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Wir veröffentlichen hier unsere Antwort auf einen Aufruf der Antimilitaristischen Initiative[1], einem hauptsächlich in Osteuropa angesiedelten Netzwerk, das Teil einer breiteren Infragestellung der kapitalistischen Kriegstendenz im Gefolge der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten ist. Eine ganze Reihe von Gruppen, von denen sich die meisten mit der anarchistischen Tradition identifizieren, haben Erklärungen abgegeben und zu Konferenzen aufgerufen, um zu diskutieren, „was zu tun ist“ angesichts der zunehmend katastrophalen Perspektiven, die diese Kriege eröffnen.
Wir begrüßen die Tatsache, dass der AMI-Blog eine Reihe von Artikeln der IKS über Krieg und Internationalismus veröffentlicht hat, darunter ein Interview mit Marc Chirik über Revolutionäre, die mit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert sind, und einen Artikel, der die tiefgreifenden Divergenzen aufzeigt, die der Krieg in der Ukraine innerhalb der anarchistischen „Familie“ offenbart hat, zwischen denen, die eine klare internationalistische Haltung einnehmen wollen, und denen, die offen für die Verteidigung des ukrainischen Staates eintreten.[2] In unserer Antwort ermutigen wir die AMI, die in ihren Reihen geführten Diskussionen weiter zu vertiefen, und plädieren gleichzeitig für die Notwendigkeit, eine globale Analyse zu entwickeln, die diese Kriege in einen historischen und globalen Kontext stellt. Nur so können wir die Perspektiven, die das kapitalistische System bietet, und vor allem die realen Möglichkeiten des Klassenkampfes und der Intervention von Revolutionären angesichts des imperialistischen Krieges verstehen. Ohne eine solche Analyse ist es leicht, in einen sterilen Aktivismus zu verfallen, der nur in Demoralisierung enden kann, da er zwangsläufig keine unmittelbaren Ergebnisse bringt.
Von der IKS an die AMI:
Liebe Genossinnen und Genossen, entschuldigt bitte die lange Verzögerung bei der Beantwortung eurer Anfrage. Ihr habt in eurer letzten Korrespondenz erwähnt, dass ihr folgende Themen diskutiert:
1) Analyse des eskalierenden Konflikts im Nahen Osten
2) Wie man praktische Aktionen gegen die kapitalistischen Kriege organisieren kann
3) Wie man die innerimperialistischen Konflikte in einen revolutionären Klassenkampf verwandeln kann.
Wir möchten Euch einige Kernpunkte als Beitrag zu Euren Debatten übermitteln.
Analyse des eskalierenden Konflikts im Nahen Osten
Wir haben mehrere Artikel zur Analyse der Situation veröffentlicht – falls ihr diese noch nicht gesehen habt, findet Ihr die URL-Links am Ende unserer Antwort.
Aus diesen Artikeln können wir ein paar Punkte hervorheben.
Der jüngste Krieg im Nahen Osten, der zeitgleich mit dem Krieg in der Ukraine (der bald sein drittes Jahr erreicht) und den zunehmenden Spannungen im Kaukasus, auf dem Balkan und anderswo stattfindet, kann nicht von der globalen Konfrontation zwischen den USA und China abgekoppelt werden.
Doch während die USA im Nahen Osten mehrere Fiaskos erlebt haben (Irak-Syrien-Afghanistan) und beschlossen haben, ihre Kräfte darauf zu konzentrieren, China daran zu hindern, die führende Weltmacht zu werden (was die Niederlage der USA bedeuten würde), ist die jüngste Eskalation im Nahen Osten für die USA gewissermaßen ein „unerwünschter“ Krieg.
Die Position der USA im Nahen Osten wurde insbesondere durch das Vorgehen Israels geschwächt (Verhängung des größten Exodus der Gaza-Bevölkerung aller Zeiten und brutale Vergeltung durch eine Politik der verbrannten Erde).
Außerdem haben die USA Russland in den Krieg in der Ukraine gelockt. Russland hat versucht, seine verlorenen Positionen aus der Zeit der Existenz der beiden Blöcke zurückzuerobern. Das kann es nur militärisch tun – wie es bereits durch seine heftige Unterstützung des syrischen Regimes gezeigt hat. Dieser ukrainisch-russische Krieg wird nun zunehmend schwieriger – weil er zu einem stagnierenden Krieg geworden ist und die Unterstützung der Ukraine in den USA zunehmend unpopulär geworden ist.
Der Aufstieg Chinas hat sich nicht nur durch sein enormes Wirtschaftswachstum vollzogen. Dies ging stets mit einer langfristigen Strategie der Modernisierung und des Ausbaus seiner Armee einher; und seine Seidenstraßen-Projekte offenbaren das Ausmaß seiner Ambitionen, ebenso wie seine Drohung, Taiwan in China integrieren zu wollen, und die Politik, eine größere Präsenz im Südchinesischen Meer zu etablieren – all dies wird von den westlichen Ländern bekämpft. Ein Projekt nach dem anderen, die der Seidenstraße entgegenwirken sollen, wurden von der EU, den USA und Indien eingefädelt.
Wir sehen eine weltweite Verschärfung der Spannungen, die immer mehr Länder erfasst, und der jüngste Krieg im Nahen Osten zeigt auch, dass die USA zunehmend die Kontrolle über ihren Gendarmen (Israel) in der Region verlieren. Mit der Entfesselung des Ersten Weltkriegs, des Zweiten Weltkriegs, des Kalten Krieges und der vielen Stellvertreterkriege danach ist der Militarismus zum Überlebensmodus des kapitalistischen Systems und zu einem echten Krebsgeschwür geworden, das sich in sein Herz frisst.
Allein diese Dynamik zeigt bereits, dass wir dieses Krebsgeschwür des Militarismus nicht ausrotten können, wenn der Kapitalismus nicht überwunden wird.
Gleichzeitig haben die führenden Politiker und „Experten“ auf der UN-Klimakonferenz in Dubai (COP 28) gezeigt, dass die herrschende Klasse nicht in der Lage und größtenteils nicht willens ist, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Planeten zu ergreifen. Das Schicksal unseres Planeten in den Händen der kapitalistischen Klasse zu belassen, bedeutet, dass die Menschheit ihr Todesurteil unterschreibt – ein weiterer dringender Grund, das kapitalistische System zu überwinden.
Wir werden nicht auf die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, der Hungersnöte und der massiven Flüchtlingsströme eingehen, die auf allen Kontinenten existieren, die allesamt Ausdruck derselben Sackgasse sind, in die der Kapitalismus die Menschheit getrieben hat.
Kurz gesagt: Wir können nicht verstehen, was geschieht, wenn wir nur einen Aspekt betrachten, sondern wir müssen die Gesamtheit und den Zusammenhang zwischen den verschiedenen zerstörerischen Komponenten verstehen.
Wie seht Ihr diesen Zusammenhang und die weltweite Entwicklung? Können wir die Ereignisse in einem Land verstehen, indem wir sie von den anderen isolieren, oder müssen wir sie in einem globalen Rahmen einordnen?
Wir haben auch festgestellt, dass es mehreren Gruppen gelungen ist, eine klare Position zum Krieg zwischen der Ukraine und Russland einzunehmen und die Unterstützung beider Seiten abzulehnen, während jedoch eine kristallklare internationalistische Position gegen den Krieg im Nahen Osten von einigen Gruppen vermieden wurde oder sehr viel schwieriger zu vertreten ist. Ein Grund dafür ist, dass viele Gruppen immer noch an der Idee festhalten, dass hinter der Bildung eines palästinensischen Staates etwas Fortschrittliches stecken könnte. Wir verteidigen die Position der Kommunistischen Linken, die in Kontinuität mit der Verteidigung des Internationalismus zur Zeit des Ersten Weltkriegs auch den Internationalismus zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und gegen so genannte „nationale Befreiungskämpfe“ verteidigt hat. Die Unterstützung der Bildung eines neuen Staates in der von der Dritten Internationale als „Epoche der Kriege und Revolutionen“ bezeichneten Zeit ist eine völlig reaktionäre Idee, die nur weitere Kriege fördert. Wir müssen für die Abschaffung aller Staaten eintreten. Das Überleben des Planeten – der Menschheit – kann nicht durch mehr Staaten gesichert werden, sondern gerade die Abschaffung aller Staaten und die Überwindung aller Formen des Nationalismus.
Das war auch die Tradition der Gauche Communiste de France und von Marc Chirik, von dem ihr kürzlich ein Interview veröffentlicht habt.
Die Frage der „praktischen Aktionen“ gegen kapitalistische Kriege
Wir wünschten, wir könnten etwas mit unmittelbarer Wirkung gegen den Krieg tun. Unsere Empörung und Entrüstung über die Barbarei in der Ukraine oder im Nahen Osten führen verständlicherweise dazu, dass wir die Kriegsmaschinerie sofort stoppen möchten!
Aber wir müssen verstehen, dass Empörung nicht ausreicht und dass es nicht realistisch ist, von der Arbeiterklasse zu erwarten, dass sie sofort und entschlossen und kurzfristig effizient gegen den Krieg vorgeht. Um diesen und alle anderen Kriege beenden zu können, müssen wir nichts Geringeres tun, als den Kapitalismus zu überwinden!
Um das wahre Ausmaß der Herausforderung und die notwendige Lösung zu verstehen, müssen wir die Geschichte betrachten.
Es ist wahr, dass die Aufstände und Revolutionen der Arbeiterklasse im Jahr 1905 oder im Ersten Weltkrieg aus einer Reaktion gegen den Krieg entstanden sind. Aber die Bedingungen des damaligen Krieges und die der Gegenwart sind sehr unterschiedlich. In den Jahren 1914–18 wurden Millionen von Soldaten in den Kerngebieten des Kapitals mobilisiert; dies ist heute nicht mehr der Fall. Die Waffen, die 1914–18 eingesetzt wurden, waren Kanonen, zunehmend Panzer und auch einige Luftangriffe und chemische Waffen (Gas). Aber in den Schützengräben war es immer noch ein Kampf „Gewehr gegen Gewehr“. Der Krieg stagnierte, man verschanzte sich, und es gab immer noch die Möglichkeit des direkten Kontakts (Zurufe zwischen den Schützengräben). So konnte es nach einiger Zeit zu einer Verbrüderung in den Schützengräben kommen.
All dies ist heute nicht mehr der Fall. Die Waffen (Kugeln, Raketen, Drohnen, Bomben, Flugzeuge usw.) können große Entfernungen zurücklegen, so dass die Soldaten den Feind nicht einmal sehen.
Im Ersten Weltkrieg kam es schließlich zu einer massiven Mobilisierung der Soldaten – nicht nur zu Desertionen. Ab 1915 gab es Schritt für Schritt immer mehr Proteste auf der Straße und in den Betrieben, denn der Krieg bedeutete Arbeitsverdichtung, Militarisierung, erzwungenen „sozialen Frieden“ in den Betrieben und vor allem Hunger. Karl Liebknecht sprach vor 60.000 Arbeiterinnen und Arbeitern auf dem Potsdamer Platz, und es kam zu immer mehr Straßendemonstrationen und wilden Streiks – wobei auch die massenhafte Einberufung von Frauen in die Fabriken eine wichtige Rolle spielte. Die gesamte militärische Front und die Heimatfront brachen auseinander. In Russland begannen die Arbeiter gegen die Offiziere zu kämpfen und sich zu verbrüdern, und auch die vielen zwangsrekrutierten Bauern reagierten gegen den Krieg. Der menschliche/soziale Faktor spielte in der Kriegsmaschinerie eine Schlüsselrolle. Dennoch vergingen von August 1914 bis Februar 1917, dann bis Oktober 1917, drei Jahre des Gemetzels, und selbst die Revolution in Russland konnte den Krieg an den anderen Fronten noch nicht beenden. Erst im November 1918, mit dem Ausbruch der Revolution in Deutschland, kam es zu einer entscheidenden Wende, die den Weltkrieg beendete. Die Kieler Soldaten und Marinesoldaten hatten den Auftrag, die „letzte Schlacht“ gegen Großbritannien zu schlagen, doch die Matrosen erkannten, dass dies ihren Tod bedeuten würde. Sie mussten also direkt um ihr Leben, um ihr Überleben kämpfen. Die Kombination aus einer beginnenden Verbrüderung an der militärischen Front und dem Ausbruch von Kämpfen an der Heimatfront zwang die Bourgeoisie in Deutschland zu reagieren.
Diese Bedingungen sind heute nicht mehr gegeben. In der Ukraine und in Russland werden immer mehr Soldaten rekrutiert, und eine nennenswerte Reaktion der Klasse gegen den Krieg hat es bisher nicht gegeben – auch wenn es eine massive Abwanderung von Männern aus der Ukraine und noch viel mehr aus Russland gegeben hat, die der Zwangsrekrutierung entgehen wollten. Ein massiver offener Widerstand gegen den Krieg in Russland ist nicht in Sicht. Im Moment scheint es noch keine größere Lebensmittelknappheit oder einen Zusammenbruch der Wirtschaft zu geben. Es ist eine Besonderheit der russischen Situation, dass die russische Wirtschaft so stark von Öl- und Gasexporten abhängig war, dass die Sanktionen des Westens/der USA Russland gezwungen haben, mehr an andere Länder zu verkaufen – was Russland geholfen hat, Zeit zu gewinnen, und dem Putin-Regime geholfen hat, einen massiven wirtschaftlichen Angriff auf die Arbeiterklasse zu vermeiden. Aber dieser Zeitgewinn wird wahrscheinlich nicht ewig anhalten, und die Reaktion der Arbeiterklasse in Russland, die ein Schlüsselfaktor für die Ablehnung des Krieges wäre, bleibt ein unbekannter, unvorhersehbarer Faktor. Die Arbeiterklasse in der Ukraine ist noch mehr mit einem allgegenwärtigen Nationalismus konfrontiert. Jeglicher Widerstand gegen den Krieg wird wahrscheinlich vom Selenskyj-Regime niedergeschlagen werden.
Deshalb müssen wir uns die Arbeiterklasse im Westen ansehen. Weil die Arbeiterklasse im Westen nicht direkt für den Krieg mobilisiert werden kann – die meisten Arbeiter würden es ablehnen, ihr Leben für den Krieg zu opfern – und weil die NATO-Länder es sorgfältig vermieden haben, mit Stiefeln das Schlachtfeld zu betreten, weil sie wissen, dass die Arbeiterklasse und vielleicht andere Teile der Bevölkerung im Westen dies nicht unterstützen würden. So hat der Westen vor allem das gesamte Waffenarsenal geliefert, das zur Verlängerung des Krieges notwendig ist.
Paradoxerweise sind die Reaktionen in den USA in der republikanischen Partei sehr aufschlussreich. Die Ablehnung, den Krieg in der Ukraine weiter zu finanzieren, wächst, weil dies auf Kosten der US-Wirtschaft gehen würde. Sie sind sich auch bewusst, dass die Arbeiterklasse nicht bereit ist, ihr Leben zu opfern und für den Krieg in der Ukraine zu hungern.
Ein weiterer Faktor muss in Betracht gezogen werden. Im Oktober 1917 gelang es der Arbeiterklasse in Russland, eine relativ schwache und zu diesem Zeitpunkt noch isolierte Bourgeoisie zu stürzen. Die „Weiße Gegenoffensive“ mit dem Bürgerkrieg begann erst ein Jahr später.
Aber die deutsche Bourgeoisie war eine viel erfahrenere und mächtigere Bourgeoisie, und sie war in der Lage, den Krieg im November 1918 „über Nacht“ zu beenden, als die Matrosen von Kiel begannen, sich zu bewegen und Soldaten und Arbeiterräte zu gründen, die den Weg der russischen Revolution einschlugen.
Das deutsche Proletariat sah sich also einer viel erfahreneren, intelligenteren Bourgeoisie gegenüber, die sofort von den anderen Bourgeoisien unterstützt wurde, sobald das Proletariat in Deutschland sein Haupt zu erheben begann.
Heute steht die Arbeiterklasse einer zunehmend zerstritteneren Kapitalistenklasse gegenüber, die aber trotz ihrer Zerstrittenheit mehr denn je entschlossen ist, ihre Kräfte zu bündeln, wenn ihr Todfeind, die Arbeiterklasse, ihr Haupt erhebt. Und sie können auch auf die Gewerkschaften, die linken Parteien usw. zählen, um die Kämpfe der Arbeiter zu sabotieren. Eine unmittelbare Dynamik in Richtung einer Radikalisierung der Kämpfe gegen den Krieg ist also noch nicht zu erwarten.
Wie können die imperialistischen Konflikte in einen revolutionären Klassenkampf umgewandelt werden?
Wo liegt der Schlüssel?
Der Schlüssel liegt immer noch in den Händen der Arbeiterklasse.
Wir sind der Meinung, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen in Großbritannien, Frankreich und seit kurzem auch in den USA begonnen haben, den Beweis dafür zu erbringen. Angetrieben von der Inflation oder anderen starken Angriffen hat die Arbeiterklasse in vielen Ländern begonnen, sich zu bewegen und eine jahrzehntelange Periode der Passivität und Desorientierung angesichts der sich entfaltenden Ereignisse zu durchbrechen. Deshalb sprechen wir von einem „Bruch“ im Klassenkampf.[3]
Wir denken, dass diese Fähigkeit der Arbeiterklasse, ihre wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen, die Voraussetzung für die Entwicklung ihrer Stärke, ihres Selbstbewusstseins ist, durch die das Proletariat sich selbst erkennen und klar verstehen kann, dass es zwei große Klassen gibt, die einander gegenüberstehen.
In diesem Sinne sind die wirtschaftlichen Verteidigungskämpfe absolut notwendig. In diesen wirtschaftlichen Kämpfen muss die Arbeiterklasse lernen, die Kämpfe selbst in die Hand zu nehmen (was sie schon lange nicht mehr getan hat), sie muss wieder lernen, ihre wirklichen Feinde (dies sind nicht die Migranten, die Flüchtlinge – wie alle Populisten und die Rechten behaupten – sondern diejenigen, die sie ausbeuten!) und ihre Klassenbrüder und -schwestern zu identifizieren, die eine Klassensolidarität entwickeln können, indem sie sich zusammenschließen und die Kämpfe selbst aufnehmen.
Und durch die wirtschaftlichen Abwehrkämpfe müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter wieder lernen zu erkennen, dass die Probleme viel tiefer im System verwurzelt sind und nicht die Schuld irgendeines faulen und gierigen Bankers sind (wie uns die Occupy-Bewegung von 2011 glauben machen wollte) und dass auch alle anderen Bedrohungen für das Überleben der Menschheit im Grunde im System verwurzelt sind. So braucht dieser Prozess der Politisierung das Feuer des Klassenkampfes, aber die Diskussionen, die in verschiedenen Teilen der Klasse geführt werden, können durch diese offenen Kämpfe vorangetrieben und katalysiert werden.
Rosa Luxemburg betonte im November/Dezember 1918 die Unverzichtbarkeit eines viel stärkeren Drucks von Seiten der Fabriken und der ökonomischen Kämpfe, nachdem der „Soldatenrevolution“ durch die Entscheidung der Bourgeoisie, den Krieg zu beenden, der Wind aus den Segeln genommen worden war.
Dies ist die Dynamik des Klassenkampfes seit 1905, als klar wurde, dass politische und wirtschaftliche Kämpfe in einem großen Strom zusammenfließen müssen: dem Massenstreik.
Und indem die Arbeiterklasse durch den Kampf für ihre wirtschaftlichen Interessen zu einer Klasse zusammenwächst, kann sie auch den zerstörerischen Einfluss aller Arten von trennenden Faktoren wie „identitären“ Themen (um Rasse, Sexualität usw.) blockieren. Indem die Arbeiterklasse durch ihre wirtschaftlichen Kämpfe gezwungen ist, die Solidarität aller anderen Arbeiterinnen und Arbeiter zu suchen, um sich dem Staat zu widersetzen, und durch die Ausweitung und Vereinheitlichung der Kämpfe stärker als die Kapitalistenklasse zu sein, kann die Arbeiterklasse die Rolle eines Magneten in der Gesellschaft spielen, der all jenen eine Perspektive bietet, die vom Kapital unterdrückt werden – nicht indem sie sich in einer anonymen Masse von Individuen auflöst, sondern indem sie als vereinte Kraft gegen die herrschende Klasse auftritt.
