Am Donnerstag, 11. März um sieben Uhr morgens, erschüttern zwei Bomben ein Arbeiterquartier in Madrid. Ebenso blind wie am 11. September 2001 oder bei den Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg oder in Guernica haben die Bomben des kapitalistischen Kriegs eine Zivilbevölkerung ohne Verteidigungsmöglichkeit getroffen. Die Bomben haben ohne Diskriminierung Männer, Frauen, Kinder, Junge und auch aus „muslimischen“ Ländern Immigrierte getötet, deren Familienangehörige – Gipfel des Elends – in gewissen Fällen aus Angst davor, aufgrund ihres illegalen Aufenthalts verhaftet und ausgewiesen zu werden, nicht einmal wagten, zur Identifikation der Leichen zu kommen.
Es handelt sich gleich wie bei den Angriffen auf die Twin Towers um einen Kriegsakt. Dennoch besteht ein bedeutender Unterschied zwischen den beiden Ereignissen: Im Gegensatz zum 11. September, als das Ziel aus einem grossen Symbol der Macht des amerikanischen Kapitalismus bestand - auch wenn tatsächlich die offensichtliche Absicht existierte zu töten, um den Effekt von Horror und Terror zu verstärken - handelt es sich diesmal in keiner Weise um einen symbolischen Akt, sondern um einen direkten Schlag gegen die Zivilbevölkerung als integralem Bestandteil des Krieges. Beim 11. September handelte es sich um ein Ereignis von weltweiter Tragweite, um ein beispielloses Massaker auf amerikanischem Boden, dessen erste Opfer die Arbeiter und Angestellten der New Yorker Büros waren. Es lieferte dem amerikanischen Staat den Vorwand, den er sich selbst konstruierte, indem er nichts gegen die Vorbereitungen der Attentate, über die er im Bilde war, unternahm, um eine neue Periode in der Entfaltung und im Gebrauch seiner imperialistischen Macht zu eröffnen. Die USA haben laut verkündet, dass sie von nun an in ihrem Krieg gegen den Terrorismus zur Verteidigung ihrer Interessen allein und überall in der Welt zuschlagen würden. Das Attentat vom 11. März ist nicht mit der Eröffnung einer neuen Periode, sondern mit der Banalisierung des Horrors gleichzusetzen. Es handelt sich nicht mehr darum, Ziele mit möglichst hohem Propagandawert, sondern direkt die Arbeiterklasse zu treffen. In den Zügen der Vororte von Atocha verkehrten um sieben Uhr morgens bestimmt keine Chefs oder Mächtige wie in den Luxusbüros der Twin Towers.
Heute gehört es zum guten Ton, die Verbrechen des Nationalsozialismus und Stalinismus zu verurteilen. Aber während dem gesamten Zweiten Weltkrieg haben die demokratischen Mächte die Zivilbevölkerung bombardiert - und hauptsächlich die Arbeiter - mit dem Ziel, Terror zu verbreiten und am Ende des Kriegs mit der Zerstörung ganzer Arbeiterquartiere jegliche Möglichkeit eines proletarischen Aufstands zu unterbinden. Die Tag und Nacht stets umfangreicheren Bombardierungen deutscher Städte am Kriegsende sind eine scharfe Verurteilung der ekelhaften Heuchelei der Regierungserklärungen, die bei anderen anprangern, was sie selber ohne zu zögern ausführen (Irak, Tschetschenien, Kosovo sind nur einige Beispiele der in letzter Zeit ausgetragenen imperialistischen Rivalitäten von denen hauptsächlich die Zivilbevölkerung betroffen ist). Man kann sagen, dass die Attentäter von Madrid gute Schüler waren.1
Entgegen allen Prognosen ist in den auf das Attentat von Atocha folgenden Wahlen die Regierung Aznar geschlagen worden. Die Presse hat den Sieg des Sozialisten Zapatero auf zwei Gründe zurückgeführt: Es haben viel mehr Arbeiter und Junge an den Wahlen teilgenommen und es herrschte eine starke Wut gegen die hinterhältigen Versuche der Regierung Aznar, die die Schuld an den Attentaten der baskischen Terrororganisation ETA in die Schuhe schob, um so der Frage des Irakkriegs auszuweichen.
Wir haben bereits anlässlich des Attentats auf die Twin Towers unterstrichen, wie sich in den Arbeiterquartieren von New York spontane Solidariätsbekundungen und eine Ablehnung der nach Revanche trachtenden Kriegspropaganda ausgedrückt haben2, sie aber nicht autonom waren und diese Reaktionen der Solidarität somit nicht ausreichend waren, um eine Klassenreaktion hervorzurufen. Sie wurden statt dessen in eine pazifistische Bewegung gegen den Irakkrieg umgemünzt. Ebenso kann man sagen, dass mit der Abwahl Aznars viele die Manipulationsversuche der Regierung zurückweisen wollten, wohingegen die Tatsache der Wahlteilnahme bereits einen Sieg für die Bourgeoisie darstellt, denn man teilt so die Idee, dass man gegen den Krieg stimmen könne.
Für die revolutionäre Arbeiterklasse ist es unabdingbar die Realität zu verstehen, wenn sie sie ändern will. Allererste Verantwortung für die Kommunisten ist es also, die Ereignisse zu analysieren, mit allen Kräften Anstrengungen für das Verständnis zu unternehmen, damit das Proletariat in der Lage ist, einen wirklichen Widerstand zu entfalten, der auch auf der Höhe der Gefahren ist, die es bedrohen und die im Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft liegen. Wenn der Terrorakt von Madrid tatsächlich ein Kriegsakt war, handelt es sich gleichwohl um einen neuen Typ von Krieg, wo die Bomben nicht mehr einem bestimmten Land oder einem besonderen imperialistischen Interesse zuzuordnen sind. Die erste Frage, die wir uns also stellen müssen: Wer hat von dem Verbrechen in Atocha profitiert?
Zuerst kann man feststellen, dass das bei der amerikanischen Bourgeoisie bestimmt nicht der Fall war. Auf den ersten Blick könnte das Attentat die zentrale These der amerikanischen Propaganda aufwerten, dass es sich um einen Weltkrieg gegen den Terrorismus handeln würde, in den alle Länder verstrickt wären. Hingegen macht es die Behauptung der Amerikaner vollständig unglaubwürdig, wonach sich die Situation im Irak verbessert habe und die Macht bald an einen irakischen Staat übergeben werden könne. Die Machtübernahme der sozialistischen Fraktion der spanischen Bourgeoisie ist allerdings eine Gefahr für die strategischen Interessen der USA. Wenn Spanien seine Truppen aus dem Irak zurück zieht, so ist das für die USA nicht nur auf militärischer Ebene ein harter Schlag, sondern auch auf politischer, da ihr Anspruch auf eine Führungsrolle in der Koalition der Willigen gegen den Terrorismus beeinträchtigt wird.
Die spanischen Sozialisten sind ein Flügel der Bourgeoisie, der sich immer mehr nach Frankreich und Deutschland ausrichtete und auch die Karte der europäischen Integration spielte. Ihre Regierungseinsetzung hat sofort eine Periode scheinheiliger Machenschaften eröffnet, deren Ausgang man heute noch schwerlich präzis voraussagen kann. Unmittelbar nach seinem Wahlsieg hat Zapatero angekündigt, dass die spanischen Truppen aus dem Irak zurück gezogen würden. Gleich darauf machte er einen Rückzieher und liess verlauten, dass die Truppen unter der Bedingung der Übergabe des Besatzungskommandos an die UNO bleiben würden. Das spanische Lavieren stellt nicht nur die Teilnahme in der amerikanischen Koalition im Irak, sondern auch seine Rolle als trojanisches Pferd in Europa und überhaupt im Spiel der Allianzen in der europäischen Union in Frage. Bisher haben Spanien, Polen und Grossbritannien - jedes Land aufgrund eigener Interessen - gemeinsam eine pro-amerikanische Koalition gegen die französisch-deutschen Ambitionen gebildet, die alle europäischen Länder in Opposition zu den USA bringen wollten. Polen wollte sich mit der Entsendung von Truppen in den Irak das amerikanische Wohlwollen und eine starke Stütze gegen die deutschen Druckversuche für den kritischen Augenblick des Beitritts zur EU erkaufen. Es stellt sich also die Frage (wenn Spanien tatsächlich die amerikanische Koalition verlassen und sich nach Europa und nach einer pro-deutschen Ausrichtung orientieren sollte, was sehr wahrscheinlich ist), ob Polen stark genug sein wird, um ohne die Unterstützung Spaniens den Oppositionskurs gegen Deutschland und Frankreich fortzusetzen. Die letzten privaten Erklärungen des polnischen Premierministers, die auch gleich wieder dementiert wurden, dass sie von den USA um den Finger gewickelt worden seien, lassen darüber gewisse Zweifel aufkommen.
Für die USA ist es also ein harter Schlag. Sie riskieren nicht nur einen Alliierten im Irak zu verlieren, sondern vor allem eine Unterstützung in Europa.3 Mit dem Wegfall von Spanien und Polen droht die Kapazität der USA, den Weltpolizisten zu spielen, nachhaltig geschwächt zu werden.
Wenn die USA und die Fraktion um Aznar die grossen Verlierer des Attentats sind, wer hat dann gewonnen? Es sind offensichtlich Frankreich und Deutschland sowie die pro-sozialistische Fraktion Spaniens, die eher nach Europa ausgerichtet ist. Ist also ein durch zwischengeschaltete Islamisten von französischen und spanischen Geheimdiensten geplanter Schlag vorstellbar?
Beginnen wir mit dem Argument, dass solche Dinge in Demokratien nicht vorkommen. Wir haben bereits4 gezeigt, wie die Geheimdienste gegebenenfalls eine direkte Rolle in den Konflikten und Abrechnungen innerhalb der nationalen Bourgeoisien spielen können. Das Beispiel der Entführung und Ermordung von Aldo Moro in Italien ist diesbezüglich besonders aufschlussreich. Die Ermordung Aldo Moros ist als ein Verbrechen der linksextremen Roten Brigaden präsentiert worden, aber es handelte sich in Tat und Wahrheit um das Werk der italienischen Geheimdienste, die diese Terrorgruppe infiltriert hatten. Aldo Moro ist von der herrschenden pro-amerikanischen Fraktion der italienischen Bourgeoisie getötet worden, weil er vorschlug, die italienische kommunistische Partei (damals von der UdSSR beeinflusst) in die Regierung aufzunehmen.5 Der Versuch der Einflussnahme auf Wahlergebnisse, d.h. auf die Reaktionen eines wichtigen Bevölkerungsteils, durch die Sprengung eines Vorortszugs ist eine Operation von ganz anderer Tragweite als die Ermordung eines Mannes zur Beseitigung eines störenden Elements innerhalb der Bourgeoisie. In einer solchen Situation gibt es zu viele Ungewissheiten. Insbesondere hing das erwartetet Resultat (die Niederlage der Regierung Aznar und ihre Ersetzung durch eine sozialistische Regierung) von der Reaktion der Regierung Aznar selbst ab. Die Wahlanalysten stimmen darin überein, dass die Wahlresultate sehr stark von den unglaubwürdigen und zunehmend verzweifelten Versuchen der Regierung bestimmt wurden, die Verantwortung für die Attentate auf die ETA abzuwälzen. Es wäre auch ein ganz anderes Resultat in Betracht gekommen, wenn Aznar in der Lage gewesen wäre, das Ereignis zu seinen Gunsten auszunutzen, indem er die Wählenden für einen Kampf für die Demokratie und gegen den Terror mobilisiert hätte. Die Risiken einer solchen Operation wären also zu gewichtig gewesen. Wenn man dann noch die Unfähigkeit des französischen Geheimdienstes selbst zur Ausführung einer kleinen Operation (man erinnere sich an die Versenkung des Greenpeace-Schiffs Rainbow Warrior oder an die jämmerliche Aktion zur Befreiung von Ingrid Bettancourt im brasilianischen Dschungel) in Betracht zieht, kann man sich nur schlecht vorstellen, dass die französische Regierung sich eine solche Operation bei einem europäischen „Freund“ erlauben würde.
Wir haben gesagt, dass es sich beim Attentat von Atocha genauso wie bei demjenigen auf die Twin Towers um einen Kriegsakt handeln würde. Aber um was für einen Krieg handelt es sich? In der ersten Periode der Dekadenz des Kapitalismus konnte man die imperialistischen Kriege klar festmachen: In den grossen imperialistischen Schlachten von 1914 und 1939 standen sich die Grossstaaten mit ihrem ganzen nationalen, militärischen und diplomatischen Arsenal gegenüber. In der Periode der grossen imperialistischen Blöcke (1945–1989) trugen die rivalisierenden Blöcke ihre Konflikte auf Nebenschauplätzen aus. Es war damals schon schwieriger, die wirklichen Befehlshaber in diesen Kriegen zu identifizieren, die oft als Auseinandersetzungen um die nationale Befreiung dargestellt wurden. Mit dem Eintritt des Kapitalismus in die Zerfallsphase sind mehrere Tendenzen aufgetaucht, die man heute in den terroristischen Attentaten erkennen kann:
„- die Entwicklung des Terrorismus, der Geiselnahmen als Mittel der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Staaten mit Verletzung aller der ‘Gesetze’, die der Kapitalismus in der Vergangenheit verabschiedet hatte, um diese Konflikte zwischen den Fraktionen der herrschenden Klasse zu ‘regeln’, ...
- die Entfaltung des Nihilismus, das Ansteigen der Zahl der Selbstmorde unter Jugendlichen, der Hoffnungslosigkeit ...
- die Ausbreitung des Drogenkonsums, das heute zu einem Massenphänomen wird, das zu einer weiteren Korruption im Staat und in den Finanzorganismen beiträgt ...
- das Wuchern von Sekten, das Erstarken von religiösen Einstellungen auch in den fortgeschrittenen Ländern, die Verwerfung eines rationellen, zusammenhängenden, aufeinander aufbauenden Denkens ...“ 6
Diese Thesen sind 1990 veröffentlicht worden, zu einer Zeit also, als die Ausführung solcher Attentate (beispielsweise diejenigen in Strassen von Paris 1986/87) von Ländern dritter oder vierter Ordnung wie Syrien, Libanon oder Iran ausgingen: Der Terrorismus war so etwas wie die Atombombe der Armen. Kaum 15 Jahre später sehen wir im Auftauchen des sog. islamistischen Terrorismus ein neues Phänomen: Die Desintegration von ganzen Staaten, das Auftauchen von Kriegsherren, die sich junger Kamikazes bedienen, deren einzige Perspektive im Leben der Tod ist. Der Terrorismus dient dazu, die Interessen dieser Kriegsherren auf dem internationalen Schachfeld voranzubringen.
Wie auch immer die noch im Dunkeln liegenden Details des Attentats von Madrid aussehen mögen, es ist doch offensichtlich, dass es mit den Ereignissen der amerikanischen Besetzung des Iraks zusammenhängt. Man kann sich vorstellen, dass die Ambition des Anstifters des Attentats war, die Bevölkerung des spanischen Kreuzfahrer-Landes für die Teilnahme an der Besetzung des Iraks zu bestrafen. Der Krieg im Irak ist heute aber keineswegs mehr nur mit dem Widerstand einiger unverbesserlicher Anhänger Saddam Husseins gegen die Besetzung zu erklären. Im Gegenteil: Dieser Krieg tritt soeben in eine neue Phase ein. Er wandelt sich in eine Art internationaler Bürgerkrieg. Im Irak finden die Zusammenstösse immer häufiger nicht nur zwischen dem Widerstand und den amerikanischen Truppen statt, sondern zwischen den diversen Kräften der Saddam-Anhänger, der wahabitisch inspirierten Sunniten (zu denen sich auch Ossama bin Laden zählt), den Schiiten, Kurden und Turkmenen. In Pakistan entwickelt sich mit dem Bombenattentat gegen eine schiitische Prozession (mit 40 Toten) und der umfangreichen Militäroperation der pakistanischen Armee in Waziristan an der afghanischen Grenze ein Bürgerkrieg. In Afghanistan können all die Erklärungen über die Festigung der Regierung Karzai nicht darüber hinweg täuschen, dass die Regierung nur Kabul und die nähere Umgebung kontrolliert, und dies auch nur unter grössten Anstrengungen. Der Bürgerkrieg im gesamten Süden des Landes verrichtet weiterhin ein zerstörerisches Werk. In Israel und Palästina verschlechtert sich die Situation mit dem Einsatz von Kindern zum Transport von Bomben durch die Hamas. In Europa flammt der Konflikt zwischen Albanern und Serben in Kosovo wieder auf. Die Kriege in Ex-Jugoslawien sind bei weitem noch nicht beendet, sondern sind vorerst aufgrund der massiven militärischen Präsenz der Besatzungstruppen auf Eis gelegt.
Wir haben es hier nicht mehr mit einem klassischen imperialisitschen krieg zu tun, sondern mit dme allgemeinen Zerfall der Gesellschaft in bewaffnete Banden. Man kann eine Analogie mit dem China an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert machen. Wenn die Phase des Zerfalls des Kapitalismus durch eine Pattsituation im Kräfteverhältnis zwischen den reaktionären Kapitalisten und dem revolutionären Proletariat gekennzeichnet ist, so war die Situation im Reich der Mitte gekennzeichnet von einer Blockade zwischen der herrschenden feudal-absolutistischen Klasse und ihren Mandarinen und dem aufsteigenden Bürgertum, das aber wegen seiner Entwicklung zu schwach war, um das imperiale Regime zu stürzen. So ist das Reich in zahlreiche Gebiete zerfallen, die alle durch einen Kriegsherren beherrscht wurden. Es gab unaufhörlich Konflikte, die auf der Ebene der historischen Entwicklung jeglicher Rationalität entbehrten.
Die Tendenz zur Desintegration der kapitalistischen Gesellschaft hemmt in keiner Weise die Verstärkung des Staatskapitalismus noch befördert sie die Umwandlung des kapitalistischen Staates in einen Beschützer der Gesellschaft. Im Gegensatz zu dem, was uns die herrschende Klasse der entwickelten Länder glauben machen möchte – beispielsweise dadurch, dass sie die spanische Bevölkerung gegen den Terror oder gegen den Krieg an die Urne ruft – sind die Grossmächte keineswegs Bollwerke gegen den Terrorismus oder den sozialen Zerfall. Sie sind die dafür eigentlich Verantwortlichen. Vergessen wir nicht, dass die Achse des Bösen heute – Bin Laden und andere Herren der gleichen Art – gestern noch Kämpfer für die Freiheit gegen das sowjetische Reich des Bösen waren, dass sie vom westlichen Block sowohl finanziert als auch bewaffnet wurden. Und dabei kann man es bei weitem nicht bewenden lassen: In Afghanistan haben sich die USA wenig empfehlenswerter Kriegsherren der Nordallianz und im Irak der kurdischen Peschmerga bedient. Ganz im Gegensatz zu allen Eintrichterungen verstärkt sich der kapitalistische Staat angesichts der kriegerischen Tendenzen und den zentrifugalen Kräften mehr und mehr.
Die imperialistischen Mächte welcher Grössenordnung auch immer zögern niemals, Kriegsherren oder terroristische Banden zu ihrem Vorteil zu gebrauchen.
Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft nimmt aufgrund der globalen Ausdehnung und der weitaus grösseren Dynamik, als sie alle vorausgehenden Gesellschaftsformationen auswiesen, noch schrecklichere Züge als in der Vergangenheit an. Wir unterstreichen hier einen Aspekt: Die Todessehnsucht, die auf der jungen Generation lastet. Le Monde vom 26. März zitiert einen Psychologen im Gaza-Streifen: „Ein Viertel aller jungen Knaben älter als 12 haben nur einen Traum: Sterben als Märtyrer.“ Der Artikel fährt fort: „Der Kamikaze ist in den Strassen von Gaza zu einer respektierten Figur geworden, kleine Kinder binden sich falsche Sprengstoffgürtel um, um die Erwachsenen nachzuahmen.“
1990 haben wir bereits folgendes geschrieben: „Für die Arbeiterklasse ist es von grösster Bedeutung und damit auch für die Revolutionäre in ihren Reihen, dass sie sich von der tödlichen Bedrohung durch den Zerfall für die Gesellschaft bewusst ist ... (Sie) müssen mit aller Energie jegliche Tendenzen innerhalb der Arbeiterklasse bekämpfen, die versuchen, sich über die Wirklichkeit hinwegzutrösten, die Augen vor der ganzen Tragweite der Weltlage zu verschliessen.“7 Dieser Aufruf ist leider weitum unverstanden geblieben oder unter den mageren Kräften der kommunistischen Linken sogar verachtet worden.
Die spanische Bourgeoisie war nicht direkt für die Attentate von Atocha verantwortlich. Jedoch hat sie sich wie ein Geier auf die Kadaver der Proletarier gestürzt. Selbst noch als Leichname haben die Arbeiter so der herrschenden Klasse als Nahrung für die Propagandamaschinerie für die Nation und die Demokratie gedient. Mit der Parole „das vereinte Spanien wird niemals besiegt werden“ hat sich die gesamte Bourgeoisie der durch die Attentate provozierten Gefühle bedient, um die Arbeiter an die Wahlurnen zu drängen, die viele unter anderen Umständen hätten links liegen lassen. Unabhängig von den Resultaten ist die hohe Wahlbeteiligung bereits ein Sieg für die Bourgeoisie, da sie zum Ausdruck bringen, dass ein grosser Teil der spanischen Arbeiter geglaubt hat, dass sie sich dem bürgerlichen Staat zu ihrem Schutz gegen den Terrorismus anvertrauen können und dass sie dafür die demokratische Einheit der spanischen Nation verteidigen müssen.
Schlimmer noch: über die nationale Einheit um die Verteidigung der Demokratie hinaus wollten sich die verschiedenen Fraktionen der spanischen Bourgeoisie der Attentate bedienen, um die Unterstützung der Bevölkerung im allgemeinen und der Arbeiterklasse im besonderen für ihre strategische und imperialistische Ausrichtung zu gewinnen. Mit dem Finger zeigte Aznar auf den baskischen Separatismus als dem Schuldigen, er wollte so das Proletariat für die Stärkung des Polizeistaates gewinnen. Die Sozialisten haben die Verantwortung Aznars für das Engagement an der Seite der USA und die Präsenz von spanischen Truppen im Irak verurteilt und wollten so eine andere strategische Ausrichtung, die Allianz mit dem französisch-deutschen Tandem herbeiführen.
Das Verständnis für die durch den kapitalistischen Zerfall herbeigeführte Situation wird also für das Proletariat um so notwendiger, wenn es seine Unabhängigkeit als politische Klasse angesichts der bürgerlichen Propaganda, die die Proletarier in einfache, vom demokratischen Staat abhängige Bürger umwandelt, wieder finden und verteidigen will.
Mit diesen Wahlen hat die Bourgeoisie einen Sieg errungen, aber sie hat nicht die Wirtschaftskrise beseitigen können. Die heutigen Angriffe bleiben nicht mehr nur auf der Ebene dieses oder jenes Unternehmens, dieses oder jenes Wirtschaftszweigs, sondern sie betreffen das ganze Proletariat. In diesem Sinn bringen die nun in allen europäischen Ländern (und auch in den USA mit dem Verschwinden von Rentenplänen in den Börsenkatastrophen im Stil von Enron) vorgetragenen Angriffe gegen das Rentensystem und die Sozialversicherungen eine neue Situation hervor, auf die die Arbeiterklasse eine Antwort finden muss. Unser Verständnis dieser Situation wird im in dieser Nummer publizierten Bericht über den Klassenkampf dargelegt. Angesicht der Kriegsbarbarei und des sozialen Zerfalls kann und muss sich die Arbeiterklasse auf die Höhe der Gefahr schwingen, nicht nur auf der Ebene der unmittelbaren Verteidigung gegen ökonomische Angriffe, sondern vor allem auf der Ebene des allgemeinen politischen Verständnisses der Todesdrohung gegen die gesamte Menschheit. Rosa Luxemburg äusserte sich diesbezüglich schon 1915: „Der Weltfriede kann weder durch internationale Schiedsgerichte kapitalistischer Diplomaten noch durch diplomatische Abmachungen über ,Abrüstung‘ (...) und dergleichen utopische oder in ihrem Grunde reaktionäre Projekte gesichert werden. Imperialismus, Militarismus und Kriege sind nicht zu beseitigen und nicht einzudämmen, solange die kapitalistischen Klassen unbestritten ihre Klassenherrschaft ausüben. Die einzige Sicherung und die einzige Stütze des Weltfriedens ist der revolutionäre Wille und die politische Aktionsfähigkeit des internationalen Proletariats.“8
Unsere Organisation hat in diesem Sinn einen Aufruf an die anderen revolutionären Organisationen gerichtet. Er erfolgte beim Ausbruch des zweiten Golfkrieges und hatte eine gemeinsame Initiative (Dokumente, öffentliche Versammlungen…) zum Ziel, um „die internationalistischen Standpunkte so weit wie möglich zu verbreiten“:
„Die aktuellen Gruppen der kommunistischen Linken teilen alle diese grundsätzlichen Positionen, trotz der Meinungsverschiedenheiten, die zwischen ihnen bestehen. Die IKS ist sich dieser Unterschiede sehr bewusst und hat nie versucht, sie zu vertuschen. Im Gegenteil, sie hat sich immer bemüht, die Meinungsverschiedenheiten mit den anderen Gruppen in ihrer Presse aufzuzeigen und die Punkte, die sie für verfehlt hält, zu bekämpfen. Vor diesem Hintergrund ist die IKS entsprechend der Haltung der Bolschewiken 1915 in Zimmerwald und der italienischen Fraktion in den 30er-Jahren der Meinung, dass es die Verantwortung der wirklichen Kommunisten ist, der ganzen Arbeiterklasse auf breitestmögliche Art und Weise gegenüber dem imperialistischen Krieg und den bürgerlichen Kampagnen die grundlegenden Positionen des Internationalismus aufzuzeigen. Das bedeutet unserer Ansicht nach, dass die Gruppen der kommunistischen Linken sich nicht mit ihren je eigenen Interventionen in ihrer eigenen Ecke zufrieden geben dürfen, sondern dass sie sich zusammenschliessen müssen, um gemeinsam auszudrücken, was ihre gemeinsame Position ausmacht. Für die IKS hätte eine gemeinsame Intervention der unterschiedlichen Gruppen der kommunistischen Linken eine politische Wirkung in der Arbeiterklasse, die weit über die Summe ihrer Kräfte hinausginge, die – wie wir alle wissen – zurzeit ziemlich eingeschränkt sind. Darum schlägt die IKS den angeschriebenen Gruppen vor, sich zu treffen, um gemeinsam alle möglichen Mittel zu diskutieren, die es der kommunistischen Linke erlauben, geeint für die Verteidigung des Internationalismus zu sprechen, ohne die je eigenen Interventionen der einzelnen Gruppen zu verurteilen oder in Frage zu stellen.“1
Dieser Aufruf wurde an folgende Organisationen verschickt:
- Bureau International pour le Parti Révolutionnaire (BIPR)
- Partito Comunista Internazionale (Il Comunista, Le Prolétaire)
- Partito Comunista Internazionale (Il Partito, genannt „von Florenz“)
- Partito Comunista Internazionale (Il Programma Comunista).
Leider wurde er entweder mit schriftlichen Antworten abgelehnt – von PCI-Le Prolétaire und dem BIPR – oder ignoriert. In unserer Internationalen Revue 32 haben wir die Antworten und unsere Stellungnahme zum Schweigen der anderen Gruppen bereits dargelegt.
Mit dem vorliegenden Artikel verfolgen wir zwei Ziele. Einerseits zeigen wir mit der Analyse der Stellungnahmen der wichtigsten proletarischen Gruppen zum Krieg zu zeigen, dass tatsächlich ein politisches proletarisches Milieu existiert, das sich durch seine Treue zum proletarischen Internationalismus von den verschiedenen linken verbalrevolutionären und von allen offen bürgerlichen Organisationen unterscheidet. Anderseits konzentrieren wir uns auf einige Unterschiede, die zwischen uns und diesen Gruppen bestehen, um zu erklären, dass sie fehlgeleiteten Vorstellungen dieser Gruppen entspringen. Gleichzeitig zeigen wir, dass sie eine gewisse Einheit des Handelns gegenüber der weltweiten Bourgeoisie nicht verunmöglichen. Mehr noch, wir beweisen, dass diese Unterschiede, so schwerwiegend sie auch sein mögen, von diesen Gruppen als Vorwand verwendet werden, um ein solches gemeinsames Handeln abzulehnen.
Es gibt tatsächlich ein politisches proletarisches Milieu, was seine verschiedenen Bestandteile auch immer darüber denken mögen.
In unserem Aufruf an die revolutionären Gruppen haben wir die Kriterien, die unserer Meinung nach trotz der Divergenzen in anderen Fragen eine minimale Basis für die Abgrenzung des revolutionären vom konterrevolutionären Lager ermöglichen, dargestellt:
1. Der imperialistische Krieg ist nicht das Resultat einer „schlechten“ oder „kriminellen“ Politik von dieser oder jener besonderen Regierung oder von diesem oder jenem Sektor der herrschenden Klasse: Es ist der Kapitalismus als Ganzes der für den imperialistischen Krieg verantwortlich ist.
2. In diesem Sinne kann die Haltung des Proletariats und der Kommunisten gegenüber dem Krieg keinesfalls sein, sich dem einen oder anderen Lager anzuschliessen – auch nicht auf „kritische“ Art und Weise: Die amerikanische Offensive gegen den Irak anzuklagen bedeutet konkret überhaupt nicht, diesem Land und seiner Bourgeoisie auch nur die geringste Unterstützung zu bringen.
3. Die einzige Position, die den Interessen des Proletariats entspricht, ist der Kampf gegen den Kapitalismus als Ganzes, also gegen alle Sektoren der Bourgeoisie weltweit, nicht mit der Perspektive eines „friedlichen Kapitalismus“, sondern für den Umsturz dieses Systems und die Errichtung der Herrschaft des Proletariats.
4. Der Pazifismus ist bestenfalls eine kleinbürgerliche Illusion mit der Neigung, das Proletariat von seinem Klassenterrain abzubringen; meistens ist er nur ein von der Bourgeoisie zynisch benutztes Instrument, um die Proletarier zur Verteidigung von „friedlichen“ und „demokratischen“ Sektoren der herrschenden Klasse in den imperialistischen Krieg einzubeziehen. Darum ist die Verteidigung der internationalistischen proletarischen Position nicht von der konzessionslosen Anklage des Pazifismus zu trennen. (ebenda)
Alle Gruppen, an die wir den Aufruf gerichtet hatten, erfüllten, wie wir zeigen werden, mit ihren Stellungnahmen diese minimalen Kriterien.
Der PCI Programma Comunista gibt eine sehr richtige Einschätzung der aktuellen Phase: “Der Todeskampf einer auf der Aufteilung in Klassen beruhenden Produktionsweise ist viel wilder als man es sich vorstellen könnte. Die Geschichte lehrt es uns: während der soziale Unterbau von unaufhörlichen Spannungen und Widersprüchen durchzogen wird, mobilisiert die herrschende Klasse ihre Energien für ein Überleben um jeden Preis - und so spitzen sich die Gegensätze zu, die Tendenz zur Zerstörung nimmt zu, die Konfrontationen auf wirtschaftlicher, politischer und militärischer Ebene vervielfältigen sich. Die gesamte Gesellschaft mit allen Schichten und Klassen wird von einem Fieber erfasst, das sie zerfleischt und jedes Organ befällt.“2
Il Partito von Florenz und Le Prolétaire tragen mit der Feststellung, dass der Krieg nicht von diesem oder jenem , den man als den Bösen bezeichnen kann, ausgelöst wird, sondern aus einer imperialistischen Auseinandersetzung auf weltweiter Ebene entsteht, zur Einschätzung der Lage bei:
– „Die Eurofront – soweit sie auch Widerstand leistet – ist keine Kraft des Friedens, die sich einer kriegerischen Dollarfront widersetzt, sondern ein Lager in der allgemeinen innerimperialistischen Auseinandersetzung, in die sich die Herrschaft des Kapitals stürzt.“3
– „Der Krieg gegen den Irak ist trotz der Ungleichheit der Kräfte kein Kolonialkrieg, sondern in jeder Hinsicht ein imperialistischer Krieg auf beiden Seiten, obwohl der geschlagene Staat kleiner und weniger entwickelt ist, ist er trotzdem ein bourgeoiser Staat und Ausdruck einer kapitalistischen Gesellschaft.“4
– „Das sogenannte Friedenslager, das heisst die imperialistischen Staaten, die den Angriff der USA auf den Irak als schädlich für ihre Interessen hielten, fürchtet sehr, dass die durch ihren schnellen Sieg gestärkten USA sie ihre Opposition teuer bezahlen lassen wird, zuerst durch ihre Verdrängung aus der Region. Die dreckigen imperialistischen Rivalitäten zwischen den Staaten nehmen zu. Die Amerikaner erklären, dass Frankreich und Russland grosszügig auf ihre gigantischen Schuldguthaben gegenüber dem Irak verzichten sollten, während man sich auf der anderen Seite darüber entrüstet, dass die Verträge für den „Wiederaufbau“ des Landes zum Vornherein grossen amerikanischen Unternehmen zugeteilt werden, und dass die Vermarktung des Erdöls in die gleichen Hände fäll Bezüglich dieses berühmten „Wiederaufbaus“ und dem wirtschaftlichen Wohlergehen, das dem irakischen Volk versprochen wurde, genügt es , sich vor Augen zu halten, wie es um den Wiederaufbau Afghanistans und die Situation in Ex-Jugoslawien steht – zwei Regionen in denen die westlichen Truppen noch immer präsent sind – um zu verstehen, dass für die Bourgeoisie auf beiden Seiten des atlantischen Ozeans nur der Wiederaufbau der für eine rentable Produktion notwendigen Infrastruktur zählt, um damit das Wohlergehen der kapitalistischen Unternehmen zu sichern.“5
Diese Positionen lassen also einer kritischen Unterstützung des einen oder des anderen Lagers keinerlei Platz. Ganz im Gegenteil stellen sie für diese Gruppen das eherne Fundament dar für eine Anklage gegen alle diese Länder und politischen Kräfte, die auf verlogene Art und Weise ihre eigenen imperialistischen Pläne hinter der Verteidigung des Friedens verstecken.
So stellt Il Partito fest: „Die angebliche, gemeinsame Verdammung des Krieges (durch die westlichen Länder, adR) ist unbestreitbar zweideutig, weil diese Haltung eine unterschiedliche, ja gegensätzliche Herkunft und Bedeutung für die antagonistischen Klassen hat. Die ,europäische Partei‘, die das Grosskapital und die Hochfinanz von dieser Seite des Atlantiks vertritt, und die heute immer stärker mit den Amerikanern konkurriert und rivalisiert, ist gegen diesen Krieg. Das heisst nicht, dass die Finanzmagnaten persönlich auf die Strasse gehen, um ihre Spruchbänder hochzuhalten, aber sie halten das Kommando über die einflussreichen Medien, die Parteien und die systemtreuen Gewerkschaften sicher in der Hand, um die beeinflussbare öffentliche Meinung nach rechts oder nach links auszurichten. Für das Kapital sind die Kriege manchmal tatsächlich ,notwendig‘, obwohl sie oft ,ungerecht‘ sind. Es ist ausserordentlich leicht, dies zu unterscheiden: Die Kriege, die man gewinnt, sind ,notwendig‘, die ,ungerechten‘ sind die, welche von Anderen gewonnen werden. Zum Beispiel: für die europäischen Kapitalisten, bereit, Jugoslawien auf schreckliche Art unter sich aufzuteilen, waren die Bombardierungen Belgrads (die beinahe schlimmer waren als die heutigen über dem Irak) ,notwendig‘; hingegen die Bombardierungen Bagdads, wo die fetten Ölverträge von der neuen, von den ,Befreiern‘ eingesetzten ,demokratischen Verwaltung‘ annulliert werden und also verloren gehen, sind ,ungerecht‘“.6
Der Programma Comunista schreibt: „Keinen Mann und kein Geldstück für die imperialistischen Kriege: offener Kampf gegen die eigene nationale Bourgeoisie, italienisch oder US-amerikanisch, deutsch oder französisch, serbisch oder irakisch.“7
Il Partito Comunista: „Die französischen und die deutschen Regierungen – unterstützt von Russland und China – sind gegen diesen Krieg, aber nur um ihre eigenen imperialistischen Interessen, die durch die Offensive der USA im Irak und in der ganzen Region bedroht sind, zu verteidigen.“8
Das BIPR: „Der eigentliche Feind der USA (…) ist der Euro, der anfängt, die absolute Vorherrschaft des Dollars auf gefährliche Art zu bedrohen.“9
Aus allen oben stehenden Überlegungen folgt, dass die einzige konsequente Haltung der tödliche Kampf gegen das Kapital, in welchem Gewand sich dieses auch immer zeigt , und die bedingungslose Anklage des Pazifismus ist. Das tun diese Gruppen und vor allem das BIPR:
– “Europa – insbesondere die deutsch-französische Achse – versucht, die militärischen Pläne der Amerikaner zu durchkreuzen, indem es jetzt die Karte des Pazifismus ausspielt, und es hat damit eine ideologische Falle gestellt, in die bereits Viele getappt sind. Aufgrund der Tatsachen wissen wir genau, dass jeder beliebige europäische Staat, wenn er die Notwendigkeit dafür gespürt hat, nicht gezögert hat, seine wirtschaftlichen Interessen mit Waffengewalt geltend zu machen. Heute zeichnet sich in vielen Stellungnahmen der ,Gehorsamsverweigerer‘ bereits ein neuer über-nationaler, europäischer Nationalismus ab. Sogar die Bezugnahme auf ein Europa der Menschenrechte und der sozialen Werte, im Gegensatz zum zugespitzten Individualismus der Amerikaner, ist die Voraussetzung für das zukünftige Einschwenken auf die Ziele der europäischen Bourgeoisie in ihrer entscheidenden Auseinandersetzung mit der amerikanischen Bourgeoisie.“10
– „Ein grosser Teil der ,linken‘ Parlamentarier und ihr verwandter Bewegungen (grosse Bereiche der Anti-Globalisierungs-Bewegung) beruft sich auf ein Europa der Menschenrechte und der sozialen Werte, das dem zugespitzten Individualismus der Amerikaner entgegensteht. Er versucht damit vergessen zu machen, dass das gleiche Europa – bezüglich der ,sozialen Werte‘ – die Renten verkleinert hat und mit Nachdruck neue Einschnitte fordert (die sogenannten ,Reformen‘ der Altersvorsorge); das gleiche Europa hat bereits Millionen Arbeiter entlassen, und übt jetzt Druck aus, um die Kraft der Arbeit auf eine Wegwerfware zu reduzieren
– mit einer fortschreitenden, zerstörerischen Verelendung.“11
Alles Vorangehende zeigt also das Bestehen eines gemeinsamen Lagers, das den Grundsätzen des Proletariats treu ist, das Lager der kommunistischen Linken, und das unabhängig vom Bewusstsein, das die verschiedenen Gruppen, aus denen es sich zusammensetzt, davon haben.
Das verhindert wie gesagt nicht, dass teilweise schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten zwischen der IKS und diesen Gruppen bestehen, wie wir im Folgenden noch genauer sehen werden. Das Problem ist nicht das Bestehen dieser Meinungsverschiedenheiten an sich, sondern dass diese Gruppen sie als Rechtfertigung für ihre Weigerung heranziehen, eine besonders ernste Situation gemeinsam zu beantworten und dass sie gleichzeitig nichts tun, dass diese Fragen in einer ernsthaften, öffentlichen Debatte geklärt werden.
In der Internationalen Revue 32 haben wir den Frontismusvorwurf des Prolétaire und den Idealismusvorwurf des BIPR beantwortet, die damit den angeblich fehlgeleiteten Charakter vieler Analysen der IKS beweisen wollen. Ausser einem in der Nummer 466 des Prolétaire erschienen Artikel haben wir keine Antwort darauf bekommen. Für diese Organisation rechtfertigt die Absicht, die Uneinigkeit, die uns in der Frage des revolutionären Defätismus entzweit, zu überwinden, vollständig die Kritik des Frontismus, die sie bezüglich unseres Aufrufes zu einer gemeinsamen Aktion an uns richtet.
