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Nachstehend veröffentlichen wir einen Artikel von Leo Trotzki neu, den er um die Mitte des Jahres 1917 schrieb, einige Wochen nach seiner aufgrund der revolutionären Erhebung im Februar erfolgten Rückkehr aus den USA. Das Zarenregime war durch eine provisorische „demokratisch bürgerliche“ Regierung abgelöst worden. Seither herrschte in Russland eine Situation der Doppelmacht, mit einer bürgerlichen Herrschaft in der Form der provisorischen Regierung einerseits und der Arbeiterklasse, die sich in Arbeiterräten, den Sowjets, organisiert hatte, andererseits. Die provisorische Regierung wie auch die Parteien, die damals in den Räten die Mehrheit besaßen, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre (SR), setzten sich für eine Fortsetzung des Kriegs gegen den Willen des Proletariats ein, eine Fortsetzung des imperialistischen Programms des russischen Kapitals, das durch Abkommen mit den anderen Mächten der Entente (Frankreich und Großbritannien) gegen Deutschland-Österreich verbunden war.1
Der Grund für die Wiederveröffentlichung dieses Textes liegt nicht allein im Interesse für die Geschichte, sondern vor allem in seiner brennenden Aktualität trotz aller Unterschiede zwischen der heutigen Situation und derjenigen von 1917. Obwohl wir heute weder mit einem Weltkrieg noch einer revolutionären Situation konfrontiert sind, sind die zentralen Fragen, die der Artikel „Der Pazifismus – Wasserträger des Imperialismus“ behandelt, grundsätzlich die gleichen, die sich für das Proletariat heute in allen Ländern stellen, unabhängig davon, welche Parolen die Pazifisten oder die Kriegstreiber in den verschiedenen Ländern herausgeben.
Trotzki stellte sich im Ersten Weltkrieg von Anfang an auf die Seite der Internationalisten, die alle kriegführenden Lager und die Sozialpatrioten, die das Proletariat für das Gemetzel mobilisierten, an den Pranger stellten. Im Herbst 1914 gehörte er mit seinem Beitrag „Der Krieg und die Internationale“ zu den Ersten, welche die Verräter der Sozialdemokratie angriffen, die dem Imperialismus ihres jeweiligen Nationalstaats im Namen des „Fortschritts“ oder der „Vaterlandsverteidigung“ unter die Arme griffen. Doch die Revolutionäre der Vergangenheit entlarvten nicht nur die Kriegsgurgeln und die Sozialchauvinisten wie Plechanow und Scheidemann, sondern auch die Neutralen und die Pazifisten, vor allem die Sozialpazifisten wie Turati und Kautsky. Lenin schrieb im Januar 1917, dass es eine grundsätzliche Einheit zwischen den beiden Kategorien gebe und dass beide – Sozialchauvinisten und Sozialpazifisten – Diener des Imperialismus seien: „Die einen dienen ihm, indem sie den imperialistischen Krieg als „Vaterlandsverteidigung“ darstellen, die anderen verteidigen den gleichen Imperialismus, indem sie ihn mit Phrasen über den ‚demokratischen Frieden‘ verschleiern, den imperialistischen Frieden, der sich heute ankündigt. Die imperialistische Bourgeoisie braucht Diener der einen und der anderen Sorte, der einen und der anderen Schattierung: Sie braucht die Plechanows um die Völker aufzufordern sich gegenseitig mit dem Ruf ‚Nieder mit den Angreifern‘ abzuschlachten; sie braucht aber auch die Kautskys, um die durch die Hymnen und Loblieder zu Ehren des Friedens irritierten Massen zu trösten und zu beruhigen“. Die Internationalisten haben die pazifistischen Losungen, die man jetzt wieder vernimmt, schon immer zurückgewiesen.
Aktualität der Fragen
Der Pazifismus ist nichts Neues. Seine Wesenszüge sind immer und überall die gleichen: die gesellschaftliche Ordnung, die notwendigerweise Kriege hervorbringt, nicht in Frage stellen; die herrschende bürgerliche Logik verteidigen, insbesondere die Demokratie; „die Lehre der sozialen Harmonie zwischen den verschiedenen Klasseninteressen“ propagieren (wie Trotzki sagte) und ihre Entsprechung auf der Ebene der Beziehungen zwischen Nationalstaaten, die „stufenweise Milderung der nationalistischen Konflikte“.
Das enorme Gewicht der gegenwärtigen pazifistischen Propaganda misst sich an der Breite der „Antikriegs“demonstrationen, welche die Bourgeoisie organisiert hat: Es gibt darunter solche, die am gleichen Tag weltweit mehr Leute mobilisiert haben als jede frühere Demonstration für die gleiche „Sache“. Wie wir bereits in Artikeln in der Territorialpresse (World Revolution, Révolution Internationale, Weltrevolution etc.) aufgezeigt haben, besteht die spezifische Funktion dieser Propaganda darin, die Infragestellung des Kapitalismus zu verhindern, das Verständnis darüber zu verhindern, dass der Krieg ein Ausdruck der imperialistischen Rivalitäten zwischen allen Ländern ist, eine Folge der kapitalistischen Konkurrenz, in der jeder Staat seine nationalen Interessen verficht.
