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In den 1970er Jahren gab es eine Kampagne, gemäss der die Wirtschaftskrise ein Auswuchs der Erdölknappheit gewesen sei. Anschließend wurde uns zu Beginn der 80er Jahre von den Reaganomics versprochen, dass die Krise nun durchgestanden sei. Dennoch muss man klar und deutlich erkennen: Seit 30 Jahren, d.h. seit Beginn des erneuten Ausbruchs der historischen Krise, konnten wir niemals einer derart tiefgreifenden ideologischen Kampagne beiwohnen, die darauf abzielt, uns einzubläuen, dass die Krise nun überwunden sei und wir in ein neues Zeitalter der Prosperität eingetreten seien. Gemäss dieser in den letzten Jahren entfesselten Propaganda wären wir jetzt also in der dritten industriellen Revolution. Ein Hauptvertreter dieser Argumentation hat sich folgendermaßen geäußert: ”Es handelt sich hier um ein historisches Ereignis von mindestens ebenso großer Tragweite wie die industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts ... Das Zeitalter der Industrialisierung basierte auf der Einführung und dem Gebrauch von neuen Energiequellen; das Zeitalter der Informatik gründet auf der Technologie zur Herstellung von Wissen, dem Umgang mit Informationen und der Sprachsymbole.”[1] Die Medien trichtern uns ständig ein, dass die Arbeitslosigkeit nun verschwinden wird. Sie beziehen sich dabei auf die Wachstumszahlen des BIP in den USA während der letzten Jahre. Sie schließen daraus, dass der ökonomische Zyklus, der seit Beginn der siebziger Jahre von schwachem Wachstum und periodischen, ständig tieferen Rezessionen gekennzeichnet war, nun überwunden sei. Wir seien jetzt also in eine ununterbrochene Wachstumsperiode geraten, die man nur mit Superlativen beschreiben könne. Und was ist der Grund dafür? Wir leben im Zeitalter der New Economy, die von einer großartigen neuen technologischen Innovation getragen werde: dem Internet.
Was ist nun also der Inhalt dieser Revolution, die die Bourgeoisie dermaßen entzückt? Es geht hier hauptsächlich darum, dass es das Internet oder viel allgemeiner der Aufbau von neuen Telekommunikationsnetzen erlaube, Informationen viel schneller auszutauschen und effizienter zu verwalten und zwar völlig unabhängig von der Distanz. Dies wiederum erlaube zuallererst Käufer und Verkäufer auf globaler Ebene zusammenzuführen. Kauf und Verkauf seien deshalb unabhängig von Verkaufsstellen und Verkaufsdienstleistungen durch die Unternehmen, was wiederum eine Verringerung der Kosten nach sich ziehe. Jeder Produzent habe jetzt durch das Internet sofortigen Zugriff auf den Weltmarkt, was eine enorme Ausdehnung des Marktes bedeute. Der Verkauf von Waren im Internet erfordere wichtige technologische Kenntnisse, was wiederum die Gründung von neuen Unternehmen begünstige. Die bekannten Start-ups versprächen denn auch eine blendende Zukunft für Profit und Wachstum. Dies ziehe wiederum eine höhere Produktivität in den industriellen Unternehmen nach sich, da eine solch hohe Verkehrsdichte an Informationen eine bessere Koordination und somit tiefere Kosten für Kleinbetriebe, Dienstleistungen und Ateliers bedeuten würden. So könne man auch die Lager reduzieren, da Produktion und Verkauf nun ja unmittelbar miteinander verknüpft werden könnten. Auch die Werbekosten sänken, da eine einzige Werbewebseite ja alle Online-Kunden erreiche. Die Medien weisen auch auf einen anderen wichtigen Punkt mit weitreichenden politischen Folgen hin: Die Internetinnovationen beruhten einzig und allein auf Wissen und nicht auf teuren Maschinen. Man stehe also vor einer Demokratisierung von Innovationen, alle könnten Start-ups in die Wege leiten und somit könnten alle vom Reichtum profitieren.
Trotz der triumphierenden medialen Schreie kann man bereits eine ganze Reihe von davon abweichenden Nachrichten lesen, die doch den Zweifel an der Realität eines neuen großartigen Zeitalters wecken: Einerseits sind alle mit der Feststellung einverstanden, dass sich das Elend auf der Welt ständig vergrößert, dass auch die Ungleichheit in den entwickelten Ländern im Zunehmen begriffen sind und dass die berühmten Start-ups, statt sich in Richtung der prunkvollen Zukunft zu bewegen, die ihnen von den Propagandisten der New Economy gezeigt worden ist, immer zahlreicher einfach zusammenbrechen. Man kann sich also fragen, ob nicht eine Anzahl dieser bis zum Hals verschuldeten Unternehmer nicht einfach das Heer der neuen Armen vergrößern werden. Andererseits treiben einer ganzen Reihe von Ökonomen die Kursbewegungen an der Börse im allgemeinen und diejenigen der Aktien im Bereich der neuen Technologien den kalten Schweiß auf die Stirn. Sie sehen, dass hier das Risiko einer Finanzkrise sehr hoch ist. Würde sie ausbrechen, könnte sie durch die Weltwirtschaft nur schwer aufgefangen werden.
Der Mythos des Produktivitätswachstums
Um die Bedeutung der New Economy wirklich seriös zu beurteilen, muss man zuallererst einmal von der Behauptung vieler Experten ausgehen, dass das Wachstum der Arbeitsproduktivität in der amerikanischen Wirtschaft nach einer Abnahme seit Ende der sechziger Jahre, in denen es bei 2,9% stand, seit einigen Jahren ständig gestiegen sei. In den neunziger Jahren habe es 3,9% betragen[2]. Dieser Umschwung belege den Eintritt der Wirtschaft in ein neues Zeitalter.
Diese Zahlen sind alles andere als über alle Zweifel erhaben: R. Gordon von der Northwestern Universität in den USA schätzt, dass die stündliche Arbeitsproduktivität von 1,1% im Jahr 1995 auf 2,2% zwischen 1995 und 1999 angestiegen sei (Financial Times 4.8.1999). Weiter sind sie für viele Statistiker ganz einfach nicht beweiskräftig und zwar aus folgenden Gründen:
- Die Rentabilität aller produktiven Investitionen hat nur wenig zugenommen, was bedeutet, dass die Zunahme der Arbeitsproduktivität nur durch eine Erhöhung des Tempos und somit der Ausbeutung der Arbeiterklasse zustande gekommen sein kann.
- Die Produktivität weist ständig die Tendenz zum Anstieg auf, wenn man sich auf dem Höhepunkt eines Aufschwungs befindet, was in den USA 1998-1999 der Fall war. Die Produktionskapazitäten sind in einer solchen Zeit besser ausgelastet.
- Schließlich ist vor allem im Bereich der Computerproduktion die Produktivität angestiegen. Die Financial Times hat dieser Umstand zu folgender Aussage veranlasst: ”Der Computer steht am Ursprung des Wunders der Produktivität in der Computerproduktion.” (Ebd.)
Der Kapitalismus realisiert also angetrieben von der Konkurrenz - wie er das immer getan hat - technische Fortschritte. Die Zahlen zeigen keinesfalls, dass wir uns in einer außergewöhnlichen Phase befinden würden, die einen wirklichen Bruch mit den vergangenen Jahrzehnten darstellen würde.
Die historischen Vergleiche zwischen der industriellen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts und den heutigen Ereignissen sind vollkommen irreführend. Die Einführung der Dampfmaschine und die großen Innovationen des 19. Jahrhunderts haben dazu geführt, dass der Arbeiter eine viel größere Menge von Gebrauchswerten in der gleichen Arbeitszeit herstellen konnte. So konnte die Bourgeoisie einen größeren Mehrwert herauspressen. Gewiss erzielte man im 20. Jahrhundert und insbesondere in den letzten 30 Jahren mit der Automatisierung der Produktion ein Wachstum der Arbeitsproduktivität. Dieser Umstand lieferte der Bourgeoisie und ihren Experten das Argument, dass der Arbeiter im weißen Kittel kein Arbeiter mehr (die Roboter arbeiten ja ganz alleine!) und die Arbeiterklasse logischerweise im Verschwinden begriffen sei.
Beim Internet geht es überhaupt nicht um diese Fragen. Mit diesem Vorgehen produziert der Arbeiter in einer gegebenen Zeitspanne ständig dieselbe Menge. Vom Standpunkt der Produktion aus ändert das Internet rein gar nichts. Mit der Kampagne über die New Economy will uns die Bourgeoisie glauben machen, dass der Kapitalismus eine Welt aus Waren sei, ohne dass diese erst produziert werden müssten. Somit will sie auch den Umstand verwischen, dass die Arbeiterklasse das wirkliche Herz dieser Gesellschaft ist, d.h. diese Gesellschaft existieren lässt.
Die Verminderung der Handelskosten kann die Krise nicht verhindern
Aber selbst wenn das Internet oder auch eine andere Innovation eine Senkung der Verkaufskosten eines Produktes nach sich zieht, wie das auch die Eisenbahnen im 19. Jahrhundert mit der Verminderung der Transportkosten um den Divisor 20 und somit auch der Verkaufspreise erreicht haben, wird dies kein neues Wirtschaftswachstum auslösen können. Die Eisenbahnen erlaubten ein starkes Wirtschaftswachstum, weil sie Güter für einen expandierenden Markt transportierten. Damals eroberte der Kapitalismus gerade den gesamten Planeten, und er konnte sich so neue Absatzmärkte öffnen. Heute existiert aber kein solcher Markt mehr[3], der Verkauf durch das Internet kann also nur das Verschwinden oder die Verminderung einer ganzen Reihe wirtschaftlicher Aktivitäten nach sich ziehen. In der Folge verschwinden also Stellen, die nicht durch neue im Internetbereich ersetzt werden. Gerade diese Technologie erlaubt es zu sparen, sei es nun im Verkauf an Kunden oder im Verkauf zwischen Unternehmen. Das gleiche Lied kann man von der mit dem Internet angeblich möglichen Restrukturierung von Unternehmen singen. Selbst John Chambers von Cisco, einem der wichtigsten Unternehmen im Bereich der neuen Technologien, sagt: ”Wir haben durch den Gebrauch des Internets für den Informationsaustausch zwischen den Angestellten, den Lieferanten und den Kunden bereits Tausende von Stellen gestrichen ... Dasselbe gilt für die Kostenabrechnungen. Heute sind nur noch zwei Personen für die Spesenabrechnungen unserer 26000 Angestellten zuständig ... So konnten wir bereits 3000 Stellen im Servicebereich streichen” (Le Monde, 28.3.2000). Und damit auch wirklich alles klar ist, fügt er noch hinzu: ”In zehn Jahren wird jedes Unternehmen, das nicht vollständig auf das Internet umgestiegen ist (d.h. nicht all diese Stellen gestrichen hat), schließen.” Die Einkommen, die diese Unternehmen ausschütten, nehmen also ab, was die globale zahlungsfähige Nachfrage offensichtlich nicht erhöhen, der Weltwirtschaft also keinen Anstoß geben kann. Wenn die nötigen außerkapitalistischen Gebiete fehlen - und dies ist in der dekadenten Periode der Fall -, kann keine Innovation die Krise lösen, selbst wenn sie neue Stellen schaffen würde. J. Chambers fügt hinzu, dass er ”die 3000 Personen im Bereich der Forschung und Entwicklung angestellt” habe, aber dies ist nur möglich, weil die Installationswelle im Internetbereich Cisco gegenwärtig hohe Verkaufsabschlüsse bringt. Sobald diese Welle im Abflauen begriffen ist, wird sich diese Firma keine dermaßen große Forschungs- und Entwicklungsabteilung mehr leisten können.