Wir müssen also angesichts dieses Artikels des Prolétaire auf die Frage des revolutionären Defätismus zurückkommen. Der Prolétaire-Artikel enthält ein neues Element, auf das wir uns im Folgenden konzentrieren:
„Es ist unwahr, dass die Organisationen, die in diese Kategorie eingestuft werden, sich im Grunde im Wesentlichen einig sind, dass sie eine gemeinsame Position teilen, nicht einmal nur in der Frage des Krieges und des Internationalismus. Im Gegenteil widersprechen sie sich in politischen und programmatischen Fragen, die in Zukunft lebenswichtig für den proletarischen Kampf und für die Revolution sein werden, genauso wie sie sich bereits heute widersprechen, was die Ausrichtungen und Handlungsanweisungen angeht, die den wenigen Kräften, die Klassenpositionen suchen, zu geben sind. Besonders in der Frage des Krieges haben wir das Schwergewicht auf den Begriff des revolutionären Defätismus gelegt, weil dieser seit Lenin die kommunistische Haltung in den imperialistischen Kriegen kennzeichnet. Die IKS hingegen stellt sich gegen den revolutionären Defätismus. Wie sollte es also möglich sein, zusammen eine gemeinsame Haltung auszudrücken, die im Grunde genommen, wenn man nur ein wenig an der Oberfläche kratzt, wenn man über die schönen und grossen Sprüche über den Sturz des Kapitalismus und die Diktatur des Proletariats hinweggeht, gar nicht besteht? Eine gemeinsame Aktion wäre nur mit der Einwilligung möglich, unvereinbare Widersprüche auszuradieren oder abzumildern, das heisst, sie vor den Augen der Proletarier, an die man sich richten will, zu verstecken - nur mit der Einwilligung, den Aktivisten aus anderen Ländern, die man erreichen will, ein falsches Bild einer ,kommunistischen Linken‘, die sich im Wesentlichen einig ist, zu zeigen, das heisst, sie zu täuschen. Seine Positionen zu tarnen – auf das laufen die Einigungsvorschläge, in der Hoffnung, einen unmittelbaren oder zufälligen Erfolg zu erzielen, nämlich gewollt oder ungewollt hinaus , ist das nicht die klassische Definition des Opportunismus?“12 (Unterstreichungen im Original)
Die PCI stellt sich gegenüber unserem Einwand beharrlich taub, dass „über ,Frontismus‘ zu reden ... nicht nur dazu bei(-trägt), die Meinungsverschiedenheiten zu klären, es ist auch insoweit ein Faktor der Konfusion, als es die realen Divergenzen, die Klassengrenzen, die die Internationalisten von der gesamten Bourgeoisie, von den Rechtsradikalen bis hin zu den Linksextremisten, trennt, auf eine Stufe mit den Meinungsverschiedenheiten unter Internationalisten stellt.“ (Internationalen Revue 32)
Aus Unwissenheit (das heisst aus Schludrigkeit in der Kritik von politischen Positionen, was kein kleiner Mangel für eine revolutionäre Organisation ist) oder vielleicht aus dem Bedürfnis nach einer einfachen Polemik, fasst die PCI auch die Haltung der IKS zur Frage des revolutionären Defätismus nicht zusammen. Sie beschränkt sich auf die Feststellung, dass „die IKS gegen den revolutionären Defätismus“ sei, und lässt so das Feld für jegliche Interpretation unser Haltung offen, darin inbegriffen – warum auch nicht – dass die IKS im Falle eines Angriffs anderer Länder für die „Verteidigung des Vaterlandes“ wäre. Wir rufen hier also unsere Position zu dieser Frage in Erinnerung, die wir bereits in der Zeit des ersten Golfkrieges entwickelt hatten. Im Artikel „ Das proletarische politische Milieu im Angesicht des Golfkrieges“ von 1991 befürworten wir das Folgende: “Dieser Begriff wurde von Lenin während dem Ersten Weltkrieg geprägt. Er entsprach dem Willen, die Winkelzüge der ,Zentristen‘ anzuprangern, welche, obwohl sie ,im Prinzip‘ einverstanden waren, jede Beteiligung an dem imperialistischen Krieg zurückzuweisen, es befürworteten zu warten, bis die Arbeiter der ,feindlichen‘ Länder bereit waren, den Kampf gegen den Krieg aufzunehmen, bevor sie die Arbeiter ,ihrer eigenen‘ Länder dazu aufriefen. Um diese Haltung zu untermauern argumentierten sie, wenn die Arbeiter eines Landes denen der feindlichen Länder zuvorkämen, begünstigten sie deren Sieg im imperialistischen Krieg. Lenin entgegnete sehr richtig auf diesen bedingten ,Internationalismus‘, dass die Arbeiterklasse eines Landes keine gemeinsamen Interessen mit der Bourgeoisie ,ihres‘ Landes hat, und er unterstrich besonders, dass die Niederlage dieser Bourgeoisie den Kampf der Arbeiterklasse nur begünstigen konnte, wie man es bereits am Beispiel der Pariser Kommune (die aus der Niederlage gegen Preussen hervorging) und am Beispiel der Revolution von 1905 in Russland (das im Krieg gegen Japan geschlagen worden war) gesehen hatte. Aus dieser Feststellung zog er den Schluss, dass jedes Proletariat die Niederlage ,seiner‘ eigenen Bourgeoisie ,wünschen‘ musste. Dieser letzte Standpunkt war bereits damals falsch, weil er die Revolutionäre jedes Landes dazu verleitete, für ,ihr‘ Proletariat die günstigsten Bedingungen für die proletarische Revolution zu behaupten, obwohl die Revolution weltweit – und zuerst in den entwickelten Ländern (die alle am Krieg beteiligt waren) – hätte stattfinden müssen. Trotzdem hat die Schwäche dieser Position bei Lenin nie zu einer Infragestellung des unnachgiebigsten Internationalismus geführt (es ist sogar diese Unnachgiebigkeit, die ihn zu einer solchen ,Entgleisung‘ verleitete). Es wäre Lenin niemals in den Sinn gekommen, die Bourgeoisie des ,feindlichen‘ Landes zu unterstützen, obwohl sich eine solche Haltung logischerweise aus seinen ,Wünschen‘ hätte ableiten können. Diese unstimmige Position wurde im Gegensatz dazu mehrmals von bürgerlichen Parteien mit ,kommunistischer‘ Färbung benutzt, um ihre Teilnahme am imperialistischen Krieg zu begründen. So haben zum Beispiel die französischen Stalinisten nach der Besiegelung des deutsch-russischen Paktes von 1939 plötzlich die Tugenden des ,proletarischen Internationalismus‘ und ,revolutionären Defätismus‘ wiederentdeckt – Tugenden, die sie seit langem vergessen hatten, und die sie mit der gleichen Geschwindigkeit wieder verdrängten, als Deutschland 1941 den Krieg gegen die Sowjetunion eröffnete. Den gleichen „revolutionären Defätismus“ konnten die italienischen Stalinisten nutzen, um nach 1941 ihre Politik an der Spitze des ,Widerstandes‘ gegen Mussolini zu begründen. Heute rechtfertigen die Trotzkisten der Länder (und sie sind zahlreich), die in den Kampf gegen Saddam Hussein verwickelt sind, ihre Unterstützung des Letzteren im Namen des gleichen ,revolutionären Defätismus‘“.13
Es ist also nicht das Unterfangen der IKS, das fraglich ist, sondern dieses seiner Kritiker, die die Lehren der Arbeiterbewegung aus der ersten weltweiten revolutionären Welle von 1917–1923 nicht gezogen haben.
Kann man nach dieser Klarstellung der Frage des revolutionären Defätismus weiterhin der Ansicht sein, die von uns aufgezeigten Meinungsverschiedenheiten stellten ein Hindernis dar für eine gemeinsame Antwort der verschiedenen Gruppen auf den Krieg? Trotz der Irrtümer der Gruppen, an die wir unseren Aufruf gerichtet hatten, denken wir, dass ihre internationalistische Ausrichtung nicht in Frage gestellt ist. Diese Gruppen, die den revolutionären Defätismus verteidigen, sind tatsächlich nicht gleich wie die stalinistischen und trotzkistischen Verräter, die die Unklarheit des Begriffes von Lenin für die Rechtfertigung des Krieges verwenden. Es handelt sich um proletarische politische Gruppen, die aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage waren, bezüglich einiger Fragen der Arbeiterbewegung „Nägel mit Köpfen zu machen“.
Erinnern wir uns daran, dass das BIPR der Ansicht ist, dass die Unterschiede zur IKS für eine gemeinsame Antwort auf die Frage des Krieges zu gross sind.
Der folgende Ausschnitt aus einem Flugblatt von Battaglia Comunista, einer der beiden Gruppen des BIPR, drückt trotzdem eine grundsätzliche Übereinstimmung in der Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat aus – genau die Frage, in der gemäss BIPR die Standpunkte so weit entfernt sind:
„Unter einigen Gesichtspunkten ist es für den Krieg nicht mehr notwendig, die Arbeiterklasse für die Fronten anzuwerben: es genügt, dass sie zu Hause bleibt, in den Fabriken und in den Bureaus, um für den Krieg zu arbeiten. Das Problem stellt sich dann, wenn diese Klasse anfängt, sich zu weigern für den Krieg zu arbeiten, und damit sofort ein ernstes Hindernis für die Entwicklung des Krieges selber wird. Das – und nicht die noch so grossen Kundgebungen der pazifistischen Staatsbürger und noch weniger die Mahnwachen mit den Predigten des Papstes – ist eine Bremse für den Krieg: das kann den Krieg beenden.“14 (Unterstreichung im Original)
Dieser Ausschnitt drückt die richtige Idee aus, dass Krieg und Klassenkampf nicht zwei unabhängige Variablen, sondern Gegensätze sind: je mehr das Proletariat der Bourgeoisie auf den Leim geht, desto freiere Hand hat sie, ihre Kriege zu führen; je mehr diese Klasse sich weigert, für den Krieg zu arbeiten, desto stärker wird sie „sofort ein ernstes Hindernis für die Entwicklung des Krieges selber“. So wie diese Idee hier in den Worten von Battaglia Comunista15 ausgedrückt wird, ist sie jener, die unserem Begriff vom historischen Kurs unterlegt ist, sehr ähnlich. Der historische Kurs als geschichtliches Resultat der zwei oben aufgezeigten Entwicklungslogiken: die dauernde Neigung des Kapitalismus zum Krieg, und die geschichtliche Neigung der ungeschlagenen Arbeiterklasse, die entscheidende Auseinandersetzung mit der feindlichen Klasse zu suchen. Battaglia dagegen hat die Gültigkeit dieser Position immer bestritten, indem sie uns des Idealismus bezichtigte. Auf diesen und auf andere Punkte, in denen Battaglia uns vorwirft, die aktuelle Situation nicht zu verstehen und uns in unseren „Idealismus“ zu flüchten, haben wir ausführlich in vielen Artikeln und zahlreichen Polemiken geantwortet.16
Von einer Organisation, die sich in der Einschätzung der Meinungsverschiedenheiten mit der IKS derart kleinlich zeigt, könnte man eine ähnliche Haltung gegenüber allen anderen Gruppen erwarten. Dem ist ganz und gar nicht so.
Wir beziehen uns hier auf die Haltung des BIPR, wie sie sich bei seiner Sympathisantengruppe, die sie im nordamerikanischen Raum vertritt, der Internationalist Workers Group (IWG) (mit der Publikation Internationalist Notes), zeigt. Diese Gruppe ist zusammen mit Anarchisten aufgetreten und hat eine gemeinsame öffentliche Veranstaltung mit Red and Black Notes und mit der Ontario Coalition Against Poverty (OCP), die eine typische linke, aktivistische Gruppe zu sein scheint, abgehalten. Die IWG hat kürzlich eine solidarische Stellungnahme mit inhaftierten „Genossen“ der OCP, die wegen Vandalismus während den letzten Kundgebungen gegen den Krieg in Toronto verhaftet worden waren, veröffentlicht. Sie hat auch eine öffentliche Versammlung zusammen mit „anarcho-kommunistischen Genossen“ in Québec abgehalten.
Obwohl wir von der Notwendigkeit überzeugt sind, in den Debatten der politischen Gruppen, die zwischen revolutionären und bürgerlichen Haltungen schwanken, anwesend zu sein, um dort den Einfluss der kommunistischen Linken geltend zu machen, brachte uns – und das ist noch milde ausgedrückt – die hier angewendete „Methode“ aus der Fassung. Diese weist eine Grosszügigkeit auf, die in vollständigem Widerspruch steht zur harten Strenge, die das europäische BIPR zeigt. Diesen methodischen und also prinzipiellen Unterschied eingedenk, meinten wir, auch an die IWG den Aufruf für ein gemeinsames Vorgehen richten zu müssen. Dies machten wir mit einem Schreiben, das unter anderem das Folgende aussagte:
„Wenn wir es richtig verstehen, beruht die Absage des BIPR vor allem auf die aus Sicht des BIPR zu grossen Unterschiede zwischen unseren Grundsätzen. Wir zitieren den Brief, den wir vom BIPR erhalten haben: ,Eine gemeinsame Aktion gegen den Krieg oder zu jedem anderen Problem kann nur ins Auge gefasst werden zwischen genau definierten und politisch unzweideutig identifizierten Partnern, die jene Grundsätze teilen, die wir für grundlegend halten.‘“
Wir haben währenddessen von der Internetseite des BIPR und auch aus anderer Quelle (letzte Nummer der Internationalist Notes und Flugblätter von Red&Black) erfahren, dass Internationalist Notes in Kanada eine gemeinsame Versammlung mit Anarcho-Kommunisten in Québec und mit libertären Rätekommunisten und Anti-Armuts-Aktivisten in Toronto abgehalten hat. Es ist offensichtlich, dass die Unterschiede in einigen Fragen zwischen IKS und BIPR unbedeutend sind im Vergleich zu den Gegensätzen zwischen der kommunistischen Linken einerseits und anderseits den Anarchisten (auch wenn sie dem Anarchismus das Wort „kommunistisch“ aufkleben), und die Aktivisten gegen die Armut scheinen auf ihrer Internetseite nicht einmal eine antikapitalistische Haltung einzunehmen. Auf dieser Grundlage können wir nur schlussfolgern, dass das BIPR zwei unterschiedliche Strategien bezüglich seiner Intervention zum Krieg hat: eine auf dem nordamerikanischen Kontinent – und eine andere in Europa. Die Gründe des BIPR, eine gemeinsame Aktion mit der IKS in Europa abzulehnen, sind offensichtlich in Kanada und Amerika nicht gegeben.
Wir richten darum dieses Schreiben ausdrücklich an Internationalist Notes als Vertreter des BIPR in Nordamerika, um den Vorschlag, den wir dem gesamten BIPR schon unterbreitet hatten, noch einmal aufzunehmen.“17
Wir haben nie eine Antwort auf diesen Brief erhalten, was an sich schon ein Vorgehen bedeutet, das der revolutionären kommunistischen Politik fremd ist. Ein Vorgehen, das eine politische Stellungnahme nur den eigenen Launen und dem Weg des geringsten Widerstandes überlässt.18 Dass wir keine Antwort erhalten haben, ist sicher kein Zufall, sondern der Tatsache zu verdanken, dass eine glaubwürdige Antwort ohne Selbstkritik nicht möglich gewesen wäre. Überdies ist die Politik des IWG in Nordamerika sicher nicht eine Eigenart der amerikanischen Genossen, sondern zeigt das typische Gesicht des BIPR, das Sektierertum und Opportunismus vereinigt: Sektierertum in den Beziehungen mit der kommunistischen Linken, und Opportunismus mit allen Anderen.19
Allgemeiner verstanden liegt der Grund für die Ablehnung unseres Aufrufes nicht in den tatsächlich bestehenden Unterschieden zwischen unseren Organisationen, sondern eher in einem ebenso sektiererischen wie opportunistischen Willen, von einander getrennt zu bleiben, um in seiner Ecke seine politische Tätigkeit ruhig fortzusetzen, ohne Gefahr zu laufen, kritisiert zu werden, oder mit den unermüdlichen „Hinterfragern“ und „Störenfrieden“ der IKS zu tun zu haben.
Eine solche Haltung dieser Gruppen ist weder zufällig noch neuartig. Sie erinnert an die der niedergehenden 3. Internationale, die sich der kommunistischen Linken verschloss – das heisst der klarsten und entschlossensten Strömung in der Definition der revolutionären Positionen – und sich gleichzeitig breit der Rechten „öffnete“ mit ihrer Fusionspolitik gegenüber den zentristischen Bewegungen ( die „Terzini“ in Italien, die USPD in Deutschland) und der „Einheitsfront“ mit der Sozialdemokratie, der Verräterin und Henkerin der Revolution. Internationalisme, Organ der kommunistischen Linken in Frankreich (Vorläuferin der IKS), bezieht sich auf diese opportunistische Haltung der kommunistischen Internationalen, als es in den 40er-Jahren die 1942 auf einer opportunistischen Basis erfolgte Gründung der internationalistischen kommunistischen Partei Italiens, gemeinsame Vorgängerin aller bordigistischen kommunistischen Parteien Italiens und von Battaglia Comunista, kritisierte: „Es ist nicht im Mindesten überraschend, dass wir heute, 23 Jahre nach der Diskussion zwischen Lenin und Bordiga anlässlich und über die Gründung der Kommunistischen Partei Italiens, Zeuge der Wiederholung des gleichen Fehlers werden. Die Methode der kommunistischen Internationale, die so wütend von der Fraktion der Linken (von Bordiga) bekämpft wurde, und deren Auswirkungen katastrophal für das Proletariat waren, wird heute von der Fraktion selber für den Aufbau der kommunistischen Partei Italiens verwendet.“20
In den 30er-Jahren nahmen die Trotzkisten die gleiche opportunistische Haltung namentlich gegenüber der italienischen Linken ein.21 Und als es wegen der Gründung der PCInt einen Bruch innerhalb dieser italienischen Linken gab, erinnerte die Haltung der neuen Partei gegenüber der kommunistischen Linken Frankreichs an die Haltung der Trotzkisten. Obwohl man zu dieser Zeit im Gegensatz zum Trotzkismus und zur kommunistischen Internationalen nicht von einer Entartung der neu gegründeten PCInt sprechen konnte, und wenn man auch heute nicht von einer Entartung des BIPR oder des PCI sprechen kann, so bleibt trotzdem die Gründung der PCInt ein Schritt zurück im Vergleich zu der Aktivität und dem Niveau der Aufklärung durch die Fraktion der italienischen Linken (mit ihrer Zeitschrift Bilan) in den 30-er Jahren. Internationalisme kritisierte diesen Opportunismus mit folgenden Worten:
– „Genossen, es gibt zwei Methoden der Umgruppierung: es gibt die des ersten Kongresses der kommunistischen Internationalen, der allen Gruppen und Parteien, die sich kommunistisch nannten, einlud, um ihre Positionen zu konfrontieren. Und es gibt jene von Trotzki, der 1931 die internationale Opposition und das Sekretariat „umorganisierte“ , indem er vorher sorgfältig und ohne Erläuterung die italienische Fraktion und andere Gruppen, die vorher dazu gehört hatten, ausschaltete (die alten Genossen werden sich an ein Protestschreiben, das die italienische Fraktion an alle Sektionen der internationalen Opposition verschickte, erinnern, in dem dieses willkürliche und bürokratische Vorgehen Trotzkis gebrandmarkt wurde)“.22
– „Der PCI wurde in den fiebrigen Wochen 1943 gegründet. Man liess nicht nur die positive Arbeit, die die italienische Fraktion in dem langen Zeitraum von 1927–1944 geleistet hatte, beiseite, sondern in etlichen Punkten war die Position der neuen Partei hinter diejenige der nicht-parlamentarischen Fraktion Bordigas von 1921 zurückgefallen. Namentlich in der Frage der Einheitsfrontpolitik, wo im Rahmen von lokalen Kundgebungen den stalinistischen Parteien Vorschläge zur Bildung einer Einheitsfront gemacht wurden, namentlich bezüglich der Beteiligung an Gemeinde- und Parlamentswahlen, wo die alte Position der Enthaltung aufgegeben wurde, namentlich bezüglich des Antifaschismus, wo die Türen der Partei den Mitgliedern des Widerstandes weit geöffnet wurden, um nicht nur von der Gewerkschaftsfrage zu reden, in der die Partei völlig die alte Haltung der kommunistischen Internationalen Aufnahm, also die Haltung der Fraktion, die innerhalb der Gewerkschaften für die Eroberung dieser Gewerkschaften kämpft, und ging sogar noch weiter auf diesem Weg für die Bildung von gewerkschaftlichen Minderheiten (Die Position und die Politik der revolutionären gewerkschaftlichen Opposition. Mit einem Wort, unter dem Namen der Partei der internationalen kommunistischen Linken haben wir ein italienisches Gebilde von klassischem trotzkistischen Zuschnitt ohne die Verteidigung der UdSSR. Gleiche Bekanntmachung der Partei unabhängig vom reaktionären Kurs, gleiche opportunistische Praxispolitik, gleiche unfruchtbare Massenagitation, gleiches Misstrauen gegenüber der Theoriediskussion und der Auseinandersetzung der Ideen, sei es innerhalb der Partei oder mit den anderen revolutionären Gruppen.“23
Battaglia Comunista trägt also noch heute das Markenzeichen des ursprünglichen Opportunismus. Wie wir es oben bereits gesagt haben, glauben wir trotzdem an die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer Debatte zwischen den verschiedenen Angehörigen des revolutionären Lagers, und wir geben sicher wegen einer Zurückweisung nicht auf, so unverantwortlich diese auch sein mag.
