Diskussionsveranstaltung des Aufbaus zu den Gewerkschaften:

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Diskussionsveranstaltung des Aufbaus zu den Gewerkschaften Den Bock zum Gärtner machen?

Ende Juni 2004 führte der Revolutionäre Aufbau in Zürich eine Veranstaltung zum Thema Gewerkschaften durch. Die Einladung zu diesem Treffen versprach eine Diskussion über interessante Fragen: “Immer häufiger rufen Gewerkschaften in der Schweiz zum Streik auf (...). Sind die Gewerkschaften nun revolutionär? Oder sind sie nur ein regulierendes Rad im kapitalistischen System? Welche Interessen verfolgen die Gewerkschaften? Welche Abhängigkeiten bestehen? (...) Was können wir uns von der Gewerkschaftsbewegung erhoffen und was nicht?”

Den Bock zum Gärtner machen?

Ende Juni 2004 führte der Revolutionäre Aufbau in Zürich eine Veranstaltung zum Thema Gewerkschaften durch. Die Einladung zu diesem Treffen versprach eine Diskussion über interessante Fragen: “Immer häufiger rufen Gewerkschaften in der Schweiz zum Streik auf (...). Sind die Gewerkschaften nun revolutionär? Oder sind sie nur ein regulierendes Rad im kapitalistischen System? Welche Interessen verfolgen die Gewerkschaften? Welche Abhängigkeiten bestehen? (...) Was können wir uns von der Gewerkschaftsbewegung erhoffen und was nicht?”

Wenn man diese Fragen beantworten will, muss man grundsätzlich über den Charakter der Gewerkschaften diskutieren. Dies ist für die Arbeiterklasse gerade in der heutigen Zeit von zentraler Bedeutung, da die kampfbereiten Arbeiter, ob sie wollen oder nicht, auf die Gewerkschaften stossen und die Illusionen über deren Charakter weit verbreitet sind. Die Entwicklung des Klassenkampfs hängt aber entscheidend von der Überwindung dieser Illusionen ab. Da die IKS davon ausging, dass diese Veranstaltung Leute anzieht, die an einer wirklichen Klärung der Fragen um die Gewerkschaften interessiert sind, beteiligte sie sich mit einer Delegation an der Diskussion.

Die Gretchenfrage

Ein Funktionär der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI), der im Namen des Aufbaus sprach, hielt ein kurzes Einleitungsreferat. Darin kam zwar zum Ausdruck, dass er ein kritisches Verhältnis zur Praxis der verschiedenen Gewerkschaften in der Schweiz hat. Aber die Einführung beschränkte sich auf die Darstellung einzelner gewerkschaftlicher Aktionen (namentlich der Maler und Gipser im Frühjahr 2004), des Arbeitsfriedens und der Funktionsweise des Gewerkschaftsapparates. Dabei erwähnte der Referent auch, dass die Gewerkschaften keine revolutionären Kämpfe führen, sondern Lösungen innerhalb des kapitalistischen Systems suchen würden. Wie man dies aus den Publikationen des Aufbaus gewöhnt ist, beschränkte sich auch hier die Stellungnahme dieser Gruppe zur Gewerkschaftsfrage auf eine Beschreibung gewisser Fakten; es gab keine Analyse über die materiellen und geschichtlichen Bedingungen der Gewerkschaften, geschweige denn über ihre Klassennatur.

Auch die Diskussion, die auf die Einführung folgte, verlief zunächst in diesen Bahnen: Lamento über die herrschenden Zustände und die nicht gerade kämpferischen Gewerkschaften, Lamento über die Gewerkschaftsbürokratie, alles auf dem Hintergrund und anhand der Beispiele der Streiks und anderer Aktionen der letzten 12 Monate (1).

Die Delegation der IKS stellte dann die Grundsatzfrage: Sind die Gewerkschaften überhaupt Organe der Arbeiterklasse, oder sind sie nicht vielmehr Organe des bürgerlichen Staates? Ist es Zufall, dass die Gewerkschaften systemerhaltend wirken, oder gehört dies zu ihrem Wesen? Interessanterweise widersprach niemand (nicht einmal der GBI-Funktionär) der IKS-Delegation, als sie behauptete, dass die Gewerkschaften, die ursprünglich im 19. Jahrhundert als Organe der Arbeiterklasse zur Erkämpfung von Reformen entstanden waren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts unwiderruflich in den bürgerlichen Staatsapparat integriert wurden. Mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine niedergehende Phase, d.h. spätestens mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs, wurde der Kampf um Reformen illusorisch; die Arbeiterklasse konnte von nun an ihre Lebensbedingungen dauerhaft nur noch mit der proletarischen Weltrevolution verbessern. Die materielle Unmöglichkeit, Reformen zu erkämpfen, die nicht gleich wieder rückgängig gemacht werden, verwandelte die Gewerkschaften, die diese Reformfunktion hatten, notwendigerweise in Instrumente des Staatskapitalismus, der Bewahrung der herrschenden Ordnung, der Kanalisierung des Arbeiterwiderstands in Sackgassen. Die Gewerkschaften sind somit seit rund 100 Jahren zur Polizei in den Reihen der Arbeiterklasse geworden. Es ist also kein Zufall, wenn der Gewerkschaftsapparat heute als Teil der staatlichen Strukturen (z.B. im Parlament oder bei den paritätischen Kommissionen) erscheint. Dieser Schein entspricht der tatsächlichen Klassennatur der Gewerkschaften, und zwar nicht bloss der Gewerkschaftsbürokratie, sondern der Gewerkschaften insgesamt (2).

