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Marx und die Judenfrage
In der Ausgabe unserer Revue International Nr. 113 (franz./engl./span. Ausgabe) veröffentlichten wir einen Artikel über Polanskis Film Der Pianist, dessen Thema der Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 und der Genozid der europäischen Juden durch die Nazis war. 60 Jahre nach dem unbeschreiblichen Horror dieses Vernichtungsfeldzuges könnte man der Ansicht sein, dass der Antisemitismus eine Sache der Vergangenheit ist – die Konsequenzen des antijüdischen Rassismus sind so klar, dass er eigentlich ein für allemal diskreditiert sein müsste. Und dennoch ist dies überhaupt nicht der Fall. Tatsächlich sind die alten antisemitischen Ideologien so schädlich und weit verbreitet wie ehedem, selbst wenn sich ihr Hauptschwerpunkt von Europa in die „muslimische“ Welt und insbesondere zum „islamischen Fundamentalismus“ verschoben hat, der von Osama bin Laden personifiziert wird, welcher in all seinen Verkündungen nie vergisst, die „Kreuzzügler und Juden“ als Feinde des Islams und als willkommene Ziele von Terroranschlägen zu attackieren. Ein typisches Beispiel für diese „islamische“ Version des Antisemitismus ist die Website von „Radio Islam“, dessen Motto „Rasse? Nur eine menschliche Rasse“ lautet. Die Website behauptet, gegen alle Formen des Rassismus gerichtet zu sein, doch bei näherer Inaugenscheinnahme wird deutlich, dass sie sich hauptsächlich mit „dem jüdischen Rassismus gegen Nicht-Juden“ beschäftigt; in der Tat ist dies ein Archiv klassischer antisemitischer Traktate, von den Protokollen der Weisen von Zion, einer zaristischen Fälschung aus dem späten 19. Jahrhundert, die vorgeben, die Aufzeichnungen eines Treffens jüdischer Weltverschwörer zu sein, bis hin zu Hitlers Mein Kampf und den aktuelleren Hetzschriften des Führers der ¸Nation of Islam‘ in den USA, Louis Farrakhan.
Solche öffentlichkeitswirksamen Unternehmungen – und sie nehmen heute massive Ausmasse an – demonstrieren, dass die Religion zu einer der Hauptvehikel für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, für das Schüren pogromartiger Verhaltensweisen, für die Spaltung der Arbeiterklasse und der Unterdrückten allgemein geworden ist. Und wir sprechen hier nicht bloss von Ideen, sondern über ideologische Rechtfertigungen wirklicher Massaker, ob sie nun die orthodoxen Serben, die katholischen Kroaten oder die bosnischen Moslems in Ex-Jugoslawien, die Protestanten und Katholiken in Ulster, die Moslems und Christen in Afrika und Indonesien, die Hindus und Moslems in Indien oder die Juden und Moslems in Israel/Palästina betreffen.
In zwei früheren Artikeln in der Internationalen Revue – „Resurgent Islam, a symptom of the decomposition of capitalist social relations“ (International Review Nr. 109, franz./engl./span. Ausgabe) und „Marxism’s fight against religion: economic slavery is the source of the religious mystification“ (International Review Nr. 110, franz./engl./span. Ausgabe) – zeigten wir, dass dieses Phänomen ein realer Ausdruck des fortgeschrittenen Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft ist. In diesem Artikel wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Juden richten. Nicht nur, weil vor 160 Jahren, 1843, Karl Marx seinen berühmten Aufsatz Zur Judenfrage veröffentlicht hat, sondern auch, weil Marx, dessen gesamtes Leben der Sache des proletarischen Internationalismus gewidmet war, heute als Theoretiker des Antisemitismus zitiert wird – normalerweise, aber nicht immer missbilligend. Auch hier ist die Website von Radio Islam sehr anschaulich: Auf ihr erscheint der Aufsatz von Marx auf derselben Seite wie die Protokolle der Weisen von Zion, obwohl die Website auch Stürmer-ähnliche Karikaturen veröffentlicht, in denen Marx beschimpft wird, weil er selbst ein Jude ist.
Diese Beschuldigung gegen Marx ist nicht neu. Der Aufsatz von Marx wurde 1960 von Dagobert Runes unter dem neuen Titel Eine Welt ohne Juden veröffentlicht. Darin wird behauptet, dass Marx ein früher Protagonist der „Endlösung“ des jüdischen Problems gewesen sei. In der jüngeren Geschichte der Juden erhob der rechte britische Intellektuelle Paul Johnson ähnliche Anschuldigungen und zögerte nicht, eine antisemitische Komponente in dem blossen Wunsch nach Abschaffung des Kaufens und Verkaufens als gesellschaftliche Grundlage zu finden. Zumindest sei Marx ein „sich selbst hassender“ Jude (heute öfter denn je ein Attribut, das das jüdische Establishment jedem jüdischen Nachkommen anheftet, der sich kritisch gegenüber dem israelischen Staat verhält).
Gegenüber all diesen grotesken Verzerrungen ist es unser Ziel in diesem Artikel nicht nur Marx gegenüber denjenigen zu verteidigen, die danach trachten, ihn gegen seine eigenen Prinzipien benutzen, sondern auch zu zeigen, dass das Werk von Marx den einzigen Ausgangspunkt bildet, um das Problem des Antisemitismus zu verstehen und zu überwinden.
Der historische Kontext von Marx‘ Aufsatz Zur Judenfrage
Es macht keinen Sinn, Marx’ Aufsatz ausserhalb seines historischen Kontexts zu präsentieren oder zu zitieren. Zur Judenfrage wurde im Rahmen des allgemeinen Kampfes für den politischen Wechsel im halbfeudalen Deutschland geschrieben. Die Debatte darüber, ob Juden dieselben Bürgerrechte wie dem Rest der Bevölkerung Deutschlands eingeräumt werden sollten, war ein Aspekt in diesem Kampf. Als Herausgeber der Rheinischen Zeitung hatte Marx ursprünglich beabsichtigt, eine Antwort auf die offen reaktionären, antisemitischen Schriften eines gewissen Hermes zu verfassen, der die Juden im Ghetto halten und die christliche Basis des Staates bewahren wollte. Doch nachdem der Linkshegelianer Bruno Bauer mit zwei Essays, Die Judenfrage und Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden, in den Ring getreten war, fühlte Marx, dass es wichtiger war, gegen das zu polemisieren, was er als den falschen Radikalismus in Bauers Sichtweise ansah.