Ezechiele (Dezember 2003)
Der Erfolg des Europäischen Sozialforums (ESF) im letzten November in Paris zeigt deutlich, wie die „andere Globalisierung“1 während dem letzten Jahrzehnt Fuss fassen konnte. Nach einer zögerlichen Anlaufszeit mit einer eng begrenzten Anhängerschaft (die Bewegung zog sogleich weltumspannend „Denker“ und Akademiker an und war in dieser Hinsicht begrenzter als bezüglich der geographischen Ausdehnung) wies die Bewegung bald alle Merkmale einer ideologischen Strömung im traditionellen Sinn auf: ein populärer Ruf dank den radikalen Demonstrationen in Seattle 1999 während dem Gipfeltreffen der Welthandelsorganisation (WTO), dann die Medienstars, allen voran unstreitbar José Bové, und schlussendlich die unmisslichen Events: das Weltsozialforum (WSF), welches in Porto Alegre (Brasilien) stattfand und eine Alternative zum Davoser Forum, dem Treffen der weltwirtschaftlichen Drahtzieher, darstellen soll. Porto Alegre sollte zum Symbol der Bürger-Selbstverwaltung werden; hier fanden die ersten drei Treffen des WSF (2001, 2002 und 2003) statt.
Seither stieg diese Welle weiter an: Während das WSF neue Kontinente erobert und im Januar 2004 in Indien stattfand, spriessen Abkömmlinge auf regionaler Ebene (das Europäische Sozialforum ist nur ein Ausdruck davon, weitere finden wir zum Beispiel in Afrika). Die Instrumente dieser Bewegung, Zeitungen und Zeitschriften, Meetings und Demonstrationen, erfahren einen atemberaubenden Aufschwung. Wer sich heute mit gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzt, sieht sich zwangsläufig mit einer Ideenflut der „anderen Globalisierung“ konfrontiert.
Dieser rasche Aufschwung wirft eine Reihe von Fragen auf: Woher kommt das hohe Tempo, die Mächtigkeit und die grosse Ausdehnungskraft dieser Bewegung? Und: warum gerade jetzt?
Für die Anhänger der „anderen Globalisierung“ ist die Antwort einfach: ihre Bewegung ist derart erfolgreich, weil sie wirkliche Lösungen für die Probleme der Menschheit aufzeigt. Nach dem oben gesagten bleiben uns die Anhänger der „anderen Globalisierung“ noch die Antwort auf eine weitere Frage schuldig: weshalb schenken die Medien (selbst weitgehend unter Kontrolle der von ihnen jäh verpönten „transnationalen Unternehmen“) den Worten und Taten dieser Bewegung so viel Aufmerksamkeit?
Tatsächlich drückt der Erfolg der „anderen Globalisierung“ eine reale Notwendigkeit aus und dient realen Interessen. Die Frage ist nur, wer hat diese Bewegung nötig und welchen Interessen dient sie? Dient sie, ihrem eigenen Anspruch zufolge, den Interessen unterdrückter Bevölkerungsgruppen (arme Bauern, Frauen, Pensionäre, Arbeiter, „Aussätzige“ etc.) oder vielmehr der herrschenden Gesellschaftsordnung, von der sie ja gefördert und finanziert wird?
Um diese Fragen zu beantworten, untersucht man am Besten die gegenwärtigen ideologischen Bedürfnisse der bürgerlichen Klasse. Fakt ist, dass die herrschende Klasse nach dem besten Mittel sucht, um dem Bewusstseinsprozess des Proletariats einen entschiedenen Rückschlag zu versetzen.
Als erstes Muss die Wirtschaftskrise betrachtet werden. Seit ihren Anfängen Ende der 60er-Jahre, ist sie nun so weit fortgeschritten, dass sich die Bourgeoisie diesbezüglich zu einer relativ realistischen Sprache gezwungen sieht.
Der schamlose Trug, wonach die zweistelligen Wachstumsraten der asiatischen „Drachen“ (Südkorea, Taiwan, etc.) die Prosperität des Kapitalismus in der dem Zusammenbruch des Ostblocks folgenden Periode zeigen sollen, ist nicht länger haltbar. Denn die „Drachen“ speien kein Feuer mehr. Auch die „Tiger“ (Indonesien, Thailand, etc.), die den selben Weg hätten einschlagen sollen, brüllen nicht mehr, sondern betteln um die Gnade ihrer Kreditoren. Der nächste Trug war der, welcher an die Stelle der „aufstrebenden Länder“ die „aufstrebende New Economy“ setzte. Er hielt noch weniger lang an: das Wertgesetz holte die „New Economy“ bald von den spekulativen Höhenflügen herunter und stürzte manches Unternehmen ins Verderben.
Den „Kontext der Rezession“ lasten sich die nationalen Bourgeoisien gegenseitig an. Mit dieser Beschönigung aber kann die Verschärfung der ökonomischen Krise im Herzen des Kapitalismus kaum verschleiert werden. Gleichzeitig wird uns endlos gesagt, wir müssten „einen Effort leisten“, den „Gürtel enger schnallen“, um die Wirtschaft wieder auf einen Wachstumspfad zu bringen. Ein solches Gerede wird aber niemals die Angriffe der Bourgeoisie auf die Arbeiterklasse gänzlich verschleiern können. Die sich verschärfende Krise verlangt nach immer härteren und ausgedehnteren Angriffen, die zudem mehr denn je simultan sein müssen, um die Interessen der Herrschenden bewahren zu können.
Solche Attacken provozieren zwangsläufig Reaktionen in der Arbeiterklasse, die sich zwar je nach Land und Zeit unterscheiden, aber in ihrer Gesamtheit zur Entwicklung des Klassenkampfes führen. Für Elemente der Arbeiterklasse kann eine solche Situation der Funke sein, der das Klassenbewusstsein entfacht. Wenn auch die derzeitige Entwicklung des Klassenbewusstseins nicht spektakulär ist, so taucht nichtsdestotrotz heute im Proletariat eine Reihe von Fragen auf, etwa über die wahren Gründe hinter den Angriffen der bürgerlichen Klasse, über die tatsächliche Situation der Wirtschaftskrise, aber auch über die wirklichen Ursachen der in der ganzen Welt andauernd ausbrechenden Kriege. Es wird auch die Frage gestellt, wie diese Katastrophen wirksam bekämpft werden können. Jedenfalls können sie nicht länger einfach der „menschlichen Natur“ angehängt werden.
Derartige Fragen stecken noch in ihren Anfängen und stellen noch lange keine Gefahr für die politische Herrschaft des Kapitalismus dar. Nichtsdestotrotz: heute schon Muss sich die herrschende Klasse mit ihnen auseinandersetzen und nach Wegen suchen, sie im Keime zu ersticken. Hierin zeigt sich das Hauptanliegen des ideologischen Apparats der „anderen Globalisierung“: eine Reaktion der herrschenden Klasse gegen die Anfänge einer Bewusstseinsentwicklung in der Arbeiterklasse. Erinnern wir uns an das zentrale, endlos wiederholte Thema nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der sogenannten sozialistischen Länder: „Der Kommunismus ist tot, lang lebe der Liberalismus! Die Konfrontation zwischen den zwei Welten ist vorbei, was umso besser ist, da sie die Ursache von Krieg und Armut war. Künftig kann es nur noch die eine Welt geben: die Welt des liberalen demokratischen Kapitalismus, Quelle des Friedens und Wohlstands.“
Bald war es klar, dass diese „brandneue“ Welt wie seit jeher Kriege entfachen, Armut und Barbarei verbreiten würde, auch nach dem Zusammenbruch des „Evil Empire“ (in den Worten von US-Präsidenten Reagan). Und weniger als zehn Jahre nach der triumphalen Versicherung, es könne nur eine Welt geben, sind wir Zeuge der wiedererweckten Idee, eine „alternative Welt“ zum Liberalismus sei möglich. Die herrschende Klasse hat offensichtlich die Langzeiteffekte ihrer Systemkrise auf das Klassenbewusstsein verstanden. Sie will die Arbeiterklasse von der Entwicklung einer eigenen Perspektive für eine „andere Welt“ abbringen, in der die Bourgeoisie nicht wie bei der „anderen Globalisierung“ keinen Platz hätte.
Die Fragen von suchenden Elementen in der Arbeiterklasse lassen sich hauptsächlich unter folgenden drei Überschriften zusammenfassen:
– Was ist die Realität der heutigen Welt?
– Mit welcher Perspektive kann diese verändert werden?
– Wie können wir eine solche Perspektive erreichen?
Diese drei Fragen gehören zum zentralen Anliegen der Arbeiterbewegung seit ihren Anfängen. Die Arbeiterklasse kann die grundlegenden Ursachen dieser Situation verstehen. Sie kann begreifen, dass es nur eine Perspektive gibt, die eine Alternative zu dieser Situation eröffnen kann. Diese Klasse ist fähig, ihre eigene revolutionäre Rolle in dieser Situation zu verstehen und deshalb kann sie sich die Waffen zum Umsturz des Kapitalismus aneignen und den Kommunismus errichten.
Die Bourgeoisie besitzt die Fähigkeit, den Prozess dieses Klassenbewusstseins und die damit verbundenen historischen Gefahren zu verstehen. Wir können auf nahezu zwei Jahrhunderte Erfahrung zurückgreifen, die uns zeigt, dass diese Fähigkeit der Bourgeoisie nicht unterschätzt werden darf. Sie führt dazu, dass die Ideologie der „anderen Globalisierung“, trotz ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen, im wesentlichen auch auf den oben erwähnten drei Themen aufbaut.
Das erste dieser Themen – die Realität der heutigen Welt – zeigt unmittelbar, wie sehr die Ideologie der „anderen Globalisierung“ ein integraler Teil des bürgerlichen Mystifikationsapparats ist. Diese Ideologie teilt nämlich gänzlich die Lügen über die gegenwärtige wirtschaftliche Situation des Kapitalismus. Bei den Anhängern der „anderen Globalisierung“ ebenso wie bei den Anarchisten und Linksextremen wird die Realität der kapitalistischen Systemkrise versteckt hinter der andauernden Denunzierung der „riesigen Trusts“. Wenn ganze Gebiete der Erde in ein Wirtschaftsdesaster verfallen, ist dies die Schuld der multinationalen Trusts. Wenn Armut die ganze Welt befällt und bis zum Herzen der industrialisierten Länder vordringt, so ist dies die Schuld der multinationalen Trusts und deren Profitgier. Überall auf der Erde gibt es genügend und grenzenlosen Reichtum, der für alle Menschen genügen würde, wenn da nicht eine rücksichtslose Minderheit den gesamten Reichtum an sich reissen würde. In diesem scheinbar kohärenten Schema fehlt allerdings ein kritisches Element, um die Realität der weltweiten Situation und ihrer Entwicklung zu verstehen: die unabwendbare Krise, die den Bankrott des Kapitalismus aufzeigt.
Für die herrschende Klasse war es immer von grösster Bedeutung, die Realität von der Vergänglichkeit ihres Systems zu verbergen, welches dazu verurteilt ist, eines Tages von der historischen Bühne zu verschwinden. Die Herrschenden versuchen daher, die zunehmenden Erschütterungen des Kapitalismus herunterzuspielen. Sie starten also ihr Gerede über das „Licht am Ende des Tunnels“ und über die schönen Zeiten, die uns „gleich um die Ecke“ erwarten. Aber während sie dieses Gerede entfalten, verschärft sich die Situation zunehmend. Die Bourgeoisie will die alte Lüge neu verpackt wissen und verpasst ihr daher mit der „anderen Globalisierung“ einen neuen Anstrich.
Dies hindert die Bewegung für eine „andere Globalisierung“ aber nicht daran, für eine Alternative zur gegenwärtigen Welt zu werben; oder besser gesagt für mehrere Alternativen. Dies betrifft das zweite der oben genannten Themen. Jeder Teil der Bewegung bringt seine eigene, sich von den anderen ein klein wenig unterscheidende Kritik an der heutigen Welt an: ihre Ideen können ökologisch gefärbt, geprägt von bestimmten ökonomischen Theorien oder kulturellen, nahrungsspezifischen oder sexuellen Orientierungen sein...die Liste liesse sich endlos ergänzen. Und sie erschöpfen sich nicht in blosser Kritik: jeder dieser Teile bietet seine eigene Lösung an. Damit musste aus dem Slogan „andere Globalisierung“ der Plural „andere Welten sind möglich“ werden. Die Vorschläge reichen von einer Welt ohne genmanipulierte Nahrungsmittel bis zu einer Welt der Selbstverwaltung, realisiert wohlverstanden über den Weg des klassischsten Staatskapitalismus. Da keine dieser politischen Alternativen den Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft durchbrechen könnte, stellen natürlich noch so viele solche Varianten keine Gefahr für die herrschende Klasse dar. Diese Alternativen bringen nichts als mehr oder weniger wichtige, mehr oder weniger utopische Verbesserungen der kapitalistischen Gesellschaft hervor, die alle mit der Herrschaft der Bourgeoisie verträglich sind. Tatsächlich ist die Bourgeoisie mit dieser Palette von „Lösungen“ gegen die Mängel des Systems gewappnet für die Konfrontation mit der Arbeiterklasse. Alle diese „Lösungen“ helfen, die einzige Perspektive, die fähig ist, dieser Barbarei und Armut ein Ende zu setzen, zu verschleiern: der Umsturz des dem Tode geweihten Kapitalismus, dem Ursprung aller dieser Mängel.
Das dritte Thema der Antiglobalisierungsbewegung ergibt sich aus den zwei ersten: nachdem der wahre Grund der kapitalistischen Armut und Barbarei und die einzige Perspektive, die alldem ein Ende setzen könnte, verschleiert sind, bleibt nur noch, die einzige hierfür fähige Kraft einzudämmen. Zu diesem Zweck unterstützt die Antiglobalisierungsbewegung eine Vielzahl von Bauernrevolten in der 3. Welt, José Bovés Bauernkonföderationen in Europa oder verzweifelte Angriffe des lokalen Kleinbürgertums gegen korrupte Diktaturen. Offensichtlich zeugen alle diese Revolten von einer Reaktion gegen die Misere, von der ein Grossteil der Menschheit betroffen ist. Aber bei keiner dieser Revolten findet sich auch nur die geringste Spur einer Lösung, um die von ihnen angegriffene kapitalistische Herrschaft auch umzustürzen.
Während mehr als eineinhalb Jahrhunderten hat die Arbeiterbewegung gezeigt, dass das Proletariat die einzige Kraft ist, welche die Gesellschaft verändern kann. Das Proletariat ist nicht die einzige Klasse, die gegen den Kapitalismus revoltiert, wohl aber die einzige, die den Schlüssel zur Überwindung des Kapitalismus bei sich trägt. Hierzu muss es sich nicht nur auf internationaler Ebene zusammenschliessen; es muss auch als autonome Klasse handeln, unabhängig von allen anderen Gesellschaftsklassen. Die Bourgeoisie ist sich darüber vollauf im klaren. Mit der Unterstützung von allen diesen nationalistischen kleinbürgerlichen Kämpfen will sie das Proletariat in eine Sackgasse drängen und der Entwicklung seines eigenen Bewusstseins und seiner eigenen Perspektive einen Riegel vorschieben.
Die Gefahr, welche die Bourgeoisie mit dieser Art von Mystifikation bannen will, ist nicht neu: das Proletariat hat seit dem Anbruch der kapitalistischen Dekadenz anfangs des 20. Jahrhunderts die potentielle Fähigkeit, den Kapitalismus umzustürzen. Und die herrschende Klasse begriff diese Gefahr seit dem Ersten Weltkrieg und der revolutionären Welle, die mit der Oktoberrevolution 1917 begann und während mehreren Jahren – von Deutschland 1919 bis China 1927 – an den Grundfesten des Kapitalismus rüttelte. Die Bourgeoisie wartete nicht bis 1990, um ihre Kampagnen zu starten. Schon seit über einem Jahrhundert sieht sich die Arbeiterklasse bezüglich der wahren Natur der Wirtschaftskrise, der kommunistischen Perspektive und des Potentials des Klassenkampfs ideologischen Angriffen ausgesetzt. Die Antiglobalisierungswelle ist also fest im bürgerlichen Denken verankert. Das Auftauchen dieser Bewegung drückt aber dennoch eine Veränderung der Klassenkonfrontation auf ideologischer Ebene aus. Diese Veränderung zwingt die herrschende Klasse, ihre mystifizierenden Methoden gegen das Proletariat anzuwenden.
„Ein Gewinnerteam wechselt man nicht aus“, pflegen Sportkommentatoren zu sagen. Und weil die Voraussetzungen der bürgerlichen Mystifikationen, um die Arbeiterklasse von der Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins abzuhalten, keine grundsätzliche Veränderung durchmachen, ändert sich auch nicht die Art dieser Mystifikationen, wie wir oben gesehen haben. Als Vehikel dieser Mystifikationen zur Verschleierung des historischen Bankrotts der kapitalistischen Produktionsweise dienen traditionellerweise die Parteien der Linken (Stalinisten, Sozialdemokraten). Diese bieten der Arbeiterklasse falsche Alternativen und unterminieren jegliche Perspektive ihrer Kämpfe.
Diese Parteien haben schon seit dem Ausgang der 60er-Jahre, als die gegenwärtige Krise ihren Anfang nahm, und vor allem durch das Wiederauftauchen des Proletariats auf der historischen Bühne nach vier Dekaden der Konterrevolution (die wichtigen Streiks vom Mai 1968 in Frankreich, der „heisse Herbst“ von 1969 in Italien, etc.) ihre ideologische Wirkungskraft verloren. Der kraftvollen Zunahme der proletarischen Kämpfe entgegneten die linken Parteien, indem sie ihre Idee einer alternativen Regierungsweise hervorbrachten, welche den Forderungen der Arbeiter angeblich entgegenkommen würde. Teil dieser „Alternative“ war, dass der Staat bedeutend mehr Einfluss in der Wirtschaft haben sollte. Letztere war seit 1967 und mit dem Ende der Wiederaufbauperiode nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt von zunehmenden Erschütterungen. Die linken Parteien riefen die Arbeiterklasse zur Mässigung oder gar zum Stopp ihrer Kämpfe auf: sie sollte stattdessen ihrem Wunsch nach Veränderung an der Wahlurne Ausdruck verleihen und die Linke in die Regierung hieven. Diese würde die Interessen der Arbeiter begünstigen. Seither hat sich die Linke (besonders die Sozialdemokraten, aber zum Beispiel in Frankreich auch die „Kommunisten“) an zahlreichen Regierungen beteiligt. Dabei verteidigt sie nicht die Interessen der Arbeiter, sondern greift deren Lebensbedingungen an, um die Krise besser managen zu können. Darüber hinaus aber versetzte der Zusammenbruch des Ostblocks und der sogenannten „sozialistischen“ Regime Ende der 1980er-Jahre der Glaubwürdigkeit der „kommunistischen“ Parteien, welche diesen Regimes Rückhalt boten, einen herben Rückschlag. Damit ging auch ihr Einfluss in der Arbeiterklasse zurück.
Die sich verschärfende Krise bringt die Arbeiterklasse dazu, den Kampf wieder aufzunehmen. Gleichzeitig entsteht innerhalb der Arbeiterklasse allmählich eine Reflexion über die tatsächlichen Gesellschaftsverhältnisse. Zugleich geraten die Parteien, welche traditionellerweise die Interessen des Kapitals innerhalb der Reihen der Arbeiterklasse verteidigten, in ernsthaften Misskredit. Es fällt ihnen daher schwerer, ihre vergangene Rolle weiterhin zu spielen. Deshalb reihen sie sich bei den Manövern gegen die Debatten und die Unruhen innerhalb der Arbeiterklasse nicht an vorderster Front ein. Im Rampenlicht steht dagegen die Antiglobalisierungsbewegung. Diese hat die Mehrzahl der Themen, die ehemals zum Rüstzeug der linken Parteien gehörten, übernommen. Daher finden sich die linken Parteien (vor allem die „kommunistischen“) in der Antiglobalisierungsbewegung derart heimisch, mögen sie auch diskret und „kritisch“ bleiben. Diese Diskretion verhilft der Antiglobalisierungsbewegung lediglich zu einem „innovativen“2 Erscheinen und verhindert, dass diese im Voraus in Misskredit gerät.
Die bemerkenswerte Übereinstimmung der Mystifikationen der „alten Linken“ und der „anderen Globalisierung“ zeigt sich in machen zentralen Themen.
Um einen Überblick über die Hauptthemen in der „anderen Globalisierung“ zu bekommen, wenden wir uns den Schriften der ATTAC3 zu, dem wichtigsten „theoretischen“ Organ dieser Bewegung.