Der Internetblase geht die Luft aus
Es gibt also nichts wirklich Neues über die Wirtschaftsentwicklung zu berichten. Und auch die Bourgeoisie, die verzweifelt die Zeichen eines neuen Aufschwungs in einem hypothetischen Kondratieff-Zyklus sucht, d.h. einem alle 50 Jahre alternierenden Zyklus von Krise und Aufschwung[4], wird nichts Neues finden. Den Beweis dafür hat ein Börsenkrach bei den Technologieaktien in diesem Frühling erbracht. Zwischen dem 10. März und dem 14. April ist der Index für diese Werte in den USA, der NASDAQ, um 34% eingebrochen. Internetunternehmen wie Boo.com - finanziert von so mächtigen Banken wie J.P. Morgan und dem französischen Geschäftsmann B. Arnault - sind bankrott gegangen. Das sind Konkurse, die weitere nach sich ziehen werden, in Finanzkreisen zirkulieren Listen mit Internetunternehmen, die ernsthafte Schwierigkeiten haben.[5] Man muss hier insbesondere auch Amazon nennen, der ein großes Internetportal eröffnete und der in Seattle ebenso bekannt ist wie Boeing. Seine finanziellen Schwierigkeiten ziehen neue Erschütterungen an der Wall Street nach sich. Das Forschungsinstitut Gartner Group behauptete, dass 95% bis 98% aller Unternehmen in diesem Sektor bedroht seien (Le Monde, 13.6.2000) und dass dies die Bestätigung der Tatsache sei, dass deren kürzlicher unglaublicher Aufschwung auf nichts anderes als eine spekulative Blase, die nur Luft enthalte, zurückzuführen sei.
Und wenn keine New Economy existiert, dann ist das Internet auch nicht das Mittel, um die ganze Wirtschaft in Schwung zu bringen. Einer der Gründe für den absehbaren Zusammenbruch von Amazon.com liegt darin, dass die konkurrenzierten Verteilunternehmen nun reagieren. Die Nummer 1 dieses Sektors, Wal Mart, verkauft nun nämlich auch über das Internet. Angesichts der Konkurrenz durch diese neuen Unternehmen, die die ”alten” großen Unternehmen zu verschlingen gedroht hatten, reagierten diese mit den gleichen Mitteln. Ein Kader eines französischen Verteilunternehmens erklärt dies so: ”Bei Promedès sagten wir uns, wenn wir nicht aktiv bleiben, so wird auf jeden Fall ein anderer unsere Aktivitäten übernehmen” (Le Monde, 25.4.2000). Dieser Kadermitarbeiter gibt implizit zu, dass die Unternehmen, die ebenfalls den Verkauf über das Internet einführen, keine neuen Arbeitsplätze schaffen (wir haben dies bereits im Falle Ciscos gesehen), sondern sogar Entlassungen vornehmen. In der gleichen Ausgabe von Le Monde steht auch, dass die Internetaktivitäten zumindest teilweise für die Streichung von 3000 Stellen bei der britischen Bank Lloyd’s TSB, von 1500 bei dem Versicherer Prudential verantwortlich seien und dass die amerikanische Computer-Verkaufskette Egghead Software 77 von 156 Filialen geschlossen habe.
Dies sind die realen Auswirkungen der sogenannten New Economy auf die kapitalistische Wirtschaft. Die Maßnahmen der Unternehmen in bezug auf das Internet sind nichts anderes als ein Moment des tödlichen Konkurrenzkampfes, den sich die Kapitalisten angesichts des bereits seit längerer Zeit gesättigten Marktes liefern. Dieser Wirtschaftskrieg kann auch anhand der Welle von Fusionen und Akquisitionen wahrgenommen werden, die bereits vor einem Dezennium angerollt ist und sich nun noch verstärkt. Diese Unternehmen müssen jetzt danach trachten, sich des Produktivapparats und des Markts der Konkurrenten zu bemächtigen, um sich auf dem Weltmarkt zu etablieren. ”1999 hat sich dieser Markt um 123% ausgedehnt und ein Volumen von 1870 Mrd. frz. Francs erreicht (...) Ein Wettlauf auf Weltebene ist im Gang.” (Le Monde, 11.4.2000) Im Rahmen der Dekadenz des Kapitalismus ist es zumindest ein Mittel jedes Sektors der Bourgeoisie, um der Konkurrenz die Stirn zu bieten: Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse. Man weiß, dass solche Riesenfusionen in den meisten Fällen mit Entlassungen zu Ende gehen.
Die Börsenhausse bei den New-Economy-Unternehmen hat übrigens auch alle anderen Börsenwerte in die Höhe gezogen. Dies darf aber keinesfalls als Zeichen einer neuen Phase hohen Wirtschaftswachstums verstanden werden, sondern ist lediglich das Ergebnis des seit Jahrzehnten unternommenen Versuchs der bürgerlichen Staaten, der Krise, in die die Wirtschaft immer tiefer hineinschlittert, Einhalt zu gebieten. Als Beispiel sei hier die Verschuldung angeführt: Gemäss dem Generaldirektor von Altavista Frankreich würde es ausreichen, ”200000 Francs unter einigen Freunden zusammenzulegen, um von Risikoinvestoren weitere vier Millionen zu erhalten, von denen dann die Hälfte in Werbung fließt, bevor weitere 20 Millionen an der Börse beschafft werden könnten” (L’Expansion, 27.4.-11.5.2000). Von Standpunkt der Kapitalakkumulation ist dies natürlich eine reine Absurdität. Da es keine Möglichkeit gibt, wirklich produktiv zu investieren, fließt das Geld halt in unproduktive Aktivitäten wie beispielsweise in die Werbung und endet schließlich in der Spekulation, sei es nun im Bereich der Börse, des Geldes oder des Erdöls.[6] Nur auf diese Weise kann man erklären, weshalb die Aktienkurse der neuen Technologien, bevor sie schließlich einbrachen, innerhalb eines Jahres um 100% angestiegen waren, während die entsprechenden Unternehmen nur Verluste geschrieben hatten.
Es handelt sich hier um keine neue Erscheinung, denn die Bourgeoisie entwickelt seit der Krise von 1929, die nicht zu einem spontanen Wiederaufschwung geführt hat, wie dies noch nach den Krisen des 19. Jahrhunderts der Fall gewesen war, die unproduktiven Bereiche, um der Krise die Stirn zu bieten. Eine gewisse Anzahl der bürgerlichen Zeitungen können diesen Umstand nicht verhehlen: ”Die Internetwirtschaft kann vielleicht die Produktivität langfristig beeinflussen, aber die Schuldenwirtschaft ist der Ursprung dieser Entwicklung ... Die aufsteigende Phase ist mit dem Kredit viel eher unterstützt worden als durch die neuen Technologien, die nichts als ein Alibi für die Spekulation sind.” (L’Expansion, 13.27.4.2000) Und tatsächlich kann diese Spekulation zu nichts anderem führen, das haben die letzten 20 Jahre gezeigt, als zu Erschütterungen in der Finanzsphäre, wie wir dies gerade jetzt erleben.
Die New Economy versteckt die Angriffe gegen die Arbeiterklasse
Die Realität der New Economy zeigt, dass die ganze Medienpropaganda über die Verwandlung der Gesellschaft durch das Internet, die uns alle als im Netz arbeitend und von den Innovationen profitierend und im selben Atemzug auch als Aktionäre darstellen, nichts als ein Bluff ist. Die Gründeraktionäre der Start-ups, die nun zusammenbrechen, können sich durchaus in der größten Not wieder finden. Und alle, die durch die Werbung mit der Möglichkeit von erheblichen Gewinnen mit nur 20% des Aktienwertes als Einsatz zum Kauf von Internetaktien verleitet worden sind, sind nun nach dem Krach gezwungen, während einer längeren Zeit einen Teil ihres Einkommens für die Rückzahlung der Schulden bei der Bank zu benutzen.
Wenn man die Lohnabhängigen mit Aktienoptionen entlohnt, wenn man sie zum Kauf von Fonds verleitet, verwandelt man sie noch lange nicht in Aktionäre, sondern beschneidet sie nur auf zweifache Weise. Einerseits stellt der Teil des Einkommens, den der Arbeiter dem Unternehmen überlässt, nichts anderes als eine Erhöhung des Mehrwertes und eine unmittelbare Verminderung des Einkommens dar. Anderseits bedeutet dies, trotz aller verlockender Angebote, die den Lohnabhängigen zu einem Aktionär der Firma machen sollen, nichts anderes als dass das Kapital den Lohn des Arbeiters von den zukünftigen Ergebnissen des Unternehmens abhängig macht: Wenn die Kurse fallen, fällt auch des Einkommen des Arbeiters. Der Volkskapitalismus, der heute unter der Parole der ”Republik der Aktionäre” so stark in Mode ist, ist doch nur ein Mythos, denn die Bourgeoisie, ob sie sich nun im Staatsapparat oder in der Direktion von Unternehmen befindet, ist Inhaberin der als Kapital wirkenden Produktionsmittel. Sie kann das Kapital nur durch die Ausbeutung der Arbeiterklasse gewinnbringend anwenden. Der Arbeiter kann weder den ganzen noch Teile des Gewinns erhalten, denn gerade um einen Gewinn zu erhalten, muss der Arbeiter nach dem Wert seiner Arbeitskraft bezahlt werden.[7] Die Bourgeoisie hat die Pensionsfonds und den Arbeiteraktionär nur hervorgebracht, weil die Krise des Kapitalismus derart schwer ist, dass sie mit allen Mitteln danach trachtet, den Wert der Arbeitskraft zu senken, indem sie ihn von den Aktienkursen abhängig macht. Der Zusammenbruch der Technologiewerte zeigt das Risiko, dem die Arbeiter ausgesetzt sind, deren Lohn von der Aktienentwicklung abhängt.
