die Rolle des Pazifismus besteht darin, die Proletarier vom Klassenkampf gegen den Kapitalismus als ganzes abzulenken (vgl. dazu in dieser Nummer der Internationalen Revue Trotzkis Artikel Der Pazifismus – Wasserträger des Imperialismus).
Aber die Arbeiterklasse ist nicht geschlagen, und das Abtauchen in die Rezession wird sie zwingen, seine Kampfbereitschaft zu entwickeln. Gleichzeitig entlarvt der Krieg immer mehr das wirkliche Wesen der bürgerlichen Gesellschaft und nährt dadurch einen Prozess der unterirdischen Bewusstseinsreifung in Minderheiten der Arbeiterklasse (vgl. dazu, aber auch zur Analyse des gegenwärtigen Krieges die Resolution zur internationalen Lage, die am 15. Kongress der IKS angenommen worden ist und in der vorliegenden Nummer der Internationalen Revue veröffentlicht wird). Das Proletariat stellt auch in der heutigen Situation, die seit dem Beginn der 1990er-Jahre durch große Schwierigkeiten geprägt ist, immer noch eine Bremse gegenüber dem Krieg dar. Das Proletariat ist die einzige Hoffnung für die Menschheit, denn nur es ist durch seine Kämpfe fähig, sich in dieser im Zerfall begriffenen Gesellschaft als Träger einer Alternative gegenüber der kapitalistischen Barbarei zu behaupten.
SM (4. April 2003)
Fußnoten: