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Die gewerkschaftliche Opposition der sog. „Lokalisten" und die Entstehung der „Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften" (FVDG) im Jahre 1897 waren Meilensteine in der Entstehung des organisierten Syndikalismus innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. Ähnlich wie gewichtigere syndikalistische Tendenzen in Frankreich, Spanien und den USA stellte der Syndikalismus auch innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung ursprünglich eine gesunde proletarische Reaktion gegen die zunehmend reformistisch ausgerichtete Politik der Führung der mächtigen Sozialdemokratie und ihrer Gewerkschaften dar.
Nach dem Ersten Weltkrieg, im September 1919, wurde in Deutschland die Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) gegründet. Auch als nun erklärtermaßen „anarcho-syndikalistische" Organisation sah sich die FAUD als direkter Erbe einer syndikalistischen Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg.
Es bestehen auch heute noch etliche anarcho-syndikalistische Gruppierungen, die sich auf die Tradition der FVDG und den späteren Anarcho-Syndikalismus der FAUD der 1920er Jahre berufen. Rudolf Rocker, der bekannteste „Theoretiker" des deutschen Anarcho-Syndikalismus, dient dabei oft als politischer Bezugspunkt.
Der Syndikalismus in Deutschland hat seit seiner Entstehung aber zweifellos eine große Veränderung erfahren. Dabei steht für uns die Frage im Zentrum, ob die syndikalistische Bewegung in Deutschland fähig war, die Interessen ihrer Klasse zu verteidigen, ihr politische Antworten auf brennende Fragen zu geben und dem Internationalismus des Proletariates treu zu bleiben.
Es lohnt sich, zunächst einen kurzen Blick auf die folgenreichste Herausforderung zu werfen, mit der die Arbeiterklasse in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Deutschland konfrontiert war: den Reformismus. Andernfalls ist die Gefahr groß, den Syndikalismus in Deutschland simpel als eine besonders radikale Gewerkschaftsstrategie zu betrachten oder ihn lediglich als „Ideen-Import" aus den romanischen Ländern wie Spanien oder Frankreich anzusehen, in denen der Syndikalismus immer eine weitaus wichtigere Rolle spielte als in Deutschland.
Die Degeneration der Sozialdemokratie als Triebfeder zur Entstehung der Vorläufer des Syndikalismus
Die deutsche sozialdemokratische Partei SPD stellte innerhalb der 2. Internationale (1889- 1914) die mächtigste proletarische Organisation dar und diente über Jahre hinweg als politischer Orientierungspunkt für die internationale Arbeiterbewegung. Doch die SPD steht genauso als Symbol für eine tragische Erfahrung: Sie ist Paradebeispiel einer Organisation, die jahrelang auf dem Boden der Arbeiterklasse stand, dann einen schleichenden Degenerationsprozess durchmachte und schlussendlich in den Jahren des Ersten Weltkrieges 1914-18 unwideruflich ins Lager der herrschenden Klasse übertrat. Die Führung der SPD drängte die Arbeiterklasse 1914 in das Gemetzel des Weltkrieges und übernahm eine zentrale Rolle bei der Verteidigung der Interessen des deutschen Imperialismus.
1878 hatte Bismarck das „Sozialistengesetz" verhängt, das zwölf Jahre lang - bis 1890 - bestehen sollte. Dieses Gesetz unterdrückte die Aktivitäten und Versammlungen proletarischer Organisationen, vor allem aber jegliche organisatorische Verbindung unter den proletarischen Organisationen. Doch das „Sozialistengesetz" war keinesfalls nur harte, blindwütige Repression gegen die Arbeiterklasse. Die herrschende Klasse versuchte der Führung der SPD mit diesen Maßnahmen die Beteiligung im bürgerlichen Parlament als Hauptaktivität schmackhaft zu machen. Geschickt erleichterte sie so der aufkeimenden reformistischen Tendenz innerhalb der Sozialdemokratie den Weg.
Die reformistischen Ansichten innerhalb der Sozialdemokratie drückten sich schon früh im „Manifest der Züricher" von 1879 aus und formierten sich um die Person Eduard Bernsteins. Sie forderten, die Parlamentsarbeit in den Mittelpunkt zu stellen, um schrittweise die Macht im bürgerlichen Staat zu erobern. Eine Absage also an die Perspektive einer proletarischen Revolution, die den bürgerlichen Staat zerschlagen muss - und eine Kehrtwende zu einer Reform des Kapitalismus. Bernstein und seine Anhänger forderten gar eine Umwandlung der SPD von einer Arbeiterpartei in eine klassenversöhnlerische Organisation, die die herrschende Klasse dazu gewinnen sollte, das Privatkapital in Gemeinkapital umzuwandeln. Die herrschende Klasse sollte selbst Triebfeder zur Überwindung ihres eigenen Systems, des Kapitalismus, werden - welche Absurdität! Diese Ansichten stellten ein Frontalangriff auf den damals noch proletarischen Charakter der SPD dar. Doch damit nicht genug: Bernsteins Flügel machte auch offen Propaganda für die Unterstützung der Kolonialpolitik des deutschen Imperialismus, indem er für den Bau einer mächtigen Hochseeflotte stimmte. Bernsteins reformistische Ideen wurden zurzeit des „Manifests der Züricher" von der Mehrheit der sozialdemokratischen Führung klar bekämpft und fanden auch an der Basis kein großes Echo. Die Geschichte zeigte aber tragischerweise in den folgenden Jahrzehnten, dass sie der erste Ausdruck eines Krebsgeschwürs waren, das unaufhaltsam und Schritt für Schritt große Teile der SPD erobern sollte. Kein Wunder also, dass diese offene Kapitulation gegenüber dem Kapitalismus, wie sie erst Bernstein allein, später aber immer größere Teile der deutschen Sozialdemokratie symbolisierten, innerhalb der Arbeiterklasse einen Reflex der Empörung auslöste. Dass in dieser Situation gerade jene kämpferischen Arbeiter, die in den Gewerkschaften organisiert waren, besonders heftig reagierten, erstaunt nicht.
Carl Hillmans Gewerkschaftstheorie
Es gab aber schon vor dem „Manifest der Züricher", nämlich in den frühen 1870er Jahren und in Gestalt des Schriftsetzers Carl Hillmann, erste Bestrebungen innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung, eine selbständige „Gewerkschaftstheorie" zu entwickeln. Die syndikalistische Bewegung kurz vor dem Ersten Weltkrieg, vor allem später aber der Anarcho-Syndikalismus sollten sich immer wieder auf sie berufen. Ab Mai 1873 erschien in der Zeitschrift Volksstaat[1] eine Artikelserie unter dem Titel „Praktische Emanzipationswinke", in der Hillman schrieb: „(...) die große Masse der Arbeiter hegt einerseits Misstrauen gegen alle rein politischen Parteien, weil sie von denselben oft missbraucht und hintergangen worden sind, und weil die Unkenntnis der sozialen Bewegungen andererseits die Wichtigkeit der politischen Seite nicht erkennen lässt; im übrigen zeigen die Arbeiter größeres Verständnis und praktischen Sinn für näher liegende Interessensfragen, z.B. kurze Arbeitszeit, Beseitigung widerlicher Fabrikordnungen usw.
Die rein gewerkschaftliche Organisation übt einen nachhaltigen Druck auf die Gesetzgebung und die Regierungen aus, folglich ist die Arbeiterbewegung in dieser Form ihrer Äußerungen ebenfalls politisch, wenn auch erst in zweiter Linie;
(...) die tatsächlichen gewerkgenossenschaftlichen Organisationsbestrebungen reifen den Gedanken der Emanzipation der Arbeiterklasse, und deshalb müssen diese natürlichen Organisationen der rein politischen Agitation gleichgestellt und dürfen weder als eine reaktionäre Bildung noch als Schweif an der politischen Bewegung betrachtet werden."
Hinter Hillmans Anliegen, die Rolle der Gewerkschaften als zentrale Organisationen für den Kampf der Arbeiterklasse zu verteidigen, stand aber keinesfalls die Absicht, eine Trennungslinie zwischen dem ökonomischen und dem politischen Kampf zu ziehen oder gar den politischen Kampf abzulehnen. Vielmehr war Hillmans „Gewerkschaftstheorie" in erster Linie eine sensible Reaktion auf unterschwellige Tendenzen innerhalb der Führung der Sozialdemokratie, die Rolle der Gewerkschaften und - allgemein - des Klassenkampfes den parlamentarischen Tätigkeiten unterzuordnen.
Auch Engels kritisierte zur gleichen Zeit wie Hillmann, im März 1875, exakt diesen Punkt des von ihm als „saft- und kraftlos" bezeichneten Programmentwurfs für den anstehenden Einigungskongress der beiden sozialistischen Parteien Deutschlands in Gotha: „Fünftens ist von der Organisation der Arbeiterklasse als Klasse vermittels der Gewerksgenossenschaften gar keine Rede. Und das ist ein sehr wesentlicher Punkt, denn dies ist die eigentliche Klassenorganisation des Proletariats, in der es seine täglichen Kämpfe mit dem Kapital durchficht, in der es sich schult und die heutzutage bei der schlimmsten Reaktion (wie jetzt in Paris) platterdings nicht mehr kaputtzumachen ist. Bei der Wichtigkeit, die diese Organisation auch in Deutschland erreicht, wäre es unserer Ansicht nach unbedingt notwendig, ihrer im Programm zu gedenken und ihr womöglich einen Platz in der Organisation der Partei offen zu lassen."[2]
Tatsächlich waren die Gewerkschaften in der damaligen Periode eines aufstrebenden Kapitalismus ein gewichtiges Instrument zur Überwindung der Isolation der Arbeiter und für die Herausbildung des Selbstverständnisses der Arbeiter als Klasse: eine Schule des Klassenkampfes. Es war der Arbeiterklasse noch möglich, einem aufstrebenden Kapitalismus dauerhafte Reformen zu ihren Gunsten abzuringen.[3]
Im Gegensatz zur Geschichtsschreibung in gewissen Teilen des anarcho-syndikalistischen Milieus war es nicht die Absicht Hillmans, „den Marxisten Paroli zu bieten", die die Gewerkschaften angeblich immer unterschätzt hätten. Eine Behauptung, auf die man eigenartigerweise immer wieder stößt, die aber nicht der Wirklichkeit entspricht. Hillmann rechnete sich in seinen generellen Ansichten klar der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) zu, in der auch Marx und Engels arbeiteten. Seine Kritik richtete sich in ihrem Kern gegen jene Hörigkeit gegenüber dem allgegenwärtigen parlamentarischen Kampf, die sich in der Sozialdemokratie eingeschlichen hatte und gegen die sich Marx und Engels in ihrer Kritik am Gothaer Programm gewandt hatten. Von einem selbständigen „Syndikalismus" innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung schon in den 1870er Jahren zu sprechen wäre demnach sicher falsch. Als greifbare Bewegung innerhalb der Arbeiterklasse in Deutschland formierte er sich allmählich erst knapp 20 Jahre später.
Auch wenn Hillmann, mit einem gesunden proletarischen Instinkt ausgestattet, früh den sich langsam anbahnenden parlamentarischen Kretinismus innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung spürte und darauf reagierte, gibt es dennoch einen wesentlichen Unterschied gegenüber Marx und Engels: Hillmann pochte in erster Linie auf eine Autonomie der Gewerkschaften und einen „Sinn für näher liegende Interessensfragen". Marx dagegen hatte schon in den späten 1860er Jahren vor einer Reduzierung des gewerkschaftlichen Kampfes auf den Kampf um Lohnerhöhungen gewarnt: „Die Gewerksgenossenschaften haben sich bisher zu ausschließlich mit dem lokalen und unmittelbaren Kampf gegen das Kapital beschäftigt und haben noch nicht völlig begriffen, welche Kraft sie im Kampf gegen das System der Lohnsklaverei selbst darstellen. Sie haben sich deshalb zu fern von allgemeinen sozialen und politischen Bewegungen gehalten."[4]
Wie wir sehen, bestanden Marx und Engels schon damals auf die allgemeine Einheit von ökonomischem und politischem Kampf der Arbeiterklasse, auch wenn dieser mit verschiedenen Organisationen geführt werden sollte. Hillmans Ideen trugen demgegenüber die große Schwäche in sich, nicht konsequent und aktiv auch den politischen Kampf gegen den ausschließlich auf das Parlament ausgerichteten Flügel der SPD aufzunehmen, sondern sich in die Gewerkschaftsarbeit zurückzuziehen und dem Reformismus damit das Feld allzu kampflos zu überlassen. Dies spielte seinen Gegnern in die Hände, denn es war ja exakt das Zurückdrängen der Arbeiter auf den rein ökonomischen Kampf, was den anschwellenden Reformismus innerhalb der Gewerkschaftsbewegung auszeichnete.
Entstammt der Syndikalismus in Deutschland dem anarchistischen Lager?
Im Sommer 1890 bildete sich in der SPD eine kleine Opposition, die sog. „Jungen". Bezeichnend für ihre bekanntesten Repräsentanten Wille, Wildberger, Kampffmeyer, Werner und Baginski war der Ruf nach „mehr Freiheit" innerhalb der Partei und ihre antiparlamentarische Haltung. In ihrer lokalistischen Haltung lehnten sie überdies die Notwendigkeit eines Zentralorgans für die SPD ab.
Die „Jungen" stellten eine sehr heterogene Parteiopposition dar; es ist wohl treffender, von einer Ansammlung unzufriedener SPD-Mitglieder zu sprechen. Die Unzufriedenheit der „Jungen" an sich hatte aber durchaus ihre Berechtigung, denn die reformistischen Tendenzen in der Sozialdemokratie verschwanden nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 keineswegs. Der Reformismus gewann mehr und mehr an Gewicht. Doch die Kritik der „Jungen" war nicht imstande, die wirklichen Probleme und die ideologischen Wurzeln des Reformismus aufzuzeigen. Anstelle eines politisch fundierten Kampfes gegen die reformistische Idee des „friedlichen Hinüberwachsens" des Kapitalismus in eine klassenlose sozialistische Gesellschaft führten die „Jungen" lediglich eine scharfe Kampagne gegen einzelne Führer der SPD und personifizierten ihre Angriffe. Ihre Erklärung des Reformismus fand Ausdruck in einer unreifen und reduzierten Argumentation, die die „Jagd nach persönlichem Profit und Ruhm" und die „Psychologie der SPD-Führer" in den Mittelpunkt rückte. Dieser Konflikt wurde durch den Austritt bzw. Ausschluss der „Jungen" aus der SPD auf dem Erfurter Kongress von 1891 beendet. Dies führte im November 1891 zur Gründung des anarchistischen Vereins Unabhängiger Sozialisten (VUS). Der kurzlebige VUS, eine völlig heterogene Gruppierung, die sich vornehmlich aus unzufriedenen, ehemaligen SPD-Genossen gebildet hatte, geriet nach schweren persönlichen Spannungen schnell unter die Kontrolle des Anarchisten Gustav Landauer und verschwand schon drei Jahre später, 1894, wieder von der Bildfläche.
Bei der Lektüre zeitgenössischer anarcho-syndikalistischer Darstellungen und der bekanntesten Bücher über die Entstehung des Syndikalismus in Deutschland sticht eines ins Auge: der oft krampfhafte Versuch, eine Vergangenheit zu konstruieren, an die der Anarcho-Syndikalismus der 1919 gegründeten FAUD angeblich angeknüpfte. Meist sind diese Darstellungen eine simple Aneinanderreihung verschiedener Oppositionsbewegungen innerhalb der deutschen Arbeiterorganisationen: von Hillmann über Johann Most und die „Jungen" zu den „Lokalisten" und weiter zur Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften (FVDG) bis schlussendlich zur FAUD. Die reine Existenz eines Konfliktes mit den jeweils führenden Tendenzen innerhalb der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften wird dabei als die bestimmende Gemeinsamkeit betrachtet. Doch allein der Konfliktfall mit der Partei- oder Gewerkschaftsführung stellt keine politische Kontinuität dar. Bei genauerem Hinsehen gab es keineswegs eine solche Kontinuität zwischen all diesen Organisationen! Zwar teilten Hillman, Most und die „Jungen" sehr wohl die Abneigung gegen die um sich greifenden Illusionen über den Parlamentarismus. Während aber Hillman immer Teil der Ersten Internationale blieb und mitten im realen Kampf der Arbeiterklasse stand, glitt Most zusammen mit Hasselmann in den frühen 1880er Jahren schnell in die isolierte, verzweifelte und kleinbürgerliche „Propaganda der Tat" - sprich: terroristische Aktionen - ab. Und die Angriffe der „Jungen" gegen einzelne Personen konnten nicht an die politische Qualität der Hillman'schen Kritik anknüpfen, die ein ernsthafter Versuch gewesen war, den Klassenkampf voranzutreiben. Die späteren „Lokalisten" und die daraus hervorgehende FVDG hingegen stellten über Jahre hinweg eine lebendige Bewegung in der Arbeiterklasse dar. Bis 1908 hatten anarchistische Ideen in der gewerkschaftlichen Opposition, aus der später der Syndikalismus in Deutschland entstehen sollte, nur einen geringen Einfluss. Tatsächlich konnte man von einer „anarchistischen Prägung" des deutschen Syndikalismus, der sich aus dem Schoß der sozialdemokratischen Gewerkschaften entwickelt hatte, erst nach dem Ersten Weltkrieg sprechen.
Die „Lokalisten": Eine proletarische Reaktion gegen die politische Beschneidung der Arbeiterklasse
Eine organisierte Opposition in den Reihen der sozialdemokratischen Gewerkschaften formierte sich in Deutschland anlässlich des ersten Gewerkschaftskongresses nach der Aufhebung des „Sozialistengesetzes" im März 1892 in Halberstadt. Die Generalkommission des Gewerkschaftsverbandes dekretierte unter Führung Carl Legiens auf diesem Kongress eine absolute Trennung zwischen politischem und ökonomischem Kampf. Die in den Gewerkschaften organisierte Arbeiterklasse sollte sich nach dieser Auffassung lediglich auf ökonomische Kämpfe beschränken, während allein die Sozialdemokratie und - dabei vor allem ihre Parlamentsabgeordneten (!) - für politische Fragen zuständig sein sollten.
Doch durch die Bedingungen des zwölf Jahre andauernden „Sozialistengesetzes" waren die in Berufsverbänden organisierten Arbeiter an eine Verschmelzung von politischen und ökonomischen Anliegen und Diskussionen in ein und derselben Organisation, die sich auch durch die Illegalität zwangsläufig ergeben hatte, gewohnt.
Schon damals war das Verhältnis zwischen wirtschaftlichem und politischem Kampf Gegenstand zentraler Auseinandersetzungen in der internationalen Arbeiterklasse gewesen - und ist es zweifellos bis heute geblieben! In einer Zeit, in der durch den Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsepoche die Bedingungen für eine Weltrevolution herangereift waren, zeichnete sich immer deutlicher ab, dass das Proletariat die einzige Gesellschaftsklasse war, die auf politische Fragen wie den Krieg eine Antwort geben konnte und musste!
1892 richtete die Führung der deutschen Gewerkschaftsbewegung nach jahrelanger Fragmentierung durch die Illegalität in isolierten Berufsverbänden einen gewerkschaftlichen Zentralverband ein - aber eben zum tragischen Preis der Beschränkung der Gewerkschaften auf den ökonomischen Kampf. Diese Beschränkung war jedoch nicht mehr die Folge des „Sozialistengesetzes", das die Versammlungs- und Redefreiheit suspendierte und die Diskussion politischer Fragen verbot, sondern das Resultat reformistischer Visionen und beträchtlicher Illusionen über den Parlamentarismus, die immer mehr überhand nahmen. Gegen diese Politik der Gewerkschaftsführung um Legien formierte sich die Opposition der „Lokalisten" als gesunde proletarische Reaktion. Eine wesentliche Rolle spielte dabei Gustav Kessler. Er hatte in den 1880er Jahren in der Koordination der Berufsverbände in Gestalt eines sog. Vertrauensmänner-Systems gearbeitet und war maßgeblich an der Herausgabe des Gewerkschaftsorgans Der Bauhandwerker beteiligt.
Um den „Lokalisten" gerecht zu werden, gilt es zunächst, mit einem verbreiteten Irrtum aufzuräumen: Der Name „Lokalisten" lässt auf den ersten Blick eine Opposition vermuten, deren Hauptanliegen ein politischer Lokalismus ist, also das Bestreben, sich ausschließlich um Angelegenheiten der Region zu kümmern oder sich gar prinzipiell gegen organisatorische Verbindungen mit den Arbeitern anderer Sektoren und Regionen zu sträuben. Dieser Eindruck entsteht oft bei der Lektüre zeitgenössischer Literatur, gerade aus dem Lager des heutigen Anarcho-Syndikalismus. Meist ist es schwer zu beurteilen, ob dies mit der Absicht geschieht, aus den „Lokalisten" und der daraus hervorgehenden FVDG im Nachhinein Organisationen ihrer heutigen eigenen lokalistischen anarcho-syndikalistischen Kragenweite zu konstruieren - oder lediglich aus purer Unkenntnis der eigenen Geschichte.
Dies gilt aber auch, wenn die sehr wertvollen Schilderungen der Anfänge des Syndikalismus in Deutschland aus den Reihen des Marxismus allzu schematisch angewandt werden. Wenn Anton Pannekoek 1913 schrieb: „(...) nach ihrer Praxis bezeichnen sie sich als ‚Lokalisten‘ und drücken damit in dem Gegensatz zu der Zentralisation der großen Verbände ihr wichtigstes Agitationsprinzip aus", so beschreibt dies eine Entwicklung, die innerhalb des deutschen Syndikalismus erst ab 1904 einsetzte und schließlich in eine Annäherung an die Ideen der „Arbeiterbörsen"[5] der französischen Charte d`Amiens von 1906 (einem Programmpapier) mündete; es übersieht aber, dass dies auf die Entstehungszeit in den 1890er Jahren nicht zutrifft.
Die „Lokalisten" hatten sich nicht formiert, weil sie in ihrer gewerkschaftlichen Opposition gegen Legiens Politik à priori eine lokal zerstreute, föderalistische Methode des Klassenkampfes als politisches Hauptanliegen theoretisierten. Die führenden Kräfte in den Gewerkschaften schmückten sich mit dem Konzept einer strikten „Zentralisierung" des Kampfes der Arbeiterklasse, um gleichzeitig die strikte politische Abstinenz der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter durchzusetzen. Die Feststellung, dass durch diese Situation jedoch eine Dynamik entstand, die Teile der „Lokalisten" tatsächlich schrittweise in föderalistische und anti-zentralistische Auffassungen zu drängen begann, ist eine andere Realität.
Eine Zentralisierung im Sinne einer berufs-, sektoren- und nationenübergreifenden Solidarität und des gemeinsamen Kampfes der Arbeiterklasse war absolut notwendig. Die Idee der Zentralisierung, wie sie die großen Gewerkschaftsverbände vertraten, verbreitete jedoch schon damals für einige Arbeiter zu Recht den schalen Beigeschmack regelrechter „Kontrollorgane" in den Händen der reformistischen Gewerkschaftsführer. Doch bei der Formierung der lokalistischen Opposition Mitte der 1890er Jahre stand unübersehbar die Entrüstung über das Dekret der politischen Abstinenz für die Arbeiter im Mittelpunkt!
Es erscheint uns wichtig, diese falsche und oft ausschließliche Fokussierung auf die Frage „Föderalismus gegen Zentralismus" bei der Entwicklung des Syndikalismus in Deutschland gerade mit den Worten von Fritz Kater (eines der langjährigsten und prägendsten Mitglieder der FVDG und FAUD) richtigzustellen: „War doch mit dem Bestreben, die Gewerkschaften in Deutschland in Zentralverbände zu organisieren, verbunden, alle Aufklärung in den Versammlungen über öffentlichen und politische Angelegenheiten und ganz besonders ein Einwirken auf diese durch die Gewerkschaft, aufzugeben und sich lediglich auf den Tageskampf um bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen einzustellen. Gerade letzteres aber war damals der Hauptgrund der sog. Lokalisten, den Verbandszentralismus abzulehnen und zu bekämpfen, waren sie doch damals, als revolutionäre Sozialdemokraten und Mitglieder der Partei, der sehr richtigen Ansicht, dass der so genannte gewerkschaftliche Kampf um Verbesserung der Lage der Arbeiter auf dem Boden der heute bestehenden Ordnung nicht geführt werden kann, ohne das Verhältnis der Arbeiter zu dem heutigen Staat und seinen Organen der Gesetzgebung und Verwaltung scharf und bestimmt zu berühren..."[6]. (Hervorhebung durch uns)
Mit ihrer Entrüstung über die „Lokalisten" als angebliches Symbol des Föderalismus in Reinkultur geht die stalinistische und trotzkistische Geschichtsschreibung konform mit gewissen neo-syndikalistischen Schriften, die den Föderalismus als das „Nonplusultra" anbeten.
Selbst Rudolf Rocker, der von 1893 bis 1919 außerhalb Deutschlands weilte und in den 20er Jahren den Föderalismus dann tatsächlich zum besonderen theoretischen Prinzip in der FAUD erhob, beschreibt den Föderalismus der „Lokalisten" von 1892 ehrlich und treffend folgendermaßen: „Jedoch war dieser ‚Föderalismus‘ durchaus nicht das Ergebnis einer politischen und sozialen Erkenntnis wie bei Pisacane in Italien, Proudhon in Frankreich und Pi y Margall in Spanien, der später von der anarchistischen Bewegung jener Länder übernommen wurde; er entsprang vielmehr dem Versuch, die Bestimmungen des damaligen Preußischen Vereinsgesetzes zu umgehen, das zwar rein lokalen Gewerkschaften die Erörterung politischer Fragen in ihren Versammlungen gestattete, aber dieses Recht den Mitgliedern der Zentralverbände versagte."
Unter den Bedingungen des „Sozialistengesetzes" durch ein Netz von Vertrauensmännern an die Arbeitsweise der Koordination (man mag es auch Zentralisierung nennen!) gewohnt, fiel es den „Lokalisten" tatsächlich schwer, sich eine andere Art und Weise der Koordination anzueignen, die den veränderten Bedingungen ab 1890 entsprach. Schon 1892 lässt sich eine föderalistische Tendenz ohne Zweifel im Keim ausmachen. Doch war dieser Föderalismus der „Lokalisten" wohl eher der Versuch, aus der Not des Vertrauensmänner-Systems eine Tugend zu machen! Die „Lokalisten" verblieben mit der Absicht, eine kämpferische Vorhut innerhalb der sozialdemokratischen Gewerkschaften zu bilden, noch knapp fünf Jahre in den großen gewerkschaftlichen Zentralverbänden und verstanden sich unmissverständlich als Teil der Sozialdemokratie.
Die Gründung der FVDG
In der zweiten Hälfte der 1890er Jahre brachen vor allem in Streiks immer öfter offene Konflikte zwischen den Anhängern der „lokalistischen" Berufsverbände und den Zentralverbänden aus, am heftigsten unter den Bauarbeitern in Berlin und im Streik der Hafenarbeiter 1896/97 in Hamburg. In diesen Auseinandersetzungen stand zumeist die Frage im Mittelpunkt, ob die Berufsverbände auf eigene Entscheidung in den Streik treten konnten oder ob dies an die Einwilligung der Führung des Zentralverbandes gebunden war. Dabei sticht ins Auge, dass die „Lokalisten" ihre Anhängerschaft überproportional unter bauhandwerklichen Berufsgruppen (Maurer, Fliesenleger, Zimmerleute) fanden, bei denen ein starker Berufsstolz vorhanden war, und anteilsmäßig viel weniger unter den Industriearbeitern.
Parallel dazu neigte die Führung der Sozialdemokratie ab Ende der 1890er Jahre immer mehr dazu, das apolitische Gewerkschaftsmodell der Generalkommission um Legien, die so genannte „Neutralität" der Gewerkschaften, zu übernehmen. Die SPD hatte gegenüber den Auseinandersetzungen in den Gewerkschaften aus verschiedenen Gründen lange laviert und sich zurückhaltend geäußert. Auch wenn die „Lokalisten" zur Zeit des Kongresses von Halberstadt 1892 eine vergleichsweise kleine Minderheit von ca. 10.000 Mitgliedern (nur ca. drei Prozent aller gewerkschaftlich organisierten Arbeiter in Deutschland) darstellten, so befanden sich gerade unter ihnen viele alte und kämpferische Gewerkschafter, die eng mit der SPD verbunden waren. Aus Furcht, diese Genossen durch eine einseitige Parteinahme in den gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen vor den Kopf zu stoßen, aber vor allem aus einer eigenen Unklarheit über das Verhältnis zwischen dem ökonomischen und politischen Kampf der Arbeiterklasse hatte sich die Führung Sozialdemokratie lange zurückgehalten. Erst 1908 sollten die Mitglieder der FVDG von der Führung der SPD definitiv fallen gelassen werden.
Im Mai 1897 entstand ein erster und nun auch erklärtermaßen selbständig organisierter, 6.800 Mitglieder starker[7] Vorläufer des zukünftigen Syndikalismus in Deutschland - oder, präziser, jene Organisation, die in den folgenden Jahren den Weg zum Syndikalismus in Deutschland einschlagen sollte. Mit der Gründung als nationaler Gewerkschaftszusammenschluss ging eine historische Spaltung der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung einher. Die „Lokalisten" erklärten auf dem „1. Kongress der lokal organisierten Gewerkschaften Deutschlands" in Halle ihre organisatorische Selbständigkeit. Den Namen „Freie Vereinigung Deutscher Gewerkschaften FVDG"[8] legten sie sich aber erst im September 1901 zu. Ihr nun neu gegründetes Presseorgan Die Einigkeit sollte bis zum Verbot der FVDG bei Kriegsbeginn 1914 bestehen.
Weiterhin Hand in Hand mit der Sozialdemokratie?
Auf welchem Verständnis bezüglich des politischen Kampfes der Arbeiterklasse und des Verhältnisses zur Sozialdemokratie sich die FVDG gründete, drückt am deutlichsten die bekannte, von Gustav Kessler ausgearbeitete Resolution des Kongresses von 1897 aus:
„1. Eine Trennung der gewerkschaftlichen Bewegung von der bewussten sozialdemokratischen Politik ist unmöglich, ohne den Kampf um die Verbesserung der Lage der Arbeiter auf dem Boden der heutigen Ordnung aussichtslos zu machen und zu lähmen.
2. Dass die Bemühungen, von welcher Seite sie auch kommen mögen, den Zusammenhang mit der Sozialdemokratie zu lockern oder zu durchbrechen, als arbeiterfeindlich zu betrachten sind.
3. Dass Organisationsformen der gewerkschaftlichen Bewegung, die sie in dem Kampf um die politischen Ziele hindern, als fehlerhaft und verwerflich zu betrachten sind. Der Kongress sieht in der Form der Organisation, die sich die sozialdemokratische Partei Deutschlands auf dem Kongress zu Halle 1890 gegeben hat, mit Rücksicht auf die bestehende Vereinsgesetzgebung auch für die gewerkschaftliche Organisation die zweckmässiste und beste Einrichtung zur Verfolgung aller Ziele der Gewerkschaftsbewegung."[9]
In diesen Zeilen drückten sich die Verteidigung politischer Anliegen der Arbeiterklasse und eine starke Bindung zur Sozialdemokratie als „Schwesterorganisation" aus. Die Verbindung mit der Sozialdemokratie wurde als die Brücke zur Politik verstanden. Die Gründung der FVDG war demnach auf programmatischer Ebene nicht etwa eine Absage gegenüber dem Geist des Klassenkampfes, den schon Marx verteidigt hatte, oder gar eine Absage an den Marxismus im Allgemeinen, sondern ein Versuch, diesen Geist aufrechtzuerhalten. Das formulierte Anliegen der FVDG, den „Kampf um die politischen Ziele" nicht den Händen der Arbeiter zu entreißen, war die wesentliche Stärke in ihrer Gründungszeit.
Wie stark die politische Bindung zur Sozialdemokratie war, zeigte die Debatte auf dem „4. Kongress der Vertrauensmänner-Zentralisation" in Mai 1900. Die FVDG zählte damals knapp 20.000 Mitglieder. Kessler stellte gar die Forderung auf, Gewerkschaften und Partei wiederzuvereinen, die auch in eine Resolution aufgenommen wurde: „Die politische und die gewerkschaftliche Organisation müssen sich also wiedervereinigen. Das kann nicht auf einmal geschehen, denn Umstände, die sich historisch entwickelt haben, haben ein Recht zu bestehen; wohl aber haben wir die Pflicht, diese Vereinigung vorzubereiten, indem wir die Gewerkschaften geeignet machen, Träger des sozialistischen Gedankens zu bleiben. (...) Wer davon überzeigt ist, dass der gewerkschaftliche und der politische Kampf ein Klassenkampf ist, dass er in der Hauptsache nur geführt werden kann durch das Proletariat selbst, der ist uns Genosse und mit uns auf demselben Boot" [10].
Wenngleich hinter diesem Standpunkt, sich einerseits nicht nur auf den ökonomischen Kampf zu beschränken und sich andererseits an die größte politische Organisation der deutschen Arbeiterklasse, die SPD, zu binden, ein gesundes Anliegen steckt, so lässt sich jedoch hier bereits im Keim deutlich die spätere Konfusion des Syndikalismus in Sachen „Einheitsorganisation" erkennen. Eine Idee, die sich in Deutschland erst Jahre später, ab 1919, nicht nur im Syndikalismus, sondern vor allem in den „Arbeiterunionen" manifestieren sollte. Die von der FVDG noch in der Resolution von 1900 angestrebte Vision eines gemeinsamen Kampfes mit der Sozialdemokratie sollte aber schon im selben Jahr vor eine harte Zerreißprobe gestellt werden.
Der „Hamburger Gewerkschaftsstreit"
Als 1900 in Hamburg der Zentralverband der Gewerkschaften mit den Unternehmern einen Vertrag zur Aufhebung der Akkordarbeit abschloss, sperrte sich ein Teil der Akkordmaurer dagegen. Sie nahmen die Arbeit wieder auf und wurden, des Streikbruchs bezichtigt, aus dem gewerkschaftlichen Zentralverband ausgeschlossen. Daraufhin schlossen sich die Akkordmaurer der FVDG an. Die Hamburger SPD forderte den sofortigen Ausschluss dieser Arbeiter aus der Partei; ein Schiedsgericht der SPD lehnte dies aber ab.
Wenn Rosa Luxemburg die Entscheidung des Schiedsgerichts, die Hamburger FVDG-Maurer nicht aus der SPD auszuschließen, verteidigte, dann nicht, weil sie etwa der FVDG politisch nahestand, sondern weil sie in ihrem Kampf gegen den Reformismus darum bestrebt war, das Verhältnis zwischen dem ökonomischen und politischen Kampf der Arbeiterklasse zu klären. Sie forderte zwar, wegen des Streikbruchs „den Akkordmaurern eine scharfe Rüge zu erteilen"[11], wies aber den bürokratischen und formalistischen Standpunkt heftig zurück, einen Streikbruch als Grund für den sofortigen Ausschluss von Arbeitern aus der Partei gelten zu lassen. Der sozialdemokratische gewerkschaftliche Zentralverband selbst hatte sich in Konfrontationen mit der FVDG mehrmals des Mittels des Streikbruchs bedient! Die SPD sollte Luxemburgs Ansicht nach nicht zu einer „Prügelkammer" der Gewerkschaften werden. Die Partei richte nicht über die Arbeiterklasse.
Rosa Luxemburg erkannte, dass hinter dieser heftigen gewerkschaftlichen Affäre um die Hamburger Akkordmaurer viel zentralere Fragen verborgen waren. Dieselben Fragen, die im Kern auch in den Vorstellungen innerhalb der FVDG zur „Wiederverschmelzung" von Partei und gewerkschaftlicher Massenorganisation enthalten waren: die Unterscheidung zwischen einer politischen revolutionären Organisation einerseits und der organisatorischen Form, welche sich die Arbeiterklasse in Zeiten des offenen Klassenkampfes zu geben hat, andererseits: „In der Praxis würde es aber in erster Linie zu einer Verschmelzung der politischen und wirtschaftlichen Organisation der Arbeiterklasse führen, bei welchem Durcheinander beide Kampfformen verlören und ihre geschichtlich entstandene und bedingte äußere Trennung und Arbeitsteilung rückgängig gemacht würde"[12].
Wenn Luxemburg 1900, wie die gesamte Arbeiterbewegung damals, den Horizont der traditionellen gewerkschaftlichen Organisierung der Arbeiterklasse noch nicht überschreiten konnte und die Gewerkschaften als die großen Organisationen des wirtschaftlichen Klassenkampfes betrachtete, lag dies daran, dass die Arbeiterklasse erst in den folgenden Jahren mit der Aufgabe konfrontiert wurde, den Massenstreik und die Arbeiterräte hervorzubringen - die revolutionären Schmelztiegel zur Verbindung von ökonomischem und politischem Kampf.