Wenn wir darauf bestehen, dass die Klasse ihre ökonomischen Kämpfe entwickeln muss, bedeutet das mitnichten, dass wir vor unserer Verantwortung gegenüber dem Krieg davonlaufen. Aber es ist der einzige Weg, um eine effiziente Antwort zu entwickeln. Zu glauben, dass eine sofortige Lösung durch irgendeine Art von Minderheiten-“Aktion“ gefunden werden kann, ist eine Sackgasse und wird letztendlich diejenigen, die sich daran beteiligen, demoralisieren.
Es ist unerlässlich zu verstehen, wie Anton Pannekoek in seinem berühmten Buch „Weltrevolution und kommunistische Taktik“ von 1920 betonte, dass die proletarische Revolution die erste Revolution in der Geschichte ist, die vollständig von der kollektiven, bewussten und massiven Aktion der Arbeiterklasse abhängt. Sie kann auf keine andere Kraft zählen als auf ihre eigene Stärke – ihr Bewusstsein und ihre Solidarität, ihre Fähigkeit zur Einigung.
Sich Illusionen über einen einfachen und schnellen Ausweg zu machen, ist irreführend und demoralisierend. Deshalb haben wir den Plan der Internationalist Communist Tendency ICT, Komitees gegen den Krieg (NO War But The Class War, NWBTCW) zu bilden, abgelehnt. Unserer Ansicht nach vernebeln diese Komitees die wesentliche politische Rolle, die revolutionäre Organisationen angesichts imperialistischer Kriege spielen müssen. Wir haben mehrere Artikel darüber geschrieben.[4]
Kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges haben wir auch in einem Artikel über Militarismus und Zerfall zu dieser Frage Stellung genommen, aus dem wir hier zitieren:
„8) In der Vergangenheit haben wir die Losung des "revolutionären Defätismus" kritisiert. Diese Losung, die während des Ersten Weltkriegs insbesondere von Lenin hervorgehoben wurde, beruhte auf einem grundlegend internationalistischen Anliegen: der Entlarvung der von den Sozialchauvinisten verbreiteten Lügen, dass ihr Land zuvor den Sieg erringen müsse, damit die Proletarier dieses Landes in den Kampf für den Sozialismus eintreten könnten. Angesichts dieser Lügen wiesen die Internationalist:innen darauf hin, dass nicht der Sieg eines Landes den Kampf der Proletarier dieses Landes gegen ihre Bourgeoisie förderte, sondern im Gegenteil seine Niederlage (wie die Beispiele der Pariser Kommune nach der Niederlage gegen Preußen und der Revolution von 1905 nach dem Debakel Russlands gegen Japan gezeigt hatten). Später wurde diese Parole des "revolutionären Defätismus" so interpretiert, dass das Proletariat in jedem Land die Niederlage der eigenen Bourgeoisie herbeisehnt, um den Kampf für deren Sturz zu fördern, was natürlich einem echten Internationalismus den Boden entzieht. In Wirklichkeit hat Lenin selbst (der 1905 die Niederlage Russlands gegen Japan begrüßt hatte) vor allem die Losung "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg" hervorgehoben, die eine Konkretisierung des Änderungsantrags darstellte, den er zusammen mit Rosa Luxemburg und Martow auf dem Stuttgarter Kongress der Sozialistischen Internationale 1907 eingebracht und durchgesetzt hatte: "Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“ (Internationaler Sozialistenkongress zu Stuttgart, 1907)
Die Revolution in Russland 1917 war eine glänzende Umsetzung der Losung "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg": Die Proletarier richteten die Waffen, die ihnen die Ausbeuter anvertraut hatten, um ihre Klassenbrüder in anderen Ländern abzuschlachten, gegen ihre Ausbeuter. Obwohl es, wie oben erwähnt, nicht ausgeschlossen ist, dass Soldaten ihre Waffen gegen ihre Offiziere richten könnten (im Vietnamkrieg kam es vor, dass amerikanische Soldaten "versehentlich" Vorgesetzte töteten), wären solche Vorfälle nur von sehr begrenztem Ausmaß und könnten in keiner Weise die Grundlage für eine revolutionäre Offensive bilden. Aus diesem Grund sollten wir in unserer Propaganda weder die Losung des "revolutionären Defätismus", noch die Losung der "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg" in den Vordergrund stellen.