ATTAC hatte ihre offizielle Geburtsstunde im Juni 1998 aufgrund mehrerer Kontaktaufnahmen, die einem Editorial von Ignacio Ramonet in der Dezemberausgabe 1997 der französischen Le Monde Diplomatique folgten. Das seitherige Wachstum der Mitgliederzahlen auf 30’000 Ende 2000 deutet den Erfolg dieser Organisation an. Zur Mitgliedschaft gehören über 1000 Organisationen (Gewerkschaften, Gemeinschaftsgruppen, lokale Vereinigungen von Ratsdelegierten), mehrere hundert französische Parlamentsmitglieder, viele Staatsangestellte, darunter vor allem Lehrer, und zahlreiche, in 250 lokale Komitees gruppierte Berühmtheiten aus Politik und Kunst.
Ausgangspunkt dieser mächtigen ideologischen Organisation war die Idee von der „Tobin Tax“, die wir James Tobin, Nobelpreisträger in Ökonomie, verdanken. Tobin zufolge würde eine Steuer von 0,05% auf grenzüberschreitende Finanztransaktionen ermöglichen, diese zu regulieren und eine wuchernde Spekulation zu verhindern. Vor allem aber könnten mit dieser Steuer, so ATTAC, die Fonds armen Ländern als Entwicklungshilfe zugewiesen werden.4
Warum eine solche Steuer? Um, so ATTAC, im selben Zuge diesen Finanztransaktionen entgegenzutreten und zugleich von ihnen zu profitieren (was zumindest widersprüchlich ist, denn warum soll man eine Profitmöglichkeit zerstören wollen?). Sie symbolisieren die Globalisierung der Wirtschaft, die – verallgemeinert – die Reichen reicher und die Armen ärmer macht.
Ausgangspunkt von ATTACs Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft ist folgender: „Die Globalisierung der Finanzwelt verschärft die wirtschaftliche Unsicherheit und die soziale Ungleichheit. Sie übergeht und degradiert den Volksentscheid, die demokratischen Institutionen und die Souveränität von Staaten auf Kosten des allgemeinen Interesses. Stattdessen vertritt sie die gänzlich spekulative Logik, welche die Hauptinteressen der transnationalen Unternehmen und Finanzmärkte ausdrückt.“5
Was ist der ATTAC zufolge die Ursache für diese Wirtschaftsentwicklung? Wir finden darauf folgende Antworten: „Eine der bedeutendsten Fakten des späten 20. Jahrhunderts war die wachsende Macht der Finanzen in der Wirtschaftswelt: dies ist der Prozess der finanziellen Globalisierung, das Resultat der von den Regierungen der G7 auferlegten politischen Entscheide.“
Die Erklärung dieses Wandels im ausgehenden 20. Jahrhundert folgt später: „Im Rahmen des ,fordistischen‘ Kompromisses6, der bis in die 1970er wirkte, kamen Bosse und Lohnempfänger zu einer Übereinkunft, indem eine Aufteilung der Produktivitätssteigerung innerhalb des Unternehmens vereinbart wurde. Dadurch konnte die Aufteilung von Mehrwert erhalten bleiben. Das Aufkommen des Aktionärskapitalismus bedeutete den Untergang dieses Regimes. Das traditionelle Modell, bekannt als das ,Teilhabermodell‘ und verstanden als Interessensgemeinschaft dreier Partner innerhalb des Unternehmens, musste einem neuen ,Aktionärsmodell‘ weichen. Dieses räumt den Interessen der Besitzer von Börsenkapital, mit anderen Worten den Unternehmensfonds selbst, oberste Priorität ein.“7 Und weiter: „Hauptzweck der an der Börse notierten Unternehmen ist es, ,Aktionärswert zu schaffen‘, also eine Wertsteigerung der Aktien zu erzielen, um Mehrwert zu erzeugen und den Reichtum der Aktionäre zu vergrössern.“8
Folgen wir weiter der Argumentation der Antiglobalisierungsbewegung, so verursachte die neue Richtung der Regierungen der G7 einen Wandel in der Geschäftswelt. Die multinationalen Unternehmen und grossen Finanzinstitutionen konnten aus der Warenproduktion keinen Profit mehr erzielen und „übten daher Druck auf Unternehmen aus, damit diese auf Kosten produktiver Investition grösstmögliche Dividenden ausschütten“.
Die bisher aufgeführten Zitate der Antiglobalisierungsbewegung genügen, um folgende drei Aspekte zu verdeutlichen:
– diese Bewegung hat nichts neuartiges erfunden
– die Ideologie dieser Bewegung ist gänzlich bürgerlich
– die Ideen der Antiglobalisierungsbewegung sind eine Gefahr für die Arbeiterklasse
Die heutigen „Transnationalen“, die sich angeblich der Kontrolle des Staates entziehen, sind den „Multinationalen“, die von den linken Parteien wegen denselben Sünden schon in den 1970er-Jahren angegriffen wurden, bemerkenswert ähnlich. Tatsächlich ist es einerlei, ob man sie „multinational“ oder „transnational“ nennt: diese Unternehmen haben durchaus eine Nationalität, nämlich diejenige der Mehrheit ihrer Aktionäre. Die Multinationalen sind im Allgemeinen die grossen Unternehmen der mächtigsten Staaten – allen voran der USA. Zusammen mit den militärischen und diplomatischen Waffen gehören sie zu den Instrumenten der imperialistischen Politik dieser Staaten. Und wenn dieser oder jener Nationalstaat (wie etwa die „Bananenrepubliken“) dem Diktat irgendeines riesigen Multinationalen unterworfen ist, so bedeutet das grundsätzlich nur, dass jener bestimmte Staat derjenigen Grossmacht unterliegt, auf der dieses multinationale Unternehmen basiert.
Schon während der 1970er-Jahre verlangte die Linke nach „mehr Staat“, um die Macht dieser „modernen Monster“ zu beschränken und den von ihnen produzierten Reichtum gerechter zu verteilen. Bis hierher haben ATTAC & Co also absolut nichts Neues hervorgebracht. Vor allem müssen wir die trügerische Idee verwerfen, als wäre der Staat jemals ein Instrument zur Interessensverteidigung der Ausgebeuteten gewesen. Das Gegenteil ist der Fall: der Staat ist ein Instrument zur Verteidigung der herrschenden Ordnung und also der Interessen der Herrschenden und Ausbeutenden. Unter bestimmten Umständen mag der Staat, um seine Rolle besser wahrzunehmen, sich diesem oder jenem Teil der herrschenden Klasse entgegensetzen. Dies zeigt sich etwa anhand einiger Massnahmen der britischen Regierung in der Wachstumsphase des Kapitalismus. Die britische Regierung verabschiedete Gesetze, um die Ausbeutung der Arbeitskraft, besonders der Kinder, einzugrenzen. Obwohl mancher Kapitalist diese Gesetze als seinen Interessen zuwider laufend empfand, konnten sie verhindern, dass die Arbeitskraft – Quelle allen kapitalistischen Wohlstands – schon vor ihrer Volljährigkeit en masse zerstört würde. Als zweites Beispiel sei an die Massnahmen des Nazistaates erinnert, der bestimmte Sektionen der herrschenden Klasse (vor allem die jüdische Bourgeoisie) verfolgte, was natürlich nicht im Interesse der Unterdrückten geschah.
Der Wohlfahrtsstaat ist vor allem ein Mythos mit dem Ziel, die Unterdrückten dahin zu bringen, den Fortgang der kapitalistischen Unterdrückung und die Herrschaft der Bourgeoisie zu akzeptieren. Im Niedergang der kapitalistischen Wirtschaft zeigt der Staat – ob „links“ oder „rechts“ – sein wahres Gesicht: Löhne werden eingefroren, „Sozialbudgets“, Ausgaben im Gesundheitssektor, Arbeitslosenunterstützung und Renten werden gekürzt. Und wenn die Arbeiter sich weigern, solche Opfer zu erbringen, so ist es wiederum der Staat, der ihnen mit Schlagstock, Tränengas und Verhaftungen, und, wenn alles nichts nützt, mit Kugeln, entgegentritt.
Die Anhänger der Antiglobalisierungsbewegung wollen in der besten Tradition der klassischen Linken tatsächlich die Vorstellung von einem Staat verbreiten, der fähig wäre, die Interessen der Unterdrückten gegen die multinationalen Konzerne zu verteidigen. Deshalb sprechen sie von einem möglichen „guten Kapitalismus“, der dem „schlechten Kapitalismus“ entgegengesetzt wäre.
Nun aber wird diese Idee durch die „Entdeckung“ von ATTAC, dass Profit der Hauptzweck des Kapitalisten ist, zu einer äusserst grotesken Karikatur, begleitet vom Gerede über Unterschiede zwischen „Aktionären“ und „Teilhabern“. ATTAC erklärt uns nun, dass Kapitalisten investieren, um Profite zu machen - eine Charakteristik, die seit der Geburtsstunde des Kapitalismus ihre Gültigkeit hat.
Was die „strikt spekulative Logik“ anbetrifft, ausgelöst angeblich durch die „Globalisierung der Finanzwelt“, so wurde dafür kaum an irgendeinem Treffen der G7 oder durch die Machtübernahme eines Ronald Reagan oder einer Margaret Thatcher der Startschuss gesetzt. Die Spekulation ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Im 19. Jahrhundert hob Marx schon hervor, dass bei einer sich anbahnenden Überproduktionskrise die Spekulation der produktiven Investition tendenziell vorgezogen wird. Die Bourgeois verstanden pragmatisch, dass bei einer Sättigung des Marktes die von ihnen mit eigens gekauften Maschinen produzierten Waren möglicherweise nicht abgesetzt werden können. Dadurch kann weder der in ihnen enthaltene Mehrwert (erzeugt durch die Arbeiter, welche die Maschinen in Bewegung setzten), noch der Wert des Startkapitals realisiert werden. Aus diesem Grund schienen Handelskrisen, wie Marx bemerkte, als Resultat der Spekulation, während in Wirklichkeit die Spekulation nichts anderes als ein vorzeitiges Krisenwarnzeichen ist. In gleicher Weise sind die Spekulationen, die wir heute wahrnehmen, nicht Resultat eines fehlerhaften Verhaltens dieser oder jener kapitalistischen Gruppe, der es an Bürgernähe fehlt, sondern Ausdruck der allgemeinen Krise des Kapitalismus.
Hinter der grotesken Stupidität der „wissenschaftlichen Analysen“ von den „Antiglobalisierungsexperten“ steckt eine Idee, die von den Verteidigern des Kapitalismus seit langer Zeit benutzt wurde, um die Arbeiterklasse von einer revolutionären Perspektive abzubringen. Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte der kleinbürgerliche Sozialist Proudhon, die „guten“ von den „schlechten“ Seiten des Kapitalismus zu scheiden und setzte sich für eine Art „fairen Handel“ und industrielle Selbstverwaltung (Kooperativen) ein.
Später war es die reformistische Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung, und darin besonders ihr Haupttheoretiker Bernstein, der die Vorstellung eines Kapitalismus vertrat, der zunehmend den Interessen der Ausgebeuteten genügen könnte, wenn nur der Druck der Arbeiterklasse ihn dazu zwingen würde. Dies sollte im Rahmen der bürgerlichen Institutionen wie etwa dem Parlament geschehen. Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse sollte es demnach sein, den „guten“ Kapitalisten ihren Triumph über die „schlechten“ Kapitalisten zu sichern. Denn Letztere würden aufgrund ihres Egoismus oder ihrer Kurzsichtigkeit die „positive“ Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft verhindern.
Heute sind es ATTAC und ihre Sympathisanten, welche eine Rückkehr zum „fordistischen Kompromiss“ vorschlagen, der vor masslosen Aufblähung der Finanzsphäre existiert und unter Arbeitern und Kapitalisten die „Aufteilung des Mehrwerts garantiert“ haben soll. Die Bewegung der „anderen Globalisierung“ erweitert damit die Palette des bürgerlichen Mystifikationsapparates:
– indem sie der Idee Vorschub leistet, der Kapitalismus könnte von seinen Angriffen gegen die Arbeiterklasse ablassen; in Wirklichkeit aber entspringen diese Angriffe einer Krise, die vom System nicht überwunden werden kann;
– indem sie davon ausgeht, dass die Grund-
lagen für einen „Kompromiss“ zwischen Arbeit und Kapital vorhanden wären;
Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Arbeiter davon abgehalten werden, gegen die kapitalistische Produktionsform zu kämpfen, welche tatsächlich verantwortlich ist für die zunehmende Ausbeutung, die um sich greifende weltweite Barbarei und das sich zuspitzende Elend. Vielmehr werden die Arbeiter dazu angehalten, eine abstruse chimärische Version desselben Systems zu verteidigen. Sie sollten also mit anderen Worten anstelle ihrer eigenen Interessen diejenigen ihres Todfeindes, der Bourgeoisie, verteidigen.
Es ist heute oberste Priorität, die Antiglobalisierungsbewegung zu denunzieren und auf breiter Ebene zu intervenieren, um gegen ihre Ideen zu kämpfen. Diese Priorität gilt für alle proletarischen Elemente, die sich bewusst sind, dass heute die einzige alternative Weltordnung diejenige des Kommunismus ist, und dass der Kommunismus einzig durch eine absolut standfeste Opposition gegen die Bourgeoisie und alle ihre Ideologien erbaut werden kann. Die „andere Globalisierung“ ist nur die jüngste Verkörperung dieser Ideologie. Sie muss ebenso energisch wie die Sozialdemokratie und der Stalinismus bekämpft werden.
Günter
Zwischen dem 12. und 15. November 2003 wurde in Paris das „Europäische Sozialforum“ (ESF) abgehalten, eine Art europäischer Ableger des Weltsozialforums, das mehrere Jahre hintereinander im brasilianischen Porto Allegre stattgefunden hatte (2002 wurde das ESF in Florenz, Italien, abgehalten, und für 2004 ist es in London geplant). Das ESF hat mittlerweile beträchtliche Dimensionen angenommen: Laut den Organisatoren nahmen rund 40.000 Menschen aus allen möglichen europäischen Ländern (von Portugal bis Osteuropa) teil, ein Programm von 600 Seminaren und Workshops in den verschiedensten Tagungsorten (Theatergebäude, Rathäuser, prestigeträchtige öffentliche Gebäude) erstreckte sich über ganz Paris, und zum Abschluss fand eine Grossdemonstration von 60–100.000 Menschen mit den unverbesserlichen italienischen Stalinisten von Rifondazione Comunista an der Spitze und den Anarchisten der CNT als Nachhut statt. Auch wenn sie wenig öffentliche Aufmerksamkeit ernteten, fanden neben dem ESF zeitgleich zwei weitere „europäische Sozialforen“ statt, eines für die Mitglieder des Europäischen Parlaments, das andere für Gewerkschafter. Und als seien drei „Foren“ nicht genug, organisierten die Anarchisten ein „Libertäres Sozialforum“ (LSF) in der Pariser Metro, zur gleichen Zeit wie das ESF und bewusst als Alternative zu ihm dargestellt.
„Eine andere Welt ist möglich!“ Dies war einer der grossen Slogans des ESF. Und es besteht kein Zweifel daran, dass für viele der Demonstranten am 15. November, vielleicht gerade unter den jungen Leuten, die erst politisch aktiv werden, ein wahrhaftes und drückendes Bedürfnis bestand, gegen den Kapitalismus und für eine „andere Welt“ im Gegensatz zur heutigen mit ihrer grenzenlosen Armut und ihren endlosen und abscheulichen Kriegen zu kämpfen. Zweifellos wurden einige von ihnen durch das Gemeinschaftsgefühl auf diesem Zusammentreffen inspiriert. Doch das Problem ist nicht nur zu wissen, dass „eine andere Welt möglich“ – und notwendig – ist, sondern auch und vor allem zu wissen, welche Art von Welt sie sein soll und wie man sie errichtet.
Eine Antwort auf diese Frage kann das ESF schwerlich anbieten. Angesichts der Unmenge und Unterschiedlichkeit der teilnehmenden Organisationen (von Organisationen der „Jungen Manager“ und „Jungen Unternehmer“ über christliche Vereinigungen bis hin zu Trotzkisten wie LCR und SWP, Stalinisten der KPF und von Rifondazione und selbst Anarchisten wie Alternative Libertaire) fällt es schwer zu glauben, dass das ESF auch nur eine kohärente Antwort oder überhaupt eine Antwort geben kann. Jedermann ist darum bemüht, seine eigenen Ideen zur Geltung zu bringen, daher die enorme Mannigfaltigkeit der Themen, die in Flugblättern, Debatten und Slogans zum Ausdruck kamen. Jedoch stellt sich bei näherem Hinschauen heraus, dass die Ideen, die aus dem ESF kommen, erstens nichts Neues enthalten und zweitens auch absolut nichts „Antikapitalistisches“ in sich bergen.
Die breite Mobilisierung rund um das ESF plus die Öffentlichkeit, die diese Masse an Themen der „Antiglobalisierungs“-Tendenz in so vielen linken und linksextremen Gruppen erfuhr, veranlasste die IKS dazu, mit aller Entschlossenheit, die in unseren Kräften steht, bei diesem Ereignis zu intervenieren. Da wir vermuteten, dass die „Debatten“ des ESF im Voraus inszeniert wurden (ein Verdacht, der von etlichen Teilnehmern dieser Debatten uns gegenüber bestätigt wurde), konzentrierten sich unsere Militanten, die von überall aus Europa herkamen, auf den Verkauf unserer Presse und auf die Teilnahme an den informellen Diskussionen rund um das ESF und während der Abschlussdemonstration. Ausserdem waren wir auf dem LSF anwesend, um in den Debatten zu intervenieren und die Perspektive des Kommunismus gegen den Anarchismus in den Vordergrund zu rücken.
„Die Welt steht nicht zum Verkauf“ ist ein beliebter Slogan, der in vielen Versionen konkretisiert wurde: „Die Kultur steht nicht zum Verkauf“ für die Künstler und Theaterangestellten1, „Die Gesundheit steht nicht zum Verkauf“ für die Krankenschwestern und das Krankenhauspersonal oder „Die Erziehung steht nicht zum Verkauf“ für die Lehrer.
Wer wäre nicht berührt von solchen Slogans? Wer möchte schon gern seine Gesundheit oder die Erziehung seiner Kinder verkaufen?
Doch wenn wir die Realität hinter diesen Slogans betrachten, beginnen wir, den Braten zu riechen. Tatsächlich bereitet das, was vorgeschlagen wird, dem „Ausverkauf der Erde“ kein Ende, sondern begrenzt ihn allenfalls: „Befreiung der sozialen Dienste von der Logik des Marktes“. Was bedeutet dies konkret? Wir alle wissen, dass, seitdem der Kapitalismus existiert, alles bezahlt werden Muss, selbst der Gesundheitsdienst oder das Erziehungswesen. All jene Aspekte des gesellschaftlichen Lebens, die die „Antiglobalisierer“ angeblich „von der Logik des Marktes befreien“ wollen, sind tatsächlich Teil des Gesamtlohns der Arbeiter, ein Teil, der üblicherweise vom Staat verwaltet wird. Weit entfernt davon, „von der Logik des Marktes befreit“ zu sein, ist das Lohnniveau, jenes Äquivalent an Produktion, das an die Arbeiterklasse zurückgeht, eine Frage des Marktes und betrifft den Kern der kapitalistischen Ausbeutung. Das Kapital bezahlt seine Arbeitskraft stets so gering wie möglich, mit anderen Worten: mit einem Minimum dessen, was für die Reproduktion der nächsten Arbeitergeneration notwendig ist. Heute, wo die Welt in eine immer tiefere Krise stürzt, benötigt jedes nationale Kapital immer weniger Hände und Muss jene Hände, die es noch benötigt, immer geringer entlohnen, wenn es nicht von seinen Konkurrenten auf dem Weltmarkt eliminiert werden will. In dieser Situation kann die Arbeiterklasse die Reduzierung ihrer Löhne – wie „sozial“ sie auch sein mag - nur durch ihren eigenen Kampf abwehren, und nicht, indem man den kapitalistischen Staat dazu auffordert, seine Löhne von den Marktgesetzen zu „befreien“, etwas, wozu der Staat vollkommen unfähig wäre, selbst wenn er wollte.
In der kapitalistischen Gesellschaft kann das Proletariat kraft seines eigenen Kampfes bestenfalls eine günstigere Aufteilung des Sozialprodukts erzwingen: Es kann die Mehrwertrate, die die kapitalistische Klasse extrahiert, zu Gunsten des variablen Kapitals – d.h. der Löhne – reduzieren. Aber dies in heutigem Zusammenhang zu tun, erfordert zunächst ein hohes Kampfniveau (wie wir nach der Niederlage der Kämpfe in Frankreich im Mai 2003 sahen, die stürmischen Angriffen gegen den Soziallohn folgten) und kann zweitens nur von vorübergehender Natur sein (wie wir nach der Bewegung von 1968 gesehen haben).
Nein, die Idee, dass „die Welt“ nicht zum Verkauf steht, ist nichts anderes als ein erbärmlicher Schwindel. Die eigentliche Natur des Kapitalismus besteht genau darin, dass alles zum Verkauf steht, und die Arbeiterbewegung weiss dies seit 1848: „Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt (...) Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“ So formulierten es Marx und Engels im Kommunistischen Manifest: Es zeigt nur, wie gültig ihre Prinzipien heute bleiben!
„Fairer Handel, nicht freier Handel!“ war ein anderes Hauptthema auf dem ESF, das durch die Anwesenheit französischer Kleineigentümer mit ihrem „Bio“-Käse und anderen Produkten grossen Auftrieb erhielt. Wer sehe denn nicht auch gern die Bauern und kleinen Handwerker in der Dritten Welt anständig von den Früchten ihrer Arbeit leben? Wer möchte denn nicht die Dampfwalze der Agrarindustrie dabei aufhalten, die Bauern von ihrem Land zu werfen und zu Millionen in die Slums von Mexiko City und Kalkutta zu pferchen?
Doch wie in der Frage des Marktes sind auch hier schöne Gefühle ein schlechter Ratgeber.
Zunächst einmal ist an der „Freihandels“-Bewegung überhaupt nichts Neues. Das Geschäft mit der Wohltätigkeit (mit Gesellschaften wie Oxfam, die selbstverständlich auf dem ESF anwesend waren) hat „Freihandel“ für Handwerke praktiziert und seit über 40 Jahren deren Produkte in ihren Geschäften verkauft, ohne auch nur im Mindesten verhindert zu haben, dass Millionen von Menschen in Afrika, Asien oder Lateinamerika in die Armut gestürzt wurden.
Darüber hinaus ist dieser Slogan aus den Mündern der „Antikapitalisten“ gleich zweifach heuchlerisch. Jemand wie José Bové, Präsident der französischen Bauernunion, kann ausgiebig den antikapitalistischen Superstar spielen, indem er die Lebensmittelindustrie und den Teufel McDonalds denunziert. Dies hindert jedoch die Mitglieder derselben Bauernunion nicht daran, für die Forderung zu demonstrieren, die Subventionen, die sie im Rahmen der europäischen Agrarpolitik2 bekommen, aufrechtzuerhalten. Indem sie die Preise der französischen Agrarprodukte mit ihren Subventionen niedrig hält, ist gerade die EU-Agrarpolitik eines der Hauptinstrumente für die Aufrechterhaltung des unfairen Handels zum Vorteil des einen und unvermeidlich zum Nachteil des anderen. Ähnlich bedeutet „fairer Handel“ für die amerikanische Stahlindustrie, für die die Gewerkschafter in Seattle demonstriert hatten und wofür sie seither berühmt geworden sind, Zolltarife auf den Import „ausländischer“ Stahlprodukte, die billiger produziert werden, zu erheben. Letztendlich ist „fairer Handel“ lediglich ein anderer Name für Handelskriege.
Im Kapitalismus ist der Begriff der „Fairness“ ohnehin eine Illusion. Wie Engels es bereits 1881 in einem Artikel sagte, als er den Begriff des „gerechten Lohns“ kritisierte: „Die Gerechtigkeit der politischen Ökonomie, wie sie in Wirklichkeit die Gesetze fixiert, die die bestehende Gesellschaft beherrschen, diese Gerechtigkeit ist ganz anders auf der einen Seite – auf der des Kapitals.“ (Engels, Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk, 7. Mai 1881, Werke Bd. 19, S. 249/250)
Der dreisteste Schwindel in diesem ganzen Geschäft mit dem „fairen Handel“ ist die Idee, dass die Anwesenheit von „antiglobalistischen“ Demonstranten in Seattle oder Cancun die Verhandlungsführer aus den Drittweltländern ermutigt habe, gegen die Forderungen der „reichen Länder“ aufzubegehren. Wir wollen hier nicht näher auf die Tatsache eingehen, dass der Gipfel von Cancun in einer bitteren Niederlage für die schwächeren Länder endete, da die Europäer nicht ihre Agrarpolitik ändern und die Amerikaner damit fortfahren, die amerikanischer Farmer massiv gegen die Billigimporte aus den armen Ländern zu subventionieren. Nein, was wirklich widerwärtig ist, ist, darauf zu vertrauen, dass die Regierungsmitglieder und die Bürokraten der Drittweltländer an diesen Verhandlungen teilnahmen, um die Bauern und Armen zu vertreten. Das Gegenteil ist der Fall! Um nur ein Beispiel zu nehmen: Als Brasiliens Lula die US-Zolltarife denunzierte, die auf importierten Orangensaft erhoben wurden, um die amerikanische Orangenindustrie zu schützen, da hatte er nicht die armen Bauern im Sinn, sondern die enormen kapitalistischen Orangenplantagen Brasiliens, wo die Arbeiter ähnlich schuften wie auf den Orangenplantagen Floridas.
Der gemeinsame Faden, der sich durch all diese Themen zieht, ist folgender: Gegen die „Neoliberalen“ und die „transnationalen“ Gesellschaften (jene üblen „Multis“, gegen die die antiglobalistischen Vorgänger bereits in den 70er-Jahren gewettert hatten) werden wir dazu angehalten, unser Vertrauen in den Staat zu setzen oder, noch besser, den Staat zu stärken. Die „Antiglobalisten“ behaupten, dass das Business die Macht vom „demokratischen“ Staat konfisziert habe, um seine eigenen „kommerziellen“ Gesetze durchzusetzen, und dass daher der „Widerstand der Bürger“ notwendig sei, um die Staatsmacht und den „öffentlichen Dienst“ wiederzubeleben.
Welch ein Gaunerstück! Nirgendwo ist heute der Staat präsenter als in der Wirtschaft, auch in den Vereinigten Staaten. Es ist der Staat, der den Weltmarkt reguliert, indem er die Leitzinsen, Zolltarife usw. festlegt. Der Staat ist der Hauptakteur in der nationalen Binnenwirtschaft, mit öffentlichen Ausgaben von – abhängig von Land zu Land – 30 bis 50 % des BSP und mit ständig wachsenden Staatsdefiziten. Noch wichtiger als dies ist Folgendes: Wann immer die Arbeiter kapieren, dass sie ihre Lebensbedingungen gegen die Angriffe der Kapitalisten verteidigen müssen – wer, wenn nicht die Polizeikräfte des Staates, stellt sich ihnen gleich von Anbeginn in den Weg? Zu fordern – wie es die „Antiglobalisten“ tun“ – dass der Staat gestärkt werden soll, damit er uns gegen die Kapitalisten verteidigt, ist wirklich ein gigantischer Schwindel: Der bürgerliche Staat ist dafür da, die Bourgeoisie gegen die Arbeiter zu beschützen, und nicht umgekehrt. 3
Es kommt nicht von ungefähr, dass das ESF diesen Aufruf fabriziert, den Staat und besonders seine linken Fraktionen zu unterstützen, die als die besten Vertreter der „Zivilgesellschaft“ gegen den „Neoliberalismus“ vorgestellt werden. Wie das Sprichwort sagt, bestimmt der die Melodie, der auch zahlt, und es ist äusserst aufschlussreich, einen Blick auf die Finanziers der 3,7 Millionen Euro Kosten für das ESF zu werfen:
– Zunächst einmal trugen die lokalen Behörden von Seine-St.Denis, Val de Marne und Essonne mehr als 600.000 Euros dazu bei, während die Stadt von St.Denis allein 570.000 Euros abzweigte.4 In der Tat ist es die französische „Kommunistische“ Partei – jene stalinistische Schurkenbande – die nach Jahren der Komplizenschaft an den vom stalinistischen Staat in Russland begangenen Verbrechen und nach Jahrzehnten der Sabotage des Arbeiterkampfes ihre politische Unschuld käuflich wiedererwerben möchte.
– Die französische Sozialistische Partei ist durch die Angriffe, die sie in ihrer Regierungszeit gegen die Arbeiter unternommen hatten, am meisten diskreditiert, und es ist wahr, dass die Zuhörer auf dem ESF nicht die Gelegenheit versäumten, sich über Laurent Fabius (einen bekannten sozialistischen Führer) lustig zu machen, als er es wagte, sich in den Debatten einzumischen. Man könnte meinen, dass die PS nicht versessen auf das ESF ist, doch ganz im Gegenteil! Die Stadt Paris (kontrolliert von der PS) trug eine Million Euro zur Begleichung der Kosten des ESF bei.
– Und die französische Regierung? Eine rechte, durch und durch neoliberale französische Regierung, in Artikeln, Flugblättern und Plakaten von der gesamten Linken, von den Anarchisten bis zu den Stalinisten, denunziert – wird sie nicht wenigstens beunruhigt sein, wenn sie sieht, dass das Forum so viele Menschen anzieht? Nein, überhaupt nicht! Durch die persönliche Anordnung des Präsidenten Jacques Chirac trug das Aussenministerium 500.000 Euros für das ESF bei.
Wer zahlt, möchte sicherlich einen Profit erzielen! Das ESF wurde von der gesamten französischen Bourgeoisie, von der Linken bis zur Rechten, grosszügig finanziert und ausgehalten. Und nun beabsichtigt die gesamte französische Bourgeoisie, von links bis rechts, vom unbestreitbaren Erfolg des ESF zu nutzniessen, und zwar besonders auf zwei Ebenen:
– Erstens ist das ESF ein Mittel für den linken Flügel des Staatsapparates, sich selbst zu erneuern (nachdem er durch die Jahre an der Regierung diskreditiert wurde, wo er den Lebensbedingungen der Arbeiter einen Schlag nach dem anderen versetzt und die Verantwortung für die imperialistische Politik des französischen Imperialismus übernommen hatte). Da politische Parteien nicht mehr in Mode sind, verkleiden sie sich als „Vereine“, um sich selbst einen Hauch von „Bürger“, „Demokratie“, „Netzwerk“ zu verleihen: Die KPF trat in der Form ihrer „Espace Karl Marx“ auf, die PS mit ihrer „Fondation Léo Lagrange“ und „Jean Jaurès“.5 Wir sollten betonen, dass nicht nur die Linke ein Interesse daran hat, uns ihre vergangenen Untaten vergessen zu machen – was eh jedem klar ist. Die gesamte herrschende Klasse hat ein Interesse daran, die gesellschaftlichen Fronten zu kaschieren, sicherzustellen, dass die Arbeiterkämpfe – ja, viel allgemeiner, der Abscheu und das Hinterfragen, die durch die kapitalistische Gesellschaft provoziert werden – in die Richtung der alten reformistischen Rezepte gelenkt werden, und zu verhindern, dass es zu einer Bewusstseinsbildung kommt, die notwendig ist, um die kapitalistische Ordnung zu stürzen und all ihren Krankheiten ein Ende zu bereiten.
– Zweitens hat die gesamte französische Bourgeoisie ein Interesse an der Ausweitung und Stärkung der deutlich antiamerikanischen Atmosphäre auf dem ESF. Die enorme Zerstörung und der fürchterliche Menschenverlust in den beiden Weltkriegen und vor allem die Wiederbelebung des Klassenkampfes sowie das Ende der Konterrevolution 1968 haben dazu beigetragen, den Nationalismus zu diskreditieren, den die Bourgeoisie dazu benutzt, um die Völker wie 1914 oder 1939 in das Gemetzel zu schicken. Konsequenterweise haben, auch wenn es nicht so etwas wie einen „europäischen Block“ und noch weniger eine „europäische Nation“ gibt, die Bourgeoisien der verschiedenen europäischen Länder, besonders in Frankreich und Deutschland, ein Interesse daran, das Entstehen eines antiamerikanischen und eines vagen „pro-europäischen“ Gefühls zu ermutigen, mit der Absicht, die Verteidigung ihrer eigenen imperialistischen Interessen gegen den US-Imperialismus als die Verteidigung einer „anderen“ oder gar „antikapitalistischen“ Weltsicht zu präsentieren. Zum Beispiel ist die „antiglobalistische“ Unterstützung für einen Bann gegen den Import von amerikanischen GMOs nach Frankreich im Namen der „Ökologie“ und der „Verteidigung der öffentlichen Gesundheit“ in Wahrheit nichts anderes als eine Episode im Wirtschaftskrieg, dazu bestimmt, der französischen Forschung Zeit zu geben, mit ihren amerikanischen Rivalen auf diesem Gebiet gleichzuziehen.6
Moderne Marketingtechniken verkaufen Produkte nicht mehr direkt, sie benutzen ein ganzes System, das sowohl subtil als auch effektiver ist: Sie verkaufen eine „Weltsicht“, einen „Life Style“, dem sie Produkte beifügen, die angeblich jenen Stil verkörpern. Die Organisatoren des ESF nutzen exakt dieselbe Methode: Sie offerieren uns eine unwahre „Weltsicht“, in der Kapitalismus nicht mehr kapitalistisch ist, die Nationen nicht mehr imperialistisch sind und eine „andere Welt“ ohne kommunistische Revolution möglich ist. Sodann versuchen sie im Namen dieser „Vision“, uns alte Produkte mit längst überschrittenem Mindesthaltbarkeitsdatum unterzujubeln: die so genannten „kommunistischen“ und „sozialistischen“ Parteien, bei dieser Gelegenheit als „Bürgerinitiativen“ verkleidet.
Da die französische Bourgeoisie die Gelder für dieses Ereignis herausgerückt hat, ist es nur normal, dass ihre politischen Parteien die ersten sein wollen, die vom ESF profitieren. Doch sollten wir uns nicht einbilden, dass diese Angelegenheit allein von der französischen herrschenden Klasse inszeniert worden war – bei weitem nicht. Die Kampagne zur Erneuerung der Glaubwürdigkeit des linken Flügels der Bourgeoisie, in mannigfaltigen europäischen und weltweiten „Sozialforen“ praktiziert, dient der gesamten kapitalistischen Klasse weltweit.
Das „Libertäre Sozialforum“ war ausdrücklich als eine Alternative zum eher „offiziellen“ Forum angekündigt worden, das von den grossen bürgerlichen Parteien organisiert worden war. Man mag sich die Frage stellen, wie alternativ Ersteres tatsächlich war: Einer der Hauptorganisatoren des LSF (die Alternative Libertaire) nahm auch als aktiver Part am ESF teil und die LSF-Demonstration schloss sich nach einem kurzen „unabhängigen“ Bummel der grossen ESF-Demo an.
Wir beabsichtigen nicht, ausführlich darüber zu berichten, worüber auf dem LSF gesprochen wurde, und wollen nur einige der wichtigen Themen erwähnen.
Wir wollen mit der „Debatte“ über „selbstverwaltete Räume“ (Hausbesetzungen, Wohngemeinschaften, Dienstleistungsnetzwerke, „Alternative Cafés“, etc.) beginnen. Wenn wir das Wort „Debatte“ in Anführungszeichen setzen, dann deshalb, weil die Diskussionsleitung alles Mögliche tat, um die Diskussion auf blosse Beschreibungen der entsprechenden „Freiräume“ durch die Teilnehmer zu beschränken und jede Art der kritischen Einschätzung selbst aus dem anarchistischen Lager zu verhindern. Es wurde schnell offenbar, dass „self-management“ etwas sehr Relatives ist: Ein Teilnehmer aus Grossbritannien erklärte, dass sie ihren „Freiraum“ für die erkleckliche Summe von £ 350.000 (500.000 Euros) erkauft haben; andere zählten die Gründung eines „Freiraums“ .... im Internet auf, eine Kreation der, wie wir alle wissen, US DARPA.7
Noch verräterischer war die Praxis, die diese vielfältigen „Freiräume“ vorschlugen: eine freie und „alternative“ Pharmazie (d.h. Amateur-Kräutermittel), legale Beratungsdienste, Cafés, Austausch von Diensten, etc. Mit anderen Worten, eine Mischung aus kleinen Ladenbesitzern und Sozialdiensten, die gerade von den staatlichen Kürzungen abgeschafft wurden. Mit anderen Worten: Das Äusserste im anarchistischen Radikalismus ist es, staatliche Funktionen zu übernehmen, ohne dafür bezahlt zu werden.
Eine andere Debatte über „unentgeltliche öffentliche Dienste“ enthüllte in aller Vollständigkeit die Leere des offiziellen, ehrbaren Anarchismus. Es wurde behauptet, dass die „öffentlichen Dienste“ irgendwie eine Opposition gegen die Marktwirtschaft in sich trügen, indem sie Bedürfnisse der Bevölkerung umsonst befriedigen – und „selbstverwaltet“ selbstverständlich, mit Kundenkomitees, Produzentenkomitees und Gemeindekomitees. Diese Komitees und die „lokalen Komitees“, die derzeit vom französischen Staat für die Bewohner der Pariser Vorstädte aufgebaut werden, gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Die Frage wurde so gestellt, als sei es möglich, eine institutionelle Opposition innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu installieren, zum Beispiel indem man einen unentgeltlichen öffentlichen Verkehr etabliert.
Ein weiteres Kennzeichen des Anarchismus, das auf dem LSF stark zum Vorschein kam, ist seine tief verwurzelte elitäre und erzieherische Natur. Der Anarchismus will nicht wahrnehmen, dass eine „andere Welt“ aus dem Zentrum der gegenwärtigen Widersprüche in der Welt entstehen kann. In Folge dessen kann er sich einen Übergang von der heutigen zur künftigen Welt lediglich in der Form des „guten Beispiels“ vorstellen, das von den „selbstverwalteten Räumen“ auf erzieherische Weise gegen die Krankheiten des heute vorherrschenden „Produktivismus“ vorexerziert werden soll. Doch wie Marx bereits vor mehr als einem Jahrhundert sagte: Wenn eine neue Gesellschaft dank der Erziehung des Volkes entsteht, wer erzieht dann die Erzieher? Denn diejenigen, die vorhaben, die Erzieher zu sein, sind selbst von der Gesellschaft geformt, in der wir leben, und ihre Ideen von einer „anderen Welt“ bleiben in Wahrheit tief verankert in der Welt von heute.
Im Kern servierten uns die beiden „Sozialforen“ in der Verkleidung neuer und revolutionärer Ideen nichts anderes als altes Gedankengut, das sich seit langem als untauglich, wenn nicht vollständig konterrevolutionär gezeigt hatte.
Die „selbstverwalteten Räume“ erinnern an die Kooperativen und an ähnliche Gesellschaften des 19. Jahrhunderts, ganz zu schweigen von den Arbeiter-„Kollektiven“ unserer Zeit (von Lip in Frankreich bis hin zu Triumph in Grossbritannien), die entweder bankrott gingen oder gewöhnliche kapitalistische Unternehmen blieben, eben weil sie gezwungen waren, innerhalb der kapitalistischen Marktwirtschaft zu produzieren und zu verkaufen. Sie erinnern ebenfalls an jene „Gemeinschafts“-Unternehmen der 70er-Jahre (Hausbesetzungen, Gemeinschaftskomitees, „freie Schulen“), die darin endeten, als soziale Dienste in den bürgerlichen Staat integriert zu werden.
All diese Ideen mittels einer radikalen Umwandlung kraft kostenloser öffentlicher Dienste erinnern an den Reformismus, der bereits eine Illusion der Arbeiterbewegung um 1900 gewesen war und der 1914 den totalen Bankrott erlebte, als er Partei ergriff für „seinen eigenen“ Staat, um dessen „Errungenschaften“ gegen den imperialistischen „Aggressor“ zu verteidigen. Diese Ideen erinnern an die Schaffung des „Wohlfahrtsstaates“ durch die herrschende Klasse nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, um das Management und die Mystifikation der Arbeitskraft (insbesondere durch den „Beweis“, dass die Millionen von Opfern nicht umsonst gestorben seien) zu rationalisieren.
Im Kapitalismus wie in jeder Klassengesellschaft ist es absolut unvermeidlich, dass die vorherrschenden Gedanken die Gedanken der herrschenden Klasse sind. Es ist nur deshalb möglich, die Notwendigkeit und die materielle Möglichkeit einer kommunistischen Revolution zu verstehen, weil innerhalb der kapitalistischen Welt eine Gesellschaftsklasse existiert, die diese revolutionäre Zukunft bereits in sich verkörpert: die Arbeiterklasse. Im Gegensatz dazu können wir, wenn wir nur einfach versuchen, uns „vorzustellen“, wie eine „bessere“ Gesellschaft auf der Basis unserer Wünsche und Vorstellungen, wie sie heute von der kapitalistischen Gesellschaft (und entsprechend dem Modell unserer anarchistischen „Erzieher“) geformt werden, aussehen müsste, nichts anderes tun, als die gegenwärtige kapitalistische Welt „neu zu erfinden“, indem wir entweder dem reaktionären Traum der Kleinproduzenten, die nicht weiter blicken können als bis zum Ende ihres „selbstverwalteten Raumes“, oder dem mega-monströsen Delirium eines wohltätigen Weltstaates à la George Monbiot anheimfallen.8
Der Marxismus dagegen, innerhalb der kapitalistischen Welt von heute die Voraussetzungen der neuen Welt zu entdecken, die die kommunistische Revolution zum Leben erwecken müssen, falls die Menschheit ihrem Verderben entgehen will. Wie es das Kommunistische Manifest 1848 formulierte: „Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.“9
Wir können drei gesonderte, aber miteinander verwobene Hauptelemente in dieser „unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung“ unterscheiden.
Das erste ist die Umwandlung, die der Kapitalismus im Produktionsprozess der gesamten menschlichen Spezies bereits vollzogen hat. Ein ganz alltägliches Objekt dieser Umwandlung ist die Arbeit, die nicht mehr das Werk eines selbstgenügsamen Handwerkers oder lokaler Fabrikation ist, sondern die gemeinsame Arbeit von Tausenden, wenn nicht Zehntausenden von Männern und Frauen, die an einem Netzwerk teilhaben, das sich über den ganzen Planeten erstreckt. Durch die kommunistische Weltrevolution von den Zwängen der kapitalistischen Marktverhältnisse für die Produktion und der privaten Aneignung ihrer Früchte befreit, wird die Zerstörung allen lokalen, regionalen und nationalen Partikularismus die Grundlage für die Konstitution einer einzigen menschlichen Gemeinschaft auf Weltebene sein. Der Fortschritt in der gesellschaftlichen Umwandlung und die Bekräftigung eines jeglichen Aspektes des gesellschaftlichen Lebens in dieser weltweiten Gemeinschaft wird zum Verschwinden aller Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen, den Völkern und Nationen (wozu die Bourgeoisie heute ermutigt, um die Arbeiterklasse zu spalten) führen. Es ist absehbar, dass Bevölkerungen und Sprachen so weit vermischt werden, bis keine Europäer, Afrikaner oder Asiaten (und schon gar nicht Katalanen, Bretonen und Basken!) mehr existieren, sondern eine vereinte menschliche Spezies, deren intellektuelle und künstlerische Produktion in einer einzigen Sprache ihren Ausdruck finden, die von allen verstanden und unendlich reicher, präziser und harmonischer als jene sein wird, in denen die begrenzte und zerfallende Kultur von heute ihren Ausdruck findet.10
Das zweite Hauptelement, das mit dem ersten eng verknüpft ist, ist die Existenz einer Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft, die an ihrem höchsten Punkt diese Realität eines internationalen und vereinten Produktionsprozesses verkörpert und ausdrückt. Ob sie amerikanische Stahlarbeiter, britische Arbeitslose, französische Behördenangestellte, deutsche Maschinenschlosser, indische Programmierer oder chinesische Bauarbeiter sind, all diese Arbeiter haben eins gemeinsam: dass sie immer unerträglicher ausgebeutet werden durch die globale kapitalistische Klasse und dass sie sich dieser Ausbeutung nur entledigen können, wenn sie die kapitalistische Ordnung an sich stürzen.
Wir sollten an dieser Stelle zwei Aspekte in der Natur der Arbeiterklasse hervorstreichen:
– Zuallererst ist die Arbeiterklasse, anders als die Bauern oder kleinen Handwerker, ein Geschöpf des Kapitalismus, das unabdingbare Notwendigkeit für diese Gesellschaft ist ohne diesem sie nicht leben kann. Der Kapitalismus konnte die Bauern und die Handwerker unterdrücken, sie auf den Status von Proletariern reduzieren – oder zur Arbeitslosigkeit verdammen, wie in der gegenwärtigen dekadenten Ökonomie. Doch der Kapitalismus kann nicht ohne das Proletariat existieren. So lange wie der Kapitalismus existiert, wird auch das Proletariat existieren. Und so lange das Proletariat existiert, wird es in sich das revolutionäre kommunistische Projekt des Sturzes des Kapitalismus und des Aufbaus einer anderen Welt tragen.
– Ein anderes fundamentales Kennzeichen der Arbeiterklasse liegt in der Bewegung und der Vermischung von Völkern, um auf die Bedürfnisse der kapitalistischen Produktion zu antworten. „Die Arbeiter haben kein Vaterland“, wie das Manifest sagt, nicht nur weil sie kein Eigentum besitzen, sondern auch weil sie dem Kapital und dessen Anforderungen an die Arbeitskraft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Die Arbeiterklasse ist durch ihre eigentliche Natur eine Klasse von Immigranten. Um sich davon zu überzeugen, müssen wir lediglich die Bevölkerung in jeder grösseren Industriestadt betrachten: Die Strassen sind voller Männer und Frauen aus allen Herren Länder. Doch dies trifft auch auf die unterentwickelten Länder zu: An der Elfenbeinküste sind viele Landarbeiter Burkinabé, südafrikanische Bergarbeiter kommen aus allen Landesteilen, aber auch aus Simbabwe und Botswana, Arbeiter am Persischen Golf kommen aus Indien, Palästina oder von den Philippinen, in Indonesien gibt es Millionen von ausländischen Arbeitern in den Fabriken. Diese Realität der Arbeiterexistenz – die das Vermischen der Völker vorausnimmt, von der wir weiter oben gesprochen hatten – demonstriert die Zwecklosigkeit des von Anarchisten und Demokraten lieb gewonnenen Ideals lokaler oder regionaler „Gemeinschaften“. Um nur ein Beispiel zu nehmen: Was kann der schottische Nationalismus der Arbeiterklasse Schottlands, die sich zum Teil aus asiatischen Immigranten zusammensetzt, bestenfalls anbieten? Nichts natürlich. Die einzig wahre Gemeinschaft, die Arbeiter, die von ihren Wurzeln gekappt wurden, finden können, ist die weltweite Gemeinschaft, die sie nach der Revolution errichten werden.
– Das dritte Hauptelement, das wir hier unterstreichen wollen, kann in einer einzigen Statistik zusammengefasst werden: In allen Klassengesellschaften, die dem Kapitalismus vorausgingen, bearbeiteten (mehr oder weniger) 95% der Bevölkerung das Land, und der Mehrwert, den sie produzierten, reichte gerade aus, um die anderen 5% (Kriegsherren und die Kirche, aber auch Kaufleute, Handwerker, etc.) zu ernähren. Heute hat sich diese Logik in ihr Gegenteil verkehrt, da in den entwickeltsten Ländern selbst die Produktion von materiellen Waren immer weniger Arbeiter beschäftigt. Mit anderen Worten: Auf der Ebene der physischen Kapazität des Produktionsapparates hat die Menschheit einen Grad an Überfluss erreicht, der alle Ziele und Ambitionen möglich macht.
Bereits unter dem Kapitalismus haben die menschlichen Produktionskapazitäten eine – im Vergleich zur gesamten früheren Geschichte – qualitativ neue Situation geschaffen: Während zuvor der Mangel und manchmal auch der nackte Hunger das Los breiter Bevölkerungsmassen war, vor allem wegen der natürlichen Grenzen der Produktion (niedrige Produktivität auf dem Land, geringe Ernten), sind unter dem Kapitalismus die einzigen Gründe für Mangel die kapitalistischen Produktionsverhältnisses selbst. Die Krise, die die Arbeiter auf die Strasse wirft, wird nicht von einem unzureichenden Produktionsniveau verursacht: Im Gegenteil, sie ist das direkte Resultat der Unmöglichkeit alles zu verkaufen, was produziert wird.11 Darüber hinaus hat in den so genannten „fortgeschrittenen“ Ländern ein immer weiter wachsender Teil der Wirtschaftsaktivitäten absolut keinen Nutzen ausserhalb des kapitalistischen Systems selbst: Finanz- und Börsenspekulation aller Art, astronomische Rüstungsetats, Modeartikel, „künstliche Alterung“, womit bezweckt wird, die Erneuerung des Produkts zu forcieren, Werbung etc. Wenn wir weiter schauen, wird deutlich, dass der Gebrauch der globalen Ressourcen auch von der wachsend irrationalen – ausser vom Standpunkt der kapitalistischen Profitabilität – Funktionsweise der Wirtschaft beherrscht wird: Stunden, die Millionen von Menschen auf dem täglichen Weg von und zur Arbeit verbringen, oder der Transport von Frachten auf der Strasse statt auf der Schiene, um auf die unvorhersehbaren Erfordernisse eines anarchischen Produktionsprozess zu reagieren etc. Kurz, das Verhältnis zwischen dem Zeitaufwand für die Produktion zur Befriedigung der Minimalbedürfnisse (Lebensmittel, Kleidung, Obdach) und dem für die Produktion „über das Minimum hinaus“ (um es mal so zu formulieren) ist vollständig umgekippt.12
Wenn wir auf Demonstrationen oder vor den Fabriktoren unsere Presse verkaufen, werden wir häufig mit derselben Frage konfrontiert: „Was ist denn Kommunismus, wenn Ihr sagt, dass er nie existiert hatte?“ In einer solchen Lage versuchen wir, eine Antwort zu geben, die sowohl allgemein als auch kurz ist, und wir antworten daher oft: „Der Kommunismus ist eine Welt ohne Klassen, ohne Nationen und ohne Geld.“ Auch wenn diese Definition sehr einfach klingt (und negativ, denn sie definiert den Kommunismus als etwas „ohne...“), enthält sie dennoch die grundlegenden Kennzeichen einer kommunistischen Gesellschaft:
– Sie wird ohne Klassen sein, weil sich das Proletariat nicht selbst befreien kann, indem es eine neue ausbeutende Klasse wird: Das Wiederauftreten einer ausbeutenden Klasse nach der Revolution würde tatsächlich die Niederlage der Revolution und das Überleben der Ausbeutung bedeuten.13 Das Verschwinden der Klassen entspringt ganz natürlich den Interessen einer siegreichen Arbeiterklasse, ihrer eigenen Emanzipation. Eines der ersten Ziele der Klasse wird darin bestehen, die Arbeitszeit zu reduzieren, indem die Arbeitslosen und die Massen ohne Arbeit in der Dritten Welt, aber auch das Kleinbürgertum, die Bauern und sogar die Mitglieder der gestürzten Bourgeoisie in den Produktionsprozess integriert werden.
– Sie wird ohne Nationen sein, weil der Produktionsprozess bereits weit über den nationalen Rahmen hinausgegangen ist und dabei die Nation als organisatorischen Rahmen für die menschliche Gesellschaft überflüssig gemacht hat. Durch die Schaffung der ersten weltweiten Gesellschaft ist der Kapitalismus bereits über den nationalen Rahmen hinaus geschritten, innerhalb dessen er geboren wurde. So wie die bürgerliche Revolution alle feudalen Partikularitäten und Grenzen (Steuern auf den Transport von Waren innerhalb der nationalen Grenzen, spezifische Gesetze, Gewichte und Masseinheiten, die in dieser oder jener Stadt und Region galten) zerstört hat, so wird die proletarische Revolution der letzten Spaltung der Menschheit, die Spaltung in Nationen, ein Ende bereiten.
– Sie wird ohne Geld sein, weil der Begriff des Austausches keine Bedeutung im Kommunismus hat, dessen Überfluss die Befriedigung der Bedürfnisse jedes Gesellschaftsmitglieds erlauben wird. Der Kapitalismus hat die erste Gesellschaft geschaffen, wo der Warenaustausch auf die Gesamtheit der Produktion ausgeweitet ist (im Gegensatz zu früheren Gesellschaften, wo der Warenaustausch im Wesentlichen auf Luxusgüter oder bestimmte Artikel beschränkt blieb, die, wie das Salz, nicht überall produziert werden konnten). Heute wird der Kapitalismus durch seine Unfähigkeit stranguliert, alles auf dem Markt zu verkaufen, was er zu produzieren imstande ist. Die eigentliche Tatsache des Kaufens und Verkaufens ist zu einer Barriere für die Produktion geworden. Der Austausch wird daher verschwinden. Mit ihm wird auch die Idee der Ware verschwinden, einschliesslich der allerersten Ware: die Lohnarbeit.
Diese drei Prinzipien sind den Gemeinplätzen der bürgerlichen Ideologie diametral entgegengesetzt, nach der es eine gierige und gewalttätige „menschliche Natur“ gibt, die die Spaltungen zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten oder zwischen Nationen verewigt. Natürlich eignet sich diese Idee der „menschlichen Natur“ bestens für die Bourgeoisie, rechtfertigt sie doch ihre Klassenherrschaft und hindert die Arbeiterklasse daran, klar und deutlich zu identifizieren, was tatsächlich für das Elend und die Massaker, die die Menschheit heute überwältigen, verantwortlich ist. Aber dies hat rein gar nichts mit der Realität zu tun: Während die „Natur“ (d.h. das Verhalten) anderer Tierarten von ihrer natürlichen Umgebung bestimmt wird, wird die „menschliche Natur“ um so mehr von unserer gesellschaftlichen, nicht natürlichen Umgebung bestimmt, je mehr die Herrschaft des Menschen über die Natur voranschreitet.
Die drei Punkte, die wir oben hervorgehoben haben, sind nicht mehr als äusserst kurze Skizzen. Dennoch haben sie tiefergehende Auswirkungen auf die kommunistische Gesellschaft von morgen.
Es ist richtig, dass Marxisten es stets vermieden haben, „Blaupausen“ zu entwerfen, erstens, weil der Kommunismus von der wirklichen Bewegung der grossen Massen der Menschheit aufgebaut wird, und zweitens, weil wir uns den Kommunismus noch viel weniger vorstellen können, als ein Bauer des 11. Jahrhunderts sich den modernen Kapitalismus vorstellen konnte. Dies hindert uns jedoch nicht daran, einige der allgemeineren Charakteristiken anzugeben, die aus dem folgen, was wir gerade gesagt haben (aus Platznot sehr kurz, versteht sich).
Wahrscheinlich wird die radikalste Änderung dem Verschwinden des Widerspruchs zwischen dem Menschen und seiner Arbeit entspringen. Die kapitalistische Gesellschaft hat den in einer Klassengesellschaft stets existierenden Widerspruch zwischen der Arbeit, mit anderen Worten: die Tätigkeit, die wir nur ausüben, weil wir dazu gezwungen werden, und der Freizeit, mit anderen Worten: die Zeit, in der wir unsere Aktivitäten (natürlich nur begrenzt) frei wählen können, auf die Spitze getrieben.14 Die Nötigung, die uns zu arbeiten zwingt, ist einerseits auf den Mangel, der uns durch die Grenzen der Arbeitsproduktivität aufgezwungen wird, und andererseits auf die Tatsache zurückzuführen, dass ein Teil der Früchte der Arbeit von der ausbeutenden Klasse angeeignet wird. Im Kommunismus wird dieser Mangel nicht mehr existieren: Zum ersten Mal in der Geschichte wird die menschliche Spezies frei produzieren, und die Produktion wird ausschliesslich auf die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ausgerichtet sein. Wir können sogar annehmen, dass die Wörter „Arbeit“ und „Freizeit“ aus der Sprache verschwinden werden, da keine Aktivität aus schlichter Notwendigkeit unternommen wird. Die Entscheidung, zu produzieren oder nicht, wird nicht allein von der Nützlichkeit des zu produzierenden Dings abhängen, sondern auch von der Lust oder dem Interesse am Produktionsprozess selbst.
Die eigentliche Idee der „Befriedigung von Bedürfnissen“ wird ihren Charakter ändern. Grundbedürfnisse (Lebensmittel, Kleidung, Obdach) werden einen immer weniger wichtigen Platz einnehmen, während die Bedürfnisse, die von der gesellschaftlichen Entfaltung der Spezies bestimmt werden, immer mehr in den Vordergrund rücken. Es wird keine Unterscheidung mehr zwischen „künstlerischer“ und nicht-künstlerischer Arbeit geben. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft, die den Widerspruch zwischen „Kunst“ und „Nicht-Kunst“ auf die äusserste Spitze getrieben hat. Erst mit dem Aufstieg des Kapitalismus begann der Künstler, sein Werk zu unterzeichnen, und wurde die Kunst zu einer spezifischen Tätigkeit, die von der täglichen Produktion abgetrennt wurde. Heute hat diese Tendenz mit einer fast totalen Trennung zwischen den „schönen Künsten“ auf der einen Seite (unverständlich für die grosse Mehrheit der Bevölkerung und reserviert für eine dünne intellektuelle Minderheit) und der industrialisierten Kunstproduktion der Werbung und der „Popkultur“, beide reserviert für die „Freizeitaktivitäten“, ihren Höhepunkt erreicht. All dies ist nichts anderes als die Folge des Widerspruchs zwischen dem Menschen und seiner Arbeit. Mit dem Verschwinden dieses Widerspruchs wird auch der Widerspruch zwischen „nützlicher“ und „künstlerischer“ Produktion verschwinden. Schönheit, die Befriedigung der Sinne und des Geistes werden ebenfalls fundamentale menschliche Bedürfnisse sein, die der Produktionsprozess befriedigen Muss.15
Auch die Erziehung wird ihren gesamten Charakter ändern. In jeder Gesellschaft ist es der Zweck der Erziehung von Kindern, ihnen zu erlauben, ihren Platz in der erwachsenen Gesellschaft einzunehmen. Unter dem Kapitalismus bedeutet das „Einnehmen seines Platzes in der erwachsenen Gesellschaft“ für sie, ihren Platz in einem System brutaler Ausbeutung einzunehmen, wo diejenigen, die nicht profitabel sind, faktisch keinen Platz haben. Der Zweck der Erziehung (den uns die „alternativen Kosmopoliten“ als nicht „zum Verkauf“ stehend aufschwatzen) ist es daher vor allem, die neue Generation mit Fähigkeiten auszustatten, die notwendig sind, um das nationale Kapital gegen seine Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu stärken. Es ist ebenfalls klar, dass der Kapitalismus absolut kein Interesse daran hat, ein kritisches Verhalten gegenüber seiner eigenen gesellschaftlichen Organisation zu fördern. Kurz, der Zweck der Erziehung ist nichts anderes, als junge Menschen zu unterwerfen und sie nach der kapitalistischen Gesellschaft und den Erfordernissen ihres Produktionsprozesses zu gestalten; kein Wunder also, dass Schulen immer mehr zu Lernfabriken werden und die Lehrer wie Arbeiter am Fliessband wirken.
Im Kommunismus wird im Gegensatz dazu die Integration der Jungen in die erwachsene Welt die grösstmögliche Schärfung all ihrer physischen und intellektuellen Sinne fordern. In einem Produktionssystem, dass von den Erfordernissen des Profits völlig befreit sein wird, wird sich die erwachsene Welt dem Kind allmählich, entsprechend der Entwicklung seiner Fähigkeiten, öffnen, und der junge Erwachsene wird nicht mehr der peinigenden Erfahrung ausgesetzt sein, die Schule zu verlassen, um in einen grimmigen Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt geworfen zu werden. So wie es keinen Widerspruch mehr zwischen „Arbeit“ und „Freizeit“ oder „Produktion“ und „Kunst“ geben wird, so wird es auch keinen Gegensatz zwischen der Schule und der „Welt der Arbeit“ geben. Die Wörter „Schule“, „Fabrik“, „Büro“, „Kunstgalerie“, „Museum“ werden verschwinden17 oder ihre Bedeutung völlig verändern, da die Gesamtheit der menschlichen Aktivität in einem harmonischen Bemühen zusammengefasst sein wird, um die physischen, intellektuellen und sinnlichen Bedürfnisse der Spezies zu entwickeln und zu befriedigen.
Kommunisten sind keine Utopisten. Wir haben hier versucht, äusserst kurze und notwendigerweise beschränkte Skizzen dessen zu entwerfen, wie der neuen Gesellschaft aussehen Muss, die der heutige Kapitalismus in seinem Schoss trägt. In diesem Sinn ist der Slogan der „alternativen Kosmopoliten“, dass „eine andere Welt möglich ist“ (oder gar „andere Welten möglich sind“), eine reine Mystifikation. Nur eine andere Welt ist möglich: der Kommunismus.
Aber die Geburt dieser neuen Welt ist beileibe nicht unvermeidlich. In diesem Zusammenhang gibt es keinen Unterschied zwischen dem Kapitalismus und den anderen Klassengesellschaften, die ihm vorausgingen, wo „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Bnaron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte (...) in stetem Gegensatz zueinander (standen), (....) einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf (führten), einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“18 Mit anderen Worten: gleichgültig, wie notwendig sie ist, ist die kommunistische Revolution nicht unausweichlich. Der Übergang vom Kapitalismus in die neue Welt wird nicht möglich sein ohne die Gewalt der proletarischen Revolution als ihre unvermeidliche Geburtshelferin.19 Doch die Alternative unter den Bedingungen eines fortgeschrittenen Zerfalls der heutigen Gesellschaft ist die Vernichtung nicht nur der beiden „kämpfenden Klassen“, sondern der gesamten menschlichen Art. Daher die gigantische Verantwortung, die auf den Schultern der weltweiten revolutionären Klasse lastet.