Es ist schlicht und einfach eine „Politik der nationalen Einheit“ hinter der jeweiligen Bourgeoisie, die von einige Staaten, insbesondere von Deutschland und Frankreich, betrieben wird, wo die Propaganda offen antiamerikanische Töne anschlägt und von praktisch allen politischen Fraktionen der nationalen Bourgeoisie unterstützt und betrieben wird. Das Ziel ist dabei, antiamerikanische Gefühle in der Bevölkerung zu schüren, indem die USA als die einzigen Kriegstreiber dargestellt werden, als der imperialistische Gegner „Nummer 1“ schlechthin, und die Ablehnung des Krieges auf ein bürgerliches und sogar patriotische Terrain abzulenken. Demgegenüber war die Losung Karl Liebknechts und der Internationalisten während dem Ersten Weltkrieg: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“2
Heute wie in der Vergangenheit ist der Pazifismus die beste Gehirnwäsche für den Krieg. Diese Ideologie ist ein echtes Gift gegen die Arbeiterklasse. Abgesehen davon, dass eine solche Mystifizierung betrieben wird, um eine bestimmte nationalistische Ideologie zu verschleiern, hat der Pazifismus auch noch ein ganz besonderes Ziel: die Furcht der Arbeiter vor der Kriegsdrohung und ihre Ablehnung gegen den Krieg aufzugreifen, um ihr Bewusstsein zu vergiften und sie dazu zu bringen, ein bürgerliches Lager gegen das andere zu unterstützen.
Aus diesem Grund räumte die Bourgeoisie dem Pazifismus immer dann, wenn es darum ging, die Proletarier von der mörderischen Logik des Krieges zu überzeugen, einen wichtigen Platz ein im Rahmen der breiten Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen imperialistischen Fraktionen des Weltkapitals.
Der Pazifismus wird nicht durch die Forderung nach Frieden definiert. Alle wollen den Frieden. Auch die Kriegstreiber selber berufen sich ständig darauf, dass sie den Krieg nur deshalb wollen, um dann später den Frieden besser gewährleisten zu können. Was den Pazifismus ausmacht, ist, dass er vorgibt, man könne für den Frieden an sich kämpfen, ohne die Grundlage des kapitalistischen Systems zu berühren. Die Proletarier, die durch ihren revolutionären Kampf in Russland und Deutschland den Ersten Weltkrieg beendeten, wollten auch, dass der Krieg aufhöre. Aber ihr Kampf hatte nur deshalb Erfolg, weil sie es verstanden, den Kampf nicht MIT den „Pazifisten“ zu führen, sondern trotz ihnen und GEGEN sie. Von dem Zeitpunkt an, wo es klar wurde, dass der revolutionäre Kampf darauf hinaus lief, die imperialistische Schlächterei abzubrechen, standen die Proletarier in Russland und Deutschland plötzlich nicht nur den „Falken“ innerhalb der Bourgeoisie gegenüber, sondern auch und insbesondere all diesen Pazifisten der ersten Stunde (Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Sozialpatrioten), die mit der Waffe in der Hand das verteidigten, worauf sie am wenigsten verzichten konnten und was ihnen am liebsten war: den bürgerlichen Staat. Zu diesem Zweck mussten sie die Revolte der Ausgebeuteten gegen den Krieg ihrer Spitze gegen das Kapital berauben.
Zwischen dem Pazifismus und den Revolutionären gibt es eine Klassengrenze. Die Revolutionäre, die Internationalisten wie Lenin, Luxemburg und Trotzki kämpften für die Betätigung der proletarischen Massen auf ihrem Klassenterrain, für die Verteidigung ihrer Lebensbedingungen: „Entweder machen die bürgerlichen Regierungen den Frieden, wie sie den Krieg machen, dann bleibt bei jedem Ausgang des Krieges der Imperialismus die herrschende Macht, und dann geht es unvermeidlich immer weiter neuen Rüstungen, Kriegen und dem Ruin, der Reaktion, der Barbarei entgegen. Oder ihr rafft euch zum Kampf um die politische Macht, um euren Frieden nach außen und nach innen zu diktieren.“ (Rosa Luxemburg, Spartacus, Nr. 4 vom April 1917, Wilsons Sozialismus)
Trotz der unterschiedlichen historischen Situation sind die wichtigsten Fragen, die sich heute angesichts der Allgegenwart des Krieges und der immensen pazifistischen Kampagne stellen, die gleichen wie diejenigen, die Trotzki in „Der Pazifismus – Wasserträger des Imperialismus“ aufwarf.
