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Zehntausende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes protestieren auf der Straße und besetzen das State Capitol in Wisconsin aus Protest gegen vorgeschlagene Änderungen der Tarifverhandlungen zwischen dem Staat als Arbeitgeber und den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes. Der junge republikanische Gouverneur Scott Walker, der von der Tea Partyunterstützt wird, hat ein Gesetz vorgeschlagen, welches den meisten der ca. 175.000 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes Tarifvereinbarungen unmöglich macht, weil sie so keine Verhandlungen mehr führen könnten über Renten- und Krankenkassenbeiträge und stattdessen nur noch über Löhne verhandeln könnten. Zudem müssten, dem Gesetzesvorschlag zufolge, die Gewerkschaften eine Art jährliche Zulassung von ihren Mitgliedern für die eingeschränkten Kompetenzen bei zukünftigen Tarifverhandlungen erhalten. Feuerwehrleute, die von den vorgeschlagenen Änderungen nicht betroffen sein würden (weil ihre Gewerkschaft Walker bei den Novemberwahlen unterstützte), haben ihre Solidarität mit den anderen Beschäftigten bekundet und sich den Protesten angeschlossen, von denen viele meinen, sie seien durch die Welle von Unruhen in Ägypten und anderen Staaten im arabischen Raum inspiriert worden. Viele Protestierende in Wisconsin hielten stolz Plakate hoch, auf denen der ominöse Spitzname Scott „Mubarak“ Walker geschrieben stand, und andere sangen: „Wenn Ägypten Demokratie haben kann, warum nicht Wisconsin?“. Protestierende in Ägypten haben sogar ihre Solidarität mit den Beschäftigten in Wisconsin zum Ausdruck gebracht!
Während das US-Außenministerium in den letzten Wochen mehrfach die arabischen Führer zur Zurückhaltung gegenüber den Demonstranten aufgefordert hat, hat Gouverneur Walker damit gedroht, die Nationalgarde einzusetzen, um falls notwendig Repression auszuüben. Einige Armeeveteranenverbände haben darauf geantwortet,dass die Aufgabe der Nationalgarde darin besteht, bei Katastrophen einzuschreiten, aber nicht als persönliche Schlägerbanden im Dienste des Gouverneurs zu handeln. Die politische Lage in Wisconsin gilt als zerbrechlich,da eine Verfassungskrise droht. Alle 14 demokratischen Senatoren sind aus dem Bundesstaat ‚geflüchtet’, weil sie sich weigern, dem durch die Republikaner beherrschten Organ der gesetzgebenden Gewalt die für Abstimmungen notwendige Zahl anwesender Stimmberechtigter zustellen, um das vom Gouverneur vorgeschlagene Gesetz zu verabschieden. Man behauptet, wenn sie auf dem Gebiet des Bundesstaates gefunden würden, würde die Polizei sie verhaften und zum State Capitol zurückbringen. Auf der anderen Seite reden Gewerkschaftsführer und Vertreter der Demokratischen Partei offen davon, den Gouverneur und all die Senatoren, die dessen Projekt unterstützen, abzuwählen.Mit jeder Krise ähnelt die Politik in den USA immer mehr einem Comic.
Die Krise in Wisconsin wurde von den Medien im Landeals der erste große wirkliche Schlag seitens der republikanisch beherrschten Exekutive,die von der Tea Party unterstützt wird, dargestellt, um das politische Ziel der Zerschlagung der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes durchzusetzen, welcheviele Anhänger der Tea Party und derRepublikaner für den quasi Bankrott vieler US-Bundesstaaten verantwortlich gemacht. Diese Republikaner behaupten, die Durchsetzung von Sparmaßnahmen sei notwendig, um einen Staatshaushalt zu verabschieden, der von einem gewaltigen Haushaltsdefizit von 3,7 Milliarden Dollar geplagt wird. Auf der anderen Seite veranstalten die Demokraten und ihre Freunde in den Gewerkschaften ein lautes Geschrei um den republikanischen Gouverneur und seine nationalen Tea Party-Verbündeten; sie schlachten das Haushaltsdilemma aus, um das Ansehen der Gewerkschaften aufzupeppeln. Wer hat Recht?
