Die Furcht der Herrschenden vor dem Virus der Revolte

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Revolten sind ansteckend, vor allem wenn ein immer größerer Teil der Weltbevölkerung aufgrund der Zuspitzung der kapitalistischen Wirtschaftskrise vor einer ständig wachsenden Armut steht. Die herrschende Klasse hat die Krise überhaupt nicht im Griff und wird zunehmend besorgter wegen des wachsenden Widerstands gegen ihre Sparpolitik. Diese Sorge äußert sich auf zweierlei Art: in dem Versuch, Konzessionen zu machen und ihre Herrschaft zu „demokratisieren“, und gleichzeitig im Ausbau ihres gesamten Repressionsapparates. 

Ägypten: die Volksarmee gegen das Volk

Das Zentrum der Epidemie befindet sich offensichtlich in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten. Mubarak ist bislang der wichtigste Skalp, den die Bewegung, die sich im Nahen und Mittleren Osten entfaltet hat, erobert hat. Ägypten ist eine wichtige Regionalmacht, hier gibt es auch eine stärker entwickelte Arbeiterklasse, die auf eine Geschichte von Kämpfen zurückblicken kann. Der Rücktritt von Mubarak hat aber nicht zur Auflösung der Bewegung geführt. Am 25. Februar fanden erneut Massenproteste auf dem Tahir-Platz in Kairo statt, es wurde gefordert, dass der Rest der Mubarak-Regierung (der noch immer im Amt ist) zurücktritt. Als mehrere Hundert der entschlossensten Demonstranten Anstalten machten, auf dem Tahir-Platz zu übernachten, stießen sie auf die geballte Kraft der „demokratischen“ Armee. Die Website „Occupied  London“ (die direkte Kontakte zur Bewegung in Ägypten zu haben scheint) zog daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen: „Die traurigen Ereignisse von heute Abend werden hoffentlich die ziemlich irreführende Auffassung, der zufolge ‚das Volk und die Armee vereint‘ seien, begraben und aufzeigen, dass das wahre Bild der Lage in Ägypten besser zusammengefasst wird durch den Spruch, dass ‚Armee und Polizei vereint vorgehen‘. Eine Gruppe von mehreren Hundert friedlichen Protestierenden, die versuchten, die Nacht auf dem Tahir-Platz und vor dem Parlamentsgebäude zu verbringen, um gegen die ungebrochene Militärherrschaft und die fortdauernde illegitime Beteiligung des alten Regimes an der Regierung zu protestieren, wurde gewaltsam angegriffen und von der Militärpolizei und von Armeeoffizieren vertrieben und verprügelt. Dabei hörten sie Flüche wie: ‚Ihr könnt nicht mit der Armee herumspringen, die Armee ist kein Freund des Volkes‘. Diese Institution ist genauso ein Teil des Regimes wie alle anderen Vertreter des Systems. Sie stellt nicht nur die gleichen verkrusteten politisch-militärischen Eliten dar, die Ägypten 60 Jahre lang regiert haben, sondern verkörpert auch gewaltige Geschäftsinteressen, die sich auf Günstlingswirtschaft und systematische Korruption stützen. Es gibt keine Zweifel daran, dass die Armee, wenn es nach ihr ginge, den Großteil der bisherigen (politischen und polizeilichen) Infrastruktur des Landes beibehalten möchte, während man gleichzeitig einzubläuen versucht, die Armee sei Verbündeter und Beschützer des Volkes“. (https://www.occupiedlondon.org/cairo/?p=355)