Es ist deshalb zwingend, dass die Gewerkschaften heutzutage nicht mehr die Interessen der Arbeiterklasse vertreten, sondern vielmehr ihr Todfeind sind. Die Revolution wird nicht in und mit den Gewerkschaften erkämpft, sondern ausserhalb und gegen sie. Wer die proletarische Revolution auf seine Fahnen geschrieben hat, muss deshalb die Arbeiter und Arbeiterinnen vor den Gewerkschaften warnen, und nicht kritisch von innen oder aussen diese Organe zu “verbessern” versuchen. Je “besser” sie sind, desto wirksamer für den kapitalistischen Staat.

Auf die Erfahrungen der früheren Generationen zurückgreifen ...

Obwohl der IKS nicht grundsätzlich widersprochen wurde, meinten doch die meisten Teilnehmer, insbesondere auch einige junge Arbeiter und Lehrlinge, die sich in der “Gruppe Rote Autonome” (GRA) zusammengeschlossen haben, es gebe in der heutigen Realität keine Alternative zu den Gewerkschaften. In ihnen seien wenigstens die Arbeiter zu finden, und zwar gerade die kämpferischen unter ihnen.

Es trifft zwar zu, dass die Gewerkschaftsmitglieder Arbeiter sind. Richtig ist auch, dass die meisten Arbeiter, die heutzutage kämpfen wollen, zuerst auf die Gewerkschaften stossen und vielleicht nach einem ersten Kontakt mit ihnen sogar Mitglied werden wollen, wenn sie es nicht schon sind. Dies passierte im letzten Jahr beispielsweise nach dem Streik bei Orange in Lausanne, wo meist junge, nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiter und Arbeiterinnen den Kampf führten und einige dann der Gewerkschaft beitraten. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Gewerkschaften als unausweichliches Schicksal akzeptieren und alle Erfahrungen und Enttäuschungen der Arbeiter in den vergangenen 100 Jahren selber noch einmal erleben müssen. Gerade in den Kämpfen nach 1968, die sich jeweils in Wellen auf zahlreiche Länder und Kontinente ausweiteten, zeigte sich, dass die Gewerkschaften die Kämpfe nicht antreiben und befruchten, sondern sie vielmehr bremsen und verzetteln. Immer wenn die Arbeiter selbstbestimmt für ihre Ziele kämpften, stiessen sie sofort auf den Widerstand der Gewerkschaften, die den Kampf offen oder versteckt sabotierten. Es ist gerade heute wichtig, sich an die Beispiele aus der Zeit zwischen 1968 und 1989 zu erinnern, wo die Arbeiter nicht nur diese Erfahrung machten, sondern sich je länger je mehr auch bewusst gegen die gewerkschaftliche Kontrolle zu wehren begannen. Die kämpferischsten Arbeiter in Rheinhausen im Ruhrgebiet, bei den Eisenbahnen in Frankreich und den Krankenhäusern in Italien fand man in den Streiks 1985-88 nicht bei den Gewerkschaften, sondern in den Vollversammlungen der Arbeiter, die die Streiks selber in die Hände nahmen, und wo gegen den Widerstand der Gewerkschaften entschieden wurde, Delegationen zu anderen Betrieben unabhängig von der Branche zu schicken und den Kampf unter der eigenen Kontrolle auszuweiten.

Das Prinzip der Selbstorganisation ist bei der Entwicklung des Klassenkampfes zentral. Wenn die Arbeiter den Kampf aufnehmen, dürfen sie die Initiative und die Kontrolle nie aus den Händen geben, insbesondere nicht den Gewerkschaften überlassen. Die Vollversammlungen entscheiden über die Forderungen sowie über Fortsetzung, Ausdehnung, und Abbruch des Streiks. Die Verhandlungen mit den Unternehmern und dem Staat können nicht an die Gewerkschaften delegiert werden, vielmehr müssen die von der Vollversammlung zu den Verhandlungen Delegierten ständig Rechenschaft über den Stand der Gespräche ablegen, bleiben jederzeit abwählbar und dürfen keine Beschlüsse hinter verschlossenen Türen, ohne Rücksprache mit den Versammlungen fassen. Die Stärke der kämpfenden Arbeiter ist ihre Einheit, nicht das Verhandlungsgeschick einzelner. Die Arbeiter der Lenin-Werft in Danzig haben es 1980 vorgemacht: Als die Regierung mit einer Delegation der Streikenden hinter geschlossener Tür verhandeln wollte, stellten die Arbeiter Mikrofone auf, so dass die ganze Versammlung die Gespräche über Lautsprecher mitverfolgen konnte.