Es stimmt, dass US-Bundesstaaten genau wie europäische Staaten tatsächlich vor einem Bankrott stehen. Während auf Bundesebene die Bundesregierung immer noch Maßnahmen des‚ quantitative easing’ (d.h. noch mehr Dollars drucken) ergreifen kann, verfügen die Bundessstaaten nicht über solche Privilegien; sie müssen deshalb Dringlichkeitsmaßnahmen ergreifen und drastische Sparprogramme verabschieden, um ihre Haushalte auszugleichen und aufdem Bondmarkt weiter Gelder erhalten zu können. Auf dieser Ebene scheint der Gesetzesentwurf von Gouverneur Walker einem lebensnotwendigen Bedürfnis der Herrschenden nach Senkung der Lohnkosten Rechnung zu tragen und einen dauerhaften Vorteil bei zukünftigen Lohnverhandlungen sicherzustellen. Sein Entwurf würde anderen Staaten bei dem Versuch der Eindämmung der untragbaren Haushaltsdefizite als Vorbild dienen.
Aber auf einer globaleren Ebene sind sich die Herrschenden auch der politischen und sozialen Risiken bewusst, schmerzhafte Angriffe gegen die Arbeiter zurichten, die schon unter hoher Arbeitslosigkeit, eingefrorenen Löhnen, Kurzarbeit und den Folgen des Zusammenbruchs des Wohnungsmarktes stöhnen. Deshalb die bewährte Strategie des schrittweisen Vorgehens auf Bundes- und örtlicher Ebene, und die Vermeidung direkter und frontaler Angriffe gegen Leistungen für Beschäftigte. Dennoch besteht das Risiko, dass der Gesetzentwurf Gouverneur Walkers zu weit geht beider Destabilisierung der Gewerkschaften, da diese als Polizei in den Betrieben tätig sind, um die Wut der Arbeiter aufzufangen; auch könnten dadurch zu große Nachteile für die Demokratische Partei entstehen, die sich auf die Gewerkschaften stützen muss, um Gelder für die Parteikasse aufzutreiben. Die Politik Gouverneur Walkers würde nicht nur die Gefahr beinhalten, die Gewerkschaften dann zu schwächen, wenn die Herrschenden diese am meisten brauchen; die Gefahr besteht auch, dass das Zweiparteiensystem in einem lebenswichtigen swing state (ein bei den Wahlen entscheidenderStaat, den Obama 2008 für sich erobern konnte) durcheinander gewirbelt wird.
Letztes Jahr wurde in Kalifornien gegen Kürzungen imBildungswesen protestiert, und Anfang dieser Woche haben ArbeiterInnen in Ohio gegen ein Gesetz protestiert, das ebenso Befugnisse bei Tarifverhandlungen einschränkt; auch in Indianapolis protestierten Lehrer. Wenn weitere Angriffe erforderlich sein werden, müssen die Herrschenden auf die Gewerkschaften zurückgreifen, um die kämpferischsten Arbeiter im Griff zu halten und sicherzustellen, dass der Kampf sich im Rahmen der Tarifverhandlungen um Löhne und andere Leistungen bewegt, anstatt den Staat zu konfrontieren.
Die Gefahren für die Finanzen Wisconsins sind nicht auf diesen Staat beschränkt. Der Bundesstaat steht dieses Jahr vor einem Haushaltsdefizit von 137 Millionen Dollar, in den nächsten beiden Jahre würde dieses auf 3.6 Milliarden $ anwachsen. Der drastischste Teil der Kürzungen, die Gouverneur Walker fordert, sieht vor, dass die meisten Staatsangestellten die Hälfte ihrer Pensions- und Gesundheitsversicherungsbeiträge selbst bezahlen. Aber diese Schritte ermöglichen dem Staat bis Juni 2011 nur Einsparungen von 30 Millionen $; während der nächsten beiden Jahre sollen 300 Millionen $ gespart werden – dies wären nur 10% des Defizits. Der Rest des Haushaltsentwurfs sieht vor, dass dieses Jahr 165 Millionen $ durch eine Umfinanzierung eingespart werden sollen. Damit hätten die größten Einsparungen nichts zu tun mit den Staatsangestellten. Dies mag für die Beschäftigen als ein Trost erscheinen, nachdem sie gewaltige Steigerungen ihrer Rentenbeiträge und Krankenkassenbeiträge hinnehmen sollen. Schätzungen zufolge entspräche dies Gehaltskürzungen im Durchschnitt von 10% für einen Lehrer in Madison (Hauptstadt des Bundesstaates Wisconsin).