Alles in allem kommt die Anstrengung der Bourgeoisie zur Förderung des Arbeiteraktionärs einer zusätzlichen Attacke auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse gleich, und nicht der Teilhabe der Arbeiter an einem Teil des Profits. Genau so wie die Bourgeoisie durch die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen die Mittel hat, Arbeiter von einem auf den nächsten Tag zu entlassen, wenn es das Interesse des Kapitals erheischt, hat sie mit dem Arbeiteraktionär die Mittel in der Hand, das Einkommen oder die Rente des Arbeiters zu senken, wenn sich die Situation des Unternehmens oder des Kapitals verschlechtert.
Dieser wirtschaftliche Angriff steckt hinter der ohrenbetäubenden Kampagne über die New Economy. Der Anschluss des Unternehmens ans Netz bedeutet, dass die Informationen sofort verfügbar sind. Somit entfällt jegliche Pause zwischen zwei Arbeiten. Sobald die eine Arbeit erledigt ist, muss man zur nächsten übergehen, für die man ja auch bereits über das Netz den Auftrag bekommen hat. Jede Arbeit kann jederzeit angepasst werden usw. Teuflisch wird es, wenn die Aufträge immer schneller hereinkommen. Nur so kann man verstehen, dass ”mindestens ein Drittel der mit dem Netz verbundenen Arbeiter mindestens 6,5 Stunden in der Woche zu Hause arbeiten, um Ruhe zu haben” (Le Monde, 13.4.2000). Das auf den ersten Blick sehr großzügige Geschenk eines Computers, den gewisse Unternehmen (Ford mit 300000 Arbeitern, Vivendi mit 250000, Intel mit 70000) ihren Arbeitern zukommen lassen, zeigt sehr gut, wie man die Arbeiter zur ständigen Arbeit zwingen möchte. Der wiederholten Leugnung dieses Umstandes mangelt es nicht an Dreistigkeit, wenn Ford mit diesem Geschenk darauf abzielt, dass ihre Arbeiter ”den Kunden schneller antworten können” und sie ”die Gewohnheit eines schnelleren Informationsaustausches” annehmen. Ständig mehr Experten der Arbeitsorganisation sagen, dass man in der Informationsgesellschaft überhaupt nicht mehr wisse, ”wo die Arbeit beginnt, und wo sie endet”, und dass der Begriff Arbeitszeit zunehmend an Konturen verliere, was wiederum durch Arbeiter bestätigt wird, die nach Belieben zu Hause kontaktiert werden können und ”nie zu arbeiten aufhören” (Libération, 26.5.2000). Tatsächlich wäre das Ideal der Bourgeoisie, wenn alle Arbeiter sich wie die Gründer eines Start-ups im Silicon Valley verhalten würden, die ”13 bis 14 Stunden am Tag, sechs Tage in der Woche arbeiten, in Räumen von 2 mal 2 Metern wohnen ..., ohne Pause, ohne Frühstück, ohne kollegiale Treffen in der Cafeteria” (L’Expansion, 16.-30.3.2000). Diese Arbeitsbedingungen sind die Regel in allen Start-ups weltweit.
Der Angriff gegen das Bewusstsein der Arbeiterklasse
Die große Medienkampagne verfolgt noch ein weiteres Ziel. Hinter der New Economy, in der jeder mit dem Netz arbeitet, sich in einen Innovator und Aktionär verwandelt, steckt ein gewaltiger Bluff, allerdings einer von großer Tragweite.
Er unterstellt, dass die Gesellschaft, zumindest diejenige der Industrieländer, eine reale Verbesserung erfahren werde und dass deshalb die Unternehmen, die Verwaltung, in denen die Existenzbedingungen der Arbeiter angegriffen würden, nur eine Randerscheinung, eine Ausnahme, darstellten. Wenn diese Arbeiter Widerstand leisteten, so wäre dies ein rückwärtsgewandter, anachronistischer Kampf, der in der Isolation enden würde. Die Propaganda über die New Economy ist ein Mittel, die Arbeiter zu demoralisieren, damit sich ihre Unzufriedenheit nicht in Kampfkraft umwandelt.
Weiter unterstellt er nichts Geringeres, als dass die Gesellschaft sich derart tiefgreifend am verändern sei, dass der Kapitalismus überwunden werde und somit auch alle Projekte zum Umsturz des Kapitalismus überholt seien. Man sagt uns, dass derjenige, der in der New Economy arbeite, reich werden würde, was logischerweise bedeuten würde, dass die materiellen Bedingungen des Arbeiterdaseins überwunden würden. Wer sich allerdings nicht dieser Trilogie von Netz-Innovator-Aktionär anpasse, werde Opfer einer größeren Einkommensungleichheit. Die Gesellschaft sei also nicht mehr in Bourgeoisie und Arbeiterklasse aufgeteilt, sondern in Involvierte und Ausgeschlossene der New Economy. Und um den Nagel noch ganz reinzuschlagen, behauptet man, dass die Teilhabe an der New Economy von der Intelligenz und vom Willen abhänge: ”Entweder bist du reich oder ein Trottel”, behauptet die Zeitschrift Business 2.0.
All dies wird durch die Propaganda vervollständigt, wonach sich die Unternehmen, der Ort, an dem Wert geschaffen und die Arbeitskraft ausgebeutet wird und sich die Klassen zeigen, sich umwandeln würden. Alle, die an der New Economy partizipierten und Zugriff zum Reichtum hätten, könnten nicht mehr als Arbeiter bezeichnet werden. Die Arbeit im Betrieb, da wo der Reichtum hergestellt werde, sei nicht mehr geteilt zwischen Kapitalist, d.h. Inhaber des Kapitals, und Arbeiter, d.h. Besitzer der Arbeitskraft: ”Die New Economy bedeutet mehr Mannschaft: Die Angestellten bilden ein wirkliches Team, sie haben durch die Aktien teil am Reichtum der Unternehmen”, sagt der Präsident der BVRP Software (Le Monde Diplomatique, Mai 2000).
Diejenigen allerdings, die sich nicht in die New Economy einfügen, schlecht bezahlte und präkarisierte Arbeiter und Arbeitslose, bilden noch immer die große Mehrheit der Gesellschaft. Die Klasse, die den gesellschaftlichen Reichtum herstellt, wird nicht durch den Studenten aus Silicon Valley oder anderswo repräsentiert, der sich durch das Trugbild vom Reichtum in Griffweite blenden lässt. Die den gesellschaftlichen Reichtum produzierende Arbeiterklasse ist diejenige, die von der Bourgeoisie ständig mehr ausgebeutet wird; und wenn die Ausbeutung nicht mehr funktioniert, wird der Arbeiter aufs Pflaster geworfen und aus dem produktiven Prozess ausgeschieden. Angesichts dieser Angriffe hat die Arbeiterklasse keine andere Wahl als zu kämpfen. Das Bewusstsein, das die Arbeiter über die Notwendigkeit dieses Kampfes und seinen Perspektiven haben, sind für ihn lebenswichtig.
Die ideologischen Kampagnen zur New Economy haben die gleichen Themen zum Inhalt und verfolgen dieselben Ziele wie diejenigen, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 entfesselt worden sind.
Einerseits zielt man darauf ab, der Arbeiterklasse ihre Identität zu rauben, indem man die Gesellschaft als eine Gemeinschaft von Bürgern präsentiert, in der die sozialen Klassen, die Trennung von Ausbeuter und Ausgebeuteten sowie ihre Konflikte verschwunden seien. Gestern war es der Zusammenbruch der Regime, die sich als ”sozialistisch” und arbeiterfreundlich darstellten, die für diese Behauptungen herhalten mussten; heute ist es der Mythos, dass die Herren und die Arbeiter dieselben Interessen hätten, da sie ja jetzt alle Aktionäre desselben Betriebes seien.
Anderseits will man der Arbeiterklasse jegliche Perspektive außerhalb des Kapitalismus rauben. Gestern musste dafür der ”Zusammenbruch des Sozialismus” herhalten. Heute ist es die Idee, dass der Kapitalismus, selbst wenn er seine Fehler habe, nicht in der Lage sei, das Elend zu beseitigen, noch die Kriege, noch die Katastrophen aller Art, er doch eben das ”am wenigsten schlechte aller Systeme” sei, da er trotz allem in der Lage sei zu funktionieren, den Fortschritt zu garantieren, die Krisen zu überwinden.
Aber selbst die Tatsache, dass die Bourgeoisie solche ideologischen Kampagnen für notwendig erachtet, die Tatsache, dass sie sich auf neue wirtschaftliche Angriffe vorbereitet, bedeutet, dass sie kaum an die verzauberte Welt der New Economy glaubt. Die Verfälschungen der politischen Ökonomie durch den amerikanischen Notenbankpräsidenten A. Greenspan, um eine weiche Landung der amerikanischen Wirtschaft herbeizuführen nach Jahren der Verschuldung, der wachsenden Handelsdefizite, der jetzt wieder signifikant ansteigenden Inflation in den USA, bedeuten nicht, dass wir jetzt die Perspektive eines unvorstellbaren Wirtschaftswachstums hätten. Weiche Landung oder noch schlimmere Rezession sind nichts anderes als die Bestätigung der marxistischen Analyse: Der Kapitalismus ist nach der Wiederaufbauphase nach dem zweiten Weltkrieg in die offene Wirtschaftskrise zurückgekippt, die er nicht überwinden kann. Diese Krise wirft einen immer größeren Teil der Menschheit in die absolute Verarmung und ist der Grund für die ständig härteren Lebensbedingungen für die Gesamtheit der Arbeiterklasse. Die Zukunft des Kapitalismus bietet uns nichts anderes als eine ständige und schreckliche Zunahme all dieser Übel. Einzig die Arbeiterklasse hat die Fähigkeit, eine Gesellschaft zu errichten, in der der Überfluss herrschen wird, weil sie allein in der Lage ist, die Grundlage für eine Gesellschaft zu bilden, die zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse und nicht des Profits einer Minderheit produziert. Diese Gesellschaft nennt sich Kommunismus.
JS, Juni 2000
[1] Interview mit Manuel Castells (Professor an der Universität von Berkeley), in: Problèmes économiques Nr. 2642, 1.12.1999
[2] Business Review, Juli/August 1999. Diese Zeitschrift publiziert die Zahlen der Handelsabteilung der amerikanischen Regierung.
[3] Siehe den Artikel von Mitchell: ”Krisen und Zyklen in der niedergehenden kapitalistischen Wirtschaft” in International Review Nr. 102 und 103 (engl./frz./span. Ausgabe) und die Broschüre der IKS ”Die Dekadenz des Kapitalismus”.
[4] In den 1920er Jahren hat N. Kondratieff diese Theorie entwickelt, nach der die Weltwirtschaft einen Zyklus von Krise und Aufschwung von ca. 50 Jahren durchläuft. Diese Theorie hat für die Bourgeoisie den großen Vorteil, dass auf eine Krise der Aufschwung ebenso sicher folgt wie die Sonne auf den Regen.
[5] ”Peapod.com, CDNow, salon.com, Yahoo!...” in: Le Monde, 13.6.2000
[6] Wir schrieben bereits in der am 14. Kongress von unserer Sektion in Frankreich verabschiedeten Resolution (siehe Weltrevolution Nr. 102): ”Die Besessenheit, welche Investoren ergriffen hat, in die ‚Neue Ökonomie‘ zu investieren, ist nichts anderes als ein Ausdruck der Sackgasse der kapitalistischen Wirtschaft. Marx hatte schon zu seiner Zeit aufgezeigt, dass die Börsenspekulation nicht ein Zeichen für die Gesundheit der Wirtschaft, sondern für den sich anbahnenden Bankrott ist.” (Punkt 4)
[7] Für eine detailliertere marxistische Analyse des kapitalistischen Ausbeutungsprozesses siehe den bereits zitierten Artikel von Mitchell.