Irak, Iran, Algerien…

Konnten die kapitalistischen Medien die Rebellion in Nordafrika noch als einen “Kampf für die Demokratie” darstellen, so bringt sie die Lage im Irak in einige Erklärungsnöte. Nach einem brutalen Krieg mit anschließender Besetzung, bei der Tausende von Menschen starben, gibt es im Irak nun mittlerweile eine Demokratie, aber in jüngster Zeit gibt es auch im Irak Massenproteste. Zunächst stand die unglaublich schlechte Sicherheitslage (das Leben ist aufgrund all der Kämpfe zwischen rivalisierenden Milizen und den Sicherheitskräften des Staates ständig in Gefahr) neben der Frage der staatlichen Korruption im Vordergrund der Demonstrationen. Aber viele der Demonstranten haben auch Forderungen nach einer besseren Versorgung mit Wasser, Strom usw. gestellt. Die Regierung ist schon zur Subventionierung der Strompreise gezwungen gewesen, um die Wut dämpfen, aber das hat die Proteste bislang nicht wirklich abgewürgt. Bei den jüngsten Protesten am 4. März versammelten sich Tausende im Zentrum Bagdads, um gegen Korruption und Arbeitslosigkeit zu protestieren.

Während die Herrschenden gern Bilder von der brutalen Repression in Ägypten und insbesondere Libyen zeigen, zeigen sie kein Interesse, die blutige Bilanz nach dem gewaltsamen Polizeieinsatz am „Tag des Zorns“, dem 25. Februar, im Irak (29 Tote) zu thematisieren. Auch schweigen sich die Medien über den Versuch aus, die Proteste vom 4. März niederzuknüppeln und mit Wasserwerfern auseinanderzutreiben. Zum Zeitpunkt, als dieser Artikel verfasst wurde, hatten wir wenig Kenntnisse über etwaige Versuche der Arbeiterklasse im Irak, ihren eigenen, autonomen Kampf aufzunehmen, obgleich Ölarbeiter aus Kirkuk Mitte Februar mit Streiks gedroht hatten, so wie seinerzeit in Ägypten. Aber es ist sicher, dass die Reaktion auf die Opposition gegen die irakische „Demokratie“ ziemlich genauso geartet ist wie die gegen die ägyptische „Diktatur“.

Auch der Iran, der vermutlich die bedeutendste Macht in der Region ist, ist von der Protestwelle erfasst worden. Seit 2009 stand die sogenannte „Grüne Bewegung“ an der Spitze der Proteste gegen die Ahmadinejad-Regierung; sie scheint zu versuchen, bei den Protesten ihre eigenen Ziele einzubringen. Auf die Proteste selbst reagierte das Regime mit der üblichen Brutalität und mit Massenverhaftungen. Doch die Arbeiterklasse im Iran hat auch ihre eigene Stimme erhoben. Time schrieb am 22. Februar 2011: „Im letzten Jahr gab es Streiks und Proteste in der Automobilindustrie, in der Reifen-, Zucker-, Textil- und Metallindustrie und im Transportwesen. Viele dieser Proteste drehten sich um ‚Brot-und-Butter-Fragen‘: unbezahlte Löhne, unerwartete Entlassungen, wachsende Arbeitslosigkeit und Kürzungen.“ Vor kurzem fanden in Abadan Streiks in den Ölraffinerien, wo die Arbeiter seit einem halben Jahr mehr keinen Lohn bekommen haben, und Straßenproteste statt. Das iranische Regime ist sehr nervös wegen der Entwicklung in Abadan, wo es eine der weltgrößten Raffinerien gibt, die schon 1979 ein Epizentrum der Revolte gegen den Schah gewesen war.

Nach den Demonstrationen in Algerien im Januar und Februar hat das Regime die Aussetzung der seit 1972 geltenden „Notstandsgesetze“ verkündet. Diese Gesetze wurden unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus erlassen, um jegliche öffentliche Versammlung oder Demonstration zu verbieten. Die Regierung hat auch Schritte zur Bekämpfung der Arbeits- und Obdachlosigkeit angekündigt, zwei Themen, die von den Demonstranten bei den jüngsten Protesten in den Vordergrund gestellt wurden. Natürlich wird diesen Ankündigungen nichts Substanzielles folgen. Mitte Februar wurde eine Demonstration von 2-3.000 Mensch von 30-40.000 Polizisten umzingelt; einer für den 26. Februar geplanten Demonstration ging eine Reihe von Verhaftungen voraus. Trotz der fortdauernden Atmosphäre staatlicher Repression gab es eine entschlossene Demonstration von Studenten in Tizi Ouzu. Auch unter den ArbeiterInnen gibt es Anzeichen wachsender Kampfbereitschaft: 300 Beschäftigte eines Phosphat produzierenden Unternehmens in Annaba demonstrierten vor dem Firmensitz und forderten höhere Löhne und Sozialleistungen. Im Gesundheitswesen fand Anfang Februar ein Streik statt, auch im Erziehungswesen von Bejaïa wurde zwei Tage gestreikt. 