Da die durchschnittliche Verhandlungsdauer bei Tarifrunden 15 Monate beträgt, hat sich der Gouverneur geweigert die Gewerkschaften zu treffen, stattdessen hat er drastische Maßnahmen gefordert,so die Entlassung von 1500 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, falls sein Plan nicht durchgesetzt wird. Er scheint seinem Ruf, als Hardliner auftreten zu wollen, treu zu bleiben. Aber handelt es sich nur um einen Fall eines Republikaners, der versucht, den rechten Flügen seiner Partei durch noch härtere ‚rechte“ Maßnahmen wie die Zerschlagung der Gewerkschaften zu überholen? Walker selbst spricht einedeutliche Sprache. „Für uns ist das eindeutig. Wir sind pleite. Es geht nicht um die Gewerkschaften. Es geht um den Ausgleich des Staatshaushaltes”. (NY Times). Die Gewerkschaftsen wiederum bestreiten die dringlich notwendigen Maßnahmen, denn wie David Ahrens vom UW-Madisons Carbone Cancer Center meinte: “Er wäre eher glaubwürdig, wenn er sich jemals bemüht hätte, mit den Gewerkschaften ins Gespräch zu kommen.“Wisconsin State Journal) .” (Wisconsin State Journal)
Präsident Obama äußerte sich auch zugunsten der Gewerkschaften als ‘Belohnung’ für die 200 Millionen Dollar Zuwendungen für seine Wahlkampagne; er nannte die Vorschläge Walkers „einen Angriff gegen die Gewerkschaften“. Aber der Sprecher des Parlamentes von Ohio, der Republikaner John Boehner, lobte Mr. Walkers Pläne,weil „er Probleme anpackt, die jahrelang vernachlässigt wurden auf Kosten von Arbeitsplätzen und wirtschaftlichem Wachstum“. Wie erwartet verteidigt die Linke die Gewerkschaften als den besten Schutz der ArbeiterInnen in harten Zeiten, während die Rechten diese als historische Anachronismen bezeichnen, die wirtschaftliches Wachstum behindern und als Jobkiller wirkten. Was sollen die ArbeiterInnen all davon halten?
Es ist wichtig, die Schlüsselrolle zu begreifen, welche die Gewerkschaften als ein Teil des Staatsapparates spielen. Sie fungieren als gewerkschaftliche Feuerwehr, als ein Sicherheitsventil auf ökonomischer und politischer Ebene. Die Art Tarifvertragsregelungen, die heute untergraben werden, wurden von Leuten wie Präsident Kennedy eingeführt, der deren Nutzen als ein Mittel der Sozialkontrolle verstanden hatte, insbesondere als die Gewerkschaften „Siege“ errangen, in denen das Verbot von Streiks vertraglich festgelegt wurde. Ende der 1960er und 1970er Jahre waren diese „Konzessionen“ auf ökonomischer Ebene eher tragbar als heute. Vierzig Jahre Wirtschaftskrise haben zu großen Erosionen der Löhne geführt, die die Nachkriegsbabyboomgeneration erhalten hatte. Aber während die Gewerkschaften aus ökonomischer Sicht gewisse Kosten verursachen, sind sie dennoch ein wirksames Instrument zurDurchsetzung von Sparmaßnahmen gegenüber der Arbeiterklasse. Zum Beispiel haben in Wisconsin die Gewerkschaften „schon einen Vertrag mit der früheren Regierungausgehandelt, um 100 Millionen $ Kürzungen vorzunehmen, all dies verbunden mit einer dreiprozentigen Lohnkürzung.“ Man bekommt das Gefühl, dass die Wut der Gewerkschaften über die Pläne des Gouverneurs nicht so sehr gegen die Leistungskürzungen für die Arbeiter gerichtet sind, die sie vertreten sollen, sondern gegen die Aussicht, dass sie nicht mehr als Partner für den Staat bei der Verwaltung der Wirtschaft angesehen werden. Marty Beil, der Führer der WSEU/AFSCME – die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes in Wisconsin, verkündete, die Gewerkschaft sei vollkommen mit einigen Kürzungen einverstanden, aber sie sei gegen die schamlosen Machtspielchen des Gouverneurs. „Wir sind bereit, die finanziellen Kürzungen mit umzusetzen, die vorgesehen sind, um unser Haushaltsdefizit in den Griff zukriegen, aber wir werden nicht auf unser gottgegebenes Recht verzichten, einer Gewerkschaft beizutreten. Ich wiederhole, wir werden nicht auf unser Recht verzichten, Tarifverhandlungen durchzuführen.“ In einer Pressekonferenz mit den Medien meinte er weiter: „Es geht hier nicht um Geld (…) Wir begreifen, dass wir Opfer bringen müssen.“ (MilwaukeeJournal Sentinel)