Die Arbeiter sind also in den vergangenen Kämpfen nicht nur auf die Sabotagearbeit der Gewerkschaften gestossen, sondern haben auch die Mittel gefunden, mit denen sie den Kampf selber führen konnten: Vollversammlungen, Streikkomitees, Ausweitung des Kampfes mittels Delegationen, jederzeitige Abwählbarkeit der Verhandlungsdelegationen. In einer revolutionären Situation wie 1917-20 organisierte sich die kämpfende Arbeiterklasse in Räten, die eine Weiterentwicklung derselben Mittel im grossen Massstab und im Hinblick auf die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft sind.

... und die Lehren weitergeben

Die Prinzipien der Selbstorganisierung, der Einheit der Arbeiterklasse, der gemeinsamen Interessen über alle beruflichen und nationalen Grenzen hinweg können und sollen die Revolutionäre überall, wo Arbeiter zusammenkommen und diskutieren, verteidigen: am Arbeitsplatz, auf Demonstrationen, in Streiks. Es gibt keinen Grund, deshalb einer Gewerkschaft beizutreten. Unabhängig und ausserhalb der Gewerkschaft zu kämpfen, heisst nicht, abseits zu stehen, sondern nach Kräften dort zu intervenieren, wo gekämpft wird oder Arbeiter sich treffen, um Fragen des Klassenkampfes zu klären.

Ein Mitglied der GRA erzählte in der Diskussion, dass sie versucht hätten, einen Streik am Arbeitsplatz zu organisieren. Es habe aber nicht funktioniert. Sie hätten nicht gewusst, wie es anzustellen sei.

Auch noch so kampfbereite Arbeiter müssen sich bewusst sein: Einen Streik kann man nicht einfach organisieren; vielmehr muss die entsprechende Unzufriedenheit bei den Arbeitern reifen. Dieser Prozess ist im wesentlichen spontan. Den Kommunisten kommt dabei die Aufgabe zu, die Entwicklung vorauszusehen und die Ziele zu propagieren, nicht aber, künstlich einen Streik anzuzetteln. Die Delegation der IKS verwies in der Diskussion über diesen Punkt auf Rosa Luxemburg, die 1906 aufgrund der Erfahrung der Kämpfe des Vorjahres in Russland in ihrer Schrift Massenstreik, Partei und Gewerkschaften geschrieben hatte: “Wenn uns also die russische Revolution etwas lehrt, so ist es vor allem, dass der Massenstreik nicht künstlich ‚gemacht’, nicht ins Blaue hinein ‚beschlossen’, nicht ‚propagiert’ wird, sondern dass er eine historische Erscheinung ist, die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt.” Dies heisst aber nicht, dass die Revolutionäre einfach warten und zuschauen müssten. Vielmehr unterstrich Rosa Luxemburg die besondere Rolle der klassenbewussten Vorhut des Proletariats: “Sie kann und darf nicht mit verschränkten Armen fatalistisch auf den Eintritt der ‚revolutionären Situation’ warten, darauf warten, dass jene spontane Volksbewegung vom Himmel fällt. Im Gegenteil, sie muss, wie immer, der Entwicklung vorauseilen, sie zu beschleunigen suchen. Dies vermag sie aber nicht dadurch, dass sie zur rechten und unrechten Zeit ins Blaue hinein plötzlich die ‚Losung’ zu einem Massenstreik ausgibt, sondern vor allem dadurch, dass sie den breitesten proletarischen Schichten den unvermeidlichen Eintritt dieser revolutionären Periode, die dazu führenden inneren sozialen Momente und die politischen Konsequenzen klarmacht.” (3)

Die Revolutionäre sollen also nicht das betreiben, was Lenin “Nachtrabpolitik” nannte, d.h. der Masse hinterher traben, sondern der Bewegung vorauseilen, ihre Ziele propagieren und Prinzipien verteidigen.

Aus diesem Grund nahm die IKS-Delegation auch die Berichterstattung des Revolutionären Aufbaus über die verschiedenen Streiks in der Schweiz aufs Korn. In den Publikationen des Aufbaus erschöpfen sich die Artikel zur gesellschaftlichen Lage in einer Aufzählung von gewerkschaftlichen Aktionen in den einzelnen Betrieben und Branchen: Tamedia, Allpack, Zyliss, Isotech, Maler und Gipser etc. Diese Berichte sind eine Glorifizierung der Gewerkschaften. Ausser der “reaktionären christlichen Gewerkschaft” Syna wird keine kritisiert, geschweige denn, dass das Gewerkschaftswesen als solches in Frage gestellt würde. Verdient eigentlich der Aufbau das Attribut revolutionär? P/J, 12.07.04

1) Vgl. dazu den Artikel “Wie Niederlagen der Arbeiter als Siege verkauft werden” in Weltrevolution Nr. 124

2) Vgl. dazu unsere Broschüre “Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse”

3) Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften in Gesammelte Werke Bd. 3, S. 100 u. 146

Erbe der kommunistischen Linke: