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Weltrevolution Nr. 150

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"Deutschland am Hindukush verteidigen"

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„Deutschland am Hindukush verteidigen“

Vom Vietnam-Syndrom zum Afghanistan-Syndrom?

Auch wenn die Demonstrationen am 20. September 2008 in Berlin und Stuttgart gegen die Verlängerung des Bundeswehrmandats für Afghanistan sehr bescheiden ausfielen, stößt dieser Einsatz des deutschen Imperialismus auf immer weniger Verständnis auf Seiten der eigenen Bevölkerung. Nicht allein weil immer mehr deutsche Soldaten Attentaten zum Opfer fallen. Afghanische Zivilopfer des deutschen Militäreinsatzes werden immer mehr bekannt. Es wird zunehmend deutlich, dass die Bundeswehr in Afghanistan weilt, nicht primär um Schulen zu bauen und „zivilen Aufbau“ zu betreiben – wie stets vorgeheuchelt wird – sondern um Krieg zu führen. Der bekannte Spruch des einstigen Verteidigungsministers Peter Struck von der Verteidigung deutscher Interessen am Hindukush wird nun besser verstanden. Die Interessen, die dort verteidigt werden, sind nicht die der arbeitenden Bevölkerung – ob in Deutschland oder in Afghanistan – sondern die des Imperialismus, der Großmachtpolitik. Während es dem deutschen Imperialismus in den letzten 10 Jahren, anfänglich unter rot-grünem Zepter, dann unter einem SPD Außenminister gelungen ist, seine Truppen in immer mehr Ländern zum Einsatz zu bringen, wurde diese Expansion immer wieder mit dem „humanitären“ oder „friedenschaffenden“ Deckmäntelchen gerechtfertigt. Aber genauso wie der amerikanische Imperialismus mittlerweile im Irak und auch in Afghanistan in einen militärischen Strudel geraten ist, aus dem er nicht mehr unbeschadet heraus kann, ist der deutsche Imperialismus in Afghanistan längst in einen Krieg hineingeschliddert, aus dem er nicht mehr ohne großen Gesichtsverlust hervorgehen wird. Nach anfänglich nahezu „tröpfchenweiser“ Zuführung von Soldaten in den lange Zeit als „ruhig“ beschriebenen Norden Afghanistans, sind Bundeswehr-Truppen längst entweder mit ihren „Aufklärungsflugzeugen“ an nahezu jedem Kampfeinsatz als Zielsucher beteiligt, oder aber die Bodentruppen selbst geraten immer mehr zur Zielscheibe von Selbstmordanschlägen und anderen Angriffen. Die Bodentruppen sind seit langem in richtige Kampfeinsätze involviert und sind auch für den Tod von Zivilisten verantwortlich. Auch wenn die offizielle Propaganda dies vertuscht, klebt den Bundeswehrsoldaten schon viel Blut an den Fingern. Kein Wunder, dass der Vertreter des Bundeswehrverbandes einen Wechsel der offiziellen Propaganda fordert: „Wir befinden uns in einem Krieg gegen einen zu allem entschlossenen, fanatischen Gegner“. Deshalb seien die zuletzt getöteten deutschen Soldaten nicht ums Leben gekommen, wie die offizielle Verlautbarung hieß, sondern sie seien für Deutschland „gefallen“. Die Militaristen plädieren also für den Gebrauch einer Sprache, eines Pathos, der aber in der Bevölkerung nicht unbedingt populär ist. Aber nicht nur in der Bevölkerung insgesamt, und in der Arbeiterklasse insbesondere stößt der Versuch, durch Propagandatricks eine größere Unterstützung für den Kriegseinsatz zu erschleichen, auf zunehmende Skepsis. In den Reihen des deutschen Militärs selbst wächst die Unzufriedenheit. So klagen die Rekrutierungsstellen der Bundeswehr über ihre Schwierigkeiten, genügend Soldaten für ihre Auslandseinsätze zu finden. Die monatlichen freiwilligen Meldungen zum Wehrdienst seien innerhalb eines Jahres um bis zu 62% zurückgegangen. Insbesondere bei Unteroffizieren und Mannschaften sei ein Schwund an Bewerbern und Anwärtern von über 50% festzustellen. Bei einer Umfrage in der Bundeswehr haben 2007 fast drei Viertel der befragten Militärs geantwortet, sie würden ihren Beruf niemandem weiterempfehlen (Süddeutsche Zeitung, 28.8.08) Hier bahnt sich also für den deutschen Imperialismus ein ähnlicher Schlamassel an wie für den US-Imperialismus, der erleben muss, wie das begraben geglaubte Vietnam-Syndrom zahlreiche Soldaten im Irak wieder heimsucht. Die Zahl der Desertierungen von US-Soldaten bricht alle Rekorde. Diese zunehmenden Schwierigkeiten führender imperialistischer Mächte wie die USA oder auch Deutschland auf den Schlachtfeldern der Welt rufen allenthalben die „Friedensstifter“ hervor, welche einem Kapitalismus mit menschlichem, friedlichem Gesicht das Wort reden. Empört oder schockiert über die Offenheit der oben erwähnte Bundeswehrvertreter, die zugeben wollen, dass Deutschland sich im Krieg befindet, verlangen sie eine „Rückkehr“ zum „deutschen Sonderweg“ des „friedlichen Aufbaus“ in Afghanistan. Ob gewollt oder ungewollt – sie haben damit dem deutschen Imperialismus einen Dienst erwiesen. Denn die Stimmung in der Bevölkerung ist heute keineswegs so, dass ein offen erklärter Kriegsfeldzug auf Gegenliebe stoßen würde. Aber die „Debatte“ in der herrschenden Klasse darüber, wie man der Bevölkerung diesen Kriegseinsatz am besten verkaufen kann, ist selbst bezeichnend für die zuzunehmende Unbeliebtheit der militärischen Einsätze. Heute verlaufen die Zuspitzungen der Wirtschaftskrise, der Angriffe gegen die Arbeiterklasse und die militärische Einsätze parallel zueinander. Die Arbeiterklasse beginnt, sich eigene Gedanken darüber zu machen, welche Zusammenhänge zwischen diesen Entwicklungen bestehen. 22.09.08

Aktuelles und Laufendes: 

  • Bundeswehr Afghanistan [1]

1918: Novemberrevolution Deutschland - Das Proletariat bringt den Weltkrieg zu Ende

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Am 4. Nov. 1918 meuterten in Kiel an der deutschen Ostseeküste die Matrosen gegen den Befehl des Militärs, zu einer weiteren Seeschlacht auszulaufen.

Ein Siedepunkt der Unzufriedenheit, der Ablehnung des Krieges war erreicht worden. Nach 4 Jahren mörderischen Abschlachtens mit mehr als 20 Mio. Toten, unzähligen Verletzten, den verlustreichen, zermürbenden Stellungskriegen mit ihren Giftgaseinsätzen in Frankreich, der Ausmergelung und Aushungerung der arbeitenden Bevölkerung, war diese restlos kriegsmüde geworden und nicht mehr bereit, den Preis für dieses Abschlachten mit ihrem eigenen Leben zu zahlen. Die militärische Führung dagegen wollte die Fortführung des Krieges mit brutaler Repression durchsetzen und verhing drakonische Strafen gegen die meuternden Matrosen.

Dagegen erhob sich sofort eine breite Solidarisierungswelle, deren Zündungsfunke von Kiel ausging und der sofort auf andere Städte in ganz Deutschland übersprang. Arbeiter traten in den Ausstand, Soldaten verweigerten die Befehle; sie bildeten - wie zuvor schon Anfang des Jahres in Berlin geschehen, Arbeiter- und Soldatenräte, die sich in Windeseile auch auf andere Städte ausbreiteten. Am 5./6. Nov. setzten sich Hamburg, Bremen und Lübeck in Bewegung; Dresden, Leipzig, Magdeburg, Frankfurt, Köln, Hannover, Stuttgart, Nürnberg, München befanden sich am 7. und 8. Nov. in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte. Innerhalb einer Woche gab es keine deutsche Großstadt, in der nicht auch Arbeiter- und Soldatenräte gegründet waren.

In dieser Anfangsphase wurde Berlin schnell zum Zentrum der Erhebung: dort strömten am 9.November unzählige Arbeiter und Soldaten zu Demonstrationen auf die Straße. Die Regierung hatte zuvor noch die als "zuverlässig" bezeichneten Bataillone nach Berlin zum Schutz der Regierung kommen lassen. Aber am Morgen jenes 9. Nov. "leerten sich die Fabriken in unglaublich schnellen Tempo. Die Straßen füllten sich mit gewaltigen Menschenmassen. An der Peripherie, wo die größten Fabrikbetriebe liegen, formierten sich große Demonstrationszüge, die in den Mittelpunkt der Stadt zuströmten... Wo sich Soldaten zeigten, bedurfte es zumeist keiner Aufforderung, sie schlossen sich freiwillig den Arbeiterzügen an. Männer, Frauen, Soldaten ein Volk in Waffen, flutete durch die Straßen den zunächst gelegenen Kasernen zu" (R. Müller, Die Novemberrevolution, Bd. II, S. 11). Unter dem Übergewicht dieser auf den Straßen versammelten Massen wechselten die letzten regierungstreuen Truppen das Lager, schlossen sich den Aufständischen an und verteilten ihre Waffen an die Arbeiter. Das Polizeipräsidium, die großen Zeitungsbetriebe, Telegraphenbüros, das Reichstags- und andere Regierungsgebäude - sie alle wurden an dem Tag von bewaffneten Arbeitern und Soldaten besetzt, Gefangene aus den Gefängnissen befreit. Viele Regierungsbeamte hatten die Flucht ergriffen. Wenige Stunden hatten genügt, um diese Schaltstellen der bürgerlichen Macht zu besetzen. In Berlin wurde ein die Stadt übergreifender Rat der Arbeiter- und Soldatenräte gegründet: der Vollzugsrat.

Die Arbeiter in Deutschland traten damit in die Fußstapfen ihrer Klassenbrüder in Russland, die ebenfalls als eine Reaktion gegen den Krieg sich im Februar 1917 schon in Arbeiter- und Soldatenräten zusammengeschlossen und im Okt. 1917 siegreich die Macht übernommen hatten. Damit schickten sich die Arbeiter in Deutschland an, den gleichen Weg zu beschreiten, den Sturz des kapitalistischen Systems in Angriff zu nehmen: Übernahme der Macht durch die Arbeiter- und Soldatenräte, Lahmlegung des bürgerlichen Staatsapparates, Bildung einer Arbeiterregierung... Die Perspektive war: das Tor zur weltweiten Erhebung der Arbeiterklasse weiter aufzustoßen, nachdem in Russland zuvor schon die Arbeiter den ersten Schritt dazu getan hatten.

Mit dieser Aufstandsbewegung hatten die Arbeiter in Deutschland die größten Massenkämpfe in ihrer Geschichte in Gang gesetzt. All die von den Gewerkschaften während des Krieges geschlossenen Stillhalteabkommen, die Politik des Burgfriedens, waren damit unter den Paukenschlägen des Klassenkampfes zerplatzt. Durch diese Erhebung hatten die Arbeiter die Niederwerfung vom August 1914 abgeschüttelt und sich wieder aufgerichtet; der Mythos einer durch den Reformismus gelähmten Arbeiterklasse in Deutschland war verflogen. Dabei setzten die Arbeiter in Deutschland ebenso die neuen typischen Waffen des Proletariats in dem Zeitraum der kapitalistischen Dekadenz ein, deren Gebrauch zuvor schon von den Arbeitern in Russland (1905 und 1917) erfolgreich erprobt worden war: Massenstreiks, Vollversammlungen, Bildung von Arbeiterräten, Massendemonstrationen, kurzum die Eigeninitiative der Arbeiter selbst. Neben dem Proletariat in Russland, das die Kapitalistenklasse ein Jahr zuvor erfolgreich gestürzt hatte, standen die Arbeiter in Deutschland an der Spitze der ersten großen internationalen, revolutionären Welle von Kämpfen, die aus dem Krieg hervorgegangen waren. In Ungarn und Österreich hatten die Arbeiter 1918 sich auch schon erhoben und angefangen, Arbeiterräte zu errichten.

Die SPD – Speerspitze gegen das Proletariat

Aber während so auf örtlicher Ebene überall Herde proletarischer Aktivität entstanden, das Proletariat in Wallung gekommen war, blieb die herrschende Klasse nicht untätig. Die Ausbeuter und die Militärs in ihrer Mitte brauchten eine Kraft, die der Ausbreitung dieser revolutionären Erhebung entgegentreten könnte. Aus der Erfahrung in Russland lernend, zog die deutsche Bourgeoisie mit den Chefs der Obersten Heeresleitung die Fäden. General Groener, oberster Boss des Militärs, berichtete:

"Es gibt zur Zeit in Deutschland nach meinem persönlichen Dafürhalten keine Partei, die Einfluss genug im Volk, insbesondere bei den Massen hat, um eine Regierungsgewalt mit der Obersten Heeresleitung wiederherstellen zu können. Die Rechtsparteien waren vollkommen verschwunden, und mit den äußersten Radikalen zu gehen war natürlich ausgeschlossen. Es blieb nichts übrig, als daß die Oberste Heeresleitung dieses Bündnis mit der Mehrheitssozialdemokratie schloss.... Wir haben uns verbündet zum Kampf gegen die Revolution, zum Kampf gegen den Bolschewismus.... An eine Wiedereinführung der Monarchie zu denken, war meines Erachtens vollkommen ausgeschlossen. Der Zweck unseres Bündnisses, das wir am 10. November abends geschlossen hatten, war die restlose Bekämpfung der Revolution, Wiedereinsetzung einer geordneten Regierungsgewalt, Stützung dieser Regierungsgewalt durch die Macht einer Truppe und baldigste Einberufung einer Nationalversammlung... (W. Groener über die Vereinbarungen zwischen der Obersten Heeresleitung und F. Ebert vom 10. Nov. 1918).

Damit war die SPD wieder einmal zum Dreh- und Angelpunkt der Politik des Kapitals geworden, wie zuvor schon im August 1914 und im weiteren Verlauf des Krieges - als sie sich als sicherer Pfeiler des kapitalistischen Gerüsts erwiesen hatte.

Am 4. August 1914 hatte die parlamentarische Fraktion der Sozialdemokratie mit ihrer rechten Führung die Interessen des Proletariats verraten und den Krediten für den imperialistischen Krieg zugestimmt. Trotz des heftigsten Widerstands einer unbeugsamen Minderheit (deren prominenteste Vertreter K. Liebknecht, R. Luxemburg, Cl. Zetkin, O. Rühle waren, und die sich später im Spartakusbund und als Linksradikale vor allem in Norddeutschland und Mitteldeutschland organisiert hatten) hatte diese kapitalistische Führung den ganzen Krieg über für diesen mobilisiert.

Aber die Opposition gegen diese Kriegspolitik erhielt vor allem an der Basis immer mehr Aufschwung, insbesondere durch die Streiks, die von 1916-17 an Deutschland in zunehmendem Maße erschütterten und infolge des Drucks der Ereignisse in Russland 1917. Die Opposition in der Partei weigerte sich, dem kapitalistischen Vorstand Beiträge zu zahlen, immer mehr SPD-Zeitungen und immer mehr Ortsverbände bezogen gegen den Krieg und damit gegen den Vorstand Stellung. Als sich die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Partei gegen die kapitalstreue SPD-Führung zu wenden begannen, schloss diese die Opposition im April 1917 aus der Partei aus. Die so Ausgeschlossenen gründeten darauf eine neue Partei - Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschland (1).

Engster Verbündeter des Kapitals während des Krieges waren auch die Gewerkschaften gewesen, die sofort nach Kriegsanfang ein generelles Streikverbot (Burgfrieden) erlassen hatten. Und wenn es dennoch Proteste, Streiks und Demonstrationen gab, und deren Häufigkeit nahm seit dem Sommer 1916 beständig zu, dann wurden die kämpferischsten Arbeiter, die sog. Rädelsführer, von den Gewerkschaften bei den Behörden denunziert, welche diese oft zwangsrekrutierten und als Kanonenfutter an die Front zum Abschlachten schickten. Hier hatten die Gewerkschaften zum ersten Mal unter Beweis stellen können, daß diese mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenz zu staatstragenden Organen, zur eigentlichen Polizei im Betrieb geworden waren. Damit trat nun mit diesem Bündnis aus SPD, Gewerkschaften und den höchsten Stellen des Militärs im Hintergrund den Arbeitern ein mächtiges Bollwerk entgegen, das sich schon im Krieg für die Verteidigung der Interessen des Kapitals bewährt hatte.

Der Deckmantel der "Einigkeit" soll die Klassengegensätze übertünchen

Um nicht den gleichen Fehler wie die Herrschenden in Russland zu begehen, - dort hatte die bürgerliche provisorische Regierung nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 den imperialistischen Krieg weitergeführt und damit den erbitterten Widerstand der Arbeiter, Soldaten und Bauern auf sich gezogen, die Widersprüche auf die Spitze getrieben und unbeabsichtigt den Boden für die Oktoberrevolution bereitet - reagierte die Kapitalistenklasse in Deutschland schnell und weitsichtiger: am 9. Nov. wurde der Kaiser aus dem Verkehr gezogen und ins Ausland geschickt, am 11. 11. der Waffenstillstand vereinbart, wodurch der schmerzhafteste Dorn aus dem Fleisch der Arbeiterklasse gezogen und der erste Anlass des Widerstandes der revoltierenden Soldaten beiseite geschafft war. Damit gelang es den Kapitalisten in Deutschland, der Bewegung frühzeitig Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber neben der Absetzung des Kaisers und dem Abschluss des Waffenstillstandes war die Übergabe der Regierungsgeschäfte an die SPD ein entscheidender Schritt zur Eindämmung der Kämpfe.

Am 9. Nov. bildeten 3 SPD Führer (Ebert, Scheidemann, Landsberg) zusammen mit 3 USPD-Führern den Rat der Volksbeauftragten, die bürgerliche Regierung in treuen Diensten des Kapitals (2). Diese selbsternannte (bürgerliche) Regierung kam nur gegen den Widerstand der Spartakisten und anderer bewusster USPD-Mitglieder zustande, denn vielen war klar, dass die SPD als Speerspitze gegen die Revolution wirkte. "Der Regierungssozialismus stellt sich mit seinem jetzigen Eintritt in die Regierung als Retter des Kapitalismus der kommenden proletarischen Revolution in den Weg. Die proletarische Revolution wird über seine Leiche hinwegschreiten ", hatte R. Luxemburg in den Spartakusbriefen schon im Oktober 1918 gewarnt. Und auch jetzt, am 10.11., schrieb die Rote Fahne, Zeitung der Spartakisten: ".. Vier Jahre haben die Scheidemänner, die Regierungssozialisten, euch durch die Schrecken eines Krieges gejagt, haben euch gesagt, man müsse das "Vaterland" verteidigen, wo es sich nur um die nackten Raubinteressen des Imperialismus handelte.~ Jetzt, da der deutsche Imperialismus zusammenbricht, suchen sie für die Bourgeoisie zu retten, was noch zu retten ist und suchen die revolutionäre Energie der Massen zu ersticken. Es darf kein "Scheidemann" mehr in der Regierung sitzen; es darf kein Sozialist in die Regierung eintreten, solange ein Regierungssozialist noch in ihr sitzt. Es gibt keine Gemeinschaft mit denen, die euch vier Jahre lang verraten haben. Nieder mit dem Kapitalismus und seinen Agenten!" Während im Laufe des Krieges immer mehr Arbeiter angefangen hatten, die wahre Rolle der Mehrheitssozialdemokratie zu durchschauen, und es in jeder revolutionären Situation von entscheidender Bedeutung ist, dass sich die Klassengegensätze zunehmend polarisieren und die Gegner eindeutig erkennbar sind, versuchte die SPD diese Gegensätze, die wahren Fronten zu verdecken. So zog jetzt die SPD mit der Parole in den Kampf:

"Es darf keinen Bruderkampf geben... Wenn Gruppe gegen Gruppe, Sekte gegen Sekte arbeitet, dann entsteht das russische Chaos, der allgemeine Niedergang, das Elend statt des Glückes... Soll nun der Welt nach solchem herrlichen Triumph (der Absetzung des Kaisers und der Zustimmung der rechten USPD-Führung zur Bildung einer gemeinsamen, paritätisch besetzten bürgerlichen Regierung mit der SPD - IKS) das Schauspiel einer Selbstzerfleischung der Arbeiterschaft in sinnlosem Bruderkampf geboten werden? Der gestrige Tag hat in der Arbeiterschaft das Gefühl für die Notwendigkeit innerer Einheit hoch emporlodern lassen! Aus fast allen Städten... hören wir, dass alte Partei und Unabhängige sich am Tage der Revolution wieder zusammengefunden und zu der alten geschlossenen Partei geeint haben. .. Und wenn auch noch soviel Verbitterung sich eingefressen hat, wenn auch der eine Teil dem anderen manches aus der Vergangenheit vorwirft, und umgekehrt, ein Tag wie der gestrige ist groß und überwältigend genug, um all das vergessen zu machen. Das Versöhnungswerk darf nicht an einigen Verbitterten scheitern, deren Charakter nicht stark genug ist, um alten Groll überwinden und vergessen zu machen.... Die Bruderhand liegt offen - schlagt ein!" (Vorwärts, 10.11.1918).

Der Vorwärts war an diesem Tag die Zeitung, die sich jeder Arbeiter zu verschaffen suchte. War bis dahin alles, was aus den Reihen der SPD stammte, mit Mißtrauen aufgenommen wurden, schaffte die SPD es nun mit dieser Demagogie, den Klassengraben zwischen ihr und der Arbeiterklasse zu übertünchen; die ganze Kriegspolitik, der Burgfrieden mit der Bourgeoisie, mit ihren Wirkungen auf die Lage der Arbeiter, alles was die Arbeiter bis aufs Blut gereizt hatte, wollte sie vergessen machen; und viele Arbeiter gingen ihr dabei auf den Leim. So hatte sie mit dieser Vorgehensweise Erfolg bei der ersten Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte am l0.Nov.

"Wir kennen keine verschiedenen sozialistischen Parteien mehr, wir kennen nur noch Sozialisten". Die Flagge eines neuen Burgfriedens ist gehisst; fanatischer Hass wird gesät gegen jeden, der sich dem neuen Einigkeitstaumel entgegenwirft. Die lautesten Rufer nach Einigkeit... finden ein hallendes Echo vor allem unter den Soldaten. Kein Wunder. Bei weitem nicht alle Soldaten sind Proletarier; und Belagerungszustand, Zensur, amtliche Propaganda und Stampferei waren nicht wirkungslos. Die Masse der Soldaten ist revolutionär gegen den Militarismus, gegen den Krieg und die offenkundigen Repräsentanten des Imperialismus; im Verhältnis zum Sozialismus ist sie noch zwiespältig, schwankend, unausgegoren. Ein großer Teil der proletarischen Soldaten wie der Arbeiter... wähnt, die Revolution sei vollbracht, nun gelte es nur noch den Frieden und die Demobilisation. Sie wollen Ruhe nach langer Qual... Aber nicht jede "Einigkeit" macht stark. Einigkeit zwischen Wolf und Lamm liefert das Lamm dem Wolfe zum Fraß; Einigkeit zwischen Proletariat und herrschenden Klassen opfert das Proletariat, Einigkeit mit Verrätern bedeutet Niederlage. Nur gleichgerichtete Kräfte stärken sich durch Vereinigung; einander widerstrebende Kräfte zusammenzuketten heißt sie lähmen... Zerstreuung des Einigkeitsphrasennebels, Bloßstellung aller Halbheit und Lauheit, Entlarvung aller falschen Freunde der Arbeiterklasse ist dann das erste Gebot - heute mehr als je." So beschrieb Liebknecht im Namen der Spartakisten die Lage und die Aufgaben in der Roten Fahne vom 19.1 l.1918. Mit dieser Taktik des Einigkeitsrummels trat der Rat der Volksbeauftragten gegenüber der Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte auf. Weil die bürgerliche Regierung unter dem Deckmantel des Rates der Volksbeauftragten zwischen SPD und USPD paritätisch besetzt war, bestand sie auf einer paritätischen Zusammensetzung der Leitung des Berliner A- und S.-Rates (Vollzugsrat). Auch schaffte sie es, sich von dieser Vollversammlung ein "Mandat" als provisorische Regierung geben zu lassen, um so ihr konterrevolutionäres Treiben "demokratisch legitimiert" fortzusetzen.