All das Gerede von der Zerschlagung der Gewerkschaften ist im Grunde ein Versuch, die Unzufriedenheit seitens der ArbeiterInnen mit den Angriffen auf ihre Lebensbedingungen zu kanalisieren und diese in die Sackgasse der Verteidigung der Gewerkschaften und der Demokratie zu lenken,welche sie angeblich verkörpern. Damit soll von effektiven Streikaktionen zur Verteidigung der Lebens- und Arbeitsbedingungen abgelenkt werden. Schon bei der Bewegung in Wisconsin verpackten die Gewerkschaften diese erfolgreich als „Verteidigung der Demokratie“ (daher die Verbindung zu Ägypten), und obwohl die demokratischen Senatoren im Augenblick das Funktionieren desbürgerlich-demokratischen Apparates behindern, indem sie „untergetaucht“ sind und sich aus dem Gebiet des BundesstaatesWisconsin entfernt haben. Aktivisten derTea Party haben schon Gegendemonstranten herangekarrt, um dem„demokratisch-gewählten“ Gouverneur unter die Arme zu greifen und die „Mehrheit der Wisconsinites“, die für das harte Vorgehen gegen die Gewerkschaften gestimmt hatten, zu schützen. Wenn es darum geht, die „Demokratie“ zu verteidigen, ist nicht klar, für welche Seite man Partei ergreifen muss!
In einer gewissen Weise ist die Suche der Polizeikräfte nach den verschwundenen Senatoren symbolisch für die umfassendere Suche seitens der Herrschenden nach einer Lösung für ihre Wirtschaftskrise. Da diese Lösung immer schwerer fassbar wird, müssen die Herrschenden auf allen Ebenen – Bundesstaat und örtlich – auf immer schärfere Angriffe gegen die Arbeiterklasse zurückgreifen. Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Beamte, Feuerwehrleute, Autobahnmeistereien, und vor allem Lehrer –werden vor allem zur Zielscheibe werden. Es ist kein Zufall und auch keine ideologische Vorliebe seitens des rechten Flügels, dass die Tea Party-Leute und die Republikaner die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ins Fadenkreuz genommen haben. Deren Löhne und Renten „belasten“ am schwersten den Staatshaushalt.
Aber die Angriffe gegen die staatlich Beschäftigten sind nicht auf die Bundesstaaten beschränkt geblieben, die vonden Republikanern regiert werden. In New York hat der Demokratische Gouverneur Cuomo gedroht, annährend 10.000 Leute zu entlassen, falls die Verhandlungen mit den Gewerkschaften zum Stillstand kommen, und der Demokrat Jerry Brown in Kalifornien sprach von der Notwendigkeit schmerzhafter Einschnitte im Staatshaushalt. Auf Bundesebene hat Präsident Obama selbst die Gehälter der Bundesbeschäftigten eingefroren, und seine Haushaltskommission hat gedroht, 10%der Beschäftigten auf Bundesebene zu entlassen. Aber der Eifer, mit dem die TeaParty Republikaner wie Walker ihren Kreuzzug gegen die Grundlagen der Gewerkschaften führen, beinhaltet die Gefahr, dass dieser als Bumerang zurückschlägt und – falls bis zum Ende durchgeführt – sich gegen diese wenden wird. Die Herrschenden sind unvermeidlich auf die Gewerkschaften angewiesen,wenn der Klassenkampf weiter an Schärfe gewinnen wird. Der Versuch seiten seines jungen Republikanischen Gouverneurs, die Gewerkschaften in seinem Bundesstaat auszuschalten, ist ein weiteres Beispiel der Schwierigkeiten der herrschenden Klasse in den USA, das politische Spiel infolge des gesellschaftlichen Zerfalls im Griff zu behalten, das dieses System immer mehr annagt.
Colin, 20.02.2011