Der Zusammenhang zwischen Pazifismus und Demokratie
Trotzki zeigte auf, dass der Pazifismus und die Demokratie von gleicher Herkunft sind. Die Vorstellung von der Gleichheit und der Freiheit eines jeden Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft ist gemäss der bürgerlichen Auffassung die Bedingung für den Vertrag zwischen dem Arbeiter und seinem Ausbeuter. Und zufolge dieser gleichen Ideologie sollten auch die Beziehungen zwischen den Nationen denselben Gesetzen der Gleichheit und der „Vernunft“ gehorchen. „Doch hier kam ihr der Krieg in die Quere, der ebenfalls eine Methode der Problemlösung darstellt, allerdings unter vollständiger Außerachtlassung der ‚Vernunft‘. (...) Die kapitalistische Realität allerdings behandelt das Ideal des ewigen Friedens, das auf der Harmonie der Vernunft gründen soll, noch erbarmungsloser als die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Kapitalismus hat zwar die Technik auf rationaler Grundlage entwickelt, war aber nicht in der Lage, die wirtschaftlichen Bedingungen rational zu regeln.“
Trotzki entlarvte nicht nur die offiziellen Pazifisten à la Wilson und diejenigen der „Opposition“ à la Bryan3, sondern auch das Kleinbürgertum, das „mit all seinen Traditionen und Illusionen der Hüter der demokratischen Ideologie“ ist.
Was Trotzki aber nicht voraussehen konnte, war das enorme Gewicht, das diese demokratische Ideologie 80 Jahre später in der letzten Phase des Kapitalismus, in derjenigen des kapitalistischen Zerfalls, annehmen würde. Mangels Perspektive in dieser Gesellschaft drängt sich die demokratische Ideologie, die der verallgemeinerten Warenproduktion entspricht, spontan auf. „Die bürgerliche Demokratie verlangte gesetzliche Gleichheit für einen freien Wettbewerb“, sagte Trotzki. Der Wettbewerb, die Konkurrenz, das „Jeder-für-sich“ werden im kapitalistischen Zerfall auf die Spitze getrieben mit der Atomisierung, der extremen Entfremdung und dem Krieg eines jeden gegen jeden. In dieser letzten Phase des Kapitalismus durchdringt die demokratische Ideologie alle Verhältnisse in der Gesellschaft, und die Demokratie wird zur Rechtfertigung und zum Vorwand für alles und jeden: Chirac und Schröder widersetzen sich der Intervention im Irak im Namen der Demokratie; Bush und Powell beschließen die Intervention, um angeblich den arabischen Völkern die Demokratie zu bringen. Man kann im Namen der Demokratie foltern, man kann die Folter im Namen der Demokratie verbieten und man kann auch auf demokratische Art foltern, das heißt dann, wenn es notwendig ist im Sinne von Artikel X des Gesetzes Y, das ja demokratisch verabschiedet worden ist.
Es ist kein Zufall, wenn heute der Pazifismus wieder einmal der Botschafter der demokratischen Ideologie ist. Es ist nicht mehr naiv, sondern zynisch, wenn die pazifistischen Organisationen dem Krieg die „Menschenrechte“ und die „humanitäre Hilfe” entgegen setzen und dabei vertuschen, dass alle Kriege spätestens seit Reagan und vor allem seit dem Zusammenbruch des Ostblocks durch die westlichen Mächte im Namen der Menschenrechte und unter dem Banner der „humanitären Interventionen” geführt wurden.
Die Pazifisten und die Demokraten rufen die „Bevölkerung“ im allgemeinen, die „Bürger” dazu auf, sich gegen den Krieg zu mobilisieren, während die Revolutionäre immer aufgezeigt haben, dass einzig der Kampf des Proletariats auf seinem eigenen Klassenterrain, für seine eigenen Ziele dem Krieg ein Ende bereiten kann. Mit dem Pazifismus wird das Proletariat nur an die Verteidigung des einen imperialistischen Lagers gegen das andere gekettet: Es kann dabei einzig die eigene Klassenidentität verlieren, indem es sich in der „Bevölkerung“ im allgemeinen auflöst, in allen anderen Klassen, mitten in einer riesigen Bewegung der „Bürger“, in der es unmöglich ist, seine eigenen Interessen geltend zu machen, die Interessen einer Klasse, die kein Vaterland hat, und keine Grenzen und nationalen Interessen zu verteidigen. Die heutigen Trotzkisten haben das Programm Lenins, Trotzkis und Luxemburgs schon vor langem verraten4, und dies beweisen sie einmal mehr, indem sie aktiv an den pazifistischen Mobilisierungen teilnehmen, wo sie sich in der Art vernehmen lassen: „Eine möglichst breite, aktive, breit gefächerte Bewegung gegen den Krieg zu entfalten ist ein notwendiges Element, um den Krieg zu stoppen, um die Bedingungen zu schaffen, damit das irakische Volk selber über seine Zukunft bestimmen kann.“ (Flugblatt vom 5.3.2003 der „Bewegung für den Sozialismus”, einer Filiale der 4. Internationale). Solche demokratischen und pazifistischen Illusionen zu verbreiten heißt aktiver Bestandteil des ideologischen und politischen Apparates des eigenen Imperialismus zu sein.
Die Lehre der gesellschaftlichen Harmonie und der Regelung der nationalen Konflikte
Trotzki verspottete die Illusionen der Pazifisten, die an die Möglichkeit der Abschwächung der Konflikte zwischen imperialistischen Staaten glaubten: „Wenn wir die Möglichkeit einer stufenweisen Milderung der Klassenkämpfe annehmen wollen, dann müssen wir dies ebenso bei den nationalistischen Konflikten tun.”
Obwohl sich die nationalen Konflikte seit dem Ersten Weltkrieg vervielfacht haben, trotz aller Massaker des 20. Jahrhunderts, die tausend Mal bewiesen haben, dass der Militarismus und der Krieg zur dauerhaften Lebensform des dekadenten Kapitalismus geworden sind, fordern die Pazifisten immer noch die Anwendung des Völkerrechts und die Einigung auf ein formelles Verfahren im Rahmen der UNO.
Die heutigen Trotzkisten setzen alles daran, die Erinnerung an Trotzki durch den Dreck zu ziehen. Die LCR in Frankreich bezieht nicht nur eine leidenschaftlich antiamerikanische Position, die perfekt mit der imperialistischen Politik der französischen Bourgeoisie harmoniert, sondern fordert darüber hinaus, dass „Frankreich sein Vetorecht in der UNO gegen den Ausbruch des Krieges einsetzt“, um damit „unsere Solidarität mit den Demokraten des Iraks“ auszudrücken. So beharren die Trotzkisten auf der Anwendung der Regeln der UNO, deren Vorgänger Wilsons Völkerbund war – und all das im Namen der Demokratie. Man müsste sie fragen, ob sie je etwas von einem gewissen Trotzki gehört oder gelesen haben.
Der Pazifismus bereitet die Kriege vor
Der Artikel „Der Pazifismus – Wasserträger des Imperialismus” zeigt auch, mit welchen Kniffen die Pazifisten die Massen für den Militarismus und den Krieg mobilisieren. Sie argumentieren nach der Art: „Alles in unseren Kräften liegende zur Verhinderung des Krieges‘ bedeutet, den oppositionellen Massen ein Ventil mittels harmlosen Manifesten zur Verfügung zu stellen, in denen der Regierung für den Fall des Kriegsausbruchs die Garantie gegeben wird, dass die pazifistische Opposition dann kein Hindernis darstellen wird.“
Wenn Trotzki vom Pazifismus Wilsons und dem dröhnenden Widerstand Bryans gegen den Krieg schreibt, so denkt man unwillkürlich an Schröder, den Altachtundsechziger, und Fischer, den früheren Linksextremen, die wirklich die besten Vertreter sind, die sich der deutsche Imperialismus aussuchen konnte, denn “wenn Schröder den Krieg erklären kann, und selbst Fischer ihn in der Kriegsfrage unterstützt, dann muss es sich gewiss um einen gerechten und notwendigen Krieg handeln.“
Mit der Wiederveröffentlichung dieses Textes von Trotzki wollen wir unsere Leser auch ermuntern, sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung und den Lehren zu beschäftigen, die man daraus für den Krieg, aber auch für den Pazifismus ziehen kann. Eine wesentliche Waffe der Arbeiterklasse ist ihr Bewusstsein. Dieses bildet sich, indem es sich wesentlich auch auf die Geschichte der Arbeiterklasse stützt, eine Geschichte, die wie diejenige der Klassengesellschaften insgesamt schon viel zu lange dauert. Dem Kapitalismus muss eine Ende gesetzt werden, bevor er der Menschheit ein Ende setzt.
SM (März 2003)
Leo Trotzki 1917:: Der Pazifismus – Wasserträger des Imperialismus
Niemals gab es auf der Welt so viele Pazifisten wie heute, da sich in allen Ländern die Menschen gegenseitig töten. Jede historische Epoche bringt nicht nur ihre eigene Technik und ihre eigene politische Form hervor, sondern ebenso ihre spezifische Heuchelei. Früher töteten sich die Völker gegenseitig im Namen der christlichen Lehre von Liebe und Menschlichkeit. Heute beziehen sich darauf nur noch rückwärts gewandte Regierungen. Fortschrittliche Nationen ziehen sich gegenseitig das Fell im Namen des Pazifismus über die Ohren. Wilson zerrte Amerika im Namen des Völkerbundes und des ewigen Friedens in den Krieg.
Kerenski und Tseretelli rufen nach einer Offensive im Dienste eines baldigen Friedens.
Unserer Epoche mangelt es an der empörten Satire eines Juvenal. Auf jeden Fall besteht die Gefahr, dass sich selbst die mächtigsten satirischen Waffen im Vergleich zur triumphierenden Niederträchtigkeit und der kriecherischen Dummheit, zwei in diesem Krieg entfesselten Elementen, als machtlos und illusorisch erweisen.
Der Pazifismus ist von gleicher Herkunft wie die Demokratie. Die Bourgeoisie unternahm einen großen historischen Anlauf, um alle menschlichen Beziehungen im Einklang mit der Vernunft zu regeln, alle blinden und beschränkten Traditionen durch Institutionen der kritischen Vernunft zu ersetzen. Die Zünfte mit ihren Produktionsbeschränkungen, die politischen Institutionen mit ihren Privilegien, der monarchische Absolutismus – all dies waren Überreste aus dem Mittelalter. Die bürgerliche Demokratie verlangte gesetzliche Gleichheit für einen freien Wettbewerb sowie den Parlamentarismus als Mittel zur Regelung der öffentlichen Angelegenheiten. Sie trachtete danach, auch die nationalen Beziehungen in diesem Sinne zu regeln. Doch hier kam ihr der Krieg in die Quere, der ebenfalls eine Methode der Problemlösung darstellt, allerdings unter vollständiger Außerachtlassung der „Vernunft“. Also begann sie, die Menschen in den Gedichten, der Philosophie, der Ethik und der Betriebswirtschaft zu lehren, dass es für sie viel nützlicher sei, den ewigen Frieden einzuführen. Dies ist die logische Argumentationsweise des Pazifismus.
Der angeborene Fehler des Pazifismus ist grundsätzlich der gleiche wie derjenige der bürgerlichen Demokratie. Ihre Kritik kratzt lediglich an der Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen und hat nicht den Mut, in die tieferen Schichten der ökonomischen Tatsachen vorzudringen. Die kapitalistische Realität allerdings behandelt das Ideal des ewigen Friedens, das auf der Harmonie der Vernunft gründen soll, noch erbarmungsloser als die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Kapitalismus hat zwar die Technik auf rationaler Grundlage entwickelt, war aber nicht in der Lage, die Bedingungen rational zu regeln. Er entwickelte Waffen zur gegenseitigen Ausrottung, von denen selbst die „Barbaren“ des Mittelalters nicht zu träumen wagten.
Die schnelle Intensivierung der internationalen Bedingungen und das unablässige Wachstum des Militarismus entzogen dem Pazifismus den Boden. Aber gleichzeitig haben genau diese Kräfte dem Pazifismus ein neues Leben eingehaucht, und zwar ein vom alten Leben genau so verschiedenes, wie sich der blutrote Sonnenuntergang von der rosigen Morgendämmerung unterscheidet.
Die zehn dem Krieg vorausgegangen Jahre wurden als „bewaffneter Friede“ bezeichnet. Die ganze Zeit war aber tatsächlich nichts anderes als ein ununterbrochener Krieg, der in den Kolonialgebieten geführt wurde.
Dieser Krieg wurde auf den Gebieten rückständiger und schwacher Völker ausgetragen, in Afrika, Polynesien und Asien, und ebnete den Weg zum gegenwärtigen Krieg. Seit 1871 hatte es in Europa keinen Krieg mehr gegeben, obwohl es eine Anzahl von kleinen, aber heftigen Konflikten gegeben hatte, und im Kleinbürgertum war die Anschauung systematisch verstärkt worden, dass eine ständig wachsende Armee eine Garantie des Friedens sei und schließlich zu einer neuen internationalen Organisation des Gesetzes führen werde. Die kapitalistischen Regierungen und das Big Business hatten natürlich nichts gegen eine solche „pazifistische“ Interpretation des Militarismus. Gleichzeitig bahnten sich die globalen Konflikte an, und die Weltkatastrophe war da.
Theoretisch und politisch hat der Pazifismus dieselbe Grundlage wie die Lehre der sozialen Harmonie zwischen den verschiedenen Klasseninteressen.
Der Gegensatz zwischen kapitalistischen Nationalstaaten hat dieselbe ökonomische Grundlage wie der Klassenkampf. Wenn wir die Möglichkeit einer stufenweisen Milderung der Klassenkämpfe annehmen wollen, dann müssen wir dies ebenso bei den nationalistischen Konflikten tun.
Das Kleinbürgertum mit all seinen Traditionen und Illusionen ist der Hüter der demokratischen Ideologie. Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte es tiefgreifende innere Veränderungen durch, verschwand aber trotzdem nicht ganz von der Szene. Gleichzeitig mit der Unterminierung der ökonomischen Bedeutung des Kleinbürgertums durch die Entwicklung der kapitalistischen Technik gaben ihm das allgemeine Wahlrecht und der Militärdienst dank seiner numerischen Stärke eine scheinbare politische Bedeutung. Wo der Kleinkapitalist nicht vollständig durch das Big Business seiner Existenz beraubt war, wurde er vollständig dem Kreditsystem unterworfen. Die Vertreter des Big Business hatten das Kleinbürgertum nur noch auf politischer Ebene zu unterwerfen, indem sie es aller Theorien und Vorurteile beraubten und ihm einen fiktiven Wert verliehen. Dies ist die Erklärung der Phänomene, die man in den letzten zehn Jahren vor dem Krieg beobachten konnte, in denen der reaktionäre Imperialismus sich zu einer erschreckenden Höhe aufschwang, während gleichzeitig die illusionären Blüten der bürgerlichen Demokratie mit dem Reformismus und dem Pazifismus hervorkamen. Für seine imperialistischen Ziele unterwarf das Großkapital das Kleinbürgertum, indem es sich auf dessen Klassenvorurteile abstützte.