Aber nach "der Beendigung des Weltkriegs und der Beseitigung der augenfälligsten politischen Vertreter des Systems, das zum Krieg geführt hat, darf das Proletariat sich nicht mit diesem Ergebnis begnügen. Es geht um die Aufhebung der kapitalistischen Klassenherrschaft, die Befreiung der Arbeiterklasse überhaupt.“ (Liebknecht, 28.11.1918). Hier zeichneten sich all die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse ab, das Ziel der Bewegung klar zu erkennen und damit auch die Täuschungs- und Betrugsmanöver der SPD zu durchschauen. "Man kann nicht erwarten, wenn man auf dem Boden historischer Entwicklung steht, dass man in dem Deutschland, das das furchtbare Bild des 4. August und der vier Jahre darauf geboten hat, plötzlich am 9. Nov. 1918 eine großartige, klassen- und zielbewusste Revolution erlebt,~ und was wir am 9. Nov. 1918 erlebt haben, war zu drei Vierteln mehr Zusammenbruch des bestehenden Imperialismus als Sieg eines neuen Prinzips. Es war einfach der Moment gekommen, wo der Imperialismus wie ein Koloss auf tönernen Füßen, innerlich morsch, zusammenbrechen musste, und was darauf folgte, war eine mehr oder weniger chaotische, planlose, sehr wenig bewusste Bewegung, in der das einigende Band und das bleibende, das rettende Prinzip nur in der Losung zusammengefaßt war: die Bildung der Arbeiter- und Soldatenräte" (Gründungsparteitag der KPD 1918/19).

Nur die Arbeiterklasse konnte den Krieg beenden

Mit ihren Erhebungen Anfang November 1918 hatte die Arbeiterklasse in Deutschland nach dem revolutionären Aufstand in Russland den Weltkrieg schließlich zu Ende gebracht. Der Aufstand eines zentralen Teils der Arbeiterklasse war nötig gewesen, um die Bourgeoisie zur Beendigung des Krieges zu zwingen. Der unbeugsame Widerstand der revolutionären Minderheit - allen voran die Spartakisten an ihrer Spitze - hatte seine Früchte getragen, denn nur dieser heldenhafte Kampf hatte der Arbeiterklasse den Weg zur Beendigung des Kriegs gezeigt. Die Einkerkerung R. Luxemburgs kurz nach Kriegsbeginn, um sie mundtot zu machen, selbst die Festungshaft im Zuchthaus für K. Liebknecht hatten diese bekanntesten Stimmen der Arbeiterklasse nicht zum Schweigen gebracht, sondern nur noch mehr die Widerstandskraft der Arbeiter gegen den Krieg angespornt. So streikten und demonstrierten beispielsweise im Juni 1916 55.000 Arbeiter allein in Berlin gegen den imperialistischen Krieg und die Verurteilung K. Liebknechts. Wie schon in Russland war es in Deutschland ebensowenig der Pazifismus gewesen, der den Krieg zu Ende brachte, sondern nur der Klassenkampf des Proletariats. Und dies ist das große Verdienst der Arbeiterklasse, den Beweis angetreten zu haben, dass sie die große Barriere gegen den Krieg ist und die einzige Kraft, um ihn zu beenden. Und bei dieser Umwandlung des imperialistischen Kriegs in einen Klassenkrieg war die Arbeiterklasse gezwungen, einen Sturmlauf gegen den Staat und seine ihn verteidigenden Kräfte anzutreten. Während es der Arbeiterklasse in Russland gelungen war, die Regierung zu stürzen und die Macht zu ergreifen, stieß das Proletariat in Deutschland auf ungleich größere Hindernisse. Nicht nur hatte es hier mit einer viel intelligenteren und mächtigeren Bourgeoisie zu tun, sondern es befand sich auch in einer neuen historischen Situation, wo es die Konsequenzen des Eintritts des Kapitalismus in seinen Zeitraum der Dekadenz zu begreifen hatte.

Dino (Fortsetzung folgt)

(1) Dies war eine zentristische Partei, in deren Reihen zwei Flügel gegeneinander rangen: ein rechter Flügel, der versuchte, sich in die alte, zur Bourgeoisie übergewechselte Partei wieder einzuordnen, und eine andere Tendenz, die das Lager der Revolution suchte. Die Spartakisten schlossen sich der USPD an, um die Arbeiter besser zu erreichen und sie voranzutreiben. Im Dez. 1918 lösten sie sich von der USPD, um die Kommunistische Partei Deutschland (KPD) mit den Linksradikalen zu gründen.

(2) Weil sich die USPD an dieser Regierung beteiligte, konnte die SPD so tun, als ob die Widersprüche zwischen der SPD und der USPD überwunden, beigelegt worden wären. R. Luxemburg brandmarkte dieses Verhalten am 29.11.1918 in der Roten Fahne:

"Nachdem sie vier Jahre lang während des Krieges von der Brandmarkung der Scheidemann-Ebert als der Verräter des Sozialismus und der Internationale, als des Schandflecks und des Verderbs der Arbeiterbewegung lebte, war ihre erste Tat nach Ausbruch der Revolution, sich mit Scheidemann-Ebert zu einer gemeinsamen Regierung zu verbinden und diese Prostitution eigener Grundstütze als "rein sozialistische" Politik zu proklamieren. In der Stunde, die endlich die sozialistischen Endziele zur praktischen Aufgabe des Tages, die schärfste, unerbittlichste Scheidung zwischen dem Lager des revolutionären Proletariats und offenen wie verkappten Feinden der Revolution und des Sozialismus zur höchsten Pflicht macht, beeilte sich die USPD, in ein politisches Kompaniegeschäft mit den gefährlichsten Vorposten der Gegenrevolution zu treten, die Massen zu verwirren und die Verrätereien zu erleichtern. Ihre eigentliche Mission als Teilhaberin der Firma Scheidemann-Ebert ist: deren klaren und unzweideutigen Charakter als Schutztruppe der bürgerlichen Klassenherrschaft in ein System von Zweideutigkeiten und Feigheiten zu mystifizieren. "

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1919 - Deutsche Revolution [2]

Historische Ereignisse: 

  • Deutschland 1918 [3]
  • Deutschland 1919 [4]
  • Novemberrevolution [5]
  • Arbeiterräte Deutschland [6]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Dritte Internationale [7]

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [9]

Beck ist weg: Erschütterungen in der SPD und die Waffe der Demokratie

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Der Parteivorsitzende der SPD ist gegangen worden. Nicht er, sondern Außenminister Steinmeier wird als Kanzlerkandidat der Partei gegen die Kanzlerin Merkel bei der Bundestagswahl 2009 antreten. Und der neue Chef der Sozialdemokratie ist einer der Alten, Müntefering. Nachdem die SPD seit Monaten in den Umfragen gegen 20% (ein historisches Tief) tendiert, war es ohnehin klar, dass der chancenlose Kurt Beck nicht die Partei in den Wahlkampf führen wird. Auch rechnete man damit, dass Franz Müntefering nach dem Tod seiner Frau so oder so an die Spitze der Partei zurückkehren würde. Überraschend an diesen Vorgängen war lediglich der Zeitpunkt, nachdem man vereinbart hatte, die „K-Frage“ (sprich: die Frage der Kanzlerkandidatur) erst in einigen Monaten zu regeln. Warum also plötzlich diese Eile? Wir werden uns darauf beschränken, einige Aspekte herauszugreifen, die aus unserer Sicht eine Rolle dabei gespielt haben könnten.

Die Krise im Kaukasus

Mit den jetzigen Änderungen haben die Anhänger des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder die Macht innerhalb der SPD wieder übernommen. Während der sieben Jahre Kanzlerschaft Schröders galt Müntefering als seine rechte Hand in der Partei, Steinmeier als sein engster Mitarbeiter in der Außenpolitik. Somit gelten Müntefering, v.a. aber Steinmeier als Partisanen einer Fortsetzung der Schröderpolitik einer „strategischen Partnerschaft“ mit Russland. Wie tief diese Politik in diesen Kreisen verankert ist, zeigt der weitere Werdegang des Altkanzlers selbst. Inzwischen arbeitet Schröder unverhohlen für die russische Energiewirtschaft. In dieser Eigenschaft betreibt er ein Lieblingsprojekt seiner Regierungszeit: den Bau einer Pipeline zwischen Russland und Deutschland, welche Polen und die baltischen Staaten umgeht (und daher durch diese Länder nicht unterbrochen werden kann). Somit liegt die Vermutung nahe, dass die überstürzte Vorverlegung der Nominierung Steinmeiers als Kanzlerkandidat etwas mit dem Krieg in Georgien zu tun hat. Im Ausland kann es als Signal gelten, wie sehr es der deutschen Bourgeoisie am Herzen liegt, trotz der Krise im Kaukasus an der „strategischen Partnerschaft“ mit Moskau festzuhalten. Seit der Auflösung des Ostblocks 1989 ist sein westlicher Gegenpart, einschließlich seines Herzstücks – die Allianz zwischen den USA und der Bundesrepublik –, hinfällig geworden. Seitdem versucht Washington als einzig verbliebene Weltmacht seine ehemaligen Bündnispartner v.a. in Westeuropa an sich zu ketten, indem es die Regionen der Welt unter seine direkte militärische Kontrolle bringt, von der die widerspenstigen „Freunde“ strategisch und wirtschaftlich am meisten abhängig sind: die Lieferanten von Energie und anderen entscheidenden Rohstoffen. Für Deutschland ist eine enge Zusammenarbeit mit Russland der nahe liegendste Weg, um diese totale Abhängigkeit von den USA zu umgehen. Nun hat Russlands Krieg in Georgien für Berlin die unangenehme Nebenwirkung, dass eine Reihe von neuen Mitgliedern in der Europäischen Union in Osteuropa – von Amerika und Großbritannien ermuntert – einschneidende Einschränkungen der europäischen Zusammenarbeit mit Russland fordern. Von Frankreich, Italien und Spanien unterstützt, hat Deutschland auf dem EU-Sondergipfel Anfang September in Brüssel unmissverständlich klargemacht, dass es keine Sanktionen gegen Russland geben wird, und dass die Aufnahme von Georgien und die Ukraine in die EU (und in die NATO) de facto hinausgezögert wird. Zu diesem Bild passt der überstürzte Führungswechsel in der SPD. Denn Kurt Beck ist nicht nur kein Anhänger der Schrödergruppe in der Partei. Er ist auch noch Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, das wie kein anderes Bundesland jahrzehntelang wirtschaftlich von der Anwesenheit der US Armee abhängig war und deshalb traditionell besonders enge transatlantische Beziehungen pflegte. Damit soll nicht unterstellt werden, dass Beck ein „Transatlantiker“ wäre oder Einwände gegen die strategische Partnerschaft mit Russland hätte. Aber die bürgerliche Politik liebt die Sprache des Symbols, und die Rückkehr der Schröderleute spricht eben für sich.Die symbolische Bedeutung des Führungswechsels in der traditionsreichsten Partei der deutschen Bourgeoisie wird im Ausland gut verstanden. Aber er ist noch mehr ein Signal gegenüber der „politischen Klasse“ in Deutschland selbst. Er lässt erkennen, dass mächtige Teile der deutschen Bourgeoisie auf gute Beziehungen zu Russland so viel Wert legen, dass sie es in Betracht ziehen, die Schröderleute wieder ins Kanzleramt zu holen. Das ist eine Warnung auch an die amtierende Bundeskanzlerin. Zwar ist Frau Merkel keineswegs eine Gegnerin einer engen Zusammenarbeit mit Russland. Aber sie ist weniger entschieden dafür. Denn die „Partnerschaft“ mit Russland ist im wesentlichen energiepolitischer und wirtschaftlicher Natur. Sie ist kein Militärbündnis, kann es in absehbarer Zeit auch nicht werden. Als solche lindert sie das Problem der strategischen Abhängigkeit von der Supermacht USA, löst sie aber nicht. Somit muss die deutsche Außenpolitik den Spagat vollziehen, zu Washington auf Distanz zu gehen, ohne es offen herauszufordern. Merkel steht durchaus in dem Ruf, zu denjenigen zu gehören, die im Zweifelsfall gegenüber dem Druck aus Washington lieber einknicken. Es gibt Leute innerhalb der deutschen Bourgeoisie, denen eine solche Haltung in der heutigen Zeit zu zaghaft erscheint. Das muss nicht heißen, dass sie auf Biegen und Brechen einen Steinmeier als Kanzler sehen wollen. Aber sie haben das Bedürfnis, ihre Wünsche unmissverständlich kundzutun.