Eine Vereinigung des Kampfes der Arbeiterklasse, die in Deutschland in verschiedenste Gewerkschaften zersplittert war, war tatsächlich historisch notwendig. Doch sie konnte weder durch eine formalistische Instrumentalisierung der Parteiautorität zur Disziplinierung der Arbeiter, wie es die Zentralverbände wollten, noch durch die Vision von „Einheitsorganisationen" erreicht werden, die die Notwendigkeit einer politischen Partei unterschätzte, eine Idee, die in den Reihen der FVDG zu wachsen begann. Nicht „eine große Gewerkschaft" konnte das Rätsel lösen, sondern nur die Vereinigung der Arbeiterklasse im Klassenkampf selbst. Der Parteitag der SPD in Lübeck 1901 lehnte es auf Druck Luxemburgs zwar noch formell ab, Schiedsrichter zwischen dem gewerkschaftlichen Zentralverband und der FVDG zu spielen. Er nahm aber gleichzeitig die „Sonderbunds-Resolution" Bernsteins an, die künftigen gewerkschaftlichen Abspaltungen mit einem Parteiausschluss drohte. Die SPD begann sich damit deutlich von der FVDG zu distanzieren.
Die FVDG litt in den Jahren 1900/01 auch unter zunehmenden internen Spannungen, die sich hauptsächlich um die Frage der gegenseitigen finanziellen Unterstützung durch eine einheitliche Streikkasse drehten. Es manifestierten sich starke eigenbrötlerische Tendenzen und ein Mangel an solidarischem Geist in den eigenen Reihen. Das Beispiel der Solinger Federmesserschneider-Gewerkschaft, die lange Zeit von der Geschäftskommission der FVDG finanzielle Unterstützung erhalten hatte, aber sofort mit dem Austritt drohte, als sie selbst für andere Streiks finanziell um Hilfe gebeten wurde, ist bezeichnend dafür.
Vom Januar 1903 bis März 1904 fanden auf Initiative und Druck der SPD schleppende Verhandlungen zwischen der FVDG und dem gewerkschaftlichen Zentralverband statt, mit dem Ziel, die FVDG wieder in den Zentralverband zu integrieren. Die Verhandlungen scheiterten. Innerhalb der Geschäftskommission der FVDG lösten diese Einigungsverhandlungen heftige Spannungen aus, insbesondere zwischen Fritz Kater, der die spätere klar syndikalistische Tendenz repräsentierte, und Hinrichsen, der schlicht dem Druck der Zentralverbände nachgab. Es machte sich eine enorme Verunsicherung unter den organisierten Arbeitern breit. Ca. 4.400 Mitglieder der FVDG (mehr als 25 Prozent) traten 1903/04 in den Zentralverband über! Die misslungenen und in großem gegenseitigem Misstrauen geführten Einigungsverhandlungen führten zu einer empfindlichen personellen Schwächung der FVDG und stellten das erste Kapitel ihres historischen Bruchs mit der SPD dar.
Schlussfolgerung
Bis ins Jahr 1903 steht den „Lokalisten" und der FVDG in Deutschland das Verdienst zu, das gesunde Bedürfnis der Arbeiter auszudrücken, die politischen Fragen nicht als ausschließliche Parteisache zu verstehen. Sie stemmten sich damit gegen den Reformismus und seine Delegierung der Politik an die Parlamentarier. Die FVDG war eine stark politisch motivierte und sehr kämpferische, aber heterogene und komplett auf dem gewerkschaftlichen Terrain verhaftete proletarische Bewegung. Als lockerer Verbund kleiner gewerkschaftlicher Berufsverbände konnte sie die Rolle einer politischen Organisation der Arbeiterklasse selbstverständlich nicht übernehmen. Um ihrem „Drang nach Politik" gerecht zu werden, hätte sie sich stärker dem revolutionären linken Flügel innerhalb der SPD annähern müssen.
Überdies zeigt die Geschichte der „Lokalisten" und der FVDG, dass es vergeblich ist, nach einer exakten Geburtsstunde des deutschen Syndikalismus zu suchen. Vielmehr handelte es sich um einen jahrelangen Ablösungsprozess einer proletarischen Minderheit aus dem Schoß der Sozialdemokratie und der sozialdemokratischen Gewerkschaften.
Die unmittelbar vor der Tür stehende Herausforderung zur Frage des Massenstreiks sollte ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung des Syndikalismus in Deutschland werden. Der nächste Artikel wird mit der Auseinandersetzung um den Massenstreik beginnen und anschließend die Geschichte der FVDG von ihrem endgültigen Bruch mit der SPD 1908 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges betrachten.
Mario, 27.10.2008
[1] Volksstaat war das Organ der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, die „Eisenacher" Richtung, unter der Führung Wilhelm Liebknechts und August Bebels.
[2] Engels an August Bebel, 18./28. März 1875, MEW, Bd.34, S.128
[3] siehe dazu unsere Broschüre Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse
[4] Instruktionen für die Delegierten des Zentralrates, 1866, MEW, Bd. 16, S.197
[5] Anton Pannekoek: "Der deutsche Syndikalismus" 1913.
[6] Fritz Kater: „Fünfundzwanzig Jahre Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), Der Syndikalist, 1922, Nr. 20
[7] „Rudolf Rocker, Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten", Suhrkamp, S. 288
[8] siehe auch: www.syndikalismusforschung.info/museum.htm
[9] Der große gewerkschaftliche Zentralverband bezeichnete sich offiziell als „Freie Gewerkschaften". Die sprachliche Nähe zur „Freien Vereinigung" führt oft zu Verwechslungen.
[10] aus W. Kulemann: „Die Berufsvereine", Bd. 2, Jena 1908, Seite 46
[11] Protokoll der FVDG, zitiert aus D. H. Müller „Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte" 1985, S. 159
[12] Rosa Luxemburg: „Der Parteitag und der Hamburger Gewerkschaftsstreit", Ges. Werke, Bd.1/2, Seite 117.