Frankreich war das klassische Beispiel dieses zweifachen Prozesses. Frankreich ist das Land des Finanzkapitals, das durch ein zahlreiches und allgemein konservatives Kleinbürgertum unterstützt wird. Wegen Auslandkrediten, den Kolonien und dem Bündnis mit Russland und England wurde die obere Schicht der Bevölkerung in all die Interessen und Konflikte des Weltkapitalismus hineingezerrt. Indessen blieb der französische Kleinbürger provinziell bis ins Mark. Er hat eine instinktive Furcht vor Geographie und sein ganzes Leben ist gezeichnet von einem Horror vor dem Krieg, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er gewöhnlich nur einen Sohn hat, dem er sein Geschäft und seine Möbel vererben wird. Dieser Kleinbürger entsendet einen radikalen Bourgeois auf das Versprechen hin ins Parlament, dass er ihm durch den Völkerbund einerseits und die russischen Kosaken andererseits, die dem Kaiser den Kopf abhauen würden, den Frieden erhalten werde.
Der radikale Abgeordnete entstammt einem Zirkel provinzieller Anwälte und kommt in Paris nicht nur voller Friedensabsichten an, sondern mit einer höchst vagen Vorstellung über die Lage des Persischen Golfs und ohne jegliche klare Idee davon, warum oder für wen die Bagdadbahn notwendig ist. Aus diesen „radikal pazifistischen“ Abgeordneten ging eine radikale Regierung hervor, die sich sofort bis über die Ohren in einem Netz all der vorangegangenen diplomatischen und militärischen Verpflichtungen der verschiedenen Finanzinteressen der französischen Börse in Russland, Afrika und Asien verhedderte. Die Regierung und das Parlament fuhren unaufhörlich mit ihrer pazifistischen Phraseologie fort, aber gleichzeitig verfolgten sie automatisch eine Außenpolitik, die Frankreich schließlich in den Krieg führte.
Der englische und amerikanische Pazifismus verrichtet trotz der Verschiedenheit der sozialen und ideologischen Bedingungen (auch trotz des Fehlens jeglicher Ideologie in Amerika) im wesentlichen dieselbe Arbeit: Er stellt der Angst des Kleinbürgers vor den welterschütternden Ereignissen ein Ventil zur Verfügung, das ihn schließlich der letzten Überreste seiner Unabhängigkeit beraubt. Seine Vorsicht wird durch nutzlose Begriffe wie Abrüstung, Völkerrecht und Schiedsgerichte eingeschläfert. Und in einem bestimmten Augenblick wird er mit Haut und Haar dem kapitalistischen Imperialismus ausgeliefert, der bereits alle notwendigen Mittel mobilisiert hat: die Technik, die Kunst, die Religion, den bürgerlichen Pazifismus und den patriotischen „Sozialismus“.
Und der französische Kleinbürger schreit: „Wir waren gegen den Krieg, unsere Abgeordneten, unsere Minister, wir alle waren gegen den Krieg. Und nun, da uns der Krieg aufgezwungen worden ist, müssen wir ihn zur Verwirklichung unserer pazifistischen Ideale bis zum siegreichen Ende führen.“ Und der Vertreter des französischen Pazifismus, Baron d’Estournel de Constant, segnet diese pazifistische Philosophie mit einem feierlichen „jusqu’au bout!“ – Krieg bis zum Ende!
Die englische Börse benötigte zur erfolgreichen Kriegführung gerade einen Pazifisten wie den Liberalen Asquith und den radikalen Demagogen Lloyd George. „Wenn diese Männer den Krieg führen,“ sagt das englische Volk, „dann muss das Recht auf unserer Seite sein.“
Und so spielte der Pazifismus im Mechanismus dieses Kriegs die ihm zugewiesene Rolle so wie das Giftgas oder die ständig steigenden Kriegskredite.
In den USA zeigte der Pazifismus des Kleinbürgertums sein wahres Gesicht als Wasserträger des Imperialismus. Dort hatten die Banken und Trusts die Politik im Griff. Schon vor dem Krieg traten die USA aufgrund der außergewöhnlichen Entwicklung der Industrie und des Exports immer mehr auf die internationale Bühne, um ihre Interessen zu verteidigen und gleichzeitig den Imperialismus zu entwickeln. Der europäische Krieg aber beschleunigte diese imperialistische Entwicklung in einem fieberhaften Tempo. Als viele fromme Leute (sogar Kautsky) hofften, dass der Horror der Schlächterei in Europa die amerikanische Bourgeoisie mit einem Horror vor dem Militarismus erfüllen würde, bewegten sich die wirklichen Ereignisse in Europa nicht auf einer psychologischen, sondern auf einer materialistischen Linie und führten so zu gerade gegenteiligen Resultaten. Die Exporte der USA beliefen sich 1913 auf 2466 Millionen Dollars, und stiegen 1916 auf die verrückte Höhe von 5481 Millionen Dollars. Logischerweise machte die Waffenindustrie den Löwenanteil des Exports aus. 1915 importierte die Entente amerikanische Waren im Umfang von 35 Milliarden, während Deutschland und Österreich-Ungarn für kaum mehr als 15 Millionen importierten. So zeigte sich also nicht nur eine Abnahme der gigantischen Profite, sondern die ganze amerikanische Industrie, die ihre Grundlage in der Kriegsindustrie hatte, war nun von einer schweren Krise bedroht. Diese Zahlen müssen wir als Schlüssel für das Verständnis der Aufteilung der „Sympathien“ in Amerika betrachten. Und so riefen die Kapitalisten dem Staat zu: „Du hast die Entwicklung des Kriegsindustrie unter dem Banner des Pazifismus in Gang gebracht, du musst uns nun auch einen neuen Markt finden.“ Wenn der Staat nicht in der Lage war, die „Freiheit der Meere“ zu versprechen (mit anderen Worten die Freiheit, Kapital aus Menschenblut zu pressen), so musste er wenigstens für die bedrohte Kriegsindustrie einen neuen Markt öffnen – und zwar in Amerika selbst. Und so führten die Anforderungen der europäischen Schlächterei zu einer plötzlichen und katastrophalen Militarisierung der USA.
Dieses Geschäft musste die Opposition der breiten Massen hervorrufen. Dieser unbestimmten Unzufriedenheit entgegenzutreten und sie in eine patriotische Kooperation umzuwandeln war die wichtigste Aufgabe der US-amerikanischen Innenpolitik. Und es ist eine Ironie der Geschichte, dass der offizielle Pazifismus Wilsons und der „oppositionelle“ Pazifismus Bryans die mächtigsten Waffen zur Lösung dieser Aufgabe lieferten, nämlich zur Beschwichtigung der Massen durch den Militarismus.
Bryan beeilte sich, der natürlichen Ablehnung von Imperialismus, Militarismus und Steuererhöhungen durch die Farmer und das Kleinbürgertum Ausdruck zu verleihen. Aber während er Wagenladungen voll Petitionen und Abordnungen an seine pazifistischen Kollegen versandte, die sich in den höchsten Stellen der Regierung befanden, unternahm Bryan alle Anstrengungen, um sich von den revolutionären Tendenzen dieser Bewegung zu distanzieren.
”Sollte es zum Krieg kommen”, telegraphierte Bryan im Februar an eine in Chicago stattfindende Anti-Kriegs-Veranstaltung, „dann müssen wir natürlich die Regierung unterstützen, aber bis zu diesem Augenblick ist es unsere heilige Pflicht, alles in unseren Kräften liegende zu unternehmen, um die Menschen vor dem Horror des Krieges zu retten.“ In diesen wenigen Worten liegt das ganze Programm des kleinbürgerlichen Pazifismus. „Alles in unseren Kräften liegende zur Verhinderung des Krieges“ bedeutet, den oppositionellen Massen ein Ventil mittels harmlosen Manifesten zur Verfügung zu stellen, in denen der Regierung für den Fall des Kriegsausbruchs die Garantie gegeben wird, dass die pazifistische Opposition dann kein Hindernis darstellen wird.
Dies war alles, das von Wilson, dem Repräsentanten des offiziellen Pazifismus verlangt wurde, und er gab den Kapitalisten, die den Krieg machten, bereits eine Menge von Beweisen für sein „Bereitschaft für den Kampf“. Und selbst Mr. Bryan befand diese Erklärung für ausreichend, worauf er seinen dröhnenden Widerstand gegen den Krieg beiseite legte, und zwar einzig zum Zweck – den Krieg zu erklären. Mr. Bryan folgte Mr. Wilson, um der Regierung unter die Arme zu greifen. Und nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch die große Masse des Volkes sagte sich: „Wenn unsere Regierung, der ein solcher Pazifist von weltweitem Ruf wie Wilson vorsteht, den Krieg erklären kann, und selbst Bryan die Regierung in der Kriegsfrage unterstützt, dann muss es sich gewiss um einen gerechten und notwendigen Krieg handeln.“ Dies erklärt, warum der fromme und quäkerische Pazifismus, den sich die Demagogen der Regierung gönnten, von der Börse und den Führern der Kriegsindustrie so hoch geschätzt wurde.
Unser eigener menschewistischer, sozialrevolutionärer Pazifismus spielte trotz der Unterschiede in den Bedingungen genau dieselbe Rolle. Die Kriegsresolution, die von der Mehrheit des Allrussischen Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte angenommen worden war, gründete nicht nur auf den allgemeinen pazifistischen Vorurteilen gegenüber dem Krieg, sondern auch auf den Charakteristiken eines imperialistischen Krieges. Der Kongress erklärte, dass „die erste und wichtigste Aufgabe der revolutionären Demokratie“ sei, den Krieg so schnell als möglich zu beenden. Aber all diese Annahmen führen schließlich zu einem einzigen Ziel: Solange die internationalen Anstrengungen zur Beendigung des Krieges nichts fruchten, solange muss die russische revolutionäre Demokratie mit allem Nachdruck verlangen, dass die Rote Armee bereit sein muss für den Kampf, sei er nun defensiv oder offensiv.