Aus diesem Grund muss in unserer Propaganda nicht nur die Losung vom "revolutionären Defätismus", sondern auch die Losung von der "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg" in Frage gestellt werden.
Allgemeiner gesagt, ist es die Verantwortung der Gruppen der Kommunistischen Linken, eine Bilanz der Positionierung der Revolutionäre gegenüber dem Krieg in der Vergangenheit zu ziehen, indem sie herausstellen, was weiterhin gültig ist (die Verteidigung der internationalistischen Prinzipien) und was nicht mehr gilt (die "taktischen" Losungen). In diesem Sinne kann zwar die Losung von der "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg" von nun an keine realistische Perspektive mehr darstellen, aber es ist andererseits angebracht, die Gültigkeit des 1907 auf dem Stuttgarter Kongress angenommenen Zusatzes zu betonen und insbesondere die Idee, dass Revolutionäre "die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen" haben. Diese Losung ist angesichts der gegenwärtigen Schwäche des Proletariats natürlich nicht sofort umsetzbar, aber sie bleibt ein Wegweiser für das Eingreifen der Kommunisten in die Klasse.“ [5]
Was dies für die Rolle der Revolutionäre bedeutet, die eine kleine Minderheit sind, haben wir in unserer „Gemeinsamen Erklärung gegen den Krieg“ und in unserem Aufruf an die Gruppen der Kommunistischen Linken, den ihr vielleicht gesehen habt, zu entwickeln versucht.[6]
Wir würden uns freuen, wenn ihr uns über die Diskussionen in euren Reihen informieren würdet, und wir sind natürlich auch gerne bereit, direkt mit euch zu diskutieren. Wenn ihr Material habt, das ihr uns zur Lektüre empfiehlt, schickt es uns bitte zu.
Wir hoffen, dass wir bald einen direkten Austausch in die Wege leiten können.
Wir sind gespannt auf eure Entgegnung – und entschuldigt uns nochmals die späte Antwort.
Kommunistische Grüße
Internationale Kommunistische Strömung IKS
10.12.2023
Ausgewählte Texte
Der Kapitalismus führt zur Zerstörung der Menschheit, nur die Weltrevolution des Proletariats kann dem ein Ende setzen (Beilage zur Weltrevolution: Drittes Manifest der IKS)
Massaker und Kriege in Israel, Gaza, der Ukraine, Aserbaidschan...
Der Kapitalismus sät den Tod! Wie kann er daran gehindert werden? (Flugblatt, November 2023)
Die Realität hinter den bürgerlichen Slogans, IKSonline 2023
Der Krieg im Nahen Osten: ein weiterer Schritt in die Barbarei und das globale Chaos, Weltrevolution Nr. 186
Aktualisierung des Orientierungstextes von 1990: Militarismus und Zerfall (Mai 2022), Internationale Revue Nr. 58
Bericht des 25. Kongresses über die imperialistischen Spannungen, Internationale Revue Nr. 59
[2] The revolutionary movement and the Second World War: interview with Marc Chirik, 1985; Between internationalism and the “defence of the nation”. Der Artikel von AMI selber Anarchistischer Antimilitarismus und Mythen über den Krieg in der Ukraine ist eine sehr klare Antwort auf die Argumente der “Anarcho-Verteidiger”.
[3] Unser Artikel dazu in Englisch: The struggle is ahead of us!, World Revolution 398
[4] Die ICT und die Initiative NWBTCW: ein opportunistischer Bluff der die Kommunistische Linke schwächt, Weltrevolution Nr. 186
[5] Aktualisierung des Orientierungstextes von 1990: Militarismus und Zerfall (Mai 2022), Internationale Revue Nr. 58
[6] Ukraine Dossier: Capitalism is War - War on Capitalism!
Gemeinsame Erklärung von Gruppen der internationalen Kommunistischen Linken zum Krieg in der Ukraine, Internationale Revue Nr. 58
Schluss mit den Massakern, keine Unterstützung für irgendein imperialistisches Lager! Nein zu pazifistischen Illusionen! Proletarischer Internationalismus!, IKS Online, Oktober 2023