In Tunesien gehen die Proteste trotz des Rücktritts von Ben Ali weiter. Am 25. Februar demonstrierten 100.000 Menschen gegen die „Übergangsregierung“, die von vielen als eine Neuauflage des alten Regimes betrachtet wird. Weitere Proteste haben in Marokko, Jordanien, Jemen und Bahrain stattgefunden, wo die Lage weiterhin angespannt bleibt. Erneut hat die herrschende Klasse auf ihre Art reagiert. Die Polizei tötete sieben Demonstranten in Marokko. In Bahrain ging die herrschende Klasse anfangs äußerst gewaltsam gegen die Demonstranten auf dem Perlenplatz vor, aber dem Rat der US-Regierung folgend, gab sie schließlich nach. In Syrien, wo überall Geheimpolizei  präsent ist, sind die Demonstrationen bislang noch sehr klein geblieben; die Antwort war jedes Mal nackte Repression. 200 Leute, die ihre Solidarität mit den Protesten in Libyen zum Ausdruck bringen wollten, wurden gewaltsam auseinandergejagt.

In Saudi-Arabien versuchte der König wiederum, die Unzufriedenheit durch die Ankündigung von Lohnerhöhungen und die Auszahlung von Sozialleistungen aufzufangen. Und in Erwartung künftiger Proteste wurden alle Demonstrationen verboten. In einer offiziellen Ankündigung heißt es: „Die Gesetzgebung im Königreich verbietet kategorisch jegliche Art von Demonstrationen, Märschen und Sit-ins, da sie im Widerspruch zur islamischen Scharia und den Werten und Traditionen der saudischen Gesellschaft stehen.“ Hinzugefügt wurde, dass die Polizei per Gesetz die Erlaubnis habe, „alle notwendigen Maßnahmen gegenüber Gesetzesbrechern zu ergreifen“.

Asien, Europa, Amerika…

Trotz der Pseudo-Erklärungen der Presse ist die rebellische Stimmung kein „arabisches“ Phänomen. 100.000 Menschen protestierten am 23. Februar in Neu Delhi, um ihre wachsende Unzufriedenheit mit der Arbeitslosigkeit und den steigenden Preisen zum Ausdruck zu bringen. Ein Demonstrant sagte einem Reporter: „Ich verdiene 100-125 Rupien am Tag (2-3 Dollar). Wie kann man damit überleben, wenn die Preise ständig steigen?“ Im Dezember betrug die Inflation 18 Prozent. Auf einem Spruchband stand geschrieben: „Die Preissteigerungen werden noch dazu führen, dass die Leute auf der Straße getötet werden.“

In China fand letztes Jahr eine große Streikwelle statt, und die Regierung ist extrem nervös wegen weiteren Äußerungen von Unzufriedenheit. Sie reagierte auf Aufrufe im Internet zu einer Jasmin-Revolution mit weiteren Zugangsbeschränkungen zum Internet und mit einer massiven Polizeipräsenz auf den Straßen. Es wurden Straßensperren errichtet, um die Bewegungsfreiheit am geplanten Protesttag einzuschränken.

Auch in Südosteuropa haben sich die Lebensbedingungen rapide verschlechtert, und auch hier gibt es einen Nährboden für eine wachsende Unzufriedenheit. In Albanien wurden am 25. Februar bei einem Protest vor Regierungsgebäuden mindestens drei Menschen erschossen. In Kroatien fand eine Reihe von Demonstrationen gegen die Regierung und gegen steigende Lebenshaltungskosten statt. Anfangs hatten zumindest einige der Demonstrationen einen stark nationalistischen Beigeschmack, aber in der jüngsten Zeit ist der Anteil der ArbeiterInnen und StudentInnen gestiegen; man sieht mehr Spruchbänder und Forderungen gegen den Kapitalismus. In Griechenland gab es neben den Jugendrevolten Ende 2008 eine Reihe von Generalstreiks gegen die Regierung und deren sattsam bekanntes Sparprogramm. Zunächst drohten diese eintägigen Streiks unter der strikten Gewerkschaftskontrolle zu Rituale zu verkümmern, doch der letzte, der am 23. Februar stattfand, scheint lebendiger gewesen zu sein. Es gab eine massivere Beteiligung der Beschäftigten der Privatindustrie und des öffentlichen Dienstes, die Banken, Schulen, Krankenhäuser, das Transportwesen und andere Bereiche umfasste. Dabei kam es auch zu Streiks außerhalb der offiziellen Aktionstage. 

Zu den bedeutendsten Kämpfen der letzten Zeit zählt die Mobilisierung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Wisconsin, USA, die die wachsende Unzufriedenheit der amerikanischen Arbeiterklasse kristallisierte. „Zehntausende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes protestieren auf der Straße und besetzen das State Capitol in Wisconsin aus Protest gegen vorgeschlagene Änderungen der Tarifverhandlungen zwischen dem Staat als Arbeitgeber und den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes. Der junge republikanische Gouverneur Scott Walker, der von der Tea Party unterstützt wird, hat ein Gesetz vorgeschlagen, welches den meisten der ca. 175.000 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes Tarifvereinbarungen unmöglich macht, weil sie so keine Verhandlungen über Renten- und Krankenkassenbeiträge mehr führen  könnten und stattdessen nur noch über Löhne verhandeln könnten. Zudem müssten, dem Gesetzesvorschlag zufolge, die Gewerkschaften eine Art jährliche Zulassung von ihren Mitgliedern für die eingeschränkten Kompetenzen bei zukünftigen Tarifverhandlungen erhalten. Feuerwehrleute, die von den vorgeschlagenen Änderungen  nicht betroffen sind (weil ihre Gewerkschaft Walker bei den Novemberwahlen unterstützte), haben ihre Solidarität mit den anderen Beschäftigten bekundet und sich den Protesten angeschlossen, von denen viele meinen, sie seien durch die Welle von Unruhen in Ägypten und anderen Staaten im arabischen Raum inspiriert worden. Viele Protestierende in Wisconsin hielten demonstrativ Plakate hoch, auf denen der ominöse Spitzname Scott ‚Mubarak‘ Walker geschrieben stand, und andere skandierten: ‚Wenn Ägypten Demokratie haben kann, warum nicht Wisconsin? ‘. Protestierende in Ägypten haben sogar ihre Solidarität mit den Beschäftigten in Wisconsin zum Ausdruck gebracht!“ (aus einem Artikel der IKS-Sektion in den USA zu  „Wisconsin – Die Verteidigung der Gewerkschaften führt in die Niederlage“)

Der Konflikt in Wisconsin wird als ein Kampf zur Verteidigung der Gewerkschaften dargestellt, und die meisten Arbeiter fassen diesen auch so auf, so wie Hunderttausende im Mittleren Osten ihren Kampf als einen Kampf für die Demokratie betrachten. Die herrschende Klasse schlachtet diese ideologische Schwäche aus, aber die tieferliegenden Gründe all der gegenwärtigen Revolten sind in Wirklichkeit andere. Die Revolten sind eine notwendige Reaktion gegenüber der wirtschaftlichen Verschlechterung und politischen Repression, die die weltweite Krise des Systems erzwingt. Die Keime einer internationalen Bewegung gegen das Systems sind unübersehbar angesichts der schnellen Ausbreitung der Revolten über Landesgrenzen hinweg und des Aufkommens gemeinsamer Schlachtrufe, die eine echte internationale Klassensolidarität zum Ausdruck bringen. Wenn sich ArbeiterInnen in Ägypten und Amerika bewusst gegenseitig in ihren Kämpfe unterstützen, wird der Weg zur Revolution ein wenig breiter und die herrschende Klasse hat allen Grund zur Besorgnis.       Amos, 5.3.11

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