Die Revision der alten internationalen Abkommen machen den russischen Kongress vom Willen der Entente-Diplomatie abhängig, und es liegt nicht in der Natur dieser Diplomaten, den imperialistischen Charakter des Krieges zu beseitigen, selbst wenn sie dies könnten. Die „internationalen Anstrengungen der Demokratien“ bringen den Kongress in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den sozialdemokratischen Patrioten, die alle hinter ihren imperialistischen Regierungen stehen. Und diese Mehrheit des Kongresses, die sich selbst zuerst zu blinden Alliierten des Geschäfts mit „der schnellst möglichen Beendigung des Kriegs“ machten, ist nun selbst angesichts der praktischen Konsequenzen des Krieges zu einer definitiven Schlussfolgerung gelangt: zur Offensive. Ein „Pazifismus“, der das Kleinbürgertum mobilisiert und die Offensive unterstützt, wird nicht nur von den Russen, sondern auch vom Entente-Imperialismus wärmstens begrüßt.
Miljukow beispielsweise sagt: „Im Namen unserer Loyalität gegenüber den Alliierten und den alten (imperialistischen) Abkommen muss die Offensive unvermeidbar eingeleitet werden.“
Kerenski und Tseretelli sagen: „Obwohl die Verträge noch nicht revidiert wurden, ist die Offensive unvermeidbar.“
Die Argumente variieren, die Politik bleibt dieselbe. Und es kann gar nicht anders sein, da Kerenski und Tseretelli unauflösbar mit der Regierung von Miljukows Partei verstrickt sind.
Der sozialdemokratisch patriotische Pazifismus von Dan steht, wenn wir zu den Fakten kommen, gleich wie der Quäker-Pazifismus von Bryan im Dienste des Imperialismus.
Aus diesem Grund besteht die wichtigste Aufgabe der russischen Diplomatie nicht darin, die Entente-Diplomatie von dieser oder jener Revision oder Aufhebung zu überzeugen, sondern darin, sie zu überzeugen, dass auf die russische Revolution absoluter Verlass sei und dass man ihr gewiss trauen könne.
Der russische Botschafter Bachmatiev charakterisierte in seiner Rede vom 10. Juni vor dem amerikanischen Kongress die Aktivitäten der Provisorischen Regierung von diesem Standpunkt:
„All diese Ereignisse“, sagte er, „zeigen uns, dass die Macht und die Bedeutung der Provisorischen Regierung jeden Tag anwachsen, und je mehr sie wachsen, je fähiger wird die Regierung sein, alle spalterischen Elemente zu beseitigen, ob sie nun von der Reaktion oder von der Agitation der extremen Linken stammen. Die Provisorische Regierung hat gerade entschieden, alle möglichen Mittel für dieses Ziel anzuwenden, auch wenn Gewalt angewendet werden muss, obwohl sie sich um eine friedvolle Lösung dieser Probleme bemühen wird.“
Es darf darüber keinen Augenblick ein Zweifel bestehen, dass die „nationale Ehre“ unserer sozialdemokratischen Patrioten unerschüttert blieb, während der Botschafter der „revolutionären Demokratie“ begierig darauf aus war, der amerikanischen Plutokratie zu beweisen, dass die russische Regierung bereit sei, das Blut des russischen Proletariats im Namen von Recht und Ordnung zu vergießen. Das wichtigste Element von Gesetz und Ordnung ist die loyale Unterstützung des Entente-Kapitalismus.
Und im gleichen Augenblick, in dem Herr Bachmatiev mit dem Hut in der Hand seine ehrwürdigen Worte an die Hyänen der amerikanischen Börse richtete, betäubten Messieurs Tseretelli und Kerenski die „revolutionäre Demokratie“, indem sie versicherten, dass es unmöglich sei, die „Anarchie der Linken“ ohne Anwendung von Gewalt zu bekämpfen. Sie drohten mit der Entwaffnung der Arbeiter von Petrograd sowie des sie unterstützenden Regiments. Wir sehen nun, dass diese Drohungen genau im richtigen Moment ausgesprochen wurden: Sie waren die bestmögliche Garantie für die Kredite von Amerika.
Herr Bachmatiev könnte zu Mr. Wilson gesagt haben: „Sie sehen jetzt, dass unser revolutionäre Pazifismus sich um keine Haaresbreite vom Pazifismus ihrer Börse unterscheidet. Und wenn sie Mr. Bryan glauben, wieso dann nicht auch Herrn Tseretelli?“
Trotzki
Fußnoten:
1 Für weitere Einzelheiten der Situation im Sommer 1917 in Russland vgl. auch den Artikel „Russische Revolution 1917 – die Juli-Tage“ in Internationale Revue Nr. 20.
2 Diese Formulierung verwendete auch Lenin 1915 in Der Sozialismus und der Krieg. Sie ist durchaus gültig im Rahmen des Kampfes gegen den Opportunismus in der Form des Pazifismus und der Versöhnung mit den nationalen Fraktionen der Bourgeoisie. Sie kann aber nicht verallgemeinert werden, da das Proletariat natürlich nicht irgendeine Fraktion der Bourgeoisie einer anderen vorziehen kann, auch nicht diejenige eines anderen Landes.
3 William Jennings Bryan war mehrere Male Kandidat der Demokraten bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen, von 1913–15 Außenminister unter Wilson und Verfechter der Neutralität der USA während dem Ersten Weltkrieg.
4 William Jennings Bryan war mehrere Male Kandidat der Demokraten bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen, von 1913–15 Außenminister unter Wilson und Verfechter der Neutralität der USA während dem Ersten Weltkrieg.