Das Scheitern des Experiments Beck

Aber die Außenpolitik umfasst nur eine Dimension des Führungswechsels, und nicht mal die Wichtigste. Als Beck die Führung der SPD übernahm, wurde er als jovialer, gerechter, auf „sozialen Ausgleich“ pochender Landesvater in Rheinland-Pfalz verkauft, der seine väterliche Fürsorge der Bundesrepublik insgesamt angedeihen lassen wollte. Mit anderen Worten: nicht nur keiner aus dem Schröder-Stall, sondern auch kein Mann der Agenda 2010, des Frontalangriffs Schröders gegen die Lohnabhängigen. „König Kurt“ sollte die Rolle der SPD bei der Massenverarmung der arbeitenden Bevölkerung vergessen machen und die Partei aus dem Umfragetief herausholen. „Mindestlöhne“, Abmilderungen der „Agenda“ gegenüber „Härtefällen“, ein wenig Offenheit gegenüber Lafontaines Linkspartei als einziger „Agenda-Kritiker“ im Bundestag – das waren seine Themen. Dieses Experiment im kollektiven Vergessenmachen ist gründlich danebengegangen. Die Umfragewerte fielen weiter. Der Trick mit Beck erwies sich als durchsichtig, wurde vom Wahlvolk als unverschämt empfunden. Tatsächlich bleibt die führende Rolle der Sozialdemokratie bei der Verelendung der Arbeiterklasse unvergesslich. Die Führungsquerelen in der SPD sind nicht nur ein Ausdruck außenpolitischer Positionierung und Richtungskämpfe. Sie sind noch mehr ein Produkt einer gewissen Erschütterung der Partei, welche direkt mit deren Rolle bei der „Agenda“ zusammenhängt. Damals, 1998, als Rot-Grün an die Regierung kam, hatte das deutsche Kapital einen deutlichen Verlust der eigenen Konkurrenzkraft auf dem Weltmarkt festgestellt – das Ergebnis der erdrückenden Kosten der „deutschen Wiedervereinigung“. Nach 16 Jahren an der Macht besaß der „Kanzler der Einheit“ Helmut Kohl mit seiner christlich-liberalen Koalition nicht mehr die politische Kraft und Schwung, um den notwendig gewordenen Frontalangriff gegen die proletarischen Lebensbedingungen durchzuführen. Das Chloroform eines Machtwechsels musste her. Es fiel den linken Kräften der Bourgeoisie die Aufgabe zu, die unpopulären Maßnahmen zu treffen, ohne welche das nationale Kapital auf dem Weltmarkt sich nicht hätte behaupten können. Die Rot-Grüne Koalition hat diese Aufgabe glänzend gelöst, und auch noch ohne größere soziale Auseinandersetzungen auszulösen. Aber dieser Erfolg hatte seinen Preis. Wichtige bürgerliche Mythen, welche die arbeitende Bevölkerung ideologisch an das herrschende Regime binden sollen, haben gelitten. Allen voran das Ansehen der SPD als Vertreter der „kleinen Leute“. Das ist ein Problem nicht nur für die Sozialdemokratie, sondern für das Kapital insgesamt. Denn die SPD ist zugleich die erfahrenste Partei der deutschen Bourgeoisie und derjenige Flügel des politischen Apparates, welcher zusammen mit den Gewerkschaften traditionell für das Unschädlichmachen des Klassenkampfes zuständig ist. Der schwindende Einfluss der Sozialdemokratie droht, zu einer Schwächung des Einflusses der Ausbeuter über die Ausgebeuteten zu werden. Dass diese Entwicklung sich nicht auf Deutschland beschränkt, sondern mit der Entwicklung der Weltwirtschaftskrise und des internationalen Klassenkampfes zusammenhängt, zeigt z.B. der sinkende Stern der Labourpartei in Großbritannien. In den beiden Ländern Europas, wo die Bourgeoisie politisch am erfahrensten und am besten organisiert ist, beobachten wir ganz ähnliche Probleme der Sozialdemokratie. Das Spagat zwischen der Durchsetzung der immer heftiger werdenden Angriffe gegen die Arbeiterklasse und der Aufrechterhaltung einer politischen Kontrolle über diese Klasse gelingt immer weniger. Die Tatsache, dass die SPD binnen 5 Jahren zum fünften Mal ihren Parteichef austauscht, lässt erkennen, wie instabil die Politik der Partei im Vergleich zu früher geworden ist. Die SPD schwankt von „links“ nach „rechts“ und wieder zurück, weil sie bisher keine Antwort auf das Problem ihres schwindenden Einflusses innerhalb der Arbeiterklasse findet. Der Verlust an Illusionen innerhalb des Proletariats, und nicht die „Illoyalität“ und „Konkurrenz von Links“ ihres ehemaligen Parteichefs Oskar Lafontaines, machen der SPD zu schaffen. Die Linkspartei Lafontaines macht sich dieses Grundproblem lediglich zunutze, um sich als Alternative zur SPD an der „sozialen Front“ anzubieten, wohl wissend, dass die herrschende Klasse es sich nicht leisten kann, sich an dieser Front eine Blöße zu geben.

Die Waffe der Demokratie

Die Tatsache, dass nicht nur die SPD, sondern die etablierten Parteien insgesamt weiterhin an Glaubwürdigkeit gegenüber der Bevölkerung einbüßen, heißt aber noch lange nicht, dass die Waffe der Demokratie gegen den Klassenkampf stumpf geworden wäre. Hier sehen wir einen dritten und sehr wichtigen Grund für das überstürzte Vorgehen der SPD. Man drängt darauf, den Bundestagswahlkampf einzuleiten. Das Vorziehen der Beantwortung der „K-Frage“ gibt der SPD mehr Zeit, um sich auf diesen Wahlkampf vorzubereiten. Denn die Herrschenden haben mindestens zwei gute Gründe, um zu wünschen, dass die Sozialdemokratie halbwegs gut bei diesen Wahlen abschneidet. Zum einen weil das deutsche Kapital insgesamt ein Interesse daran hat, die SPD zu stabilisieren. Die Linkspartei kann die SPD bei der Kontrolle der Arbeiterklasse nur zum Teil ersetzen, denn es sind nach wie vor die Sozialdemokraten, welche die größten (die im DGB organisierten) Gewerkschaften beherrschen. Und als Instrument der Politikgestaltung und als Regierungsalternative zur CDU/CSU ist die SPD derzeit nicht ersetzbar. Nur so kann man verstehen, dass es der „politische Gegner“ war – in Person der Kanzlerin selbst – welche als erste öffentlich die Rückkehr Münteferings an die Spitze der SPD gefordert hatte. Nicht die Außen- sondern die Innenpolitik hatte sie dabei im Blick: Die Stabilisierung des politischen Apparates der deutschen Bourgeoisie. Außerdem ist es für die herrschende Klasse wichtig, ihren Wahlkampf möglichst spannend zu gestalten. Dafür ist es notwendig zu versuchen, die SPD zumindest merklich über die 30% Marke zu heben, damit Steinmeier als eine realistische, aussichtsreiche Alternative zur Merkel erscheinen kann. In dieser Hinsicht hat die amerikanische Bourgeoisie vorgemacht, wie man das demokratische Wahlspektakel einsetzen kann, um trotz Immobilienkrise, Bankenpleiten, steigender Arbeitslosigkeit und sogar Obdachlosigkeit (bisher) relativ erfolgreich vom Boden des Klassenkampfes abzulenken. 22.09.08

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Buchrezension: Bärbel Reetz‘ Lenins Schwestern -Die (Ohn)Macht der Idee?

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Buchrezension: Bärbel Reetz‘ Lenins Schwestern

Die (Ohn)Macht der Idee?

"Menschen sind stark, solange sie eine starke Idee vertreten;

sie werden ohnmächtig, wenn sie sich ihr widersetzen.”

Dieses Zitat Sigmund Freuds steht dem Roman Lenins Schwestern von Bärbel Reetz[1] voran. Was ist von diesem Ausspruch zu halten? Der nachfolgende Artikel beschäftigt sich mit eben jener These, dass Menschen eine starke Idee brauchen – im Roman, aber auch für uns Menschen heute.

Lenin hatte drei leibliche Schwestern: Olga, Anna und Maria. Auch sie kämpften für große Ideen und doch kennt sie heute kaum noch einer. Und Lenin konnte sich glücklich schätzen, denn im Geiste hatte er noch ungleich mehr Schwestern, die, wie er, ihr Leben einer großen Idee (und damit der ganzen Gesellschaft) widmeten: der Wissenschaft, der Kunst und/ oder der Politik. Auf Grundlage sorgfältig studierter Quellen in Form von Büchern, Artikeln, Briefwechseln und Tagebüchern ebnet Reetz neben bekannteren historischen Frauen wie Rosa Luxemburg, Alexandra Kollontai oder Sabine Spielrein auch heute (zu Unrecht) weniger bekannten Frauen und ihrem Wirken die Rückkehr in das gegenwärtige kollektive Erinnern. Fast beiläufig erzählt sie anhand dieser Frauenbiographien aber auch die Geschichte Russlands wie Europas von 1873 bis 1944, die markiert waren von drei großen Phasen: 1. die Hoffnung auf revolutionären Wandel, 2. Der Wandel – Russische Revolutionen 1905 und 1917, 3. Beginn der Konterrevolution und des 2. Weltkriegs.

 

"Hier werden Ideen bewegt, Zukünftiges gedacht und ins Werk gesetzt."

Geschafft. Gemeinsam ist den Schwestern Sofia und Anjuta Kowalewskaja die Flucht gelungen: vor den strengen Eltern, den alten Denkstrukturen und Lebensweisen in Russland. Wir schreiben das Jahr 1873. Sie haben einen hohen Preis dafür gezahlt. Sofia musste eine Scheinehe eingehen, damit ihr der Weg in die Wissenschaften und ihrer Schwester der Weg in die Politik eröffnet wurde. Nun aber sind sie in der Schweiz. Das Heimweh ist groß, doch hier dürfen sie als Frauen studieren. Wenigstens hier. "Hier (...) werden neue Ideen bewegt, Zukünftiges gedacht und ins Werk gesetzt." (S. 12) In der Tat herrscht Aufbruchstimmung. Ständig trifft man sich und diskutiert über die großen Fragen wie bei dem politischen Frauenzirkel der Fritschen. Begeistert erzählt Anjuta ihrer Schwester: "Dort, beim Fritschi, kommen regelmäßig ein Dutzend Studentinnen zusammen, um sozialistische Literatur, politische Ökonomie und die Geschichte der Arbeiterbewegung zu studieren." (S. 18) Es herrscht ein weitverbreiteter Wille, sich mit sich selbst und der Welt auseinanderzusetzen und beides zu verändern. Statt aber allein zu Hause über die Welt zu sinnieren, trifft man sich regelmäßig in Cafés und Salons und diskutiert gemeinsam über neueste Entwicklungen in Forschung und Medizin, wie der Psychologie, aber auch über die Divergenzen zwischen Marxismus und Anarchismus oder über neueste Entwicklungen in der Kunst. Und stets wird ein Bezug zu allen Bereichen hergestellt, denn eins haben sie gemeinsam: Die Auseinandersetzung mit Politik, Wissenschaft und Kunst ändert Sein und Bewusstsein. Diese Kultur des vertieften und solidarischen Debattierens entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten und von Generation zu Generation. Mira Gincburg erinnert sich Jahre später an die Zeit um die Jahrhundertwende in Zürich: "Im Cabaret Voltaire waren wir jedoch so oft es ging, in der Galerie Dada, im Terrase und Odeon. Emil und ich sahen den spitzbärtigen Uljanow-Lenin grämlich durchs Niederdorf streichen, hörten von Trotzkis Ausweisung wegen seiner fortgesetzten Agitation, redeten uns mit den Künstlern über deren Manifeste nächtelang die Köpfe heiß. Aktionen, Ausstellungen, Soireen. Nie zuvor Gehörtes, nie zuvor Gesehenes." (S. 221) Der Roman macht deutlich, dass historisch bekannte Revolutionäre wie Rosa Luxemburg, Trotzki oder Lenin keinesfalls Einzelerscheinungen waren, sondern Teil dieser politischen Zirkel und Debatten, und somit Teil eines kollektiven Prozesses. Selbst vor der Familie machte diese Entwicklung nicht Halt. Sweta erzählt von ihrer Olga Uljanowa, deren Brüder und Schwestern in revolutionären Zirkeln aktiv sind. Sie alle haben, trotz aller Widerstände, einen großen Lebenswillen, weil sie sich für etwas Großes einsetzen. Was wird nun aus den großen Ideen innerhalb der sich zuspitzenden gesellschaftlich-wirtschaftlichen Lage des Kapitalismus?

 

"Nach dem ersten Schreck, den ersten Tagen der Revolution, schien es mir wirklich, dass etwas Neues beginnt, dass sich etwas Großartiges ereignet hat."

Der mittlere Teil des Romans behandelt die Russischen Revolutionen von 1905 und 1917. Mira Gincburg ist eine junge Frau voller Hoffnungen. Sie verfolgt mit gespannter Aufmerksamkeit die Massenstreiks der Arbeiter, die Meuterei der Matrosen und den ersten Sowjet in Petersburg. Sie hofft auf die junge Generation, hofft, dass sich jetzt mit der Revolution die Gesellschaft wirklich zum Besseren ändern wird. Zugleich beschäftigt sie sich mit neuen Forschungsansätzen in der Medizin. Sie selbst möchte sich auf die Nervenkrankheiten spezialisieren, und diskutiert oft mit anderen über Freuds Psychoanalyse. In einem Gespräch mit der Ärztin Dr. Erismann erfährt Mira, dass auch Tatjana Rosenthal in der Schweiz Medizin studierte, als in Russland die Revolution ausbrach. Da war sie nicht mehr zu halten, fuhr nach Moskau, "...wurde politische Sprecherin der Studentinnenvereinigung der Moskauer Frauenuniversität und hat sich aktiv an der Februar-Revolution in Piter beteiligt, gemeinsam mit Anna Jelisarowa und Maria Uljanowa, Lenins Schwestern." (S.129) Nach der Niederlage der Revolution war sie "zermürbt, enttäuscht, zutiefst deprimiert". Sie hoffen, dass Tatjana Rosenthal dennoch ihr Studium der Medizin und der Psychoanalyse wieder aufnimmt. Aber Frau Erismann ist zuversichtlich: "Vermutlich, sagt sie zögernd, spüren wir, dass nicht nur in der Idee des Sozialismus das revolutionäre Potential unseres Jahrhunderts steckt, sondern auch in der neuen Seelenlehre Freuds." (S.130) Und in der Tat, Rosenthal lebt für diese beiden starken Ideen und arbeitet für ihre Umsetzung. Mit der erfolgreichen Revolution in 1917 als Auftakt zur Weltrevolution ist sie wieder sofort zur Stelle, kämpft für die Revolution, aber sie behandelt in Petersburg auch verstörte und kranke Kinder nach Freuds Methode.

Dennoch, viele Fragen sind noch offen. Und solch eine starke Idee wie der Kommunismus lässt sich nicht weltweit von jetzt auf gleich umsetzen. Das Proletariat, die Revolutionäre, sie kämpfen mit ganzer Kraft für eine bessere, menschlichere, also klassenlose Gesellschaft. Aber nach dem Scheitern der Revolution in Deutschland und Ungarn, bleibt die Revolution in Russland isoliert. Mann/Frau kämpft weiter, aber allein der Wille, sich für eine starke Idee einzusetzen, reicht nicht, um die Weltrevolution noch durchzusetzen. Wie wird es nun weitergehen?

 

"Es ist, als ob man gegen den Ozean ankämpft."

Der letzte Teil des Romans markiert bereits die Phase der Konterrevolution. Was ist geworden aus den großen Zielen und Ideen? Man hört nur noch vereinzelt Stimmen für die Weltrevolution, etwa von starken Frauen wie Raissa Adler. (Vgl. S. 224) Besonders frappierend im Vergleich zu den Jahren zuvor ist eines: die allgemeine Sprachlosigkeit. In den faschistischen und stalinistischen Ländern herrscht Schweigen aus Angst vor der offenen Gewalt und Repression und unzählige Regimekritiker sind schon (mund)tot.

Selbst Alexandra Kollontai weiß, dass sie trotz, oder vielmehr wegen ihrer einstigen Verdienste um die Revolution bespitzelt wird und gefährdet ist. Es ist das Jahr 1944, die Moskauer Schauprozesse, die Ermordung Trotzkis haben längst stattgefunden. Einst hatte sie sich der Arbeiterbwegung angeschlossen, als sie all das Elend und die unmenschlichen Bedingungen der Arbeiterschaft erlebt hatte. Sie las Marx. Nun ist sie alt, sowjetische Diplomatin in Stockholm. Es ist der 20. September. Endlich haben die Finnen das Friedensabkommen unterzeichnet. Dafür hatte sie ihre ganze Energie eingesetzt, trotz Schlaganfall weitergearbeitet. Eigentlich ein Erfolg. Aber Freude mag sich nicht so recht bei ihr einstellen. Wieso lässt sie sich bloß zum Karolinischen Friedhof fahren, an ihrem Tag des Erfolgs, fragt sich ihr Fahrer. Sie setzt sich vor das Grab der Mathematikern Sofia Kowalewskaja, denkt nach. Werden künftige Generationen verstehen, was passiert ist, was sie erreichen wollten. Werden sie es verstehen, obwohl sie selbst so lange ertragen hat, "...anders zu sprechen als zu denken." (S. 258) Kollontai kritisiert, dass der Stalinismus offene Debatten, innovative Kultur und Kunst, Moral oder auch wissenschaftliche Methoden wie die Psychoanalyse verunmöglicht hat. Wo die nackte Angst herrscht, können Menschen nicht debattieren, nachdenken, lernen, kreativ sein, sprich, die Welt aktiv gestalten. "Und während sie durch den trüben Nachmittag zurückfahren, fragt sie sich, was sie erreicht, ob sich der Kampf gelohnt hat, was ich getan oder gedacht habe, müssen andere entscheiden." (S.259)

Aber selbst jene, die über den großen Teich in die Vereinigten Staaten fliehen konnten, leiden. Sie leben jetzt zwar in einem demokratischen Staat, aber gerade in dieser Atmosphäre der kollektiven Angst, in Zeiten der nackten Konterrevolution und des Krieges, wollen und können viele nicht sprechen, offen debattieren. Dies muss auch Dr. Mira Gincburg erfahren, die sich als Jüdin gezwungen sah, mit ihrer Familie in die Staaten zu emigrieren. Im Oktober 1939 ist sie auf eine Feier eines Kollegen eingeladen. Ihr Schwager stimmt sie auf die „angemessene Gesprächsführung“ bei diesem geselligen Anlass ein: "Man redet nicht über Probleme (...) Sprich meinetwegen über das Wetter, aber nicht über Politik oder Krankheiten. Kein Schürfen in der Tiefe. Bleib an der Oberfläche und mach nicht so ein Gesicht." (S. 211) Sie soll schweigen darüber, dass die Nazis gerade in Polen wüten, dass die Juden aus ihren Wohnungen getrieben werden und zusammen mit den Kommunisten in die Konzentrationslager gesteckt werden. Auf der Feier betonen alle immer wieder, es gehe ihnen gut. Vielleicht zu sehr. Dann ein unerwartetes Wiedersehen. Mira trifft dort Raissa Adler, Kommunistin und Frau von Alfred Adler. Beide sind einsam, und so tauchen sie gemeinsam ein in die Vergangenheit, sprechen über Ziele und tatsächlich eingeschlagene Wege - des eigenen Lebens, aber auch der Revolution, in die beide große Hoffnungen gesetzt hatten. Raissa gesteht, dass sie weinen musste "...um die verlorene Heimat Wien, die zurückgelassenen Freunde und Genossen, die verfolgt werden, um das Scheitern unserer politischen Ziele." (S. 236) Dies klingt sehr resigniert. Allerdings wird in dem Roman nicht ganz deutlich, ob die Protagonistinnen ihre große Idee aufgeben und somit ohnmächtig werden. Zudem kann eine solch starke Idee, wie die klassenlose Gesellschaft, nicht von einer Generation allein gelöst werden.

Ideen und Ideale im Marxismus

Wie steht überhaupt der Marxismus dieser These gegenüber, derzufolge Menschen für ein sinnvolles und sinnerfülltes Leben eine starke Idee brauchen, und so auch zur Veränderung der Gesellschaft beitragen können? Welche Bedeutung haben Ideen und Ideale in der Geschichte der Menschheit allgemein und im Klassenkampf insbesondere? Zunächst einmal haben Marx und Engels stets betont, dass die kommunistische Bewegung ohne eine allgemeine Vorstellung von der Gesellschaft, die sie errichten will, blind wäre. Noch dezidierter geht Anton Pannekoek auf die Frage ein: „Der Marxismus leugnet die Macht der sittlichen, geistigen, idealen Kräfte nicht, sondern fragt: woher stammen sie? Nicht vom Himmel, sondern aus der wirklichen Welt selbst.“[2] Real sind für den Marxismus nämlich nicht nur die kapitalistischen Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse oder die Verelendung, sondern Worte der Empörung darüber, wie auch die Ideen über eine neue klassenlose Gesellschaft. Natürlich begründet der Marxismus den Kommunismus nicht mit Moral oder großen Idealen, wie Pannekoek betont, doch er sieht in menschlichen Emotionen wie der sittlichen Empörung über die Welt und die Sehnsucht nach einer besseren Welt eine nicht zu unterschätzende Waffe im revolutionären Kampf. Kein Wunder also, wenn Pannekoek feststellt: „In revolutionären Zeiten sieht man die treibende Kraft großer Ideen.“[3]

 

“Alles ist so friedlich, als gäbe es keine revolutionäre Zirkel”

Tatsächlich ist das letzte Kapital dieser Geschichte noch nicht geschrieben. Der Roman enthält eine direkte Aufforderung an die LeserInnen, sich als nachfolgende Generationen mit der gemeinsamen Geschichte kritisch auseinanderzusetzen, um dann selbst die Zukunft aktiv mitgestalten zu können. Eines können wir ganz gewiss von diesem Roman lernen: Alle hier dargestellten Frauen widmen ihr Leben einer großen Idee, einem Ziel, das weit über das eigene Leben hinausreicht. Dies ist vielleicht die wichtigste Botschaft des ganzen Romans, denn angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftskrise, der Klimakatastrophe und der unzähligen Kriege zweifeln immer mehr Menschen daran, dass der Kapitalismus die beste Gesellschaftsordnung sei, wie nach 1989 immer wieder behauptet wurde. Es ist heute eine wachsende Minderheit, bei der man wieder eines feststellen kann: Es gibt eine Suche nach neuen starken Ideen, nach einem besseren Weg, um die Gesellschaft zu gestalten. Dies gibt eine Perspektive und ist sinnstiftend. Solch eine Suche ist gepaart mit einem wachsenden Verlangen, sich auszutauschen, solidarisch zu diskutieren und gemeinsam die Welt zu verändern. Nach den langen Jahren der Konterrevolution bis Ende der 1960er Jahre und nach einer Zeit der Desorientierung ab 1989 rückt das Sprechen, das Diskutieren wieder vermehrt in den Mittelpunkt. Die Revolution entsteht nicht im luftleeren Raum, wie der Roman eindrucksvoll zeigt. In der heutigen Zeit krankt die Gesellschaft daran, dass man zwar allgemein gegen den Jetzt-Zustand ist, aber die Alternative, das, wofür man ist, zu fehlen scheint. Ob die klassenlose Gesellschaft weltweit umsetzbar ist, hängt nicht zuletzt davon ab, ob wir gemeinsam in der Lage sind, uns wieder für eine starke Idee zu begeistern: den Kommunismus.

In diesem Sinne ist Bärbel Reetz' Roman Lenins Schwestern ein Plädoyer für das Leben für große Ideen sowie ein literarischer Gedenkstein an jene oft (fast) vergessene Frauen, die für die Revolution lebten und starben: "Über Jahrzehnte waren es fast ausschließlich Russinnen, die studierten, sich politisch engagierten, für die Revolution lebten - und starben. Man sollte ihre Namen auf einen Gedenkstein setzen. Nicht nur den der Kowalewskaja, sondern auch den ihrer Schwester Anna Jaclard, der Kämpferin der Pariser Kommune. Nicht nur die Asche der Krupskaja hätte an der Kremelmauer beigesetzt werden dürfen, sondern die von Lenins mutigen Schwestern (...) und der zahllosen jüdischen Mädchen und Frauen, die sich (...) für eine Veränderung der Verhältnisse engagierten und, wie Rosa Luxemburg, mit ihrem Leben bezahlt haben."(S.252f.) 20.9.08, Anna



[1] Bärbel Reetz: Lenins Schwestern. 2008. Frankfurt am Main und Leipzig. Insel Verlag. Der Anhang “Von der Realität zur Fiktion – Personen und Quellen zum Roman” ist sehr hilfreich, um weitere Information über interessante und wichtige Personen zu erhalten.

[2] Anton Pannekoek: Marxismus und Idealismus. 1921. In: Neubestimmung des Marxismus. Diskussion über Arbeiterräte. Bd.1. 1974.

[3] Ebenda.

Die herrschende Klasse kann den Bankrott des Kapitalismus nicht verhindern

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Vor mehr als einem Jahr gab die Immobilienkrise in den USA (nunmehr „Subprime-Krise“ genannt) den Auftakt zu einer brutalen Beschleunigung der weltweiten Wirtschaftskrise. Seitdem werden große Teile der Menschheit von einer wahren Welle der Verarmung erfasst. Der vollen Wucht der Inflation ausgesetzt (innerhalb einiger Monate haben sich die Preise der wichtigsten Grundnahrungsmittel in vielen Teilen der Erde mehr als verdoppelt), stehen die Ärmsten der Armen vor der Gefahr des Verhungerns. Die Hungerrevolten, welche von Mexiko über Haiti und Ägypten bis Bangladesh ausgebrochen sind, sind der verzweifelte Versuch, gegen diese unerträgliche Situation zu reagieren. Auch in den Herzen der Industrieländer haben sich die Lebensbedingungen der Arbeiter wesentlich verschlechtert. Nur ein Beispiel: mehr als zwei Millionen Amerikaner haben ihre Wohnungen verloren, da sie ihre Hypothekenzinsen nicht mehr bezahlen konnten. Und bis Ende des Jahres sind eine weitere Million Amerikaner von diesem Schicksal bedroht.

Diese brutale Wirklichkeit, vor der die ArbeiterInnen und die nicht-ausbeutenden Schichten stehen, kann von den Herrschenden mittlerweile nicht mehr geleugnet werden. In ihren Erklärungen können führende Persönlichkeiten aus den Wirtschaftsinstitutionen sowie der Finanzanalysten nicht mal mehr ihre eigenen Ängste verbergen:

"Wir stehen vor einem Berg von ökonomischen und währungspolitischen Schwierigkeiten, wie wir sie noch nie gesehen haben" (so der Chef der amerikanischen FED am 22. August).

"Die gegenwärtige Konjunktur ist die schwierigste seit Jahrzehnten" (HSBC, die als größte Bank der Welt eingestuft wird, am 5. August).

"Wir stehen vor einem endlos langen Krach" (Le Point, 24.7.08).

"Auf die Wirtschaft kommt ein wahrer ökonomischer Tsunami zu" (J. Attali, französischer Ökonom und Politiker, Le Monde, 8.8.08).

1967-2007: 40 Jahre Krise

In Wirklichkeit begann die Krise nicht erst 2007, sondern schon Ende der 1960er Jahre. Von 1967 an kam es zu schwerwiegenden Währungsturbulenzen. In den bedeutendsten Ländern fielen die Wachstumsraten. Das Ende der Blütezeit der 1950er und 1960er Jahre, damals als Wiederaufbauwunder gepriesen, war gekommen.(1) Doch 1967 brach die Krise nicht mit solch großer Wucht aus wie der spektakuläre Krach von 1929. Der Grund: die USA hatten ihre Lektion aus der dunklen Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gelernt. Um zu verhindern, dass die Wirtschaft erneut durch eine Überproduktion gelähmt und blockiert wird, nutzte man einen Kunstgriff: die systematische und allgemeine Verschuldung. Mittels einer Verschuldungspolitik der Staaten, Unternehmen und Privathaushalte wurde die Nachfrage ungefähr auf dem Angebotsniveau gehalten. Mit anderen Worten: die Waren wurden mit Hilfe von Krediten abgesetzt.

Aber die Verschuldung ist nur eine Krücke. Sie ist kein Heilmittel gegen die Krankheit, die Überproduktion des Kapitalismus. Unfähig, wirklich zu "heilen", muss dieses Ausbeutungssystem immerzu und in wachsendem Maße auf diesen Kunstgriff zurückgreifen. 1980 entsprach der Umfang der Schulden in den USA ungefähr dem Umfang der US-Produktion. Im Jahre 2006 war der Schuldenberg 3,6 mal höher (d.h. 48.300 Milliarden Dollar). Es handelte sich um eine wahre Flucht nach vorne! Der Kapitalismus sitzt auf einem Schuldenberg – dies ist unleugbar. Aber die bürgerlichen Politiker wollen uns weismachen, all das mache nichts, da die Wirtschaft weiter funktioniere. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Die Verschuldung ist kein Zaubermittel; das Kapital kann nicht endlos lange einfach so Geld aus dem Hut zaubern. Das ABC des Handels besagt, dass jede Verschuldung eines Tages beglichen werden muss, sonst entstehen dem Kreditgeber große wirtschaftliche Schwierigkeiten. Damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt: Das Kapital kann auf diese Weise allenfalls einen Zeitaufschub erwirken. Schlimmer noch: Indem die Auswirkungen der Krise in die Zukunft verschoben werden, werden nur noch heftigere Erschütterungen vorbereitet. Der Taifun der asiatischen Krise 1997, ihre rasend schnelle und zerstörerische Geschwindigkeit belegte dies. Vor der Krise verzeichneten die asiatischen Tiger und Drachen Rekordwachstumszahlen dank…. massiver Verschuldung. Doch als die Schulden beglichen werden mussten, fiel alles wie ein Kartenhaus zusammen. Innerhalb weniger Wochen blutete die Region aus – beispielsweise registrierte man in Südkorea binnen weniger Wochen mehr als eine Million Arbeitslose zusätzlich. Damals hatte die Bourgeoisie bei dem Versuch zu verhindern, dass dieser Sturm sich auf die ganze Weltwirtschaft ausdehnte, keine andere Wahl, als auf neue Kredite zu setzen, die wiederum Milliardenhöhe erreichten. Es handelte sich also um einen Teufelskreislauf, der sich immer schneller drehte! Je unwirksamer das Mittel wird, desto mehr muss der Kranke die Dosis für sein Überleben erhöhen. Und so wirkte die Spritze von 1997 nur vier Jahre. 2001 platzte die Internet-Blase. Man errate die "Lösung" der Bourgeoisie! Eine spektakuläre Erhöhung der Verschuldung! Die amerikanischen Wirtschaftsbehörden, die sich über den wirklichen Zustand der Wirtschaft und ihrer Abhängigkeit von der Kreditspritze im Klaren waren, haben derart an der Schuldenspirale gedreht, dass der damalige Chef der FED in den Ruf des größten Schuldenmachers geriet.

Die brutale Beschleunigung des Krisenrhythmus‘

1967-2007 war ein langer Krisenzeitraum, in denen Phasen der Beruhigung mit Phasen tieferer Rezession abwechselten. Doch seit einem Jahrzehnt können wir eine Beschleunigung beobachten, und die gegenwärtige Epoche erscheint als ein veritabler Orkan. Der über vier Jahrzehnte angehäufte Schuldenberg ist so hoch wie der Mount Everest, und nach den Krisen von 1997 und 2001 rast das Kapital nun den Abhang hinunter.

Ein Jahrzehnt lang hat die amerikanische Bourgeoisie den ärmsten Teilen der Arbeiterklasse günstige Hypothekenzinsen eingeräumt. Gleichzeitig jedoch verarmte die Arbeiterklasse aufgrund der Zuspitzung der Krise. Ihre Löhne sind gesunken, die Arbeitsbedingungen immer prekärer geworden, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, die Ausgaben für Gesundheit usw. steigen enorm. Das Ergebnis war unvermeidbar: Ein Großteil der Menschen, die von den Banken dazu verleitet wurden, sich für den Kauf eines Hauses zu verschulden (oder Hypotheken für ihre Wohnungen aufzunehmen, um schlicht und einfach Lebensmittel oder Kleidung zu kaufen….), besitzt kein Geld mehr zur Rückzahlung der Kredite. Da die Banken aus ihren Kunden kein Geld mehr herauspressen konnten, haben sie ihrerseits riesige Schuldenberge angehäuft. Diese Schuldenberge sind dermaßen angewachsen, dass immer mehr Banken pleite gegangen sind oder kurz vor dem Konkurs stehen. Doch dank der Umwidmung von Titeln, d.h. der Umwandlung von Gläubigerpapieren in verkäufliche Immobilienwerte (wie andere Aktien und Obligationen) auf dem Weltmarkt, gelang es den Kredit gebenden Institutionen, ihre Geldforderungen an Banken anderer Länder zu veräußern. Deshalb hat die „Subprime“-Krise das Bankenwesen in der ganzen Welt infiziert. In den USA ist der Bankrott der Indymac-Bank die größte Bankenpleite seit 1982. Ohne die Hilfe der Zentralbanken wäre die Schweizer USB-Bank, die ebenfalls zu den größten Banken der Welt gehört, längst in Konkurs gegangen. Und wie stets hat die Arbeiterklasse die Rechnung zu begleichen: Seit Anfang 2007 haben die Banken mehr als 83.000 Stellen weltweit gestrichen – und diese Zahl könnte sich wohl in den nächsten Monaten verdoppeln (Les Echos, 24.6.2008)

Banken sind das Herz der Wirtschaft. In ihren Händen bündelt sich das gesamte, zur Verfügung stehende Kapital. Wenn sie nicht mehr funktionieren, kommen die Betriebe zum Stillstand, Löhne können nicht mehr bezahlt, Rohstoffe und Maschinen nicht mehr gekauft werden. Vor allem werden keine neuen Kredite mehr vergeben. Und selbst die Banken, die noch nicht in Konkurs gegangen sind, werden in puncto Kreditvergabe immer ängstlicher, weil sie in Anbetracht des gegenwärtigen Wirtschaftsklimas die Zahlungsunfähigkeit weiterer Betriebe fürchten.

Die Konsequenzen sind weitreichend – die wirtschaftliche Aktivität verlangsamt sich brutal. In der Euro-Zone ist das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal 2008 um 0,2 Prozent gesunken. In der Industrie werden Tausende Stellen gestrichen. General Motors steht vor der Zahlungsunfähigkeit und kündigt die mögliche Streichung von 73.000 Stellen an. Unzählige weitere Entlassungen und Stellenstreichungen stehen an.

Licht am Ende des Tunnels für die kapitalistische Wirtschaft?

Es stellt sich die Frage: Warum kann die Verschuldungspolitik nicht einfach fortgeführt werden, wie nach dem Platzen der Internetblase? Kann das Geldscheindrucken nicht unbegrenzt fortgesetzt werden?

Die unheilvolle Rückkehr der Inflation macht deutlich, dass die Verschuldung an ihre Grenzen gestoßen ist. Jeder weitere Einsatz der Kreditspritze macht alles noch schlimmer. Die Verschuldung bedeutet die Zufuhr von immer neuen beträchtlichen Geldmengen. Dem Wirtschaftsexperten P. Artus zufolge "ist die Liquidität seit 2002 um durchschnittlich 20 Prozent pro Jahr gestiegen". Die Einspeisung solcher Geldmengen kann nur zu starken Inflationsschüben führen (2). Zudem haben die Spekulanten weltweit diese inflationäre Tendenz durch ihre Spekulationen mit dem Ölpreis und den Nahrungsmitteln weiter angefacht. Da sie nicht mehr auf die klassische Art an der Börse spekulieren konnten und infolge der 2001 geplatzten Spekulationsblase der New Economy und der nun geplatzten Immobilienblase diese Bereiche nicht mehr zur Verfügung stehen, haben sich die Spekulanten auf das gestürzt, was alle Menschen kaufen müssen: Energie und Nahrungsmittel – womit in Kauf genommen wurde, dass ein Teil der Menschheit damit in den Hungertod getrieben wird. (3)

Die Gefahr ist groß für die kapitalistische Wirtschaft. Die Inflation wirkt wie ein tödliches Gift; sie kann zum Zusammenbruch von Währungen und zu großen Verwerfungen des Weltwährungssystems führen. Die Abschwächung des Dollars weist in diese Richtung. Die Gefahr einer Blockierung des Welthandels ist somit nicht von der Hand zu weisen, da der US-Dollar als internationale Leitwährung fungiert. Es ist ganz aufschlussreich, dass die Direktoren der großen Zentralbanken (FED, EZB usw.) in ihren Stellungnahmen ständig widersprüchliche Aussagen machen. Einerseits sagen sie, dass zur Vermeidung der Rezession weniger auf die Inflationsbremse getreten werden dürfe und dass zur Ankurbelung der Nachfrage die Zinsen gesenkt werden müssten. Andererseits behaupten die gleichen Zentralbankchefs die Inflation bekämpfen zu wollen, was bedeutet, die Zinsen zu erhöhen, um die Verschuldung zu bremsen! Die großen Kapitalsvertreter sind nicht schizophren. Sie bringen schlicht und einfach den realen Widerspruch zum Vorschein, in welchem der Kapitalismus versinkt. Dieses System ist eingeklemmt zwischen Baum und Borke: Rezession und Inflation erweisen sich als unlösbare Probleme und bedrängen das System immer stärker. Mit anderen Worten: die herrschende Klasse muss zwischen beiden hin und her lavieren. Sie muss versuchen, die Verschuldung zu begrenzen, um die Inflation einzudämmen; dabei darf sie gleichzeitig den Kredithahn nicht ganz schließen, damit die Wirtschaft nicht erdrosselt wird, wie das 1929 der Fall war. Das heißt, die herrschende Klasse steckt schlicht in der Sackgasse.

Der Kapitalismus in der Sackgasse – die Zukunft gehört der Arbeiterklasse

Die gegenwärtige Rezession ist eine neue, besonders dramatische und brutale Episode des historischen Bankrotts des Kapitalismus. Die nunmehr seit 40 Jahren wütende Krise hat jetzt einen anderen Rhythmus angenommen; sie erfährt eine wirklich dramatische Beschleunigung. Dennoch gibt es keinen Grund zur Annahme, dass die "Todeskrise" zu einer endgültigen Blockierung des Kapitalismus führe und dieser von selbst verschwände. Wichtig ist zu erkennen, dass diese, seit 1929, neue Lage schwerwiegende Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse sowie auf die Entwicklung ihrer Kämpfe haben wird. Die herrschende Klasse wird versuchen, der Arbeiterklasse die Last der Krise aufzubürden. Es steht fest, dass, gleichgültig welche Wirtschaftspolitik die verschiedenen Parteien (von den Rechtsextremen bis zu den Linksextremen) in welchem Land auch immer vorschlagen, die Situation sich nicht verbessern wird. Nur der Klassenkampf kann die herrschende Klasse daran hindern, noch drastischere Maßnahmen zu ergreifen. Da die Inflation alle ArbeiterInnen trifft, schafft sie günstige Voraussetzungen für einen vereinten und solidarischen Kampf. Die Entwicklung des Klassenkampfes ist nicht nur das einzige Mittel, die herrschende Klasse daran zu hindern, die Arbeiterklasse zu attackieren, sondern er ist auch das einzig realistische Mittel, die Überwindung des Kapitalismus anzustreben und eine neue Gesellschaft aufzubauen – den Kommunismus, in dem es keine Krisen geben wird, weil nicht mehr für den Profit, sondern für die Bedürfnisse der Menschen produziert wird. Vitaz, 30.08.09

(1) Dieser Ausdruck wurde von J. Fourastié "Les Trente Glorieuses, ou la révolution invisible de 1946 à 1975" Paris, Fayard, 1979, geprägt. Im Deutschen verwendet man den Begriff "Wirtschaftswunder". In der IKS findet gegenwärtig eine Debatte zum besseren Verständnis des Hintergrunds dieser Periode der kapitalistischen Wirtschaft statt. Wir haben angefangen, diese Debatte in unserer Internationalen Revue zu veröffentlichen. Siehe Internationale Revue (engl.-franz.-spanische Ausgabe) Nr. 133. "Interne Debatte der IKS: Die Ursachen der Blütezeit nach dem II. Weltkrieg". Wir möchten alle unserer LeserInnen auffordern, sich auf unseren Veranstaltungen oder auch per Post und per E-mail an dieser Debatte zu beteiligen.

(2) Innerhalb des Rahmens dieses Artikels können wir die Verbindung zwischen der Menge des verfügbaren Geldes und seinem Wert nicht tiefer beleuchten. Es sei nur gesagt, dass jedesmal, wenn massiv Geld gedruckt und in Umlauf gebracht wird, es Stück für Stück an Wert verliert, was die Inflation antreibt.

(3) Wir erwähnen hier beiläufig, dass die Linken und die Antiglobalisierer stets die Staaten auffordern, auf die Spekulationsgelder zurückzugreifen, um sie der Wirtschaft wiederzuzuführen, indem beispielsweise Großbauprojekte durchgeführt werden. Dies ist eine völlige Irreführung. Einzig die Inflation würde dadurch angetrieben. Linke und Antiglobalisierer gießen in Wirklichkeit damit nur Öl ins Feuer.

Mobilisierung gegen „Pro Köln“ Eine Stadt feiert sich

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Am 20. September 2008 demonstrierten Zehntausende in der Kölner Innenstadt gegen einen von dem rechtspopulistischen „Pro Köln“ organisierten Aufmarsch und Tagung „gegen Islamismus“. Obwohl Pro Köln Rechtsradikale aus ganz Europa einlud – u.a. Jean-Marie Le Pen aus Frankreich –, fiel die Mobilisierung von Rechts ziemlich dürftig aus. Auch Le Pen kam nicht. Schließlich wurde der Auftritt des rechten Mobs am Alten Markt von der Polizei verboten. Aber schon vorher sahen die von Rechtsaußen ziemlich alt aus. Schon am Vortag von so gut wie allen Hotels und Lokalen der Stadt hinausgewiesen, wurden die übernächtigten Hetzer von Samstagmorgen an durch Demonstranten verfolgt und eingekesselt. Ihrer anschließenden Durchhalteparolen zum Trotz werden die Rechtspopulisten Europas nicht noch mal so schnell versuchen, die Straßen der Rheinmetropole in Besitz zu nehmen.

Ansätze eines Nachdenkens über das System

Was die Mehrzahl der Demonstranten gegen Rechts auf die Straße trieb, war etwas, was wir als „internationalistische Gesinnung“ bezeichnen möchten. Wir meinen damit die Empörung darüber, wie Mitmenschen aus anderen Weltteilen und Kulturkreisen durch diese Gesellschaft zu Fremden, Ausgestoßenen gemacht werden, die erniedrigt, diskriminiert, ausgesperrt und „abgeschoben“ werden. Die Rechten, da sie unverhohlen solch menschenverachtendes Verhalten propagieren, versinnbildlichen das, wogegen die Demonstranten von Köln und Anderswo sich auflehnen.

Aber nicht nur diese Frage trieb die Protestierende auf die Straße. Auffallend war der relativ hohe Anteil oft sehr junger Demonstrantinnen und Demonstranten. Für viele dieser Teilnehmer war dies vielleicht ihre erste Demonstration bzw. ihr erster Akt des politischen Engagements überhaupt. Viele diese Menschen (natürlich nicht nur die Jugend) beginnen, Fragen wie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Verbindungen werden hergestellt zu der Drangsalierung der Erwerbslosen, den weltweiten Hungerrevolten oder dem wirtschaftlichen Niedergang des Kapitalismus, wie es momentan an den internationalen Finanzplätzen augenfällig wird. Entsprechend groß war die Bereitschaft vieler Demonstranten, die Presse einer kleinen revolutionären Organisation wie die IKS zu lesen und sich mit unseren GenossInnen vor Ort auszutauschen. Die Mehrzahl der Demonstranten entstammte ohne Zweifel der Arbeiterklasse. Es sind Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind oder sich unmittelbar davon bedroht fühlen; Menschen, die mitten in der kapitalistischen Krise alle Widrigkeiten und Unsicherheiten der Lohnsklaverei an der eigenen Haut spüren. Das gilt gerade auch für die vielen SchülerInnen oder Auszubildenden, denen eine immer düsterer anmutende Zukunft winkt.

Kölle Alaaf!

Zwar sind die Rechtsradikalen die offenkundigsten Vertreter der Fremdenfeindlichkeit in der heutigen Gesellschaft. Aber Rassismus und Ausgrenzung gehen vom System insgesamt aus, welches die Menschen und „Standorte“ zu Konkurrenten, ja zu Feinden macht. Und der Hauptträger dieser Feindseligkeit ist der Staat, der politische Organisator dieses Konkurrenzkampfes. Das gilt für den Staat jeglicher Couleur, ob demokratisch oder faschistisch. Denn die Menschen, welche die fremdenfeindlichen Maßnahmen auszuführen haben – Polizei, Militär – brauchen selbst nicht mal RassistInnen zu sein, um instrumentalisiert zu werden, um die Flüchtlinge, um unsere verhungernden und verfolgten Brüder und Schwestern an den Grenzen abzuweisen oder sie zu verhaften und wieder hinauszuwerfen.

Genau hier liegt das Fatale an der Kölner Mobilisierung. Sie fand statt als ein klassenübergreifender Zusammenschluss aller „Kräfte“ der Stadt, von dem CDU Oberbürgermeister, allen demokratischen Parteien im Stadtrat, über die Boulevardpresse und die christlichen und muslimischen Kirchen bis hin zu den Geschäftsführern der Hotel- und Gastronomiewirtschaft. Ein Zusammenschluss all derjenigen, welche selbst abschieben und hetzen oder sonst von den Fremden buchstäblich profitieren – durch ihre gnadenlose Ausbeutung.

Natürlich verlieh gerade die Teilnahme der Obrigkeit ein Gefühl von Stärke. Aber dieses Gefühl ist nichts als eine Illusion, wenn es um die Belange der Arbeiterklasse geht. Bezeichnend war die Begründung der Einsatzleitung der Polizei, weshalb die Tagung der Rechten schließlich verboten wurde. Unter den Demonstranten, sagte sie, seien auch „Bürgerliche“, welche zu Schaden kommen könnten, falls die Polizei versuchen sollte, den Rechten gewaltsam Bahn zu brechen. Das bedeutet: Sind nur Arbeitsleut anwesend, kann man sie ohne weiteres verdreschen.

Da hieß das Motto: Nicht Pro Köln, wir sind das echte, nämlich das „weltoffene“ Köln. So frohlockten die Stadtgranden im Nachhinein darüber, dass ihre Stadt in den Medien ganz Europas gefeiert wurde wegen der Aktionen des 20. Septembers. In der Tat: Für eine „Medienstadt“ wie Köln ist dieses „weltoffene“ Image ein Standortvorteil im internationalen Konkurrenzkampf! Viel wichtiger noch: Die „Viva Colonia“ Rufe dienen dazu, die Teile der arbeitenden Bevölkerung, die sich politisch zu rühren beginnen, an den Ausbeuterstaat zu binden. Etwa indem dazu ausgerufen wurde, sich „gegen Pro Köln“ bei den Kommunalwahlen im kommenden Jahr zu engagieren.

Es liegt auf der Hand, dass eine zweitausendjährige Stadt wie Köln, welche an einer der wichtigsten Achsen des Verkehrs und des Kulturaustauschs in Europa liegt – der Rhein – „weltoffener“ sein wird als irgend ein Kaff hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen. Dies hat aber nicht verhindert, dass im hohen Mittelalter die Juden aus Köln ausgewiesen, dass im Nazireich auch von dort aus die Ausgegrenzten in die Vernichtungslager „abgeschoben“ wurden. Um Fremdenfeindlichkeit zu besiegen ist mehr als Weltoffenheit erforderlich: Nämlich proletarischer Internationalismus, der konsequente, weltweite Kampf gegen den Kapitalismus. 24.09.08

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in Deutschland [10]

Aktuelles und Laufendes: 

  • Pro Köln [15]
  • Köln / Pro Köln [16]
  • Mobilisierung gegen Pro Köln [17]

Weltwirtschaftskrise: Ein neuer Krach wie 1929?

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Am 24. September 2008 hielt der US-Präsident, George W. Bush, Kommentatoren und Journalisten aller Welt zufolge, eine "ungewöhnliche" Rede. In seiner Fernsehansprache erklärte er ohne Umschweife, welche Stürme auf das "amerikanische Volk" zukommen würden.

Die Weltwirtschaft wird von einem Finanzbeben erfasst

In Wirklichkeit läuft nicht nur die US-Wirtschaft Gefahr, in einer "langen und schmerzhaften Rezession" zu versinken, sondern die gesamte Weltwirtschaft. Die USA, die seit 60 Jahren die Rolle der Lokomotive der Weltwirtschaft gespielt haben, reißen nunmehr die Weltwirtschaft mit in den Abwärtsstrudel. Die Liste der Finanzorganismen, die in große Schwierigkeiten geraten sind, wird jeden Tag länger:

Im Februar wurde die achtgrößte englische Bank, Northern Rock, verstaatlicht. Im März wurde Bear Stearns, die fünftgrößte Bank an der Wall Street "gerettet", indem sie in die drittgrößte Bank, JP Morgan, mit Hilfe von Geldern der amerikanischen FED eingegliedert wurde. Im Juli wurde Indymac, eine der größten US-Hypothekenbanken, unter die Aufsicht der US-Finanzbehörden gestellt. Es handelte sich um den größten Bankrott einer Bank in den USA seit 24 Jahren. Aber dieser Rekord hielt nicht lange an. Anfang September ging das "Bankenmassaker" weiter. Freddi Mac und Fannie Mae, zwei Immobilienfinanzierer mit mehr als 850 Milliarden Dollar Anlagen, konnten so eben noch den Konkurs vermeiden, nachdem die FED erneut eingegriffen hatte. Nur wenige Tage später meldete Lehman Brothers, die viertgrößte US-Bank, Zahlungsunfähigkeit an und dieses Mal griff die FED nicht zu ihrer Rettung ein. Die Gesamtschulden von Lehman Brothers beliefen sich am 31. Mai auf 613 Milliarden. Auch hier wieder ein neuer Rekord. Denn die größte US-Bankenpleite bis zum damaligen Zeitpunkt, die der Continental Illinois im Jahre 1984, fand auf dem Hintergrund eines 16 mal kleineren Schuldenberges statt (d.h. 40 Milliarden $). Dies zeigt das Ausmaß der jetzigen Schwierigkeiten auf.

Merrill Lynch, eine weitere Perle in der US-Bankenlandschaft, musste ihr Einverständnis geben, von der Bank of America in aller Eile aufgekauft zu werden. Das gleiche Schicksal ereilte HBOS, die von dem Rivalen Lloyds TBS (jeweils zweite und erste Bank Schottlands) übernommen wurde. AIG (American International Group - einer der größten Versicherer auf der Welt) wurde ebenso von der amerikanischen FED am Leben erhalten. Aber mittlerweile sieht es auch schlecht aus bei den US-Finanzen. Deshalb hatte die FED beschlossen, Lehman Brothers nicht zu Hilfe zu eilen. Wenn sie jedoch AIG half, dann weil der Bankrott dieses Versicherers dazu geführt hätte, dass die Lage völlig außer Kontrolle geraten wäre.

Ein neuer Rekord. Nur zwei Wochen nach dem Absturz von Lehman Brothers meldete Washington Mutual (WaMu), die größte Sparkasse in den USA, ihren Konkurs an. Und schon wieder geriet die US-Börse in Turbulenzen. Immer wieder gehen die Kurse um 3,4 oder 5% in den Keller - je nach Bekanntwerden neuer Firmenpleiten. Die Moskauer Börse stellte Mitte September gar ihr Geschäft einige Tage lang ein, nachdem es mehrfach hintereinander zu Kursstürzen von mehr als 10% gekommen war.

Hin zu einem neuen 1929?

In Anbetracht dieser Reihe von schlechten Nachrichten geraten selbst die größten Spezialisten außer sich. Alan Greenspan, der ehemalige Chef der FED (der von seinen Standesgenossen als der große "mythische" Präsident der FED angesehen wurde) erklärte in dem US-Fernsehsender ABC am 15. September 2008: "Man muss zugeben, es handelt sich um eine Ereignis, das nur alle 50 Jahre auftritt, wahrscheinlich nur einmal pro 100 Jahre (…) Es gibt keinen Zweifel, ich habe so etwas noch nie gesehen, dabei ist das Ganze noch nicht vorbei und es wird noch eine Zeit dauern". Seitdem wechseln sich die Wirtschaftsexperten im Fernsehen sprichwörtlich ab, um uns einzutrichtern, dass die gegenwärtige Krise sehr schwerwiegend sei, sie aber nicht mit dem Krach von 1929 vergleichbar sei und die Krise irgendwann wieder überwunden und es wieder aufwärts gehen werde. Aber all diese Leute haben nur zur Hälfte Recht. Während der großen Depression in den USA mussten Tausende Banken Konkurs anmelden, Millionen Menschen haben damals ihre Ersparnisse verloren, die Arbeitslosigkeit kletterte auf über 25%, und die Industrieproduktion war damals ca. 60% gesunken. Damals hatten die Staatschefs nur sehr spät und zögerlich reagiert. Viele Monate lang haben sie die Märkte sich selbst überlassen. Schlimmer, ihre einzige Maßnahme bestand darin, die Grenzen für ausländische Waren zu schließen (d.h. Protektionismus), wodurch das System blockiert wurde. Heute liegen die Dinge anders. Die Bourgeoisie hat aus diesem ökonomischen Desaster gelernt; sie hat internationale Finanzorganismen geschaffen, und überwacht die Krise wie die Milch auf der Kochplatte. Seit dem Sommer 2007 haben die verschiedenen Zentralbanken (hauptsächlich die FED und die EZB) nahezu 2000 Milliarden Dollar zur Rettung der in Schwierigkeiten geratenen Finanzinstitute eingesetzt. Es ist ihnen gelungen, den einfachen und brutalen Zusammenbruch zu verhindern. Das Wirtschaftswachstum hat sich sehr, sehr stark verlangsamt - aber sie ist noch nicht blockiert. In Deutschland zum Beispiel rechnet man mit einem Wachstum von 0.5%. Aber im Gegensatz zu den Beteuerungen all der Experten und promovierten Wirtschaftswissenschaftler sieht es um die Wirtschaft heute viel schlechter aus als 1929. Der Weltmarkt ist völlig gesättigt.

Das Wachstum der letzten Jahrzehnte war nur möglich dank einer massiven Verschuldung. Der Kapitalismus erstickt heute unter diesem Schuldenberg. Bestimmte Politiker und hohe Verantwortliche der Weltwirtschaft fordern heute, man müsse die Finanzwelt wieder "moralisch" gestalten, um solche Exzesse zu verhindern, die die gegenwärtige Krise hervorgerufen haben und um wieder die Rückkehr zu einem "gesunden Kapitalismus" zu ermöglichen. Aber sie hüten sich davor zu sagen (oder sie wollen es nicht wahrnehmen), dass das ‚Wachstum' der letzten Jahre gerade wegen dieser "Exzesse" erst möglich geworden ist, d.h. durch die Flucht des Kapitalismus nach vorne in die allgemeine Verschuldung. Nicht die Exzesse der Finanzbosse sind für die gegenwärtige Krise verantwortlich. Diese Exzesse und die Finanzkrise spiegeln nur die gegenwärtige Ausweglosigkeit der Krise wider. Weil es keinen wirklichen Ausweg aus der Krise gibt! Der Kapitalismus wird weiterhin unwiderruflich in der Krise versinken. Der 700 Milliarden Plan Bushs wird notwendigerweise scheitern. Wenn der Plan akzeptiert würde, wird die US-Regierung auf faulen Krediten sitzen, um die Bankkonten zu "reinigen" und die Kredite wieder anzukurbeln. Nach Ankündigung des Plans kletterte die Börse an einem Tag sprunghaft an. Aber seitdem geht es wieder auf und ab, denn gar nichts ist gelöst.

Die tiefer liegenden Ursachen der Krise sind alle noch ungelöst. Die Märkte sind immer noch gesättigt mit unverkäuflichen Waren und die Finanzinstitute, die Betriebe, die Staaten, die Privathaushalte… , sie alle werden durch die Schuldenlast erdrückt. Unzählige Milliarden Dollar werden von den Zentralbanken in die Finanzmärkte gepumpt; aber all das kann keine Rettung bringen. Schlimmer noch, diese massiven Kreditspritzen treiben alle den Schuldenberg noch mehr in die Höhe. Die Bourgeoisie steckt in einer Sackgasse - sie hat keine wirksamen Lösungen anzubieten. Deshalb zögert die US-amerikanische Bourgeoisie so sehr, dem "Bush-Plan" zuzustimmen. Sie weiß, während dies unmittelbar eine weitere Panik verhindert, werden dadurch aber die Grundlagen für neue, noch gewaltigere Erschütterungen in der Zukunft gelegt. Aus der Sicht George Soros (einer der berühmtesten und geachtesten Finanzexperten der Welt) besteht die "Gefahr des Auseinanderbrechens des Finanzsystems".

Eine Welle bislang nie da gewesener Verarmung seit den 1930er Jahren

Die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und der Mehrheit der Weltbevölkerung werden sich brutal verschlechtern. Eine Welle von Entlassungen überschwemmt gleichzeitig mehrere Kontinente auf der Welt. Tausende Firmen werden dicht machen. Allein bis Ende 2008 werden in den USA und in Großbritannien 260.000 im Finanzwesen ihren Job verlieren. Es wird behauptet, dass ein Arbeitsplatz im Finanzwesen im Durchschnitt vier Arbeitsplätze schaffe. Der Zusammenbruch von Finanzinstitutionen zieht somit den Verlust von Hunderttausenden Arbeitsplätzen nach sich. Noch mehr Wohnungen werden zwangsversteigert, noch mehr Leute werden obdachlos. 2.2 Millionen Amerikaner haben seit dem Sommer 2007 schon ihre Wohnung verloren; bis Ende 2008 werden noch mal eine Millionen Amerikaner ihre Wohnung verlieren. Und dieses Phänomen dehnt sich nunmehr auf Europa, insbesondere auf Spanien und Großbritannien aus. In GB hat die Zahl der Zwangsversteigerungen von Wohnungen um 48% im ersten Halbjahr 2008 zugenommen. Seit ungefähr einem Jahr verzeichnen wir wieder eine inflationäre Entwicklung. Die Rohstoffpreise und Lebensmittelpreise sind explodiert - die Folge waren Hungerrevolten in zahlreichen Ländern. Die Hunderten von Milliarden Dollar, die von der FED und der EZB und anderen Banken als Rettungspakete in die Wirtschaft gepumpt wurden, werden dieses Phänomen noch verschlimmern. Die Arbeiterklasse steht vor einer schrecklichen Verarmung. Die herrschende Klasse wird versuchen, der Arbeiterklasse die Rechnung aufzuhalsen. Überall stehen die Arbeiter vor den gleichen Angriffen: Lohnkürzungen, Kürzungen von Sozialleistungen, Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Wochenarbeitszeit, Jahresarbeitszeit, Steuererhöhungen usw. All die vom Staat finanzierten Rettungspakete werden vom "Steuerzahler" finanziert. Die Arbeiterfamilien werden blechen müssen, um die Banken am Leben zu halten, während gleichzeitig viele Arbeiter ihr Dach über dem Kopf verlieren.

Wenn die gegenwärtige Krise nicht durch einen plötzlichen Zusammenbruch wie 1929 geprägt ist, wird sie dennoch die gleichen Leiden der ausgebeuteten Bevölkerung der Welt auferlegen. Der wahre Unterschied zu 1929 liegt nicht im Bereich der kapitalistischen Wirtschaft, sondern im Bereich der Kampfbereitschaft und des Bewusstseins der Arbeiterklasse. Damals hatte die Arbeiterklasse die Niederlage der Revolution in Russland 1917 sowie die Niederschlagung der Revolution in Deutschland zwischen 1919-1923 und die verschiedenen Auswirkungen der stalinistischen Konterrevolution einstecken müssen. Die Weltarbeiterklasse war 1929 völlig geschlagen und resigniert. Die Auswirkungen der Krise hatten sehr wohl zu Abwehrkämpfen zum Beispiel der Arbeitslosen in den USA in den 1930er Jahren geführt, aber diese gingen nicht sehr weit, und der Kapitalismus trieb die Menschheit damals in den 2. Weltkrieg. Heute ist die Lage unterschiedlich. Seit 1968 hat die Arbeitklasse das Gewicht der Konterrevolution abgeschüttelt. Auch wenn die Kampagnen von 1989 über den angeblichen "Tod des Kommunismus" der Arbeiterklass einen Rückschlag versetzt haben, hat der Klassenkampf seit 2003 wieder einen Aufschwung erfahren. Die Kampfbereitschaft und das Bewusstsein der Arbeiterklasse verstärken sich. Die Wirtschaftskrise kann der fruchtbare Boden sein, auf dem die Solidarität und die Kampfbereitschaft der Arbeiter keimen werden.

Françoise (27.09.08)

Aktuelles und Laufendes: 

  • Bankenkrach [18]
  • Börsenpleiten [19]
  • Finanzdesaster [20]
  • Krach 1929 [21]

Historische Ereignisse: 

  • Weltwirtschaftskrise 1929 [22]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [23]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Staatskapitalismus [24]

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