Veröffentlicht auf Internationale Kommunistische Strömung (https://de.internationalism.org)

Startseite > Weltrevolution - 2010s > Weltrevolution - 2010 > Weltrevolution Nr. 163

Weltrevolution Nr. 163

  • 2336 Aufrufe

Buchrezension: Ante Ciliga - Im Land der verwirrenden Lüge

  • 4151 Aufrufe

 

Wir haben die Zusendung eines Lesers erhalten, dem der bloße Verweis auf die Arbeiterkämpfe als Grundlage einer eigenen Organisierung zu wenig geworden ist. Seit mehreren Monaten beschäftigt er sich intensiver mit der revolutionären Tradition in der Arbeiterbewegung und nimmt Teil an den Diskussionen im linkskommunistischen Milieu. Wir begrüßen die Initiative des Lesers und ermutigen alle anderen Leser/Innen uns solche Texte zur Verfügung zu stellen.

Zeugnis einer fast verschütteten Diskussion

1953 erschien mitten im Kalten Krieg in der Reihe »Rote Weißbücher« im Verlag für Politik und Wirtschaft Ante Ciligas Aufzeichnungen »Im Land der verwirrenden Lüge«. Gekürzt aufgelegt als anti-kommunistische Agitationsausgabe bei Kiepenheuer und Witsch, dem damaligen »Hausverlag« des Gesamtdeutschen Ministeriums. Die schon längst vergriffene Ausgabe ist in dem Berliner Kleinverlag »die Buchmacherei«[i] neu erschienen. Diese Wiederveröffentlichung ist nun eingebettet in die Wiederaneignung eines Teils der verschütteten linkskommunistischen Geschichte. Es gibt ein neues Vorwort der Herausgeber und ein biografisch interessantes Nachwort.

 

Worin besteht der besondere Wert von Ante Ciligas Aufzeichnungen? Kritik aus revolutionärer Perspektive hatte es schon vor ihm gegeben: Früh wurde die anarchistische Kritik, wie Alexander Berkmans 1925 erschienenes Buch »Der Bolschewistische Mythos – Tagebuch aus der russischen Revolution 1920–1922«, bekannt. Panait Istrati hatte nach seiner zweiten Reise 1929 durch das post-revolutionäre Russland die Lage der Arbeiterklasse dramatisch geschildert (dieses Buch erschien 1929 auf französisch und 1930 auf deutsch). Victor Serges aus Russland herausgeschmuggelter Brief[ii] entwarf schon 1933 ein beklemmendes Bild der politischen Enge und Repression. Was Ante Ciliga auszeichnet ist sein besonderes Drama: Im Herbst 1926 wurde er von der jugoslawischen KP aus seinem Exil in Österreich, wo er als Delegierter der KPJ im Balkansekretariat der Komintern tätig war, an die Kommunistische Universität der nationalen Minderheiten des Westens in Moskau entsandt, 1927 nahm er Kontakt mit der trotzkistischen Opposition auf, damit begann seine Reise durch Knast, Lager und Verbannung. Die Jahre 1931 – 33 verbrachte er im Lager »Isolator« in Werchne-Uralsk und nahm dort aktiv teil an den Auseinandersetzungen zwischen den diversen trotzkistischen Gruppen, der Arbeitergruppe und den Dezisten, an deren Ende die Gründung der »Föderation der Linkskommunisten« stand[iii].

 

Dieser Text möchte untersuchen, wie diese Diskussion durch die Veröffentlichung des Buches[iv] in die internationale revolutionäre Diskussion eingeflossen ist. Wie die Diskussion der russischen Linken – die sämtlich liquidiert wurden – die internationalistische linkskommunistische Auseinandersetzung nach einigen Jahren doch noch bereichern konnte. Vorangestellt ist ein Blick auf die Generation der »Bewegung für die Befreiung der Arbeiterklasse« und eine kurze Skizze der diskutierten Themen.

 

Generation 1917

Verfügte Ante Ciliga über eine besonders geniale Persönlichkeit, die ihn zu einer solchen Erfahrung befähigte? Nein – er war wie seine ganze Generation 1917 euphorisiert worden. Viele verbanden wie Ciliga ihre eigene elendige Situation mit der ihrer ganzen Klasse. Der Kampf der russischen Arbeiterklasse riss den Horizont auf für eine emanzipatorische Zukunft und machte zugleich offenkundig, wer den Schlüssel zu dieser in der Hand hatte. Das Ende des imperialistischen Weltgemetzels schien greifbar nahe. Hunderttausende junge Arbeiter in Europa traten ein in die »Bewegung für die Befreiung der Arbeiterklasse« (so Agis Stinas über sein Engagement als Jugendlicher 1917). Sie nahmen an vorderster Front Teil an den Klassenkämpfen in ihren Ländern, sie beteiligten sich an den Auseinandersetzungen mit Sozialdemokraten und innerhalb der Gewerkschaften für eine revolutionäre Politik und gegen die staatlichen Institutionen und den Krieg. Sie wurden durch die revolutionäre Welle zu Revolutionären gemacht und als Revolutionäre nahmen sie an ihr begeistert teil. Auch Ante Ciliga war als Soldat der k.u.k Armee von der russischen Revolution begeistert. Er organisierte sich gleich in dem linken Flügel der kroatischen Sozialdemokraten, nahm an der ungarischen Räterepublik teil und polemisierte 1919 innerhalb der Partei für die Weltrevolution. Hunderttausende seiner Generation gingen den gleichen Weg und bauten die kommunistische(n) Partei(en) mit auf. Die russische Revolution und die Gründung der Kommunistischen Internationale war für sie der Beginn der Weltrevolution. Ihre Arbeit in der Arbeiterklasse und in der Partei war Teil dieser weltweiten Kampfbewegung. Konnte diese Kampfwelle erlahmen? Konnte diese Partei Fehler machen oder gar zu einer konterrevolutionären Kraft werden? Bis auf wenige spektakuläre Ausschlüsse (z. B. Boris Souvarine 1924) und die besondere Entwicklung in Italien und Deutschland[v] blieben die meisten Revolutionäre mindestens bis 1926 (Agis Stinas gar bis 1931) in der Partei, obwohl die Degeneration der Revolution und ihrer Organisationen immer offensichtlicher wurden. Ciligas Weg ist auch hier typisch: »Während meiner Haft im »Isolator« beteiligte ich mich erst spät an Diskussionen über Lenins Rolle. Ich gehörte einer Generation junger KommunistInnen an, für die Lenin unantastbar war. Für mich stand außer Frage, dass er immer recht gehabt hatte. Die Ergebnisse - die revolutionäre Eroberung der Macht wie ihr Erhalt - sprachen schließlich dafür. Dadurch waren für mich und meine Generation sowohl Taktik als auch Mittel gerechtfertigt.«

Die »kommunistische Linke« in Russland

Die Opposition der russischen Linken[vi] hatte sich in der Regel um einen Antrag auf den jährlichen Parteikongressen Anfang der 20er organisiert. So führten die Demokratischen Zentralisten auf dem IX. Parteitag vom März-April 1920 ihre Kampagne gegen die »Militarisierung der Arbeit«, die Arbeiteropposition auf dem X. Parteikongress im März 1921 die sogenannte Gewerkschaftsdiskussion. 1921 kam Kronstadt und das Fraktionsverbot. Die Arbeitergruppe um Gavriel Miasnikow (ehemaliges Mitglied der Arbeiteropposition) veröffentlichte ihr Manifest zum XII. Parteitag 1923[vii] und intervenierte illegal in der Streikwelle. Damit wurde klar zum Ausdruck gebracht: das Klassenterrain zu diesem Zeitpunkt umfasste den Kampf in der Partei und an der Seite des kämpfenden Proletariats. Doch der Niedergang der Revolution schritt weiter fort.

 

Als Ciliga Ende 1930 im Lager eintraf, waren fast alle übriggebliebenen Militanten der Opposition im Lager oder der Verbannung. Beeindruckend ist, welche Tiefe und Ernsthaftigkeit die Diskussion im Lager annahm. Die Gruppen hielten Sitzungen ab und jede Tendenz gab ihre eigene Zeitung heraus. Die Diskussionen[viii] waren bestimmt von »sozialistischen Illusionen«, viele Linke hatten sich mit Trotzki am »linken« Kriegskommunismus orientiert und jede noch so radikale Kritik an der NEP war letztendlich ein Plädoyer für die Kollektivierung (die Stalin nach seinem »Linksschwenk« scheinbar Trotzkis Plan folgend durchführte). Doch auch die Kritiken aus der Arbeiterperspektive, die mit Trotzki gebrochen hatten, gingen letztendlich davon aus, dass der Sozialismus in Russland aufzubauen sei. Andere sahen die historische Klemme und verwarfen nicht nur die Möglichkeit des »Sozialismus in einem Land«, sondern stellten gleich den proletarischen Charakters der Revolution von 1917 in Frage. Die Diskussionen im Lager waren somit ein Panoptikum angefüllt mit Leidenschaft, aber von Ungenauigkeiten und Verwirrungen. Konnte die Diktatur des Proletariats, die eine Diktatur der Partei geworden war, als eigenständige Gesellschaftsform »in Richtung auf den Sozialismus«[ix] bezeichnet werden. Nach zehn Jahren war die internationale Ausweitung ausgeblieben, welche Schlüsse sind daraus zu ziehen?

Zusätzlich beachtenswert ist an Ante Ciligas Buch, dass er nicht nur die Diskussion um die politische und ökonomische Macht in Russland nachzeichnet, sondern sich auch bemühte die soziale Realität der Arbeiterklasse und der Bauernschaft in Russland einzufangen. Die Berichte über das Massensterben auf dem Land erreichten die Lager, die Lage der Arbeiterklasse war verheerend[x]. Nach dieser Bestandsaufnahme erfolgte für Ciliga und andere nicht nur der Bruch mit dem herrschenden russischen Stalinismus, sondern auch mit dem Trotzkismus.

 

Miasnikow in Paris

Die Analysen der russischen Linken waren in den 20ern einer kleinen Schar von oppositionellen Linken in Westeuropa bekannt. 1923 verteilte die KAI[xi] in Berlin Flugblätter gegen die Repression der Arbeitergruppe, 1923 und '24 veröffentlichte Worker's Dreadnought Texte der Arbeitergruppe auf englisch, 1925 besuchte Sapranow als Vertreter der Dezisten illegal Karl Korsch, 1927 veröffentlichten »le reveil communiste« und »von den aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossenen Hamburger Oktoberkämpfern« (übersetzt von Hedda Korsch) die Plattform der 15[xii]. Somit waren die Diskussionen der linken Kommunisten bereits bekannt, als 1930 Gavriel Miasnikow nach Knast und Folter nach Paris fliehen konnte. In Paris schließt sich Miasnikow der Gruppe »l'ouvrier communiste« (ein Nachfolgeprojekt von »le reveil communiste«) um Pappalardi (ehemaliges Gründungsmitglied der italienischen Fraktion) an. Warum führte dies nicht zu einer Umgruppierung der oppositionellen Kommunisten im Allgemeinen und der internationalistischen Linken im besonderen?

 

Zehn Jahre nach der Oktoberrevolution hatte sich die Welt dramatisch gewandelt. Die Revolution in Deutschland war blutig unterdrückt und spätestens 1923 hatte die Arbeiterklasse eine herbe Niederlage erleiden müssen. Der britische Generalstreik 1926 war niedergeschlagen worden und die chinesischen Revolutionäre wurden mehrmals der Konterrevolution ausgeliefert, bevor 1929 die Weltwirtschaftskrise ausbrach. Die euphorische Stimmung war abgeklungen, die wenigen Revolutionäre, die sich außerhalb der bereits stalinisierten Parteien organisierten, waren eingeklemmt zwischen Stalinismus und Faschismus. Frankreich war zwar das Zentrum der internationalen Diskussion, KommunistInnen aus Deutschland, Italien, Rumänien usw. fanden sich hier ein, doch beschränkte dieses Milieu sich auf einige Dutzend. Die Tiefe und Dramatik des historischen Wendepunktes war zwar spürbar, jedoch noch nicht analysiert. In welcher historischen Phase befinden wir uns? Welche politischen und organisatorischen Schlüsse sind daraus abzuleiten?

 

Die Gruppe »l'ouvrier communiste« um Miasnikow war politisch stark der Traditionslinie der KAPD verpflichtet. Somit waren sie früh dazu in der Lage, das politische Scheitern der russischen Revolution festzustellen. Doch befand sich nach ihrer Analyse nicht nur der Kapitalismus in seiner Todeskrise, sondern wir befanden uns weiterhin in einer offenen revolutionären Phase. Welche Probleme diese Analyse mit sich zog, erkennen wir im nächsten Abschnitt.

 

Internationalistische Diskussion in Frankreich

Während Trotzki innerhalb der Arbeiterklasse Russlands wegen der »Militarisierung der Arbeit« verhasst war, galt er für die meisten kommunistischen Oppositionellen außerhalb Russland nach seiner Ausweisung 1929 als tadelloser Führer der Weltrevolution. Trotzki strebte sofort eine Umgruppierung an. Alfred Rosmer wurde nach Deutschland geschickt, französische Genossen reisten nach Prinkipo. Trotzkis Entscheidungskriterium für eine Zusammenarbeit war die Haltung zum russischen Staat. So brach er mit den »Korschisten«[xiii] und lobte die »linke Fraktion der PCI« für ihr Gründungsmanifest von Pantin 1927 und den Bruch mit »le reveil communiste«. Die italienische Fraktion akzeptiert 1930 Trotzkis Plattform der ILO als Grundlage der Diskussion. Während »le reveil communiste« 1929 in einem offenen Brief[xiv] an die Basis der PCF und der Kommunistischen Internationalen die Möglichkeit einer Wiederbelebung der KI verwirft und die fraktionelle Orientierung der Trotzkisten und Bordigisten (so wurde die Fraktion um die Zeitschrift »Prometeo« bezeichnet) als konterrevolutionär denunzierte.

 

An dieser Stelle müssen wir innehalten und uns den Hintergrund der Diskussion verdeutlichen. Tiefere Grundlage für die unterschiedlichen Einschätzungen (innerhalb der Linkskommunisten von »Prometeo« und »le reveil communiste« und den Trotzkisten) ist nicht die Frage des »Staatskapitalismus«, sondern die Analyse der historischen Phase. Hier verläuft die Frontstellung für die folgenden Jahre. »le reveil communiste«[xv] (und ab 1930 »l'ouvrier communiste«) geht ähnlich wie Trotzki von einer offenen revolutionären Phase aus. Dieser kann sich nicht von der Einschätzung der »revolutionären Phase« trennen und orientiert sich ab 1933 hin zum Aufbau einer neuen (vierten) Internationale. Die Analyse der historischen Phase ist also eng verbunden mit der Frage der Organisierung[xvi]. Kein Wunder, dass der Bruch zwischen Fraktion und Trotzki schon 1931/32 erfolgt. Die Fraktion entschließt sich gegen solche voluntaristischen Abenteuer und für das intensive Studium der dramatischen Kernfragen: wie konnte die erste erfolgreiche proletarische Revolution solch ein Gebilde hervorbringen, wie konnte die Führerin der Weltrevolution – die KI – zu einer Kraft der Konterrevolution werden, wie konnte sich die Phase des revolutionären Aufbegehrens und der Euphorie in eine der Desillusionierung und Isolation wenden? Angetrieben von diesen Fragen wurde 1933 Bilan gegründet[xvii].

 

Die ernsthafte und tiefe Analyse der russischen Revolution befähigte die Fraktion dazu, einige wichtige Prinzipien zu konkretisieren, hierzu zählen insbesondere die Kritik der nationalen Befreiungsbewegungen[xviii] und die Kritik der demokratischen Illusionen. Die größte Prüfung kam mit dem spanischen Bürgerkrieg[xix]. Die UdSSR und ihre Kommunistischen Parteien traten als imperialistische Macht mit Deutschland und Italien in den europäischen (wenn nicht schon in den globalen) Machtkampf ein, Trotzki sprang ihnen an die Seite und sah eine neue »revolutionäre Phase« eintreten. Doch auch die vielen linkstrotzkistischen Gruppen[xx], die bereits mit Trotzki gebrochen hatten, und auch die Minderheit der Fraktion schlossen sich dieser »revolutionären Hoffnung« an. Spätestens hier erkannte die Fraktion das Gift der antifaschistischen Ideologie.

 

Umgruppierung und Bereicherung während des 2. Weltkriegs

Die Politik der Volksfront und des Antifaschismus hatten den internationalen Klassenkampf in die Irre geführt und das Klassenterrain verlassen. Der Ausbruch des 2. Weltkriegs verschärfte die Lage noch mehr. Die Reste der revolutionären Linken waren desorientiert, die trotzkistischen Gruppen hatten endgültig das eine oder andere imperialistische Lager gewählt. Doch traten erstmals wieder neue und junge Militanten auf. Der Kern der zukünftigen französischen Fraktion orientierte sich an den Lehren der Arbeit von Bilan und war ab 1941 gar wieder in der Lage jährliche Konferenzen abzuhalten. Der Vormarsch der Nationalsozialisten hatte die RKÖ/RKD[xxi] ins Exil nach Frankreich und Belgien getrieben. Als ursprünglich trotzkistische Organisation hatten sie 1938 als einzige gegen die Gründung der IV. Internationalen gestimmt und entwickelten einen unnachgiebigen revolutionären Defätismus. Die Wühlarbeit der RKD, die Flugblätter unter deutschen Soldaten und unter der französischen Zivilbevölkerung zur Fraternisation verteilte, war Orientierung für alle Revolutionäre, die die Aufgabe des Klassenterrains nicht mitmachen wollten. So gründeten sich um die RKD 1942 die »communiste revolutionaire«. Die RKD und die CR schrieben und verteilten teilweise zusammen mit dem Kern der späteren französischen Fraktion Flugblätter, und sie begannen eine vertiefende Diskussion über die russische Frage. In dieser Diskussion spielte das Buch von Ciliga eine große Rolle. Nun kamen unnachgiebiger Internationalismus, Einschätzung der historischen Phase und Arbeiterperspektive (»von unten«) in der Diskussion zusammen und machten es möglich, dass die Positionen der italienischen, deutschen und russischen Linken sich gegenseitig befruchteten[xxii].

Die Linkskommunisten in der Tradition der italienischen Linken waren bisher sehr skeptisch gegenüber der frühzeitigen Einschätzung des russischen Staates als »Staatskapitalismus« gewesen. Ihnen war es wichtiger, eine fundamentale Bilanz der revolutionären Welle zu ziehen und sich daran zu organisieren.

Der Fraktion gelang es, sich durch die gemeinsame illegale Arbeit und tiefen Diskussionen, die ernsthaften Auseinandersetzungen, die Ante Ciliga aus dem Lager schildert, anzueignen. Es ist nun keine Überraschung mehr, dass auch um diese Zeit herum das Studium von Rosa Luxemburg intensiviert wurde und die Auseinandersetzung mit der deutsch-holländischen Linken ernsthaftere Formen annahm. Internationalistische Perspektive und die Überzeugung, dass die Revolution nur die Sache der Arbeiterklasse selbst sein könne, waren der Kern des Linkskommunismus. 1943 stellt die Konferenz der Fraktion erstmals fest, dass die UdSSR »staatskapitalistisch« sei. Doch war dies nun kein Label, sondern fußte auf dem Kampf um eine revolutionäre Position in den düstersten Zeiten des Weltgemetzels und der Konterrevolution. Zum 1. Mai 1945 verteilten RKD, CR und die Fraktion gemeinsam ein Flugblatt an die Proletarier in Russland, Italien, Deutschland, Frankreich .... »Vorwärts zur kommunistischen Weltrevolution!«

Diese revolutionäre Position ist bis heute nicht abgebrochen, doch um die heutigen Aufgaben auf den historischen Lehren aufzubauen, müssen diese erstmal wieder freigeschaufelt und angeeignet werden. Die Herausgeber des Ciliga Buches sind ebenso um das »historische Erbe des Marxismus« bemüht und beziehen sich mit Rosa Luxemburg auf die Grundlage jeder revolutionären Veränderung der »lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können: das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen«[xxiii] - dem ist zuzustimmen. Das Interesse an der Wiederaneignung scheint vorhanden, die erste Auflage ist schon ausverkauft und eine Diskussionsveranstaltung in Berlin brachte dreißig Interessierte GenossInnen zusammen.



[i] Das Buch ist erhältlich bei: https://www.diebuchmacherei.de [1]

[ii] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/serge/1933/02/infrage.htm [2]

[iii] die er jedoch aufgrund seiner Deportation nach Sibirien nicht mehr miterleben durfte

[iv] Der erste Teil »Au pays du grand mensonge« erschien 1938 und umfasst die Jahre 1926 - 1933, der zweite Teil erschien 1950 unter dem Titel »Sibérie, terre d'exil et de l'industrialisation« und behandelt die Jahre seiner Verbannung
1933 – 1935.

[v] In Italien und Deutschland waren die Klassenkämpfe am stärksten entwickelt und die fraktionellen Kämpfe um die richtige Parteipolitik tobten entsprechend am heftigsten. In Italien wurde die Mehrheit um Amadeo Bordiga ab 1923 kaltgestellt, in Deutschland wurde die Mehrheit (die spätere KAPD) schon 1919 ausgeschlossen.

[vi] siehe die Artikelserie zur russischen Linken https://de.internationalism.org/KomLiRu [3] und das englischsprachige Buch »The Russian Communist Left«

[vii] siehe die englische Ausgabe der International Review 142

[viii] siehe die Erstübersetzung des Abschnitts aus »Lenin auch...« auf https://stinas.blogsport.de [4]

[ix] so Trotzki im Entwurf der Plattform für die Internationale Linke Opposition (ILO) April 1930, der 1932 im Lager bekannt wird und Ciliga entsetzt: »Es war fortan vergeblich zu hoffen, dass Trotzki je zwischen Bürokratie und Proletariat, zwischen Staatskapitalismus und Sozialismus würde unterscheiden können. Am meisten schockierte mich an Trotzkis Programm, dass es die Illusionen des westlichen Proletariats über Russland eher verstärkte als zerstörte.« S. 118

[x] »Es ist wohl nicht übertrieben, zu behaupten, dass ein Drittel der Arbeiterklasse in Russland aus Sklaven besteht.« .S112

[xi] Kommunistische Arbeiter Internationale – das kurzlebige Produkt der KAPD Essener Richtung gemeinsam mit den Gruppen um Herman Gorter in den Niederlanden, um Sylvia Pankhurst in Britannien und weiteren Gruppen in Belgien, Bulgarien und unter Exilanten aus der Sowjetunion, 1922 - 25

[xii] siehe https://gis.blogsport.de/2010/08/01/die-bolschewistische-linke-und-die-a... [5]

[xiii] Korsch hatte 1926 die »Entschiedene Linke« als Fraktion der KPD mit der Monatszeitschrift »Kommunistische Politik« gegründet und war gleich ausgeschlossen worden. Nach der Auflösung der »Entschiedenen Linken« arbeiteten korschistische Zirkel bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme 1933.

[xiv] https://www.collectif-smolny.org/article.php3?id_article=1178 [6]

[xv] Sie zerfallen 1931 und ein Teil kehrt später zur Fraktion zurück. Dennoch lohnt sich das Studium dieses Versuchs, welches sich in der Veröffentlichung und/oder Kommentierung von Gorter, Bordiga, Trotzki und Korsch auszeichnet.

[xvi] siehe dazu die Broschüre »Das Verhältnis Fraktion – Partei in der marxistischen Tradition« der IKS

[xvii] genauer, siehe das Buch »Die Italienische Kommunistische Linke«

[xviii] https://de.internationalism.org/revue31 [7]

[xix] hier gibt es nicht den Platz die Klassenkämpfe in Spanien und die Volksfront in Frankreich zu analysieren, siehe: https://de.internationalism.org/spanien/38 [8]

[xx] Union Communiste führte im März 1937 in Paris eine internationale Konferenz durch, an der League for a RWP, LCI, RWL (Oehler), GIK, die Minderheit der Fraktion, Miasniskow, Ruth Fischer, Arkadi Maslow u. a. teilnahmen

[xxi] Revolutionäre Kommunisten Österreich bzw. Deutschland - siehe dazu die empfehlenswerte Broschüre »Gegen den Strom!« der Bibliothek des Widerstands https://sites.google.com/site/bibliothekdeswiderstandes/ [9]

[xxii] Der letzte bedeutendere Versuch, der sich im Briefwechsel zwischen Korsch und Bordiga 1926 ausdrückt, war ergebnislos verlaufen, siehe: https://www.sinistra.net/lib/upt/comsmo/keru/keruahecad.html [10]

[xxiii] Rosa Luxemburg »Zur russischen Revolution« 1915

Leute: 

  • Ante Ciliga [11]
  • Miasnikow [12]

Historische Ereignisse: 

  • Stalinistische Gefangenenlager [13]
  • RKD [14]
  • stalinistische Schauprozesse [15]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Französische Kommunistische Linke [16]

Deutsche Wiedervereinigung Teil 5

  • 2784 Aufrufe

Die deutsche Wiedervereinigung hat in ökonomischer, politischer und sozialer Hinsicht die Erwartungen, die sie Anfang der neunziger Jahre geweckt hatte, zweifellos enttäuscht. Von der furchtbaren Ernüchterung insbesondere der ostdeutschen Lohnabhängigen haben wir schon gesprochen. Aber auch die (westdeutsche) Bourgeoisie hatte sich gründlich verrechnet, als sie, überwältigt von dem Kollaps des Ostblocks, von riesigen Märkten in Osteuropa fabulierte und einen „selbsttragenden Aufschwung“ Ostdeutschlands schon in wenigen Jahren erwartete. Doch warum war die Wiedervereinigung nicht die erhoffte Initialzündung für eine Wiederholung der sog. „Gründerjahre“, die einst dem deutsch-französischen Krieg 1871 gefolgt und Zeuge eines beispiellosen Booms des deutschen Kapitalismus gewesen waren? Warum ist Ostdeutschland bis heute ein Klotz am Bein des deutschen Kapitals? Immerhin fiel der westdeutschen Bourgeoisie mit der DDR ein durch und durch industrialisiertes Land mit einer gut ausgebildeten Arbeiterklasse und deren unendlichen Bedürfnissen in den Schoß.

Es wäre zu kurz gegriffen, würde man mit dem Hinweis auf den maroden Zustand der ostdeutschen Industrie antworten. Die Kosten der Sanierung von Bitterfeld, Wismar, der Braunkohletagebaustätten etc. waren, wenngleich kein Pappenstiel, von einmaliger Natur; da bereitet die ständige Alimentierung großer Teile Ostdeutschlands der deutschen Bourgeoisie weitaus mehr Kopfzerbrechen. Wir meinen, dass man auf der Suche nach den Ursachen für das ökonomische und soziale Fiasko der deutschen Wiedervereinigung woanders ansetzen muss. Eine Analyse dieser Ursachen muss zuvorderst den zeitlichen Zusammenhang, die Epoche berücksichtigen, in der die deutsche Wiedervereinigung stattfand - eine Epoche, die ganz im Zeichen des Niedergangs der kapitalistischen Produktionsweise steht.

Um zu begreifen, was dies für die Wiedervereinigung bedeutete (und bedeutet), bietet es sich an, auf die Methode der historischen Gegenüberstellung zurückzugreifen. Deutschland ist nicht die erste Nation, die eine gewisse Zeitlang geteilt war und die sich schließlich wieder vereinigte. Auch die US-Bourgeoisie durchlebte einst das Trauma einer Sezession: Von 1861 bis 1865 wütete ein blutiger Bürgerkrieg zwischen den Südstaaten, den Konföderierten, und den Nordstaaten der USA, den Unionisten. Auslöser dieses Bürgerkriegs war die Sklavenfrage. Während der industrielle Norden (die Neuengland-Staaten, Ohio, etc.) grundsätzlich für die Abschaffung der Sklaverei, zumindest aber für die Aufrechterhaltung des Status quo, den sog. Missouri-Kompromiss von 1820[1], eintrat, strebte der Baumwolle produzierende Süden (Alabama, Georgia, Louisiana) eine Ausweitung der Sklaverei auf die gesamten USA an; denn „fortwährende Ausdehnung des Territoriums und fortwährende Verbreitung der Sklaverei über ihre alten Grenzen hinaus ist ein Lebensgesetz für die Sklavenstaaten der Union“[2]. Als der Bürgerkrieg 1865 mit der Niederlage der Konföderierten endete, lag die Wirtschaft der Südstaaten darnieder; die hohen Kriegskosten trieben die Vereinigten Staaten in den Schuldenstand, und zudem stand die junge amerikanische Nation unter dem noch frischen Schock eines Bruderkrieges. Keine günstigen Voraussetzungen für eine Wiedervereinigung, sollte man meinen.

Und dennoch sollte der Ausgang des amerikanischen Bürgerkrieges den Grundstein für ein einheitliches Nationalbewusstsein in den USA legen, das auf dem stolzen Bekenntnis zu den universellen Menschenrechten und auf das für jeden Menschen geltende Recht des Strebens nach Glück (pursuit of happiness) fußte. In den dem Bürgerkrieg folgenden Jahrzehnten erlebten die USA einen fulminanten wirtschaftlichen Aufstieg, der aus einem vorwiegend agrarwirtschaftlich orientierten Land eines der mächtigsten Industrieländer machte. Die vielen Hunderttausend Afroamerikaner, die aus der Sklaverei befreit worden waren, verdingten sich fortan als Lohnarbeiter in den wie Pilze aus dem Boden schießenden Fabriken der US-Industrie und verstärkten so das Heer der Arbeiterklasse. Es war die Zeit, als der Mythos von Amerika als dem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ geboren wurde.

Das Geheimnis hinter dieser Dynamik, die der Sieg des Nordens im Bürgerkrieg auslöste, lag in einer Eigentümlichkeit des US-amerikanischen Kapitalismus, die ihn zu jener Zeit von den europäischen Industrieländern unterschied. Während Letztere mangels ausreichender inländischer nicht-kapitalistischer Märkte bereits gezwungen waren, einen Teil ihres Mehrwerts auf dem Wege der Einverleibung fremder nicht-kapitalistischer Territorien zu realisieren, sei es durch Kolonialisierung oder durch Kapitaltransfer, zehrte der US-Kapitalismus noch lange Zeit von den unermesslichen Weiten seines Territoriums, die noch ihrer Durchkapitalisierung harrten und von Subsistenz- und Sklavenwirtschaft dominiert waren. Der Bürgerkrieg setzte diesem Zustand „ein jähes Ende (...) Die enorme Staatsschuld von 6 Milliarden Dollar, die er der Union aufgebürdet hatte, zog eine starke Erhöhung der Steuerlasten nach sich. Namentlich beginnt aber seit dem Kriege eine fieberhafte Entwicklung des modernen Verkehrswesens, der Industrie, besonders der Maschinenindustrie, unter Beihilfe des steigenden Schutzzolls (...) Das Eisenbahnnetz wuchs denn auch in beispielloser Weise. 1860 betrug es noch nicht 50 000 Kilometer, 1870 über 85 000, 1880 aber mehr als 150 000 (...) Die Eisenbahnen und die Bodenspekulationen riefen eine massenhafte Einwanderung aus Europa nach den Vereinigten Staaten herbei (...) Im Zusammenhang damit emanzipierte sich die Union nach und nach von der europäischen, hauptsächlich englischen Industrie und schuf eigene Manufakturen, eine eigene Textil-, Eisen-, Stahl- und Maschinenindustrie. Am raschesten wurde die Landwirtschaft revolutioniert. Bereits in den ersten Jahren nach dem Bürgerkriege wurde die Plantagenbesitzer durch die Emanzipation der Neger gezwungen, den Dampfflug einzuführen.“[3] Mit anderen Worten: der amerikanische Bürgerkrieg war der Türöffner zur Durchkapitalisierung des Südens und Westens Nordamerikas; er öffnete ein Ventil, das der Akkumulation des US-Kapitals neue Betätigungsfelder bot und die Realisierung seines vollständigen Mehrwerts ermöglichte.

Der Unterschied zur deutschen Wiedervereinigung mehr als 120 Jahre später liegt auf der Hand. Die Wiedervereinigung Deutschlands fand nicht inmitten der geographischen Expansion eines noch im Aufstieg befindlichen Kapitalismus statt. Sie spielte sich vielmehr vor dem Hintergrund chronischer Absatzprobleme eines niedergehenden Kapitalismus ab, der schon längst an seine Grenzen gestoßen ist, d.h. die letzten großen außerkapitalistischen Territorien in den kapitalistischen Weltmarkt einverleibt hat. Nichts macht dies deutlicher als die Bevölkerungsstruktur der alten DDR.

Um zu erläutern, was wir meinen, möchten wir etwas weiter ausholen und auf Rosa Luxemburgs Werk Die Akkumulation des Kapitals zu sprechen kommen. Bei ihrer Analyse des Marxschen Schemas einer erweiterten Reproduktion stieß sie auf einen Widerspruch in seiner Argumentation, der ihrer Auffassung nach eine erweiterte Reproduktion eigentlich unmöglich machen musste. Marx ging nämlich, als er die erweiterte Reproduktion des Kapitals unter die Lupe nahm, von einem Kapitalismus unter Laborbedingungen aus, der von allen „störenden“ Einflüssen anderer Gesellschaftsschichten und –klassen befreit war und in dem nur noch die beiden historischen Hauptklassen, Arbeit und Kapital, übrigblieben. Rosa Luxemburg wies nach, dass ein solch „reiner“ Kapitalismus in der Realität zum Scheitern verurteilt wäre, denn in ihm „wird die Akkumulation zur Unmöglichkeit: Die Realisierung und Kapitalisierung des Mehrwerts verwandelt sich in eine unlösbare Aufgabe.“[4] In der Tat kann nicht der gesamte, aus der Arbeiterklasse herausgepresste Mehrwert innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse realisiert werden; ein kleiner, aber wichtiger Teil dieses Mehrwerts muss außerhalb dieser Verhältnisse abgesetzt werden.

Für Rosa Luxemburg war dieser „reine“ Kapitalismus lediglich eine „wissenschaftliche Fiktion“[5], doch zumindest die DDR kam diesem kapitalistischen Endstadium sehr nahe. Die „Kollektivierung“ der Landwirtschaft in den fünfziger Jahren und die Enteignung des Handwerks in den sechziger Jahren hatten zu einer nahezu vollständigen Ausmerzung der letzten Reste außerkapitalistischer Produzenten geführt (außerkapitalistische Produktion meint in diesem Kontext eine Produktion, die nicht auf der Grundlage der Lohnarbeit stattfindet). Laut Statistischen Bundesamt wies die DDR zuletzt den weltweit höchsten Industriearbeiteranteil an der Bevölkerung auf. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in der verblichenen DDR waren auf die ausschließliche Konfrontation zwischen den beiden Hauptklassen im Kapitalismus zusammengedampft: auf der einen Seite die „Werktätigen“, auf der anderen die „Nomenklatura“ eines despotischen Staatskapitalismus.

Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer.

· Der Ausgang des amerikanischen Bürgerkrieges, der totale Sieg der Nordstaaten, verschaffte dem Heißhunger des noch jungen, aber aufstrebenden US-Kapitalismus nach neuen ungenutzten Verwertungsmöglichkeiten neue Nahrung in den nicht-kapitalistischen Territorien innerhalb seiner Grenzen und ließ ihn binnen kurzen zur größten Industrienation der Welt avancieren. Doch ihren kometenhaften Aufstieg zu einer imperialistischen Hauptmacht, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Bürgerkrieg folgte, verdankten die USA in erster Linie dem Umstand, dass ihr noch ein weites inneres Akkumulationsfeld in Gestalt der noch mehr oder weniger unabhängigen Bauern sowie ein äußeres Akkumulationsfeld in Gestalt des lateinamerikanischen Halbkontinents zur Verfügung stand, der noch seiner Durchkapitalisierung harrte. Das westdeutsche Kapital nach der Wiedervereinigung dagegen suchte solvente Märkte im angeblich nicht-kapitalistischen Osten Deutschlands und fand eine völlig durchkapitalisierte Gesellschaft in Agonie vor. Darüber hinaus stand die deutsche Wiedervereinigung unter dem unglücklichen Stern einer chronischen Übersättigung der Märkte weltweit. Und mit der Auflösung der staatlichen Strukturen des Ostblocks Anfang der 1990er Jahre brachen auch die osteuropäischen Märkte weg, von denen man sich einst soviel versprochen hatte. Der „Hinterhof“ des deutschen Imperialismus war, ökonomisch betrachtet, nicht das erhoffte Eldorado für die Akkumulationsbedürfnisse des deutschen Kapitalismus, sondern ein Fass ohne Boden.

· Der US-Kapitalismus nach dem Bürgerkrieg laborierte nicht an einem Mangel von Märkten, sondern an chronischen Unterkapazitäten auf dem Arbeitsmarkt, die er nur mühsam durch die Einwanderer aus der Alten Welt und die befreiten Sklaven in den Südstaaten kompensieren konnte. Der deutsche Kapitalismus nach der Wiedervereinigung jedoch leidet bekanntlich an chronisch überfüllten Märkten und beileibe nicht an einem Mangel von Arbeitskräften.

· Der Sieg des Nordens im amerikanischen Bürgerkrieg versetzte der Sklavenwirtschaft in den Südstaaten der USA und der Bauernwirtschaft in den westlichen Territorien den Todesstoß und ersetzte beide durch den modernen Kapitalismus – einer Gesellschaft, die wie keine andere zuvor auf den gesellschaftlichen Charakter der Produktion beruht und die vom Kommunismus „allein“ die private Aneignung der Produktionsmittel trennt. Daher die Unterstützung der Nordstaaten im Bürgerkrieg durch die internationale Arbeiterbewegung[6] und die Glückwünsche der Internationalen Arbeiterassoziation an den US-Präsidenten Lincoln anlässlich des Sieges der Unionisten. Der Triumph der westlichen „Marktwirtschaft“ über den „Realsozialismus“ des Ostens – mit dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung als Höhepunkt – hingegen leitete keineswegs einen gesellschaftlichen Umbruch ein; hier wurde lediglich eine Variante des staatskapitalistischen Regimes durch eine andere, subtilere und flexiblere Variante abgelöst. Weder haftet der westdeutschen Bourgeoisie auch nur im Entferntesten etwas Fortschrittliches an, das es von Seiten der revolutionären Kräfte zu unterstützen gilt; noch hatte das stalinistische Regime in der ehemaligen DDR auch nur das Geringste mit dem Sozialismus zu tun, wie uns Linksextremisten vom Schlage der Trotzkisten weismachen wollten.

So besteht denn die Aufgabe der heutigen Kommunisten nicht mehr – wie 1861, als der amerikanische Bürgerkrieg ausbrach – darin, sich für die nationale Einheit der Bourgeoisie, für die Bildung von bürgerlichen Nationalstaaten stark zu machen, um die lokale und regionale Zersplitterung der Arbeiterklasse zu überwinden. Heute geht es vielmehr darum, die globale Einheit anzustreben, um die Arbeiterklasse aus ihrer nationalen Zersplitterung zu befreien.

Resümee

Fassen wir zum Schluss in aller Kürze noch einmal zusammen: Ökonomisch betrachtet, erwies sich das, was dem westdeutschen Imperialismus im November 1989 mit der Auflösung der DDR in den Schoß gefallen war, als eine faule Frucht. Der politisch zwingende, aber vom Standpunkt der wirtschaftlichen Notwendigkeiten her wohl völlig überhastete Anschluss Ostdeutschlands war vielleicht politisch geboten, vor allem um die imperialistischen Kontrahenten vor vollendete Tatsachen zu stellen, aber wirtschaftlich führte er zu einer massiven De-Industrialisierung und einer daraus folgenden Alimentierung Ostdeutschlands, die die ökonomische Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik überstieg und die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitalismus vorübergehend in Frage stellte.

Vom imperialistischen Standpunkt aus betrachtet, war die Wiedervereinigung gleichermaßen Fluch und Segen für das deutsche Kapital. Sie führte unbestreitbar zu einer Aufwertung Deutschlands in der Weltpolitik, denn in der kapitalistischen Arithmetik der Macht bedeutet der Zugewinn von Territorien und „Menschenmaterial“ fast zwangsläufig auch einen Zugewinn an Gewicht und Einfluss auf imperialistischer Ebene. Sie verbaute gleichzeitig aber auch den Weg zu einer militärischen Unterfütterung dieses gewachsenen politischen Einflusses, was die Rolle Deutschlands auf unabsehbare Zeit auf die einer imperialistischen Mittelmacht reduziert, weil sie beispielsweise durch die Alimentierung der vielen Arbeitslosen erhebliche Mittel bindet, die sonst zur Aufrüstung eingesetzt werden könnten.

Auch vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus betrachtet, provoziert die deutsche Wiedervereinigung durchaus gemischte Reaktionen. Es überwiegt zunächst der Eindruck, dass die Nach-Wende-Jahre sowohl in sozialer Hinsicht als auch auf der Ebene des Klassenbewusstseins einen herben Rückschlag für die Arbeiterklasse in Deutschland bedeuteten. Massenarbeitslosigkeit dort und Lohnraub hier hinterließen tiefe Spuren in der geistigen Verfassung unserer Klasse. Demoralisiert und desorientiert, war sie ein willfähriges Opfer jener unseligen Kampagne über das angebliche Ende des Kommunismus und Klassenkampfes. In Ermangelung einer Perspektive verirrten sich Teile der Arbeiterklasse auf dem Terrain des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit. Überdies litt die Arbeiterklasse in Deutschland unter einer tiefen Ost-West-Spaltung, die ihre Widerstandskraft aushöhlte und sie zur Hinnahme der schlimmsten Angriffe gegen ihren Lebensstandard seit Bestehen der beiden deutschen Staaten 1949 zwang.

Doch mit dem Fall der Berliner Mauer wurde eine weitaus größere Spaltung der Arbeiterklasse überwunden. Nach fast 30 Jahren strikter Trennung und hermetischer Isolation der im Herrschaftsbereich des sog. Realsozialismus lebenden ArbeiterInnen gegenüber ihren Leidensgenossen in den westlichen Demokratien kann man mittlerweile auch faktisch von einer globalen Arbeiterklasse sprechen, die unter denselben Lebens- und Arbeitsbedingungen sichtlich vereint ist und die befreit ist von den ideologischen Gräben des Kalten Krieges. Noch nie war die Welt und mit ihr die internationale Arbeiterklasse so eng zusammengerückt wie heute. Und noch nie war die Gelegenheit, den Klassenkampf gegen das Kapital zu globalisieren, so günstig wie heute.

 



[1] Dieser Kompromiss sah den 36. Breitengrad als Grenze zwischen den sklavenhaltenden und nicht-sklavenhaltenden Staaten vor.

[2] Marx, Der nordamerikanische Bürgerkrieg, MEW Bd. 15, S. 335).

[3] Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 345f.

[4] Ebenda, S. 364.

[5] Ebenda, S. 365.

[6] So weigerten sich beispielsweise britische Hafenarbeiter, Schiffe mit Fracht aus den Südstaaten zu löschen.

Aktuelles und Laufendes: 

  • deutsche Wiedervereinigung [17]

Erste Lehren aus den Kämpfen in Frankreich

  • 2306 Aufrufe

Kaum ist die Bewegung in Frankreich aus den Schlagzeilen verschwunden, regt sich verstärkter Widerstand in Großbritannien gegen die brutalen Sparbeschlüsse. An der Spitze der ersten Proteste standen die Studenten (siehe dazu das Flugblatt auf unserer Webseite). Wird es den anderen Betroffenen der Opfer der Sparpolitik, allen voran den Arbeitern, gelingen, eine breite Front des Widerstands gegen das Kapital aufzubauen?

In den jüngsten Abwehrkämpfen und Protesten kommt eine Bereitschaft zum Widerstand zum Ausdruck, die sich nicht „nur“ gegen die Sparbeschlüsse der Regierungen richtet, sondern auch eine viel tiefergreifende Angst und Empörung über das, was diese Gesellschaft für die Menschheit bereithält, zum Ausdruck bringt.

Zum einen reagiert die Arbeiterklasse auf die jüngste Entwicklung der Krise, die geprägt wird von dem jetzt einsetzenden weltweiten Währungskrieg, zu dem die neue Konjunkturspritze der US-Regierung von 600 Milliarden Dollar gehört, welche nicht zuletzt die US-Währung verbilligen soll, und damit die US-Exporte beflügeln und die in Dollar gehaltenen US-Schulden im Ausland zum Teil abschmelzen sollen. Washington reagierte damit auf die Exportoffensiven vor allem Chinas und Deutschlands, wobei Obama eine US-Exportgegenoffensive in Seoul auf dem G20 Gipfel ankündigte. Somit droht hinter dem sogenannten Währungskrieg ein offener Handelskrieg auszubrechen, welcher längerfristig die Sonderkonjunktur der Exportweltmeister Deutschland und China untergraben kann.

Während man in den letzten Monaten den Eindruck zu erwecken versuchte, als ob die schlimmste Weltwirtschaftskrise seit der Depression der 1930er Jahre erfolgreich überstanden wäre – einschließlich der jüngsten Griechenlandkrise – zeichnet sich nunmehr am Horizont neues Unheil ab in Form einer drohenden erneuten Krise des Euros. Hinter dem Schreckgespenst des Bankrotts Irlands oder Portugals wirft sich der Schatten der Insolvenz größerer Volkswirtschaften wie Spanien, Italien…

Die Regierungen zeigen sich nicht nur unfähig dazu, ihre eigene Wirtschaft zu bändigen: sie sind genauso wenig in der Lage und außerdem sichtlich uninteressiert daran, den Bevölkerungen besonders notleidender Gebiete, wirksam Hilfe zu leisten – z.B. gegenüber dem Ausbruch der Cholera in Haiti oder gegenüber der Obdachlosigkeit Millionen Obdachloser in Pakistan angesichts des bevorstehenden Winters.

Die Meldungen über bevorstehende Terroranschläge in den großen Industriezentren Europas (als Folge des unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terror geführten Kriegs in Afghanistan und im Irak), die in der Bevölkerung Angst auslösen und den Ruf nach dem Staat erschallen lassen sollen, erfolgt just zu einem Zeitpunkt, wo der Staat brutaler als je die Sparbeschlüsse durchpeitschen will.

Neben der unmittelbaren Wut über die Auswirkungen der Sparbeschlüsse entwickeln immer mehr lohnabhängige Menschen ein Gespür dafür, dass dieses System in einer Sackgasse steckt und die Menschheit in den Abgrund reißt. Dem Kampf des jeder gegen jeden freien Lauf lassen oder kollektiver, klassenmäßiger Widerstand dagegen, woraus die Perspektive einer solidarischen Gesellschaft entstehen könnte: So lautet die Frage. Welche Lehren in dieser Hinsicht die jüngste Bewegung in Frankreich bietet, haben wir als Schwerpunkt dieser Zeitung gewählt. (21.11.2010)

(nachfolgende Artikel wurden schon als Beilage auf unserer Webseite veröffentlicht).

Wie den Kampf in die eigenen Hände nehmen?

 

Die Bewegung gegen die Rentenreform dauert nun schon acht Monate. Der erste Aktionstag fand am 23. März statt, damals beteiligten sich 800.000 Menschen, die Atmosphäre war eher schlaff und ein wenig hoffnungslos. Aber seitdem hat der Kampf an Stärke gewonnen. Mehr und mehr Beschäftigte, Arbeitslose, Prekäre, ganze Arbeiterfamilien, Gymnasiasten und Studenten haben sich schrittweise der Bewegung angeschlossen. Zeitweise kamen regelmäßig mehr als drei Millionen auf der Straße zusammen!

In Wirklichkeit ist diese Reform zum Symbol der allgemeinen und brutalen Verschlechterung unserer Lebensbedingungen geworden. Die Jugendlichen stehen wie vor einer Mauer: im öffentlichen Dienst werden fast keine Leute mehr eingestellt; in der Privatindustrie gibt es kaum Stellen, und wenn dann nur zu sehr prekären, unhaltbaren Bedingungen. Eingefrorene Löhne, Preissteigerungen, insbesondere Mieterhöhungen, drastische Kürzungen bei der Erstattung von medizinischen Leistungen und der Sozialhilfe, Kürzungen bei Beschäftigungsgesellschaften usw… all diese unzähligen Angriffe treiben uns alle langsam aber sicher in die Armut.

In dieser Lage war es lange bei vielen die Vorstellung, nach Jahren Plackerei und Lohnsklaverei bald eine „wohlverdiente Rente“ zu bekommen, die einen hoffen und durchhalten ließ. Es war das Licht am Ende des Tunnels. In den 1950er und 1960er Jahren konnten noch viele Beschäftigte von diesem relativen „Eldorado“ profitieren. Aber seit 20 Jahren sinken die Renten unaufhörlich. Mittlerweile sind sie auf ein miserables Niveau gefallen; viele Rentner sind gezwungen, noch irgendwelche kleine Jobs anzunehmen. Und jeder weiß, dass diese Reform diese dramatische Lage noch weiter zuspitzen wird. Wie viele Demonstranten rufen, ist die einzige Zukunft, die uns das Kapital bieten kann: „Métro, boulot, caveau“ („Zur Arbeit pendeln, schuften, verrecken“).

Die Weltwirtschaftskrise treibt heute die ganze Menschheit in eine Spirale der Verarmung. Die Lage spitzt sich immer weiter zu. Sieben Monate Kämpfe … immer wieder Aktionstage, ganze Wirtschaftsbereiche haben wiederholt gestreikt, ganze Standorte wurden von entschlossenen und kämpferischen Beschäftigten lahmgelegt, die zudem noch mit der staatlichen Repression konfrontiert wurden. „Die Jugend steckt in einer Galeere, die Alten in der Misere“. Kein Zweifel, die Wut ist riesig und in der ganzen Arbeiterklasse zu spüren!

Und dennoch die Regierung zieht ihre Rentenreform nicht zurück. Selbst zu Millionen auf die Straße zu ziehen, reicht nicht. Jeder spürt, dass irgendetwas dieser Bewegung fehlt. Was fehlt ist, dass die Arbeiter die Bewegung in die eigenen Hände nehmen. Wenn wir nur wie Schafe den gewerkschaftlichen Anordnung folgen, werden wir wie 2003 und 2007 eine Niederlage einstecken. Das Misstrauen gegenüber den Gewerkschaften wird unter den Arbeitern immer größer. Aber bislang hat nur eine Minderheit gewagt, diesen Schritt zu vollziehen, hat es gewagt, sich selbst in unabhängigen Vollversammlungen zu organisieren, die nicht von den Gewerkschaften kontrolliert werden. So weit wir wissen, gibt es heute ein gutes Dutzend branchenübergreifende Vollversammlungen dieser Art in Frankreich. Zum Beispiel kommen regelmäßig Eisenbahner, Lehrer, Arbeitslose und prekär Beschäftigte in der Bahnhofshalle des Pariser Ostbahnhofs zusammen. Straßenversammlungen werden regelmäßig in Toulouse vor den Arbeitsbörsen abgehalten und am Ende von Demonstrationen. Aber sie werden bislang nur von Minderheiten getragen.

Die Arbeiterklasse muss ihr Selbstvertrauen in ihre Fähigkeit zu kämpfen und sich kollektiv als Klasse zu organisieren, entwickeln. Wie? Wie können die Arbeiter ihre Kämpfe in die eigene Hand nehmen? Wir versuchen darauf in den nachfolgenden Artikeln einzugehen, weil diese Frage wesentlich und ausschlaggebend ist für den weiteren Verlauf der Kämpfe. IKS 22.10.2010

Raffinerien blockieren – ein zweischneidiges Schwert

20% der Tankstellen ohne Benzin. Endlos lange Schlagen. Überall Schlagzeilen in den Medien wegen der wirtschaftlichen Lähmung des Landes. Kämpferische und entschlossene Arbeiter. Und ein Präsident der Republik, der mit der Faust auf den Tisch schlägt, die „Diebe“ mit den schlimmsten Repressalien bedroht. Diese Szenen sind überall in den Medien zu sehen und werden weltweit verbreitet.

Die Beschäftigten, die vor den Raffinerien ausharren, tun dies im Namen der Arbeitersolidarität. Wenn sie den Mut haben, sich der wütenden Polizeirepression und den Strafen ihrer Arbeitgeber auszusetzen (z.B. Grandpuits, in der Pariser Region, der gedroht hat, den Standort dicht zu machen und alle zu entlassen), tun sie dies, weil sie sich dessen bewusst sind, dass sie für eine gerechte Sache kämpfen, die weit über ihr sie hinausgeht: Die Rentenreform, die uns alle betrifft, und die miserablen Renten, die sich daraus ergeben. Sie kämpfen für die Interessen der gesamten Klasse.

Die Lähmung des Verkehrs, welche durch die Blockade entstanden ist, offenbart auch, dass die Arbeiterklasse die Kraft ist, von der alle Räder in dieser Welt abhängen. Die Arbeiter produzieren alle Reichtümer. Die Kapitalisten sind letzten Endes nur Parasiten, die auf unsere Kosten leben und sich die Erzeugnisse unserer Arbeit aneignen. Es reicht aus, dass ein strategischer Bereich wie die Raffinerien nicht mehr normal funktioniert, und schon gerät die ganze Wirtschaft aus den Fugen.

Aber diese Waffe ist ein zweischneidiges Schwert.

Wer leidet am meisten unter den Blockaden?

Die Blockade der Raffinerien verfolgt das erklärte Ziel der Lähmung der Wirtschaft, um Druck auf das Kapital auszuüben. Es stimmt, dass den Kapitalisten nichts wichtiger ist als der Profit. Aber wer wird am meisten durch die Benzinknappheit getroffen? Wer ist wirtschaftlich am härtesten getroffen? Das Kapital oder die Arbeiter? Konkret sind die größten Betriebe des Landes (Carrefour, L’Oréal, BNP Paribas, Société Générale, Danone usw.) nicht in Gefahr. Sie sitzen relativ fest im Sattel und können auf die Unterstützung des Staates bauen (auch auf finanzielle Hilfe). Aber die Arbeiter leiden tag- täglich unter den Schwierigkeiten, Benzin zu tanken und zur Arbeit zu fahren. Sie leiden unter den Strafen der Arbeitgeber oder den Sanktionen durch ihre Vorgesetzten, weil man zu spät zur Arbeit kommt. Und die Beschäftigten, die seit Wochen immer wieder gestreikt haben, müssen sich jetzt den Gürtel enger schnallen wegen der dadurch entstandenen Lohnverluste.

„Die Wirtschaft lahmzulegen, um Druck auf das Kapital auszuüben“, ist übrigens ein Mythos, der aus dem 19. Jahrhundert stammt. Vor mehr als einem Jahrhundert konnten die Beschäftigten ihre Betriebe lahmlegen und somit ihre Arbeitgeber zum Nachgeben zwingen. Einerseits ermöglichten die Solidaritätskassen, den Arbeitern „durchzuhalten“, andererseits musste der bestreikte Unternehmer mit ansehen, wie seine Konkurrenten die Lage ausnutzten und ihm Kunden webschnappten. Es gab ernste Gefahren, bankrott zu gehen, und oft konnten die Arbeiter einen Sieg davontragen. Heute sind die Verhältnisse aber ganz anders. Es mag zwar noch Solidaritätskassen geben; so gibt es welche für die „Blockierer“ der Raffinerien. Aber die Arbeitgeber fallen sich in einem Arbeitskampf nicht mehr gegenseitig in den Rücken; im Gegenteil sie unterstützen sich gegenseitig. Sie verfügen gar über schwarze Kassen, um mit solch einer Lage umzugehen. Somit treten die Beschäftigten der Raffinerien nicht nur „ihrem“ Arbeitgeber gegenüber, sondern dem Kapital insgesamt, und vor allem der geballten Staatsmacht. Das Kräfteverhältnis auf rein ökonomischer Ebene besteht nicht mehr zugunsten der Streikenden. Aber das ist nicht die einzige Falle.

Die Gefahr der Isolierung und „unpopulär“ zu werden

Streiks, über deren jeweilige Fortsetzung immer von neuem entschieden wird, sind heute noch nicht sehr verbreitet. Nur in einigen Bereichen wird zurzeit ununterbrochen gekämpft: im Verkehrswesen (vor allem bei der SNCF), den Häfen und der Müllabfuhr in Marseille und den Raffinerien. Weil sie isoliert sind, laufen diese Beschäftigen Gefahr, sich zu erschöpfen, im Falle einer Niederlage entmutigt und gewaltsam bestraft zu werden. Deshalb sind ja auch so viele Arbeiter zu den blockierten Raffinerien gekommen, um vor Ort ihre Solidarität durch ihre Anwesenheit zu bekunden.

Aber es gibt ein noch größeres Risiko, nämlich dass diese Bewegung „unpopulär“ wird. Im Augenblick unterstützt noch der größte Teil der Arbeiterklasse und der Bevölkerung insgesamt diesen Kampf gegen die Rentenreform. Seit dem ersten Aktionstag am 23. März haben sich immer mehr Lohnabhängige der Bewegung angeschlossen (selbst kleine Händler, Freiberufler, Handwerker und Bauern). Ihre Stärke besteht gerade darin, dass immer mehr Bereiche sich dem Kampf anschließen. Den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes haben sich Schritt für Schritt die der Privatindustrie, ganze Arbeiterfamilien (insbesondere während der Samstagsdemos), prekär Beschäftigte, Arbeitslose, dann Gymnasiasten und Studenten angeschlossen… Der Kampf gegen die Rentenreform ist für alle eine Kampf gegen die Verschlechterung unserer Lebensbedingungen und gegen die Verarmung geworden.

Aber weil die Blockade des Verkehrswesens schlussendlich in erster Linie diejenigen trifft, die sich am Kampf beteiligen, besteht die Gefahr der Spaltung und dass diese Dynamik gebrochen und ein Hindernis wird für die notwendige massive Ausdehnung der Kämpfe. Bislang unterstützen viele Arbeiter diese Blockadeaktionen, aber im Laufe der Zeit kann sich das Blatt wenden.

Übrigens würde die vollständige Lähmung des Transportwesens ein Zusammenkommen bei den Demonstrationen unmöglich machen. Eine große Erleichterung für das Zusammenkommen wäre es vielmehr, wenn man kostenlos mit der Bahn reisen könnte, wäre das keine wirksamere Vorgehensweise zur Stärkung der Bewegung?

Ein politisches Kräfteverhältnis aufbauen

Soll das damit heißen, wir würden sagen, Blockaden und Besetzungen wären keine nützlichen Kampfmittel? Natürlich nicht! Es geht nur darum, dass diese Aktionen nicht als vorrangiges Ziel haben können, ökonomisch zu punkten, sondern sie müssen ein politisches Kräfteverhältnis aufzubauen.

Jegliches Handeln sollte bestimmt sein durch das Bemühen, den Kampf auszudehnen. Unsere Stärke ist unsere massive Einheit und unsere Solidarität im Kampf.

Zum Beispiel fingen die Streiks an den Unis während der Bewegung gegen den CPE im Frühjahr 2006 durch Blockaden an. Mit Hilfe der Blockaden gelang es den bewusstesten und kämpferischsten Studenten, eine große Zahl von Kommilitonen/Innen für die Vollversammlungen zu mobilisieren, wo ein beträchtlicher Teil der Studenten, die nicht die Bedeutung der Angriffe der Regierung oder die Notwendigkeit eines Abwehrkampfes dagegen verstanden hatte, durch die Debatte und den darin vorgebrachten Argumenten überzeugt wurde.

Die Blockade und die Besetzung eines Industriestandortes, einer schulischen Einrichtung oder einer Verwaltung kann auch dieses massive Zusammenkommen in Vollversammlungen, diese Debatten ermöglichen, wo die am meisten Zögernden überzeugt werden und sich dem Kampf anschließen. Einzig diese Dynamik der Ausdehnung jagt den Herrschenden wirklich Angst ein. Und schlussendlich, welche Rolle auch immer eine Fabrikbesetzung oder eine Blockade zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Streik spielen mag, auf den Straßen können die Beschäftigten, Rentner, Arbeitslosen, Arbeiterfamilien usw. am leichtesten massiv zusammenkommen. IKS, 22.10.2010

Die Gewerkschaftsbündnisse führen uns in die Niederlage

„Wir sind zu Millionen auf die Straße gezogen und haben an den vergangenen Aktionstagen gestreikt. Die Regierung gibt immer noch nicht nach. Nur eine Massenbewegung wird sie dazu zwingen. Diese Idee kommt immer mehr in Diskussionen um einen unbegrenzten, jeweils erneuerbaren Generalstreik und der Blockierung der Wirtschaft auf. (…) Die Gestalt, die diese Bewegung annehmen wird, hängt von uns ab. (…) Wir müssen über die Aktionsformen, Forderungen usw. selbst entscheiden. Niemand anders darf uns dies abnehmen.

Wenn wir die Chérèque (CFDT), Thibault (CGT) & Co. An unserer Stelle entscheiden lassen, stehen nur neue Niederlagen bevor. Chérèque ist für die Regelung, dass 42 Beitragsjahre gezahlt werden müssen [was dem Vorhaben der Regierung entspricht]. Thibault verlangt nicht die Rücknahme des Gesetzentwurfes. Wir haben auch nicht vergessen, dass er 2009 mit Sarkozy Champagner trank, während Tausende von uns entlassen wurden und wir alleine, isoliert voneinander kämpfen mussten. Wir haben auch kein Vertrauen mehr in die angeblich „Radikalen“. Die Radikalität Mailly (FO/Gewerkschaft) besteht darin, der PS-Vorsitzenden Aubry die Hand zu schütteln, während die PS selbst für die 42-Beitragsjahre stimmt. (…)

Wenn sie heute die Idee eines erneuerbaren Streiks propagieren, dann wollen sie vor allem vermeiden, dass sie von der Bewegung überrollt werden. Deren Kontrolle über unsere Kämpfe gilt für sie als Faustpfand, um zum Verhandlungstisch zugelassen zu werden. Warum? In einem Brief von sieben Gewerkschaftsorganisationen der CFTC an Sud-Solidaires, schrieben diese: „Um den Standpunkt der Gewerkschaftsorganisationen bekannt zu machen mit dem Ziel, eine Gesamtheit von gerechten und wirksamen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des bisherigen Rentensystems sicherzustellen“. Soll man wirklich glauben, dass es eine gemeinsame Basis mit den Leuten geben kann, die seit 1993 unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen systematisch untergraben haben?

Die einzige wirkliche Einheit, die diese Regierung und die herrschende Klasse zurückdrängen kann, besteht in dem Zusammenschluss der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und der Privatindustrie, von Beschäftigten und Arbeitslosen, Rentnern und Jugendlichen, legal und illegal Beschäftigten, Gewerkschaftsmitgliedern und Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern, an der Basis in den Betrieben in den gemeinsamen Vollversammlungen und indem wir den Kampf in die eigene Hand nehmen.“

Dies ist ein Auszug aus einem Flugblatt, das bei den Demonstrationen in Paris massenhaft verbreitet und unterzeichnet wurde von „Arbeitern und prekär Beschäftigten der branchenübergreifenden Vollversammlung des Ostbahnhofs“.

Zahlreiche andere Texte mit der gleichen Stoßrichtung und einem ähnlichen Ton sind von anderen branchenübergreifenden Zusammenschlüssen, Kampfkomitees, Diskussionsgruppen oder kleinen politischen Organisationen verfasst worden, die ihr wachsendes Misstrauen gegenüber dem Gewerkschaftsbündnis geäußert haben und dieses beschuldigen, uns absichtlich in die Niederlage zu führen. Alle ermuntern die Arbeiter, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen.

 

 

 

Aktuelles und Laufendes: 

  • Handelskrieg [18]
  • Währungskrieg [19]
  • Cholera Haiti [20]
  • Klassenkampf England [21]

Studenten und Arbeiterdemonstrationen: Wir müssen den Kampf selbst kontrollieren!

  • 2452 Aufrufe

Das nachfolgende Flugblatt wurde am Montag, den 15. November, auf einer Versammlung am Londoner Kings College verteilt, die dort vom linken Flügel des Gewerkschaftsapparates (Education Activists Network) abgehalten wurde. Wir würden uns über Kommentare, Kritiken und vor allem Angebote zum Weiterverteilen oder Verbesserungsvorschläge zur Aktualisierung auf dem Hintergrund des bevorstehenden Aktionstages nächste Woche freuen. Ein Genosse der Sektion der IKS in Toulouse, Frankreich, die sich aktiv an der Bewegung in Frankreich zur Bildung von Kampfkomitees und Vollversammlungen beteiligt hat, konnte auf diesem Treffen das Wort ergreifen, und trotz eines heftigen Angriffs gegen die Taktik der französischen Gewerkschaften wurde sein Redebeitrag applaudiert. Wir werden mehr Informationen über dieses Treffen zusammentragen und veröffentlichen.

Flugblatt der IKS

Lange erschien es, dass die Arbeiterklasse in Großbritannien durch die Brutalität der Angriffe, welche die neue Regierung eingefädelt hat, zum Schweigen verdammt sei: Behinderte werden zu Aufnahme einer Arbeit, Arbeitslose zum kostenlosen Arbeiten gezwungen, das Pensionsalter wird angehoben, drastische Einschnitte erfolgen im Bildungswesen, Hunderttausende Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen, Verdreifachung der Immatrikulationsgebühren und Streichung von Ausbildungsförderungsleistung für die 16-18 Jahre alten Schüler. Die Liste ist endlos lange. Die jüngsten Arbeiterkämpfe – British Airways, U-Bahn, Feuerwehrleute – sind alle total isoliert voneinander abgelaufen.

Aber wir sind eine internationale Klasse und die Krise dieses Systems ist auch international. In Griechenland, Spanien und jüngst in Frankreich haben die Arbeiter sich massiv gegen die neuen Sparprogramme zur Wehr gesetzt. In Frankreich bündelte die Reaktion gegen die „Rentenreform“ die wachsende Unzufriedenheit mit der Gesellschaft, insbesondere in der Jugend.

Die riesige Demonstration in London am 10. November brachte aber zum Vorschein, dass das gleiche Potenzial zum Widerstand heute im Vereinigten Königreich vorhanden ist. Die Teilnehmerzahl, die Beteiligung sowohl von Studenten als auch von Beschäftigten des Erziehungswesens, die Weigerung, eine zahme Demonstration von A nach B durchzuführen – all das bringt ein weitverbreitetes Gefühl zum Ausdruck, dass wir uns nicht der Logik der staatlichen Angriffe gegen unsere Lebensbedingungen unterwerfen sollen. Die zeitweise Besetzung der Tory-Zentrale war nicht das Machwerk irgendeiner Verschwörung einer Handvoll Anarchisten sondern das Ergebnis einer viel stärker verbreiteten Wut, und die Mehrheit der Studenten und die Demonstration unterstützenden Beschäftigten weigerten sich, diese Aktion zu verurteilen, wie es die Führung der NUS-Gewerkschaft und die Medien taten.

Viele meinten, diese Demonstration sei erst der Auftakt. Ein zweiter Aktions- und Demonstrationstag ist schon für den 24. November geplant. Bislang sind solche Aktionen von den „offiziellen“ Organisationen wie die NUS veranstaltet worden, die aber schon unter Beweis gestellt haben, dass sie Teil der bestehenden Ordnung sind. Aber das ist kein Grund, sich nicht massiv an den Demonstrationen zu beteiligen. Im Gegenteil, in Scharen zusammenzukommen, ist die beste Grundlage für die Schaffung neuer Organisationsformen, die den wirklichen Bedürfnissen des Kampfes Rechnung tragen können.

Was können wir vor solchen Aktionstagen oder Demonstrationen unternehmen? Wir müssen Vollversammlungen und Treffen in den Universitäten und Schulen einberufen, die allen Studenten, Schülern und Beschäftigten offenstehen, um für Unterstützung der Demonstrationen zu werben und deren Ziele zu diskutieren.

Die Initiative einiger Leute, “einen Block radikaler Studenten und Arbeiter“ auf den Demonstrationen zu bilden, muss unterstützt werden, aber wenn immer möglich, sollte man sich vorher treffen, um genau zu diskutieren, wie man seine Unabhängigkeit von den offiziellen Organisatoren zum Ausdruck bringt.

Wir müssen aus der jüngsten Erfahrung in Griechenland lernen, als Besetzungen (auch die des Gebäudes der Gewerkschaftszentrale) dazu benutzt wurden, einen Raum zu schaffen, wo Vollversammlungen abgehalten werden konnten. Und was zeigt uns die Erfahrung in Frankreich? Es gab eine bedeutsame Minderheit von Studenten und Arbeitern in vielen Städten, die Versammlungen auf der Straße abhielten, welche nicht nur am Ende der Demos stattfanden, sondern regelmäßig, solange die Bewegung sich weiter aufwärts entwickelte.

Wir müssen uns auch dessen bewusst sein, dass die Ordnungskräfte in der Zukunft nicht mit „Samthandschuhen“ wie am 10. November vorgehen werden. Sie werden bestens ausgerüstet sein und versuchen, uns in verfrühte Zusammenstöße mit ihnen zu locken, damit sie einen Vorwand haben, ihre ganze martialische Stärke zur Schau zu stellen – so wie das eine bekannte Taktik in Frankreich war. Die Organisierung unserer Selbstverteidigung und Solidarität gegen die Kräfte der Repression muss aus den gemeinsamen Diskussionen und Entscheidungen hervorgehen.

Der Kampf spielt sich nicht nur im Bildungswesen ab. Die ganze Arbeiterklasse wird angegriffen und der Widerstand muss bewusst ausgedehnt werden sowohl auf den öffentlichen Dienst wie auch die Privatwirtschaft. Den Kampf zu kontrollieren ist der einzige Weg ihn auszudehnen.

Internationale Kommunistische Strömung 15.11.10

Aktuelles und Laufendes: 

  • Arbeiterkampf England [22]
  • Studentenproteste England [23]

Tekel-Türkei - Die Erfahrungen des Klassenkampfes weitergeben

  • 2403 Aufrufe

Ende 2009 begann in der Türkei ein Arbeitskampf, der weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden ist - nicht zuletzt deshalb, weil eine Delegation der Streikenden sich im Juni und Juli 2010 auf eine Reise nach Westeuropa begeben hat, um hier über die Erfahrungen zu berichten und mit anderen Interessierten gemeinsam Lehren daraus zu ziehen.

Kurze Rückblende: Mehrere Tausend Arbeiter und Arbeiterinnen des ehemals staatlichen Tabak- und Spirituosenunternehmens TEKEL protestierten gegen dessen Privatisierung und die damit verbundenen Angriffe, namentlich gegen Lohnkürzungen und Entlassungen. Die betroffenen ArbeiterInnen versammelten sich zum Protest in der Hauptstadt Ankara, erhielten viel Sympathie und Solidarität von der dort lebenden Bevölkerung und suchten Unterstützung bei weiteren Teilen der Arbeiterklasse, insbesondere in anderen Betrieben im ganzen Land, in denen ebenfalls gekämpft wurde. Die TEKEL-ArbeiterInnen stießen bei ihrem Protest und den Versuchen, den Kampf auszuweiten, auf den Widerstand der Gewerkschaften, die sich als Teil des staatlichen Apparates entlarvten. Sie gründeten zusammen mit streikenden ArbeiterInnen anderer Staatsbetriebe (u.a. Hafen- und Bauarbeiter, Feuerwehrleute) in Istanbul eine Plattform der kämpfenden Arbeiter. Am 1. Mai besetzten sie bei der Maikundgebung von 350.000 Menschen auf dem Taksim-Platz in Istanbul die Bühne und verlasen eine Erklärung gegen die Komplizenschaft der Gewerkschaften mit dem Staat. Die Gewerkschaftsführer flüchteten von der Bühne und hetzten die Polizei auf die ArbeiterInnen. Trotz dieser Unterstützung, die der TEKEL-Kampf erfuhr, war er insofern erfolglos, als die Privatisierung und die Angriffe nicht rückgängig gemacht werden konnten.

Aber die Kämpfenden beschlossen, dass sie ihre Erfahrung den ArbeiterInnen nicht nur in der Türkei, sondern über die Landesgrenzen hinaus vermitteln sollten. Schon während des Kampfes waren Verbindungen zu politisierten Leuten in anderen Ländern geknüpft worden. Insbesondere in Deutschland, wo die Zahl emigrierter ArbeiterInnen aus der Türkei am größten ist, war der Kampf mit viel Anteilnahme verfolgt worden. So kam mit der Unterstützung von verschiedenen Gruppen aus dem anarchistischen und linkskommunistischen Umfeld eine Tournee durch Deutschland und die Schweiz zustande. Eine Delegation der TEKEL-Arbeiter besuchte insgesamt 10 Städte in Deutschland und der Schweiz, in denen vor unterschiedlichem Publikum Informations- und Diskussionsveranstaltungen durchgeführt wurden, über die wir hier berichten möchten.

Die Rundreise

Die Stationen der Rundreise zwischen Mitte Juni und Anfang Juli 2010 waren Hannover, Berlin, Braunschweig, Hamburg, Duisburg, Köln, Dortmund, Frankfurt, Nürnberg und Zürich. Vor allem die IKS hat die Reise nach Europa ermöglicht. Organisiert waren die meisten Treffen von der Freien ArbeiterInnen Union (FAU), in Berlin vom Sozialrevolutionären Diskussionszirkel und die Versammlung in Zürich von der Gruppe Karakök Autonome. Mit gemeinsamen Kräften riefen diese und auch noch weitere Gruppen zu den Veranstaltungen auf. Die Zahl der TeilnehmerInnen bewegte sich zwischen 10 und etwa 40, wobei berücksichtigt werden muss, dass gleichzeitig die Fussball-Weltmeisterschaft in Südafrika stattfand und die Spiele oft zu der Zeit übertragen wurden, wo die Veranstaltungen stattfanden. Das Publikum war überwiegend jung, aber keineswegs ausschließlich; gerade in den Städten, wo viele türkische und kurdische ArbeiterInnen teilnahmen, war auch die Generation der Eltern der 20- bis 30-jährigen anwesend.

Ein Arbeiter von TEKEL hielt ein Einführungsreferat, das auf die Geschichte des Kampfes zwischen Dezember 2009 und Mai 2010 einging. Lebendig vermittelte er die Erfahrung der Kämpfenden, wie sie vergeblich versuchten, die Gewerkschaften dazu zu bewegen, einen Generalstreik der staatlich Beschäftigten auszurufen, von der kurzfristigen Besetzung der Gewerkschaftszentrale Türk-Is in Ankara, wie die Polizei die Gewerkschaft schützte, vom Zeltlager in Ankara und der Solidarität der lokalen Bevölkerung. Er berichtete, wie im Kampf der TEKEL-ArbeiterInnen die Spaltungen zwischen KurdInnen und TürkInnen oder Männern und Frauen oder WählerInnen dieser oder jener Partei überwunden wurden. So hatte zwar die Polizei die Busse der 8'000 ArbeiterInnen vor den Toren Ankaras gestoppt und erklärt, dass sie nur diejenigen in die Stadt lassen würde, die nicht aus kurdischen TEKEL-Werken stammen würden; darauf stiegen aber alle Streikenden gemeinsam aus den Bussen und marschierten zu Fuß an der verdutzten Polizei vorbei den weiten Weg ins Stadtzentrum. Eine Aufspaltung in kurdische und türkische ArbeiterInnen kam für sie nicht in Frage.

Die Diskussionen

Die Diskussionen nach dem Referat drückten ein lebhaftes Interesse der Anwesenden am Kampf in der Türkei aus. Die Stimmung war brüderlich, solidarisch, mitfühlend - auch Tränen flossen. Die meisten der Teilnehmenden identifizierten sich mit den Zielen der TEKEL-ArbeiterInnen. Diejenigen, die noch nicht viel über den Kampf wussten, stellten konkrete Fragen, die erkennen ließen, dass man auch hier in Deutschland oder der Schweiz sich mit Kämpfen beschäftigt.

Gerade die Einheit der Arbeiter und Arbeiterinnen über die verschiedenen sichtbaren oder unsichtbaren Grenzen hinaus wurde in fast allen Diskussionen als wichtiges Anliegen unterstrichen. Der türkische Staat versuchte, die Kämpfenden zu spalten; diese aber ließen solche Pläne ins Leere laufen und suchten die größtmögliche Solidarität in anderen Teilen der Klasse. Nur so kann ein Gefühl der Stärke entstehen, aber auch ein reales Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten geschaffen werden. Der Kampf in der Türkei hat zwar die gesteckten Ziele nicht erreicht, doch der eingeschlagene Weg war der richtige. Gerade in einem Land, in dem seit Jahrzehnten von allen möglichen Gruppierungen und dem Staat der türkische und kurdische (oder auch der armenische) Nationalismus geschürt werden, ist eine solche Entwicklung hin zur Einheit bemerkenswert.

Für viele stand die Gewerkschaftsfrage im Zentrum des Interesses. Auf der Ebene der unmittelbar gemachten Erfahrungen war man sich einig: Die Türk-Is verrichtete in diesem Kampf eine ähnliche Aufgabe, wie sie von den bestehenden Gewerkschaften auch in anderen Ländern sattsam bekannt ist. Sie versuchen die Arbeiter passiv zu halten, mobilisieren höchstens unter dem Druck der kämpfenden ArbeiterInnen und auch dies möglichst so, dass die Energie der Kämpfenden ohne Resultate verpufft. Gleichzeitig im Frühjahr fanden ja die Kämpfe in Griechenland statt, wo die großen Gewerkschaftsverbände eine ähnliche Rolle spielten und sich im Zweifelsfall immer als Verteidiger der herrschenden Ordnung und des Staates herausstellten. Auch in Deutschland und der Schweiz kennt man die Gewerkschaften in dieser Rolle. Das Publikum war beeindruckt davon, wie sich die TEKEL-ArbeiterInnen und diejenigen, die sich ihrem Kampf anschlossen, den Gewerkschaften entgegen stellten und sie offen bekämpften.

Aber hätte man nicht eine "eigene" Gewerkschaft haben sollen? Ist der Kampf bei TEKEL nicht daran gescheitert? Bei fast allen Diskussionen, die von der FAU organisiert worden waren, wurde die Frage aufgeworfen, ob man nicht neue, "revolutionäre" oder "anarchistische" Gewerkschaften gründen sollte. In einigen Städten wie z.B. in Duisburg wurde von Genoss/Innen aus dem Umkreis der FAU die Tatsache thematisiert, dass es sich bei TEKEL weniger um eine Streikbewegung als um einen Demonstrations- und Protestkampf handelte. Läge dieser Tatbestand nicht daran, dass es an einer proletarischen Gewerkschaft fehlte? Der TEKEL-Arbeiter, der das Einführungsreferat hielt, teilte diese Auffassung nicht. Er argumentierte anhand seiner Erfahrung, dass die Gewerkschaften aufgrund ihrer Rolle sich letztlich immer auf die Seite des Staates stellen werden, selbst wenn kämpfende Arbeiter oder Revolutionäre sie gründen und zunächst für die unmittelbaren Zwecke des Kampfes benützen können. Was haben wir für andere Möglichkeiten? Wie sollen wir uns im Kampf organisieren? - Die Antwort des TEKEL-Arbeiters war: in Kampf- oder Streikkomitees. Solange ein Kampf anhält, sollen sich die ArbeiterInnen selbständig mit jederzeit abwählbaren Delegierten organisieren. Die Vollversammlung wählt ein Kampfkomitee, das gegenüber der Vollversammlung rechenschaftspflichtig ist. Jede ständige Repräsentation umgekehrt, die unabhängig ist von der Mobilisierung der Kämpfenden, ist dazu verurteilt, zu einer "normalen", bürokratischen Gewerkschaft zu werden. Diese Diskussion wurde nicht überall in der gleichen Deutlichkeit und Tiefe geführt, aber beispielsweise in Braunschweig stellten sich die Alternativen auf diese Weise, und ein Großteil der Anwesenden schien recht überzeugt von der Auffassung der Genossen aus der Türkei, d.h. eine Mehrheit neigte dazu, die Möglichkeit der Gründung "revolutionärer" Gewerkschaften abzulehnen. Diese Diskussion über die Gewerkschaftsfrage, von der konkreten Erfahrung des TEKEL-Kampfes ausgehend, scheint uns umso wichtiger und aktueller zu sein, da wir wissen, dass innerhalb des anarcho-syndikalistischen Milieus in Deutschland derzeit teilweise kontrovers darüber diskutiert wird, ob man wie zuletzt von Seiten des Berliner Syndikats der FAU geschehen, um die Anerkennung des Staates als offizielle Gewerkschaft ringen darf (in Berlin geschah dies sogar vor dem bürgerlichen Gericht)? Nicht nur aus marxistisch linkskommunistischer Sicht, sondern auch noch vom Standpunkt des Anarcho-Syndikalismus erscheint dies als Widerspruch in sich.

Eine andere Frage, die an verschiedenen Orten aufgeworfen wurde, war diejenige der Fabrikbesetzung. Weshalb habt ihr nicht die Fabriken besetzt? Warum habt ihr nicht den Betrieb selber übernommen und ohne Chefs weiterproduziert? - Diese Fragen wurden auf dem Hintergrund von gewissen Kämpfen der letzten Jahre in Deutschland, Italien und der Schweiz gestellt, bei denen die Belegschaften vor Betriebsschließungen standen. Bei TEKEL verhielt es sich aber anders, da ja die Fabriken zum Teil nicht geschlossen, sondern privatisiert wurden. Die Produktion wurde in solchen Fällen also unter anderen Chefs weitergeführt. Trotzdem unterstrich der Delegierte der TEKEL-ArbeiterInnen, dass die Stärke des Kampfes gerade darin bestand, dass man sich nicht auf die einzelnen im Land verstreuten TEKEL-Betriebe zurückzog, sondern gemeinsam in Ankara zusammenkam. Nur so mit Tausenden von versammelten ArbeiterInnen konnte das Gefühl der Stärke entstehen, das für diesen Kampf (auch wenn er nicht mit einem materiellen Sieg endete) charakteristisch war.

Was bleibt?

Stehen wir nach dieser Veranstaltungsreihe am gleichen Ort wie vorher? - Wir meinen, in verschiedener Hinsicht Veränderungen festzustellen, die wir hier - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - benennen möchten.

Zunächst einmal verdient die Tatsache erwähnt zu werden, dass für die Rundreise verschiedene Gruppen zum ersten Mal öffentlich zusammengearbeitet haben, insbesondere die anarchosyndikalistische FAU und die linkskommunistische IKS. In unserer Tradition ist die Zusammenarbeit mit internationalistischen Anarchisten zwar schon lange verwurzelt , aber sie ist hier bei einer Gelegenheit neu konkretisiert worden, die für uns nicht zufällig ist. Die hier gemeinsam geleistete Arbeit ist ein Zeichen dafür, dass das Bedürfnis nach Einheit auf proletarischer Grundlage erwacht, ein Bedürfnis in der Arbeiterklasse nach Überwindung eines gewissen Gruppenegoismus. Wir haben uns zwar schon vorher gegenseitig zur Kenntnis genommen und auch bei gewissen Gelegenheiten zusammen diskutiert. Aber eine Zusammenarbeit, wie sie hier im Frühsommer aus konkretem Anlass entstand, ist etwas Neues.

Die Suche nach Einheit in der Arbeiterklasse, nach Überwindung der Spaltungen lag ja von Anfang an der Initiative für die TEKEL-Rundreise zugrunde. Diese Reise hatte den Zweck, die Erfahrungen und Lehren eines Kampfes weit über die lokalen oder nationalen Verhältnisse hinauszutragen. Dabei stand die internationale Dimension im Zentrum. Es ging nicht darum, eine türkische Besonderheit als etwas Exotisches in die Welt hinauszutragen, sondern darum nach Gemeinsamkeiten im internationalen Maßstab zu suchen und darüber zu diskutieren. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Erfahrungen der TEKEL-ArbeiterInnen mit den Gewerkschaften und ihre Reaktionen darauf nicht etwas Isoliertes gewesen sind, sondern eine Tendenz angekündigt haben, die seither immer wieder zum Ausdruck kommt. Während den Kämpfen im Frühjahr in Griechenland stießen die ArbeiterInnen ebenfalls auf die Gewerkschaften und begannen, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. In Frankreich bei den Mobilisierungen gegen die Rentenreform schlossen sich in verschiedenen Städten vor allem Junge zusammen, die zu Vollversammlungen nach den Demos aufriefen, wo gemeinsam darüber diskutiert wurde: Wie können wir unabhängig von den Gewerkschaften kämpfen? Wie können wir die Grenzen in der Arbeiterklasse zwischen den verschiedenen Berufssparten, zwischen Pensionierten und noch Erwerbstätigen, zwischen Arbeitslosen und denjenigen, die noch eine Stelle haben, zwischen fest und prekär Angestellten etc. überwinden? Wofür kämpfen wir? Wie kommen wir dem Ziel einer klassenlosen Gesellschaft näher?

In Italien gab es im Juni und Oktober dieses Jahres zwei Versammlungen von kämpferischen ArbeiterInnen aus ganz Italien in Mailand, so genannte Autoconvocazioni. Daran nahmen gut 100 Leute teil und diskutierten ganz ähnliche Fragen: Wie können die Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse überwunden werden? Wie gegen die Sabotage der Gewerkschaften kämpfen? Wie dieses krisengeschüttelte kapitalistische System überwinden?

Türkei, Griechenland, Frankreich, Italien - vier Beispiele, die zeigen, dass die Arbeiterklasse in Europa seit dem Frühjahr 2010 beginnt, die Schockstarre nach der Finanzkrise von 2008 zu überwinden. Die Klasse insgesamt traut sich noch nicht, den Kampf selber in die Hand zu nehmen, aber Minderheiten in der Klasse stellen sich die genannten Fragen und versuchen voranzugehen. Dass solche Diskussionen gleichzeitig an verschiedenen Orten geführt werden, zeigt, dass es sich um ein grenzüberschreitendes Bedürfnis handelt. Die TEKEL-Rundreise war eine Antwort auf dieses Bedürfnis. Die TEKEL-Delegation hatte das Ziel, die internationale Dimension unserer erst lokalen Kämpfe und Diskussionen aufzuzeigen. Die Solidarität ist das Gefühl, das die Einheit der Arbeiterklasse ausdrückt. Verschiedentlich ist an den Veranstaltungen gefragt worden: "Wie kann der Kampf aus dem Ausland unterstützt werden?" Der TEKEL-Arbeite antwortete: "Indem ihr selber den Kampf aufnehmt".

Die politisierten Minderheiten der ArbeiterInnen beginnen zu spüren, dass der Kampf weltweit ist und als solcher bewusst geführt werden muss. Die Berichte über die Solidarität gegenüber dem TEKEL-Kampf waren eine Inspiration für die Teilnehmenden an den Veranstaltungen, und wir werden die Botschaft auf die eine oder andere Art weitertragen. Die politisierten und kämpferischen Minderheiten in der Klasse sind Katalysatoren für die zukünftigen Kämpfe. Der Kampf bei TEKEL war nicht umsonst, auch wenn die Entlassungen nicht aufgehalten werden konnten.

Aktuelles und Laufendes: 

  • Klassenkampf Türkei [24]
  • Tekel-Kampf [25]

„Bürgerproteste“ in Deutschland - Kampf dem Kapitalismus 21

  • 2807 Aufrufe

In Deutschland geht derzeit ein Spuk herum, der in der politischen Landschaft einigen Wirbel ausgelöst hat – die so genannten Bürgerproteste. Überall gehen Menschen auf die Straße, um gegen den Neubau eines Bahnhofs oder gegen die Flugrouten des neuen Flughafens zu demonstrieren, sammeln Unterschriften und bilden „Bürgerinitiativen“, um Schulreformen oder die Privatisierung kommunaler Einrichtungen zu verhindern, oder laufen Sturm gegen die Installierung von Mobilfunkmasten und Windrädern. Die Protagonisten dieser Proteste kommen, wie die bürgerlichen Medien verblüfft konstatieren, „aus der Mitte der Gesellschaft“. Es handelt sich hier neben vorwiegend gebildeteren Teilen der Arbeiterklasse um überraschend viele Angehörige des Mittelstandes – kurzum: „unbescholtene Bürger“, die Demonstrationen bisher nur aus dem Fernsehen kannten, und keine „Chaoten“. Um so aufgeschreckter wirkt die politische Klasse. Sie wittert großes Ungemach für die „Modernisierung“ Deutschlands, sollten sich die „Verweigerer“ in der Bevölkerung durchsetzen. Was sie aber vor allem entrüstet, ist, dass diese Proteste sich einen Teufel um das Prinzip des politischen Mandats scheren, dem Blankoscheck der parlamentarischen Demokratie, den die Wähler mit ihrem Kreuz in der Wahlkabine gewähren und mit dem die politische Klasse bisher nach Belieben schalten und walten konnte.

Doch was verbirgt sich wirklich hinter den „Bürgerprotesten“? Handeln die Protestierenden schlicht nach dem Sankt-Florian-Prinzip: ‚Zünde das Haus meines Nachbarn an, aber verschone meins‘? Oder ist diese Protestform im Gegenteil gar die endlich gefundene neue Form des „zivilen Ungehorsams“, die im Begriff ist, den „alten“ Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital abzulösen?

„Stuttgart 21“: Die Vernachlässigung des sozialen Aspektes

Der Kampf gegen den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofes steht exemplarisch für einen tiefgreifenden Wandel im Verhältnis der Regierten zu ihren politischen Repräsentanten, der in den letzten Jahren stattgefunden hat. Die Wucht der Weltwirtschaftskrise, deren Höhepunkt keine zwei Jahre zurückliegt, und die Dramatik der ökologischen Katastrophe, die sich schon heute in Klimakatastrophen äußert, haben auch in den großen bisher als unpolitisch geltenden Bevölkerungskreisen erhebliche Zweifel an der Fähigkeit der Herrschenden geweckt, mit den großen und kleinen Krisen dieser Welt fertig zu werden. Immer mehr Menschen – darunter viele, die bisher ihre Stimme den bürgerlichen politischen Parteien anvertraut hatten – dämmert, dass es so, mit den herkömmlichen Mitteln der parlamentarischen Demokratie, nicht mehr weiter geht. Die politische Klasse ist im Begriff, da zu landen, wo sich die Banker und Broker schon seit einiger Zeit befinden – auf dem Tiefpunkt ihres Ansehens in der Bevölkerung.

In diesem Rahmen muss man auch die Mobilisierung der Stuttgarter Bevölkerung gegen den Neubau ihres Hauptbahnhofs betrachten. Die Proteste gegen Stuttgart 21 waren, nachdem sie vor drei Jahren mit nur gering frequentierten „Montagsdemonstrationen“ begonnen hatten, in diesem Sommer zu einer imposanten Bewegung geworden. Auf ihrem Höhepunkt im September und Oktober zogen mehrmals wöchentlich Zehntausende Demonstranten durch Stuttgart, darunter auffällig viele alte Menschen, aber auch ganze Schulklassen, Arbeiter, Angestellte, Hausfrauen, Architekten, Ärzte, Anwälte, Kaufleute und andere Freiberufler. Die meisten dieser Menschen, die so gar nicht dem Bild von „Berufsdemonstranten“ entsprachen, trieb es weniger aus eigennützigen und schon gar nicht aus ideologischen Gründen auf die Straße. Sie einte vielmehr die Empörung über die Informationspolitik des Bahn-Vorstandes und der Landesregierung, aber vor allem über die Megalomanie einer herrschenden Klasse, die einem technisch hochriskanten Projekt bedenkenlos milliardenschwere Nachschläge gewährt (so sind die ursprünglich veranschlagten Kosten von 2,6 Milliarden Euro auf mittlerweile 4,1 Mrd. gestiegen, und Experten schätzen den tatsächlichen Bedarf auf über 10 Mrd. Euro), aber im sozialen und im Bildungsbereich die Ausgaben drastisch kürzt.

In der Gegenüberstellung der Milliardenausgaben für Stuttgart 21 einerseits und den Sparmaßnahmen im sozialen Bereich andererseits steckte durchaus mehr Potenzial, als es den Anschein hatte. Denn in der Tat hätte eine Verknüpfung von Stuttgart 21 mit der sozialen Frage die sowohl örtlich als inhaltlich stark limitierte Bewegung zu einer breiteren Perspektive verholfen. Die ganze Brisanz dieser Bewegung lässt sich erahnen, wenn man sich vor Augen hält, dass sie in einer Region – dem Großraum Stuttgart – stattfand, die mit ihrer gewaltigen Automobilindustrie und der ihr angeschlossenen Zulieferindustrie sowie eine der Industriehochburgen Deutschlands ist (außerdem bildet es eines der Gravitationszentren des deutschen Maschinenbaus), mit Zehntausenden von größtenteils hoch qualifizierten ArbeiterInnen. Und zunächst trug die baden-württembergische Landesregierung, mit dem Haudrauf Mappus an ihrer Spitze, ihr Scherflein dazu bei, um die Bewegung weiter zu radikalisieren. Am 30. September, an jenem Tag, als die Polizei mit brutaler Gewalt den Schlossplatz vor dem Hauptbahnhof räumte und dabei auch erstmals in der Geschichte Stuttgarts Wasserwerfer einsetzte, drohten mehr als nur ein paar alte Bäume gefällt zu werden; auf dem Spiel stand nichts geringeres als ein Teil der Legitimation der politischen Klasse. Die Tür zu einer weiteren, möglicherweise unkontrollierbaren Eskalation des Konflikts stand an jenem Tag ein Stück weit offen.

Dies war der Moment, wo Berlin die Reißleine zog; Mappus‘ Konfrontationskurs wurde gestoppt. Zwar zeigen die herrschenden Kreise in Stuttgart und Berlin sich im Augenblick (noch?) nicht bereit, auch nur einen Millimeter von ihren Plänen abzurücken, doch gelobten sie dafür eine bessere „Kommunikation“ und Informationspolitik: „Jahr für Jahr muss man die Leute mitnehmen und erklären, warum das Projekt notwendig ist. Es ist offensichtlich nicht hundertprozentig gelungen, sonst hätten wir das Problem nicht“, meinte nun auch ein offenbar über Nacht „geläuterter“ Mappus. Flugs wurde ein „Runder Tisch“ eingerichtet, an dem Gegner und Befürworter von Stuttgart 21 platziert wurden, und so erlebte die sog. öffentliche Schlichtung unter der Leitung des alten Fahrensmannes der deutschen Bourgeoisie, Heiner Geißler, ihre Erstaufführung.

Nichts konnte die Protestbewegung effektiver abwürgen als diese öffentliche Huldigung der „direkten Demokratie“. Von nun an ging die Zahl der Demonstrationen und Demonstranten rapide zurück. Das öffentliche Interesse fokussierte sich fast ausschließlich auf die im Internet und Fernsehen live übertragenen „Schlichtungsgespräche“, deren stundenlanges, dröges Gefeilsche um Fahrpläne, technische Details u.ä. wie ein Narkotikum auf die Stuttgarter Protestbewegung wirkten. Und wenn da und dort dennoch Flammen des Protestes emporzüngelten (wie die vorübergehende Besetzung des Südflügels des Hauptbahnhofs von Stuttgart-21-Gegnern), wurden sie von Kretschmer und Konsorten, den Repräsentanten der Gegner von Stuttgart 21 am „Runden Tisch“, umgehend ausgetreten: „Denn es herrscht ja Friedenspflicht, und diese Aktion könnte die Gespräche beeinträchtigen“ (Kretschmer zur dpa).

„Bürgerproteste“ und Klassenkampf

Mit den „Bürgerprotesten“, die mit dem Kampf gegen Stuttgart 21 und den Demonstrationen und Blockaden gegen den diesjährigen Castor-Transport nach Gorleben ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatten, erleben die Klassen übergreifenden Protestbewegungen, die zuletzt in den 70er und 80er Jahren in Deutschland von sich reden gemacht hatten, eine Renaissance. So verdanken die „Bürgerproteste“ ihren Namen der Tatsache, dass die Akteure nicht in ihrer Eigenschaft als Angehöriger einer Klasse auftreten, sondern sozusagen als „Bürger“. Ob in Hamburg, wo unter der ideologischen Führung des Bürgertums per Volksentscheid eine Schulreform der schwarz-grünen Koalition abgeschmettert wurde, oder in Stuttgart, wo gar eine Initiative „Unternehmer gegen Stuttgart 21“ gegründet wurde, oder in Gorleben – die Renitenz von Teilen der Bevölkerung gegen „die da oben“ ist unübersehbar.

Solche Klassen übergreifenden Bewegungen gilt es differenziert zu betrachten. Solche Bewegungen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass die Ausdifferenzierung der Interessen des Proletariats von denen anderer, nicht ausbeutender Schichten der Bevölkerung bzw. des Kleinbürgertums nicht stattfindet. Findet diese Differenzierung statt, so gelingt es dem Proletariat mittels seiner großen Massenkämpfe – wie in der jüngeren und älteren Geschichte stets geschehen-, große Teile des Mittelstandes mitzureißen, sie für seinen Kampf zu mobilisieren.

Jedoch zeichnen sich die jüngsten „Bürgerproteste“ dadurch aus, dass sie in einem Vakuum stattfinden, in einer Phase, in der die Arbeiterklasse zumindest in Deutschland abwesend zu sein scheint. Diejenigen kleinbürgerlichen Kräfte, die sich zu den Hauptprotagonisten solcher Bewegungen aufschwingen, werden von der Empörung angetrieben, dass „die da“ in Berlin Politik „über die Köpfe der Leute hinweg“ machen. Bei aller Kritik an den Parteien und der Regierung kommt von ihnen aber nicht der Hauch einer grundsätzlichen Kritik, geschweige denn einer Ablehnung des Parlamentarismus über die Lippen. Im Gegenteil, der Grundtenor der Forderungen, die diese „Bürgerproteste“ äußerten, ist das Verlangen nach „mehr Mitspracherecht“, nach „Mitgestaltung der Gesellschaft“, ist der Wunsch, dass „den Bürgern Gehör geschenkt“ wird – kurzum: mehr Demokratie in der bürgerlichen Demokratie. Aufgerieben von den beiden großen historischen Klassen, dem Proletariat und der Bourgeoisie, und bar jeder eigenständigen historischen Perspektive, verbleibt der mittelständische Diskurs treu im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft. In dem Verlangen nach „mehr Demokratie“ kommt (unbewusst) sein Wunsch nach Restaurierung jener Zeiten zum Ausdruck, als die Bourgeoisie noch fortschrittlich war und ihr kleiner Bruder, das Kleinbürgertum, noch eine tragende Rolle in den Parlamenten spielte.

Daher ist es nicht überraschend, dass Protestbewegungen wie die gegen Stuttgart 21 und gegen den Castor-Transport zum Tummelplatz der oppositionellen Parteien geworden sind. Insbesondere die Grünen haben von ihnen profitiert. Sie sind zum Hoffnungsträger des frustrierten Mittelstandes geworden, der trotz seines immer lauter werdenden Lamentierens nicht vom Glauben an die bürgerliche Demokratie abkehren will. Seine ganze Militanz, seine ganze ohnmächtige Wut verpufft in einem Akt der „Abstrafung“ der Regierenden an der Wahlurne. Seine Perspektive erschöpft sich darin, die eine Regierungsmannschaft gegen die andere auszutauschen. Seine Alternative lautet: Pest oder Cholera. Aber diejenigen unter den Teilnehmern an solchen inter-klassistischen Bewegungen, welche von der proletarischen Sorge und Zorn um den Zustand der heutigen Welt angetrieben werden, werden nicht dort die Perspektive finden, die sie suchen, sondern im Kampf der Arbeiterklasse, sobald diese die Bühne der Geschichte erkennbar betritt.

Nein, die „Bürgerproteste“, die derzeit für Furore sorgen, können den Klassenkampf zwischen den Ausgebeuteten und ihren Ausbeutern beileibe nicht ersetzen. Es sind nicht die „Bürgerproteste“, die den Klassenkampf obsolet machen; es ist vielmehr das Fehlen des Klassenkampfes, das diese Mobilisierung von Teilen des Mittelstandes erst ermöglicht hat. Wenn hierzulande Bürger- statt Arbeiterproteste die Szenerie beherrschen, dann liegt das u.a. daran, dass es den Herrschenden in Deutschland bisher gelungen ist, den Kern der Arbeiterklasse mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen ruhig zu halten, angefangen vom ausgiebigen Gebrauch der Kurzarbeit, die die befürchteten Massenentlassungen verhindert hat, bis hin zu Sonderzahlungen, mit denen Großunternehmen ihre Beschäftigten nun, da das Geschäft wieder boomt, bei Laune halten.

Ganz anders dagegen die jetzige Lage in Frankreich, wo die Arbeiterklasse wochenlang die Öffentlichkeit mit Streiks, Blockadeaktionen und Massendemonstrationen in Atem hielt (mehr dazu in dieser Ausgabe). Im Unterschied zu Deutschland richteten sich die Proteste in Frankreich nicht gegen den Neubau von Bahnhöfen, die Installierung von Windrädern bzw. Mobilfunkmasten o.ä., sondern gegen die massiven Angriffe der Sarkozy-Regierung gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnen. Anders ausgedrückt: in Frankreich ging es nicht um infrastrukturelle, sondern um existenzielle Fragen – sprich: um die soziale Frage.

Während die Forderungen, die in den „Bürgerprotesten“ erhoben werden, partikularistisch sind, lokal begrenzt bleiben und den Kurs der bürgerlichen Politik (durch das Einziehen zusätzlicher „demokratischer“ Ebenen) allenfalls verzögern, enthalten Kämpfe wie die Protest- und Streikbewegung gegen die Verlängerung der Lebensarbeitszeit in Frankreich gesellschaftliches Dynamit. „Weg mit der Rente mit 67!“: Es sind solche Forderungen, die den Katalysator für proletarische Massenbewegungen bilden; Forderungen, mit denen sich die gesamte Klasse identifizieren kann, weil sie sich auf proletarischem Terrain befinden. Und es sind exakt solcherlei Forderungen, die am Anfang eines Prozesses stehen könnten, an dessen Ende der Albtraum der Bourgeoisie schlechthin wahr werden könnte: dass die Arbeiterklasse sich nicht mehr nur gegen die Bedingungen der Ausbeutung zur Wehr setzt, sondern der Ausbeutung selbst den Kampf ansagt... 19.11.2010

Aktuelles und Laufendes: 

  • Bürgerproteste [26]
  • Stuttgart 21 [27]
  • Proteste gegen Castor-Transporte [28]
  • Proteste Schulreferendum Hamburg [29]

Quell-URL:https://de.internationalism.org/content/2037/weltrevolution-nr-163

Links
[1] https://www.diebuchmacherei.de [2] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/serge/1933/02/infrage.htm [3] https://de.internationalism.org/KomLiRu [4] https://stinas.blogsport.de [5] https://gis.blogsport.de/2010/08/01/die-bolschewistische-linke-und-die-arbeitermacht/ [6] https://www.collectif-smolny.org/article.php3?id_article=1178 [7] https://de.internationalism.org/revue31 [8] https://de.internationalism.org/spanien/38 [9] https://sites.google.com/site/bibliothekdeswiderstandes/ [10] https://www.sinistra.net/lib/upt/comsmo/keru/keruahecad.html [11] https://de.internationalism.org/tag/leute/ante-ciliga [12] https://de.internationalism.org/tag/leute/miasnikow [13] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/stalinistische-gefangenenlager [14] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/rkd [15] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/stalinistische-schauprozesse [16] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/franzosische-kommunistische [17] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/deutsche-wiedervereinigung [18] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/handelskrieg [19] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/wahrungskrieg [20] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/cholera-haiti [21] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/klassenkampf-england [22] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeiterkampf-england [23] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/studentenproteste-england [24] https://de.internationalism.org/tag/6/555/klassenkampf-t-rkei [25] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/tekel-kampf [26] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/burgerproteste [27] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/stuttgart-21 [28] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/proteste-gegen-castor-transporte [29] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/proteste-schulreferendum-hamburg