Wir sollten dabei in Erinnerung rufen, dass in dieser Phase seines Lebens Marx sich im Übergang vom Radikaldemokraten zum Kommunisten befand. Er war im Pariser Exil und gelangte unter den Einfluss französischer kommunistischer Handwerker (vgl. „How the proletariat won Marx to communism“, International Review Nr. 69, franz./engl./span. Ausgabe); in der zweiten Hälfte von 1843 identifizierte er in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie das Proletariat als Träger einer neuen Gesellschaft. 1844 traf er Engels, der ihm half, die Wichtigkeit des Verständnisses der ökonomischen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens zu sehen; die Ökonomischen und philosophischen Manuskripte, im gleichen Jahr verfasst, waren sein erster Versuch, all diese Entwicklung in ihrem wahren Ausmass zu begreifen. 1845 schrieb er die Thesen über Feuerbach, die seinen definitiven Bruch mit dem einseitigen Materialismus von Letzterem ausdrückten.
Die Polemik mit Bauer über die Frage der Bürgerrechte und der Demokratie, in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht, waren ohne Frage ein Moment in diesem Übergang.
Zu jener Zeit war Bauer ein Sprecher der „Linken“ in Deutschland, obwohl der Keim seiner späteren Entwicklung zu den Rechten bereits in seiner Haltung gegenüber der jüdischen Frage bemerkbar war, als er eine scheinradikale Position einnahm, die letztlich als Entschuldigung dafür endete, nichts zu tun, um den Status quo zu ändern. Laut Bauer war es sinnlos, die politische Emanzipation für die Juden in einem christlichen Staat zu fordern. Es sei sowohl für die Christen als auch für die Juden zunächst notwendig, ihren Glauben und ihre religiöse Identität aufzugeben, um eine wirkliche Emanzipation zu erlangen; in einem wahrhaft demokratischen Staat gebe es kein Bedürfnis nach religiöser Ideologie. In der Tat, wenn überhaupt, dann seien es die Juden, die dabei weitergehen müssen als die Christen: Aus der Sicht der Linkshegelianer war das Christentum die letzte religiöse Hülle, in der sich der Kampf für die Emanzipation des Menschen historisch ausgedrückt hat. Da sie die universalistische Botschaft des Christentums ablehnen, müssten die Juden zwei Schritte tun, während die Christen nur einen machen müssten.
Der Übergang von dieser Sichtweise zu Bauers späterem offenen Antisemitismus ist nicht schwer zu sehen. Marx mag dies gut gespürt haben, doch seine Polemik fängt mit der Verteidigung der Position an, dass das Zugeständnis „normaler“ Bürgerrechte gegenüber den Juden, was er „politische Emanzipation“ nennt, „ein grosser Schritt nach vorn“ sei; in der Tat war sie ein Zug früherer bürgerlicher Revolutionen (Cromwell hatte es den Juden gestattet, nach England zurückzukehren, und der napoleonische Code civile gestand den Juden Bürgerrechte ein). Sie sei Teil eines allgemeineren Kampfes, um die feudalen Barrieren zu beseitigen und einen modernen demokratischen Staat zu schaffen, der insbesondere in Deutschland mittlerweile lange überfällig sei.
Doch Marx war sich bereits darüber bewusst, dass der Kampf für politische Demokratie nicht das endgültige Ziel war. Zur Judenfrage scheint einen bedeutsamen Fortschritt gegenüber einem Text darzustellen, der kurz zuvor geschrieben worden war, die Kritik der Hegelschen Staatstheorie. In diesem Text treibt Marx den Gedanken der Radikaldemokratie bis ins Äusserste, indem er argumentierte, dass wahrhafte Demokratie – allgemeines Wahlrecht – die Auflösung des Staates und der zivilen Gesellschaft bedeuten würde. Im Gegensatz dazu behauptet Marx in Zur Judenfrage, dass eine rein politische Emanzipation – er benutzt gar den Begriff der „vollendeten Demokratie“ – viel zu wenig sei für eine wirkliche menschliche Emanzipation.
In diesem Text erkennt Marx deutlich an, dass die zivile Gesellschaft eine bürgerliche Gesellschaft ist – eine Gesellschaft von isolierten Egos, die auf dem Markt gegeneinander konkurrieren. Es ist eine Gesellschaft der Entfremdung (Es war der erste Text, in dem Marx diesen Begriff benutzte), in der die Mächte, die vom Menschen selbst in Bewegung gesetzt wurden – nicht nur die Macht des Geldes, sondern auch die Staatsmacht selbst – unvermeidlich zu fremden Mächten werden, die das Leben des Menschen beherrschen. Dieses Problem wird nicht durch die Errichtung der politischen Demokratie und der Menschenrechte gelöst. Diese basieren noch immer mehr auf dem Gedanken des atomisierten Bürgers statt auf dem einer wahrhaftigen Gemeinschaft. „Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist. Weit entfernt, dass der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefasst wurde, erschien vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuen äusserlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbständigkeit. Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person“ (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 366).
Ein weiterer Beweis dafür, dass Entfremdung nicht als Ergebnis der politischen Demokratie verschwindet, war, wie Marx hervorhob, das Beispiel Nordamerikas, wo die Religion formal vom Staat getrennt wurde und dennoch Amerika das Land der religiösen Überwachung und der religiösen Sekten par excellence war.
Also: Während Bauer argumentierte, dass es Zeitverschwendung sei, für die politische Emanzipation der Juden als solche zu kämpfen, verteidigte und unterstützte Marx diese Forderung:
„Wir sagen also nicht mit Bauer den Juden: Ihr könnt nicht politisch emanzipiert werden, ohne euch radikal vom Judentum zu emanzipieren. Wir sagen ihnen vielmehr: Weil ihr politisch emanzipiert werden könnt, ohne euch vollständig und widerspruchslos vom Judentum loszusagen, darum ist die politische Emanzipation selbst nicht die menschliche Emanzipation. Wenn ihr Juden politisch emanzipiert werden wollt, ohne euch selbst menschlich zu emanzipieren, so liegt die Halbheit und der Widerspruch nicht nur in euch, sie liegt in dem Wesen und der Kategorie der politischen Emanzipation“ (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 361). Konkret bedeutet dies für Marx, dass er das Gesuch der lokalen jüdischen Gemeinde, eine Petition zugunsten der Bürgerrechte für Juden zu schreiben, akzeptierte. Diese Vorgehensweise gegenüber politischen Reformen sollte zur charakteristischen Haltung der Arbeiterbewegung während der aufsteigenden Periode des Kapitalismus werden. Doch Marx blickte bereits auf den weiteren Verlauf der Geschichte – auf die zukünftige kommunistische Gesellschaft –, selbst wenn dies nicht ausdrücklich in Zur Judenfrage gesagt worden war. Dies ist die Schlussfolgerung am Ende des ersten Teils seiner Antwort auf Bauer. „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ¸forces propre‘ (eigene Kräfte) als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht“ (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 370).
Marx‘ angeblicher Antisemitismus
Es ist der zweite Teil des Textes, in dem er auf Bauers zweiten Artikel antwortet, der Marx in die Schusslinie der verschiedensten Richtungen geraten liess und der von der neuen Welle des islamischen Antisemitismus dafür missbraucht wird, um dessen obskure Weltsicht zu stützen. „Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 372). „Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein anderer Gott bestehen darf. Das Geld erniedrigt alle Götter des Menschen – und verwandelt sie in eine Ware. Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an. (...) Der Gott des Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden. Der Wechsel ist der wirkliche Gott des Juden. Sein Gott ist nur der illusorische Wechsel“ (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 374/375).
Diese und andere Passagen in Zur Judenfrage sind aufgegriffen worden, um zu beweisen, dass Marx einer der Gründungsväter des modernen Antisemitismus sei, dessen Essay dem rassistischen Mythos des Blut saugenden jüdischen Parasiten Respekt verleiht.
Es ist wahr, dass viele der Formulierungen, die Marx in diesem Abschnitt benutzt, heute nicht mehr auf dieselbe Weise verwendet werden können. Es trifft auch zu, dass weder Marx noch Engels völlig frei von bürgerlichen Vorurteilen waren und dass einige ihrer Verkündungen über besondere Nationalitäten dies widerspiegeln. Aber daraus zu schliessen, dass Marx und der Marxismus unauslöschlich besudelt sind mit dem Rassismus, ist ein Zerrbild seiner Gedanken.
All diese Ausdrücke müssen in ihrem historische Zusammenhange betrachtet werden. Wie Hal Draper im Anhang seines Buches Karl Marx’s Theory of Revolution, Bd. 1 (Monthly Review Press, 1977) erläutert, war die Identifizierung des Judentums mit dem Handel bzw. mit dem Kapitalismus Teil der damaligen Sprache und wurde von einer ganzen Reihe von radikalen und sozialistischen Denkern übernommen, einschliesslich jüdischer Radikaler wie Moses Hess, der zu jener Zeit Einfluss auf Marx (und tatsächlich auf den Aufsatz Zur Judenfrage) hatte.
Trevor Ling, ein Religionshistoriker, kritisierte Marx‘ Aufsatz von einer anderen Seite her: „Marx hatte einen beissenden journalistischen Stil und schmückte seine Seiten mit vielen cleveren und satirischen Redewendungen aus. Seine Schreibweise, von der gerade Beispiele gegeben wurden, ist ein guter, kraftvoller Flugblattstil und beabsichtigte zweifellos, das Blut in Wallung zu bringen, aber hat wenig auf dem Gebiet einer nützlichen soziologischen Analyse zu bieten. Solche groben Oberflächlichkeiten wie ¸Judentum‘ und ¸Christentum‘ entsprechen, wenn sie in dieser Art von Zusammenhang gebracht werden, nicht den historischen Realitäten.; sie sind das Etikett Marx´ eigener, krankhafter Konstrukte“ (T. Ling, Karl Marx and Religion, Macmillan Press, 1980; eigene Übersetzung). Doch ein paar beissende Redewendungen von Marx schaffen üblicherweise schärfere Mittel, um eine Frage tiefgründiger zu untersuchen, als die studierten Abhandlungen der Akademiker. Jedenfalls versucht Marx hier keineswegs, eine Geschichte der jüdischen Religion zu schreiben, die natürlich nicht auf eine blosse Rechtfertigung des Kommerzes reduziert werden kann, nicht zuletzt deshalb, weil ihre antiken Ursprünge in einer gesellschaftlichen Ordnung liegen, in den Geldbeziehungen eine sehr untergeordnete Rolle gespielt hatten und ihr Inhalt auch die Existenz von Klassenteilungen unter den Juden selbst widerspiegelt hatte (zum Beispiel in den Schmähschriften der Propheten gegen die Korruption der herrschenden Klasse im altertümlichen Israel). Wie wir gesehen haben, benutzt Marx, nachdem er das Bedürfnis der jüdischen Bevölkerung nach denselben „Bürgerrechten“ wie alle anderen Bürger verteidigt hat, die verbale Analogie zwischen Judentum und Warenverhältnisse dazu, um eine Gesellschaft zu fordern, die frei von Warenbeziehungen ist. Dies ist die wirkliche Bedeutung seiner abschliessenden Äusserung: „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“ (K. Marx, Zur Judenfrage, 1843, Werke Bd. 1, S. 377). Dies hat nichts mit irgendwelchen Komplotten zur physischen Ausrottung der Juden zu tun trotz Dagobert Runes widerlichen Andeutungen; es bedeutet, dass, solange die Gesellschaft von den Warenbeziehungen beherrscht wird, die menschlichen Wesen nicht ihre eigenen gesellschaftlichen Kräfte erobern können und entfremdet von allen anderen bleiben.
Gleichzeitig schuf Marx das Fundament für eine materialistische Analyse der jüdischen Frage – ein Werk, das von späteren Marxisten wie Kautsky und insbesondere Abraham Leon[1] fortgesetzt wurde. Marx hebt im Gegensatz zur idealistischen Erklärung, die versuchte, das hartnäckige Überleben der Juden als Folge ihrer religiösen Überzeugung zu erklären, hervor, dass das Überleben ihrer abgesonderten Identität nur auf der Basis ihrer wahren Rolle in der Geschichte erklärt werden kann: „Das Judentum hat sich nicht trotz der Geschichte, sondern durch die Geschichte erhalten.“ (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 374). Und dies ist in der Tat verknüpft mit der Verbindung zwischen Juden und Geschäft: „Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden.“ (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 372). Und hier benutzt Marx das Wortspiel des Judentums als Religion und des Judentums als Synonym für Handels- und Finanzmacht, das auf einen realistischen Kern fusste: die besondere sozio-ökonomische Rolle, die die Juden innerhalb des alten feudalen Systems gespielt hatten.
Leon gründet in seinem Buch Die jüdische Frage – eine marxistische Interpretation seine gesamte Untersuchung auf diese wenigen klaren Sätze in Zur Judenfrage und auf eine weitere Stelle im Kapital, in der „… die Juden in den Poren der polnischen Gesellschaft“ (K. Marx, Das Kapital, Werke Bd. 25, S. 342), verglichen werden mit den anderen „Handelsvölkern“ in der Geschichte. Ausgehend von den paar Brocken entwickelt er den Gedanken, dass die Juden in der antiken Gesellschaft und im Feudalismus als eine „Volksklasse“ fungierten, die sich grösstenteils auf Handels- und Geldbeziehungen in Gesellschaften beschränkte, die vornehmlich auf Naturalwirtschaft basierten. Besonders im Feudalismus war dies in religiösen Gesetzen kodifiziert, die es den Christen untersagten, Wucher zu treiben. Aber Leon hat Auch gezeigt, dass das Verhältnis des Juden zum Geld nicht immer nur auf den Wucher begrenzt war. Sowohl in der Antike als auch in der Feudalgesellschaft waren die Juden ein ausgeprägtes Handelsvolk und personifizierten die Warenbeziehungen, die noch nicht über die Wirtschaft herrschten, dafür aber die versprengten Gemeinschaften verbanden, in denen die Produktion grösstenteils für den direkten Verbrauch bestimmt war und die Masse des gesellschaftlichen Mehrwerts von der herrschenden Klasse direkt angeeignet und konsumiert wurde. Diese eigentümliche sozio-ökonomische Funktion (die natürlich eine allgemeine Tendenz war und nicht ein absolutes Gesetz für alle Juden) schuf die materielle Basis für das Überleben der jüdischen Gesellschaft innerhalb der feudalen Gesellschaft. Da, wo Juden andere Tätigkeiten ausübten, neigten sie allerdings schnell dazu, sich zu assimilieren.
Doch dies heisst nicht, dass die Juden die ersten Kapitalisten waren (ein Punkt, der im Aufsatz von Marx noch nicht richtig klar war, weil er die Natur des Kapitals noch nicht völlig begriffen hatte); im Gegenteil, es war der Aufstieg des Kapitalismus, der mit einigen der schlimmsten Phasen der antisemitischen Verfolgungen zusammenfiel. Im Gegensatz zum zionistischen Mythos, dass die Verfolgung der Juden eine Konstante in der gesamten Geschichte gewesen sei – und dass sie sich niemals davon frei machen könnten, solange sie sich nicht in einem eigenen Land sammeln[2] –, zeigt Leon auf, dass die Juden, solange sie eine „nützliche“ Rolle in diesen vorkapitalistischen Gesellschaften spielten, normalerweise toleriert und oft besonders geschützt wurden von den Monarchen, die deren finanzielle Geschicke und Dienste benötigten. Erst das Auftreten einer „einheimischen“ Händlerklasse, die begann, ihre Profite zu nutzen, um sie in die Produktion zu investieren (z.B. der englische Wollhandel, Schlüssel zum Ursprung der englischen Bourgeoisie), brachte das Unheil über die Juden, die nun eine überlebte Form der Warenwirtschaft verkörperten und als ein Hindernis bei der Entwicklung ihrer neuen Formen betrachtet wurden. Dies zwang immer mehr jüdische Händler in die einzige ihnen offen stehende Geschäftsform – den Kreditwucher. Doch brachte diese Praxis die Juden in direkten Konflikt mit den Hauptschuldnern in der Gesellschaft – dem Adel auf der einen Seite und den kleinen Handwerkern und Bauern auf der anderen. Es ist zum Beispiel bedeutsam, dass die schlimmsten Pogrome gegen die Juden in Westeuropa in jener Periode stattfanden, als der Feudalismus zu zerfallen begann und der Kapitalismus sich im Aufstieg befand. In England wurden die Juden Yorks und anderer englischer Städte 1189–1190 niedergemetzelt und die gesamte jüdische Bevölkerung vertrieben. Oft wurden die Pogrome vom Adel provoziert, der den Juden grosse Geldbeträge schuldete und in den Kleinproduzenten willige Anhänger fand, die ebenfalls oft bei jüdischen Geldleihern in der Kreide standen; beide hofften, aus der Auslöschung oder Vertreibung der Kreditwucherer, aus der Schuldenaussetzung sowie aus der Inbesitznahme des Privateigentums derselben einen nutzen zu ziehen. Die jüdische Emigration von West- nach Osteuropa in der Morgendämmerung der kapitalistischen Entwicklung bedeutete einen Rückzug auf traditionellere, noch feudal dominierte Gebiete, wo die Juden zu ihrer eigenen, traditionelleren Rolle zurückkehren konnten; im Gegensatz dazu neigten jene Juden, die in Westeuropa zurückblieben, dazu, sich der sie umgebenden bürgerlichen Gesellschaft anzupassen. Besonders eine jüdische Fraktion der kapitalistischen Klasse (verkörpert durch die Rothschild-Familie) war das Produkt jener Periode; parallel dazu entwickelte sich das jüdische Proletariat, obgleich sich sowohl die östlichen als auch die westlichen jüdischen Arbeiter vornehmlich auf die Handwerksbereiche und nicht die Schwerindustrie konzentrierten und die Mehrheit der Juden weiterhin dem Kleinbürgertum, oft in Gestalt der Kleinhändler, angehörte.
Diese Schichten – kleine Händler, Handwerker, Arbeiter – wurden durch den Zerfall des Feudalismus im Osten und durch das Aufkommen einer kapitalistischen Infrastruktur, die bereits viele Züge ihres Verfalls offenbarte, ins tiefste Elend gestossen. Im späten 19. Jahrhundert gab es neue antisemitische Verfolgungen in Russland, die einen neuerlichen jüdischen Exodus, diesmal in den Westen, auslösten, was erneut das jüdische Problem in den Rest der Welt, besonders nach Deutschland und Österreich „exportierte“. Diese Periode war Zeuge der Entwicklung der zionistischen Bewegung, die von links bis nach rechts dafür stritt, dass sich die Lage des jüdischen Volkes niemals normalisieren werde, solange es keine eigene Heimat habe – ein Argument, dessen Sinnlosigkeit, laut Leon, durch den Holocaust selbst bestätigt wurde, da nichts von dem durch das Auftreten einer kleinen „jüdischen Heimat“ in Palästina verhindert werden konnte.[3]
Abraham Leon, der inmitten des Nazi-Holocausts schrieb, zeigt, wie der Antisemitismus, der sich in Nazieuropa ausbreitete, die Dekadenz des Kapitalismus ausdrückt. Auf der Flucht vor den zaristischen Verfolgungen fanden die jüdischen Immigrantenmassen in Westeuropa keinesfalls eine Oase des Friedens und der Ruhe vor, sondern eine kapitalistische Gesellschaft, die bald von unlösbaren Widersprüchen gepeinigt und vom Weltkrieg und von einer Weltwirtschaftskrise verwüstet werden sollte. Die Niederlage der proletarischen Revolution nach dem Ersten Weltkrieg öffnete nicht nur einer zweiten imperialistischen Schlächterei Tür und Tor, sondern auch einer Form der Konterrevolution, die uralte antisemitische Vorurteile bis zum Exzess ausnutzte, indem sie den antijüdischen Rassismus sowohl praktisch als auch ideologisch als eine Basis dafür nutzte, um die Ausmerzung der proletarischen Gefahr zu vervollständigen und die Gesellschaft auf einen neuen Krieg einzustimmen. Wie die Internationale Kommunistische Partei (IKP) in Auschwitz – Das grosse Alibi, so konzentriert sich Leon insbesondere auf den Nutzen, den die Nazis aus den Erschütterungen des Kleinbürgertums zogen, das von der kapitalistischen Krise ruiniert worden war und leichte Beute für eine Ideologie war, die ihm versprach, es nicht nur von seinen jüdischen Konkurrenten zu befreien, sondern ihm auch offiziell zu gestatten, seine Hände über das jüdische Privateigentum auszubreiten (selbst wenn der Nazistaat in der Praxis dem Kleinbürgertum keinesfalls gestattete, davon zu profitieren, sondern den Löwenanteil sich selbst aneignete, um eine totale Kriegswirtschaft zu entfalten und aufrechtzuerhalten).
Gleichzeitig betrachtet Leon die wiederholte Verwendung des Antisemitismus als einen Sozialismus für Narren, als eine falsche Kritik des Kapitalismus, die die herrschende Klasse in die Lage versetzte, gewisse Bereiche der Arbeiterklasse, besonders ihre Randschichten oder jene in die Arbeitslosigkeit Gestossenen, einzubeziehen. In der Tat war der Begriff des ¸National‘-Sozialismus eine der direkten Reaktionen der herrschenden Klasse auf die enge Verknüpfung zwischen der authentischen revolutionären Bewegung und einer Schicht von jüdischen Arbeitern und Intellektuellen, die, wie Lenin hervorgehoben hatte, als heimatlose und verfolgte Elemente der bürgerlichen Gesellschaft sich ganz natürlich zum internationalen Sozialismus hingezogen fühlten. Der internationale Sozialismus wurde als ein Trick der jüdischen Weltverschwörung gebrandmarkt und den Proletariern wurde auferlegt, ihren Sozialismus mit Patriotismus zu kombinieren. Es sollte auch erwähnt werden, dass diese Ideologie ihr Spiegelbild in der UdSSR hatte, wo die Kampagne der Andeutungen gegen den „entwurzelten Kosmopolitismus“ als Mantel für antisemitische Verleumdungen gegen die internationalistische Opposition gegen die Ideologie und Praxis des „Sozialismus in einem Land“ diente.
Dies unterstreicht, dass die Verfolgung der Juden auch auf ideologischer Ebene wirkt und eine rechtfertigende Ideologie benötigt; im Mittelalter war es der christliche Mythos vom Christusmörder, Brunnenvergifter, Ritualmörder christlicher Kinder: Shylock und das Pfund Fleisch.[4] In der Dekadenz des Kapitalismus ist es der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung, die sowohl den Kapitalismus als auch den Kommunismus ausgeheckt habe, um den arischen Völkern ihre Herrschaft aufzuzwingen.
In den 1930er Jahren bemerkte Trotzki, dass der Niedergang des Kapitalismus einen fürchterlichen Rückgang auf ideologischer Ebene ausgebrütet hat:
„Der Faschismus entdeckte den Bodensatz der Gesellschaft für die Politik. Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in den Wolkenkratzern der Städte lebt neben dem zwanzigsten Jahrhundert heute noch das zehnte oder dreizehnte. Hunderte Millionen Menschen benutzen den elektrischen Strom, ohne aufzuhören, an die magische Kraft von Gesten und Beschwörungen zu glauben. Der römische Papst predigt durchs Radio vom Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein. Kinostars laufen zur Wahrsagerin. Flugzeugführer, die wunderbare, vom Genie des Menschen erschaffene Mechanismen lenken, tragen unter dem Sweater Amulette. Was für unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit, Wildheit! Die Verzweiflung hat sie auf die Beine gebracht, der Faschismus wies ihnen die Richtung. All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden musste, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei. Das ist die Physiologie des Nationalsozialismus.“
Diese Elemente kommen alle in den Nazifantastereien über die Juden zusammen. Der Nationalsozialismus machte kein Hehl aus seiner ideologischen Rückentwicklung – er griff offen auf die vorchristlichen Gottheiten zurück. Der Nationalsozialismus war in der Tat eine okkultistische Bewegung, die die direkte Kontrolle über die Regierungsmittel ergriffen hatte; und wie andere Okkultismen betrachtete er sich in einer Schlacht mit einer anderen verborgenen und satanischen Macht – in diesem Fall mit den Juden. Und diese Mythologien, die sicherlich für sich genommen in all ihren psychologischen Aspekten betrachtet werden können, nahmen eine eigene Logik an und speisten den Moloch, der zu den Vernichtungslagern führte.
Jedoch ist diese ideologische Irrationalität niemals getrennt von den materiellen Widersprüchen des kapitalistischen Systems zu sehen – sie ist nicht, wie zahllose bürgerliche Denker zu argumentieren versuchen, der Ausdruck irgendeines metaphysischen Prinzips des Übels, irgendeines unergründlichen Mysteriums. Im Artikel über Polanskis Film Der Pianist in der Internationalen Revuer Nr. 113 zitierten wir die IKP über die kühl-kalkulierende „Vernunft“ hinter dem Holocaust – die Industrialisierung des Mordens, in der ein Maximum an Profit aus jeder Leiche ausgepresst wurde. Doch gibt es noch eine andere Dimension, auf die die IKP nicht eingeht: die Irrationalität des kapitalistischen Krieges selbst. Denn die „Endlösung“ – in der Metapher des Weltkriegs, der erst ihre Voraussetzung schuf – wird durch die ökonomischen Widersprüche provoziert und gibt nicht die Jagd nach Profiten auf, sondern wird zu einem zusätzlichen Faktor in der Verschlimmerung des wirtschaftlichen Ruins. Und auch wenn der Gebrauch von Zwangsarbeit durch die Kriegswirtschaft erforderlich wurde, so war andererseits die ganze Maschinerie der Konzentrationslager eine immense Belastung der deutschen Kriegsanstrengungen.
Die Lösung des jüdischen Problems
160 Jahre später bleibt die Essenz dessen, was Marx als Lösung für das jüdische Problem vorschlug, immer noch gültig: Die Abschaffung der kapitalistischen Verhältnisse und die Bildung einer wirklichen menschlichen Gemeinschaft. Natürlich ist dies auch für alle verbleibenden nationalen Probleme die einzig mögliche Lösung: Der Kapitalismus hat sich als unfähig erwiesen, sie zu lösen. Die jüngste Manifestation des jüdischen Problems, die auf besondere Weise mit dem imperialistischen Konflikt im Nahen Osten verknüpft ist, ist der beste Beweis dafür.
Die „Lösung“, die von der „jüdischen Befreiungsbewegung“, dem Zionismus, vorgeschlagen wird, ist zum Kern des Problems geworden. Die grösste Quelle der jüngsten Wiederbelebung des Antisemitismus ist weder direkt mit einer besonderen ökonomischen Funktion der Juden in den entwickelten Ländern verknüpft noch ein Problem der jüdischen Einwanderung in diese Regionen. Hier hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg der Rassismus auf die Einwanderungswellen aus den früheren Kolonien verschoben; mit der erst jüngst artikulierten Wut über die „Asylsuchenden“ richtet er sich zuallererst gegen die Opfer der ökonomischen, ökologischen und militärischen Verwüstung, die ein zerfallender Kapitalismus auf dem Planeten bewirkt. Der „moderne“ Antisemitismus ist in erster Linie mit dem Konflikt in Nahost verbunden. Israels unverhüllte imperialistische Politik in der Region und die unerschütterliche Unterstützung, die die USA dieser Politik gewähren, haben die alten Mythen von einer jüdischen Weltverschwörung neu entfacht. Millionen von Moslems sind von dem landläufigen Mythos überzeugt, dass „40.000 Juden am 11. September den Twin Towers fernblieben, weil sie im Voraus über den bevorstehenden Angriff gewarnt wurden“ – dass „die Juden es taten“. Ganz zu schweigen davon, dass diese Behauptung von Leuten begeistert aufgestellt wurde, die gleichzeitig Bin Laden verteidigen und zu den terroristischen Angriffen Beifall klatschen![5] Die Tatsache, dass etliche führende Mitglieder der Bush-Clique, die „Neokonservativen“, die heute die tatkräftigsten und ausdrücklichsten Advokaten des „neuen amerikanischen Jahrhunderts“ sind, Juden sind (Wolfowitz, Perle, etc.), ist Wasser auf diesen Mühlen, manchmal mit einem linken Touch versehen. In Grossbritannien gab es erst jüngst eine Kontroverse über die Tatsache, das Tam Dalyell, eine „Antikriegs-“Figur auf der Linken Labours, offen über den Einfluss der „jüdischen Lobby“ auf die US-Aussenpolitik und selbst auf Blair sprach; und er wurde gegen die Vorwürfe des Antisemitismus von Paul Foot von der Socialist Workers Party verteidigt, der lediglich bemängelte, dass er von Juden und nicht von Zionisten sprach. In der gegenwärtigen Praxis wird die Unterscheidung zwischen beiden in wachsendem Masse von den Abhandlungen der Nationalisten und Dschihadisten verwischt, die den bewaffneten Kampf gegen Israel anführen. In den 60er und 70er-Jahren behaupteten die PLO und ihre linksbürgerlichen Anhänger, dass sie in Frieden mit den Juden in einem demokratischen, säkularen Palästina zusammenleben wollen; doch heute ist die Ideologie der Intifada, nämlich der islamische Fundamentalismus, dominierend und macht keinen Hehl aus seinem Wunsch, die Juden aus der Region zu vertreiben oder sie geradewegs auszulöschen. Was den Trotzkismus anbelangt, stand er lange in den Reihen des nationalistischen Pogroms. Wir haben bereits Abraham Leons Warnung erwähnt, dass der Zionismus nichts tun konnte, um die Juden im kriegsumtobten Europa zu retten; heute können wir hinzufügen, dass die Juden, die am meisten von der physischen Zerstörung bedroht sind, just im Heiligen Land des Zionismus leben. Der Zionismus hat nicht nur ein riesiges Gefängnis für die palästinensischen Araber errichtet, die unter seinem erniedrigenden Regime der militärischen Besetzung und der brutalen Gewalt leben; er hat auch die israelischen Juden selbst in eine grauenhafte Spirale des Terrorismus und des Gegenterrors gesperrt, die kein imperialistischer „Friedensprozess“ aufzuhalten vermag.
Der Kapitalismus hat in seiner Dekadenz all die Dämonen des Hasses und der Zerstörung heraufbeschworen, die die Menschheit quälen, und sie mit den verheerendsten Waffen aller Zeiten ausgerüstet. Er hat dem Völkermord in einer nie dagewesenen Weise Vorschub geleistet und zeigt keinerlei Anzeichen, damit aufzuhören; trotz des Holocausts an den Juden, trotz der Rufe des „Nie-wieder!“ haben wir nicht nur die Wiederkehr eines virulenten Antisemitismus gesehen, sondern auch ethnische Massaker, die vergleichbar mit dem Holocaust sind wie das Gemetzel an Hunderttausenden von Tutsis in Ruanda innerhalb weniger Wochen sowie die endlosen Runden ethnischer Säuberungen auf dem Balkan, die in den 90er Jahren Jugoslawien verwüsteten. Die Wiederkehr des Genozids ist charakteristisch für den dekadenten Kapitalismus in seiner finalen Phase – jener des Zerfalls. Diese fürchterlichen Ereignisse verschaffen uns eine Ahnung von der Zukunft, die das Endspiel des Zerfalls in petto hält: die Selbstzerstörung der Menschheit. Und wie bei den Nazis in den 30er Jahren erblicken wir zusammen mit diesen Massakern die Rückkehr der reaktionärsten und apokalyptischsten Ideologien überall auf dem Planeten – der islamische Fundamentalismus, der sich auf Rassenhass und dem Mystizismus des Freitods gründet, ist der deutlichste Beleg hierfür, aber nicht der einzige: Wir können gleichermassen den christlichen Fundamentalismus anführen, der beginnt, Einfluss auf die höchsten Ränge der Macht in der mächtigsten Nation der Erde auszuüben, den wachsenden Griff der jüdischen Orthodoxie auf den israelischen Staat, den Hindufundamentalismus in Indien, welcher, wie sein muslimisches Spiegelbild in Pakistan, mit Nuklearwaffen ausgerüstet ist, die „faschistische“ Wiedergeburt in Europa. Auch sollten wir nicht die Religion der Demokratie ausser acht lassen; so wie bereits während der Periode des Holocausts hat sich die Demokratie, mit den auf US- und britischen Panzern flatternden Fahnen in Afghanistan und im Irak, als die andere Seite der Medaille gezeigt, als Feigenblatt für totalitäre Repression und imperialistischen Krieg. All diese Ideologien sind Ausdrücke eines Gesellschaftssystems, das in einer totalen Sackgasse steckt und der Menschheit nichts als Zerstörung anbieten kann.
Der Kapitalismus in seinem Niedergang hat eine Unzahl von nationalen Antagonismen geschaffen, welche er sich als unfähig zu lösen erwiesen hat; er hat sie vielmehr dazu genutzt, um seinen Kurs zum imperialistischen Krieg zu verfolgen. Der Zionismus, der nur in der Lage war, seine Ziele in Palästina zu erreichen, indem er sich selbst den Erfordernissen zunächst des britischen, schliesslich des amerikanischen Imperialismus unterordnete, ist ein klarer Beleg für diese Regel. Doch im Gegensatz zur antizionistischen Ideologie ist er keineswegs ein Sonderfall. Alle nationalistischen Bewegungen haben in genau derselben Weise gehandelt, einschliesslich des palästinensischen Nationalismus, der als Agent etlicher, kleiner oder grosser imperialistischer Mächte fungiert hat, von Nazideutschland zur UdSSR und zum Irak, nicht zu vergessen einige heutige Mächte in Europa. Rassismus und nationale Unterdrückung sind Realitäten in der kapitalistischen Gesellschaft, doch die Antwort darauf liegt nicht in irgendeinem Schema für nationale Selbstbestimmung oder in der Fragmentierung der Unterdrückten in einer Unmenge von Teilbewegungen (Schwarze, Schwule, Frauen, Juden, Moslems, etc.). Alle diese Bewegungen haben sich als Hilfsmittel für den Kapitalismus erwiesen, die Arbeiterklasse zu spalten und sie daran zu hindern, ihre eigene Identität zu erkennen. Nur durch die Entwicklung dieser Identität, durch ihre praktischen und theoretischen Auseinandersetzungen kann die Arbeiterklasse all die Spaltungen innerhalb ihrer Reihen überwinden und sich selbst zu einer Macht zusammenschweissen, die imstande ist, dem Kapital die Macht zu entreissen.
Dies bedeutet nicht, dass alle nationalen, religiösen und kulturellen Fragen automatisch verschwinden werden, sobald der Klassenkampf eine gewisse Höhe erreicht hat. Die Arbeiterklasse wird die Revolution machen, lange bevor sie sich all der Bürden der Vergangenheit entledigt hat bzw. lange vor dem eigentlichen Prozess der Entledigung; und in der Übergangsperiode zum Kommunismus wird sie mit einer Unmenge an Problemen hinsichtlich des religiösen Glaubens und kultureller oder ethnischer Identitäten konfrontiert werden, wenn sie versucht, die Gesamtheit der Menschen in einer globalen Gemeinschaft zu vereinen. Es ist selbstverständlich, dass das siegreiche Proletariat niemals besondere kulturelle Ausdrücke gewaltsam unterdrücken und noch weniger die Religion ausser Gesetz stellen wird; die Erfahrung der Russischen Revolution hat demonstriert, dass solche Versuche dazu dienen, die Herrschaft solcher überholter Ideologien wieder zu verstärken. Die Mission der proletarischen Revolution besteht, wie Trotzki energisch vertrat, darin, die materiellen Fundamente für die Synthese des Besten aus den vielen verschiedenen kulturellen Traditionen in der Geschichte des Menschen zu legen – für die erste wahrhaft menschliche Kultur. Und somit kehren wir zum Marx von 1843 zurück: Die Lösung der jüdischen Frage ist wirkliche menschliche Emanzipation, die es dem Menschen letztendlich erlauben wird, die Religion abzuschaffen, indem die sozialen Wurzeln der religiösen Entfremdung ausgemerzt werden.
Amos
Fußnoten:
1. Abraham Leon war ein Jude polnischer Herkunft, der in den 20er und 30er Jahren in Belgien aufwuchs. Er begann sein politisches Leben als Mitglied der „Sozialistischen Zionisten“, der Pioniergruppe Haschomair Hatsair, doch er brach mit dem Zionismus, nachdem die Moskauer Prozesse ihn in die trotzkistische Opposition getrieben hatten. Die Tiefe und Klarheit seines Buches zeigt, dass in dieser Periode der Trotzkismus noch eine Strömung der Arbeiterbewegung war; und obwohl es just in jener Zeit geschrieben wurde, als sich dies zu ändern begann (in den frühen 40er Jahren, während der deutschen Okkupation Belgiens), schien der marxistische Unterbau noch durch. Leon wurde 1944 verhaftet und kam in Auschwitz um.
2. Es ist nicht weniger ein Mythos, wie Leon hervorhebt, dass die Probleme der Juden alle auf die Zerstörung des Tempels durch die Römer und die sich „anschliessende“ Diaspora zurückgeführt werden könnten; tatsächlich aber gab es bereits eine grosse jüdische Diaspora in der antiken Welt vor den Ereignissen, die das endgültige Verschwinden der antiken jüdischen „Heimat“ bewirkten.
3. In der Tat war der Zionismus einer von vielen bürgerlichen Kräften, die sich der „Befreiung“ der Juden in Europa widersetzten und ihnen die Erlaubnis verweigerten, nach Amerika oder sonstwohin... ausser nach Palästina, zu fliehen. Der zionistische Held David Ben-Gurion drückte dies in einem Brief an die jüdische Exekutive vom 17.Dezember 1938 sehr deutlich aus: „Das Schicksal der Juden in Deutschland ist kein Ende, sondern ein Anfang. Andere antisemitische Staaten werden von Hitler lernen. Millionen von Juden sehen sich der Vernichtung gegenüber, das Flüchtlingsproblem hat weltweite Ausmasse und Dringlichkeit angenommen. Grossbritannien versucht, die Flüchtlingsfrage von der Palästinafrage zu trennen (...) Wenn die Juden die Wahl hätten zwischen den Flüchtlingen, ihrer Rettung vor den Konzentrationslagern und der Unterstützung eines Nationalmuseums in Palästina, würde das Mitleid die Oberhand behalten und die ganze Energie des Volkes wird sich auf die Rettung von Juden aus etlichen Ländern konzentrieren. Der Zionismus würde nicht nur in der Weltöffentlichkeit, sondern auch in der jüdischen Öffentlichkeit von der Bildfläche verschwinden. Wenn wir einer Trennung zwischen dem Flüchtlingsproblem und dem Palästinaproblem zustimmten, riskierten wir die Existenz des Zionismus.“ (eigene Übersetzung) 1943, als der Holocaust voll im Gange war, schrieb Itzhak Greenbaum, Kopf des Jewish Agency Rescue Comittee, an die zionistische Exekutive, dass, „wenn ich gefragt würde, ob ich Geld von der United Jewish Appeal geben würde, um Juden zu retten, würde ich ¸Nein und noch einmal: Nein‘ sagen. Meiner Ansicht nach müssen wir uns allem entgegenstellen, was die zionistischen Aktivitäten ins zweite Glied stellt.“ (eigene Übersetzung) Solch eine Haltung – welche bis hin zu offener Zusammenarbeit zwischen Nationalsozialismus und Zionismus ging – demonstrierte eine „theoretische“ Annäherung zwischen Zionismus und Antisemitismus, da beide die Ansicht teilen, dass der Judenhass eine ewige Wahrheit ist.
4. Shylock ist ein Charakter in Shakespeares Bühnenstück Der Kaufmann von Venedig. Er wird dargestellt als Archetyp eines jüdischen Wucherers, der der Hauptfigur des Stücks Geld leiht, aber vom Kaufmann „ein Pfund seines eigenen Fleisches“ als Garantie für das Geliehene fordert.
5. Dies bedeutet nicht, dass es keine Verschwörung im Zusammenhang mit dem 11. September gegeben hat; doch sie der fiktiven Kategorie „Juden“ zuzuschreiben dient dazu, die Schuld einer wirklichen Kategorie, der Bourgeoisie nämlich und insbesondere der Staatsmaschinerie der amerikanischen Bourgeoisie, zu verdecken. Siehe unseren Artikel über diese Frage in Internationale Revue, Nr. 29, „Pearl Harbor, Twin Towers – Der Machiavellismus der herrschenden Klasse“.