Von der heutigen Situation aus betrachtet, mag die Entwicklung der revolutionären Fertigkeiten des Proletariats als solch ein unmöglicher, abgehobener Traum erscheinen, dass die Versuchung gross ist, heute „irgendetwas zu tun“, selbst wenn dies bedeuten sollte, sich auf jene alten Schurken der stalinistischen und sozialistischen Parteien, anders ausgedrückt, den linken Flügel des bürgerlichen Staatsapparates, einzulassen. Doch für die revolutionären Minderheiten ist der Reformismus kein Notbehelf, den man mangels besserer Alternativen anwendet. Er ist im Gegenteil ein tödlicher Kompromiss mit dem Klassenfeind. Der Weg zur Revolution, der allein eine „andere Welt“ schaffen kann, wird lang und schwierig sein, aber es ist der einzige Weg, der existiert.
Wir veröffentlichen nachstehend den im Herbst 2003 anlässlich der Zusammenkunft des Zentralorgans der IKS präsentierten und angenommenen Klassenkampfbericht.1 Dieser Bericht bestätigt die Analysen der Organisation über die Beständigkeit des Kurses hin zu Klassenkonfrontationen (der durch den internationalen Aufschwung des Klassenkampfs 1968 einsetzte) trotz dem schwerwiegenden Rückschlag, den das Proletariat auf der Bewusstseinsebene seit dem Zusammenbruch des Ostblocks hat einstecken müssen. Der Bericht stellte sich die besondere Aufgabe, eine Einschätzung des unmittelbaren und langfristigen Einflusses der Verschärfung der Wirtschaftskrise und der kapitalistischen Angriffe auf die Arbeiterklasse vorzunehmen. So stellt er fest, dass die „breiten Mobilisierungen vom Frühling 2003 in Frankreich und in Österreich einen Wendepunkt im Klassenkampf seit 1989 darstellen. Sie sind ein erster bedeutender Schritt in der Wiederaneignung der Kampfbereitschaft in der Arbeiterklasse nach der längsten Rückflussperiode seit 1968.”
Wir sind noch weit von einer internationalen Welle massiver Kämpfe entfernt, da sich die Kampfbereitschaft auf internationaler Ebene noch in embryonalem und heterogenem Zustand befindet. Man muss jedoch die beträchtliche Verschlimmerung der Entwicklungsperspektiven des Kapitalismus sowohl bezüglich des Abbaus des Wohlfahrtsstaates als auch die Zuspitzung der Ausbeutung in allen Formen und schliesslich die Entwicklung der Arbeitslosigkeit einbeziehen, die zusammen als Hefe in der Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse wirken. Der Bericht betont insbesondere die Tiefe, aber auch die Langsamkeit der Wiederaufnahme des Klassenkampfs.
Seit der Niederschrift dieses Berichts haben sich die Merkmale des Wechsels in der Dynamik in der Arbeiterklasse nicht verändert. Die seitherige Entwicklung illustriert eine im Bericht angesprochene Tendenz, dass erst isolierte Manifestationen des Klassenkampfs den gewerkschaftlich vorgegebenen Rahmen verlassen. Die territoriale Presse der IKS hat über solche Kämpfe vom Ende des Jahres 2003 im Transportwesen in Italien und bei der Post in Grossbritannien berichtet. Diese Kämpfe haben die Basisgewerkschaften auf den Plan gerufen, um Sabotagearbeit zu verrichten. Auch besteht die bereits vor diesem Bericht von der IKS aufgezeigte Tendenz zum Auftauchen von nach revolutionärer Kohärenz suchenden Elementen fort.
Das ist ein sehr langer Weg, den die Arbeiterklasse wird zurück legen müssen. Die Kämpfe, zu denen sie gezwungen sein wird, werden den Schmelztiegel der Reflexion darstellen, die durch die Verschärfung der Krise verstärkt und durch die Intervention der Revolutionäre befruchtet wird. Durch sie kann die Klasse ihre Identität und ihr Selbstvertrauen wieder gewinnen, an den historischen Erfahrungen anknüpfen und die Klassensolidarität entwickeln.
Der Klassenkampfbericht für den 15. Kongress der IKS2 unterstrich den unausweichlichen Charakter einer Antwort der Arbeiterklasse auf die qualitative Entwicklung der Krise und auf die scharfen Angriffe auf eine neue Generation ungeschlagener Arbeiter. Die Antwort besteht aus einer langsamen, aber bedeutsamen Wiederaneignung der Kampfbereitschaft. Der Bericht identifizierte eine Verbreitung und eine zwar noch embryonale aber doch wahrnehmbare Vertiefung der unterirdischen Reifung des Bewusstseins. Er betonte die Bedeutung der Tendenz zu massiveren Kämpfen für die Wiederaneignung der Klassenidentität und des Selbstvertrauens durch die Arbeiterklasse. Er zeigte auf, dass mit der objektiven Entwicklung der Widersprüche des Systems die Herausbildung eines ausreichenden Klassenbewusstseins – insbesondere bezüglich der Zurückgewinnung der kommunistischen Perspektive – die entscheidende Frage für die Zukunft der Menschheit wird. Er setzte den Akzent auf die historische Bedeutung des Auftauchens einer neuen Generation von Revolutionären und betonte, dass dieser Prozess trotz des Rückgangs der Kampfbereitschaft und des Klassenbewusstsein in der Gesamtheit der Arbeiterklasse schon seit 1989 in Gang ist. Der Bericht zeigte also die Grenzen des Rückflusses auf und betonte, dass der historische Kurs in Richtung massiver Klassenkonfrontationen bestehen bleibt und dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, den erlittenen Rückschlag zu überwinden. Gleichzeitig ging der Bericht auf die Fähigkeit der herrschenden Klasse ein, all die Implikationen dieser Entwicklung zu erfassen und ihnen entgegen zu treten. Er stellte diese Entwicklung in den Kontext der negativen Auswirkungen des Zerfalls des Kapitalismus. Er wies auf die enorme Verantwortung der revolutionären Organisationen angesichts der voranschreitenden Bemühungen der Arbeiterklasse und der neuen Generationen von kämpfenden Arbeitern und Revolutionären hin.
Beinahe unmittelbar nach dem 15. Kongress und in der auf den Irakkrieg folgenden Periode hat die Mobilisierung der Arbeiter in Frankreich (sie gehört zu den bedeutendsten Mobilisierungen seit dem Zweiten Weltkrieg) diese Perspektiven schnell bestätigt. In der Revue Internationale 114 haben wir eine erste Bilanz dieser Bewegung gezogen und festgestellt, dass diese Kämpfe die These eines angeblichen Verschwindens der Arbeiterklasse widerlegen. Der Artikel bekräftigt, dass die gegenwärtigen Angriffe „die Hefe im langsamen Reifungsprozess der Bedingungen für das Auftauchen von massiven Kämpfen bilden, die notwendig für die Wiederaneignung der proletarischen Klassenidentität und für die schrittweise Auflösung der Illusionen hauptsächlich in die mögliche Reformierbarkeit des Systems sind. Die Massenaktionen werden die Wiedererrichtung des Bewusstseins über die eigene Ausbeutung sowie über die Bedeutung als Trägerin einer anderen historischen Perspektive für die Gesellschaft sein. Deshalb ist die Krise der Verbündete des Proletariats. Der Weg, den sich die Arbeiterklasse für diese eigene revolutionäre Perspektive bahnen muss, ist jedoch keine Autobahn. Er wird schrecklich lang, von Fallen besetzt sein, die der Feind ihr stellen wird.“ Die im Klassenkampfbericht vom 15. Kongress herausgearbeiteten Perspektiven haben sich somit nicht nur durch die Entwicklung einer neuen Generation von suchenden Elementen auf internationaler Ebene bestätigt, sondern auch durch die Arbeiterkämpfe.
Der vorliegende Klassenkampfbericht beschränkt sich also auf eine Aktualisierung und eine genauere Überprüfung der langfristigen Bedeutung gewisser Aspekte der letzten Arbeiterkämpfe.
Die breiten Mobilisierungen vom Frühling 2003 in Frankreich und in Österreich stellen in den Klassenkämpfen seit 1989 einen Wendepunkt dar. Sie sind ein erster wichtiger Schritt in der Wiederaneignung der Kampfbereitschaft der Arbeiter nach der längsten Rückflussperiode seit 1968. Die 90er-Jahre haben sicher schon sporadische, aber doch wichtige Ausdrücke dieser Kampfbereitschaft gesehen. Die Gleichzeitigkeit der Bewegungen in Frankreich und Österreich indessen sowie weiter die Tatsache, dass die deutschen Gewerkschaften gleich unmittelbar danach die Niederlage der ostdeutschen Metallarbeiter3 organisierten, um präventiv gegen den proletarischen Widerstand vorzugehen, beleuchten die Entwicklung seit Beginn des neuen Jahrtausends. Diese Ereignisse bestätigen die Tatsache, dass die Arbeiterklasse angesichts der dramatischen Verschärfung der Krise und den stets massiveren und allgemeineren Angriffen zunehmend zum Kampf gezwungen ist, und dies trotz dem noch immer fehlenden Selbstvertrauen.
Diese Änderung betrifft nicht nur die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse, sondern auch ihren Geisteszustand, die Perspektive, in deren Rahmen sich ihre Aktivitäten abspielen. Es gibt derzeit Anzeichen eines Verlusts von Illusionen nicht nur über die typischen Mystifikationen der 90er-Jahre (die IT-Revolution, die individuelle Bereicherung an der Börse usw.), sondern auch über diejenigen, die durch die Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgerufen worden sind, so die Hoffnung auf ein besseres Leben für die nachfolgende Generation und einen geruhsamen Lebensabend für diejenigen, die die Lohnarbeit überlebt haben.
Der Artikel in der Revue Internationale 114 erinnert an die massive Rückkehr des Proletariats auf der historischen Szene 1968 und an das Wiederauftauchen einer revolutionären Perspektive, die nicht nur eine Antwort auf die Angriffe auf unmittelbarer Ebene darstellten, sondern vor allem auch auf die Auflösung von Illusionen über eine bessere Zukunft, die der Kapitalismus in der Nachkriegszeit scheinbar verhiess. Im Gegensatz dazu, was uns eine vulgäre und mechanistische Deformation des historischen Materialismus glauben machen wollte, sind solche Wendungen im Klassenkampf, selbst wenn sie durch unmittelbare Verschlechterung der materiellen Lebensbedingungen verursacht werden, immer das Resultat einer veränderten Wahrnehmung der Zukunft. Die bürgerliche Revolution in Frankreich ist nicht mit dem Ausbruch der Krise des Feudalismus (die bereits seit längerem schwelte) explodiert, sondern als es offensichtlich wurde, dass der Absolutismus dieser Krise nicht mehr die Stirn bieten konnte. In der gleichen Weise begann die Bewegung, die zur ersten weltweiten revolutionären Welle führen sollte, nicht im August 1914, sondern erst, als die Illusionen über eine schnelle militärische Lösung des Weltkrieges zerstört waren.
Deshalb auferlegen uns die kürzlich stattgefunden Kämpfe die Hauptaufgabe, ihre historische Bedeutung zu verstehen.
Nicht jeder Wendepunkt im Klassenkampf hat dieselbe Bedeutung und Tragweite wie 1917 oder 1968. Diese Daten bezeichnen einen Wechsel des historischen Kurses, während 2003 lediglich den Anfang des Endes einer Rückflussphase innerhalb des allgemeinen Kurses hin zu massiven Klassenkonfrontationen darstellt. Von 1968 bis 1989 war der Klassenkampf bereits von mehreren Rückfluss- und Aufschwungphasen gekennzeichnet. Insbesondere führte die Ende der 70er-Jahre entfesselte Dynamik schnell zum Höhepunkt der Massenstreiks im Sommer 1980 in Polen. Das Ausmass der veränderten Bedingungen zwang die Bourgeoisie damals zu einer unverzüglichen Änderung der politischen Orientierung: Die Linke wurde in die Opposition versetzt, um die Kämpfe besser von innen her zu sabotieren.4 Es ist auch notwendig, zwischen der gegenwärtigen Änderung bei der Wiederaneignung der Kampfbereitschaft durch die Arbeiterklasse und dem Aufschwung in den 70er- und 80er-Jahren zu unterscheiden.
Auf viel allgemeinerer Ebene muss man in der Lage sein, zwischen einer Situation zu unterscheiden, in der man eines Morgens aufwacht und die Welt ist nicht mehr dieselbe wie am Vortag, und Änderungen, die beinahe von der Allgemeinheit beinahe unbemerkt vor sich gehen wie beispielsweise der Gezeitenwechsel. Die gegenwärtige Entwicklung gehört unbestreitbar letzterer an. In diesem Sinn bedeuten die Mobilisierungen vor Kurzem gegen die Angriffe auf das Rentenwesen in keiner Weise eine unmittelbare und spektakuläre Anpassung der Situation, die eine sofortige und grundlegende Entfaltung der politischen Kräfte der Bourgeoisie zur Gegenwehr verlangen würde.
Wir sind noch weit von einer internationalen Welle massiver Kämpfe entfernt. In Frankreich war der massive Charakter der Mobilisierungen vom Frühling 2003 hauptsächlich auf das Erziehungswesen beschränkt. In Österreich war die Mobilisierung zwar breiter, dafür aber zeitlich auf einige Aktionstage im öffentlichen Sektor beschränkt. Der Metallarbeiterstreik in Ostdeutschland war in keiner Art und Weise ein Ausdruck einer unmittelbaren Kampfbereitschaft der Arbeiter, sondern eher eine für die noch am wenigsten kämpferischen Teile der Klasse (die noch von der kurz nach der deutschen Wiedervereinigung aufgetretenen Massenarbeitslosigkeit traumatisiert sind) aufgestellte Falle, um allgemein den Eindruck zu erwecken, dass sich ein Kampf nicht lohne. Weiter sind die Nachrichten über die Bewegungen in Frankreich und Österreich teilweise einem vollständigen Black Out unterlegen, ausser ganz am Ende der Bewegung, wo sie zur Verbreitung eines entmutigenden Bildes benutzt wurden. In anderen für den Klassenkampf zentralen Ländern wie Italien, Grossbritannien, Spanien oder die Beneluxländer gab es bis kürzlich keine Massenmobilisierungen. Ausrücke einer der grossen Gewerkschaftszentralen entgleitenden Kampfbereitschaft wie der wilde Streik des Personals von British Airways in Heathrow, bei Alcatel in Toulouse oder in Puertollano in Spanien im vergangenen Sommer (siehe dazu die Révolution internationale 339) blieben punktuell und isoliert.
Selbst in Frankreich verunmöglichten die ungenügende Entwicklung der Kampfbereitschaft und vor allem deren verbreitete Abwesenheit die Ausdehnung dieser Bewegung über den Erziehungssektor hinaus.
Sowohl auf internationaler also auch auf nationaler Ebene befindet sich die Kampfbereitschaft also noch im embryonalen Stadium und ist noch sehr heterogen. Der bisher wichtigste Ausdruck ist der Kampf der Lehrer in Frankreich im letzten Frühling und er ist in erster Linie das Resultat einer Provokation der Bourgeoisie, die darin bestand, diesen bestimmten Sektor schwerer anzugreifen, um die Antwort auf die Rentenreform, die die ganze Arbeiterklasse betrifft, auf diesen Sektor zu polarisieren.5 Angesichts der grossangelegten Manöver der Bourgeoisie muss man auch die grosse Naivität, ja Blindheit der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit inklusive die suchenden Gruppen und Teile des politisch-proletarischen Milieus (hauptsächlich die Gruppen der kommunistischen Linken) und selbst vieler unserer Sympathisanten feststellen. Im Augenblick ist die Bourgeoisie nicht nur in der Lage, die ersten Ausdrücke der Unzufriedenheit bei den Arbeitern in Schach zu halten und zu isolieren, sondern sie kann sogar mit mehr oder weniger Erfolg (mehr in Deutschland als in Frankreich) diese noch relativ schwache Kampfbereitschaft gegen die langfristige Entwicklung der allgemeinen Kampfbereitschaft wenden.
Noch viel wichtiger als das Vorangegangene ist die Tatsache, dass die Bourgeoisie noch nicht zur Strategie der Linken in der Opposition zurückkehren muss. In Deutschland hat die Bourgeoisie die grösste Wahlfreiheit zwischen einer linken oder einer rechten Regierung. Anlässlich der Offensive Agenda 2010 gegen die Arbeiter haben sich 95% der Delegierten sowohl der SPD als auch der Grünen zugunsten eines Verbleibs in der Regierung ausgesprochen. Grossbritannien und Deutschland bildeten in den 70er und 80er-Jahren die Avantgarde der Weltbourgeoisie bei der Umsetzung der Politik der Linken in der Opposition als geeignetstem Mittel gegen die Arbeiterklasse. Und selbst Grossbritannien ist in der Lage, mit der linken Regierung die soziale Front unter Kontrolle zu halten.
Im Unterschied zur Situation, die Ende der 90er-Jahre vorherrschte, können wir heute nicht mehr von einer Politik der Linken an der Regierung als vorherrschende Orientierung der europäischen Bourgeoisie sprechen. Vor fünf Jahren war die Welle der linken Wahlsiege auch an die Illusionen über die ökonomische Lage gebunden. Heute muss sich die Bourgeoisie angesichts der Tiefe der gegenwärtigen Krise darum kümmern, dass die Regierungen ab und zu wechseln, um die demokratischen Illusionen zu stärken.6 Wir müssen uns in diesem Kontext daran erinnern, dass die deutsche Bourgeoisie schon im letzten Jahr zwar die Wiederwahl Schröders begrüsst hat, aber auch zum Ausdruck gebracht hat, dass sie mit einer konservativen Regierung Stoiber durchaus auch zufrieden gewesen wäre.
Die Tatsache, dass die ersten Scharmützel des Klassenkampfs in einem langen und schwierigen Prozess von Klassenkämpfen hin zu massiveren Kämpfen in Frankreich und Österreich stattfinden, ist vielleicht gar nicht so zufällig, wie es scheint. Wenn zwar das französische Proletariat für seinen explosiven Charakter bekannt ist, was teilweise auch erklärt, dass es 1968 an der Spitze des internationalen Wiederaufschwungs des Klassenkampfs stand, so kann man das schwerlich von der österreichischen Arbeiterklasse der Nachkriegszeit behaupten. Was diese beiden Länder jedoch gemeinsam haben, das ist die Tatsache, dass die massiven Angriffe das Rentenwesen zum zentralen Inhalt hatten. Man muss auch bemerken, dass die deutsche Regierung, die gegenwärtig dabei ist, die weitreichendste Attacke in Westeuropa auszulösen, noch sehr vorsichtig bezüglich der Frage der Renten zu Werke geht. Frankreich und Österreich hingegen befinden sich unter denjenigen Ländern, in denen hauptsächlich wegen der politischen Schwäche insbesondere der rechten Bourgeoisie die Renten bisher viel weniger unter Beschuss geraten waren. Deshalb werden in diesen Ländern die Erhöhung der Anzahl der bis zur Rente zu arbeitenden Jahre sowie die Rentenkürzungen viel bitterer wahrgenommen.
Die Verschärfung der Krise zwingt also die Bourgeoisie dazu, mit der Verzögerung des Rückzugs in den Ruhestand ein soziales Zückerchen zu streichen. Bisher liess gerade dieses Zückerchen die Arbeiter die bittere Pille der unerträglichen Ausbeutungsbedingungen der letzten Jahrzehnte schlucken und es maskierte auch das tatsächliche Ausmass der Arbeitslosigkeit.
Angesichts der in erschreckendem Ausmass zu Beginn der 70er-Jahre wieder auftauchenden Geissel reagierte die Bourgeoisie mit wohlfahrtsstaatlichen Massnahmen. Diese Massnahmen sind vom ökonomischen Standpunkt aus betrachtet ein Nonsens und bilden heute einen der Hauptgründe für die unermessliche öffentliche Verschuldung. Der gegenwärtige Abbau des Wohlfahrtsstaats öffnet der tiefgreifenden Frage nach der Zukunftsperspektive des Kapitalismus die Tür.
Nicht alle kapitalistischen Angriffe rufen dieselben Verteidigungsreaktionen der Arbeiterklasse hervor. Es ist viel leichter, gegen Lohnsenkungen oder die Verlängerung des Arbeitstags zu kämpfen als gegen die Verminderung des relativen Lohns, die das Resultat einer Zunahme der Arbeitsproduktivität (aufgrund der Technologieentwicklung) und also des Akkumulationsprozesses des Kapitals selbst ist. Diese Realität beschreibt Rosa Luxemburg in folgenden Worten: „Eine Lohnverringerung, die eine Herabsetzung der reellen Lebenshaltung der Arbeiter herbeiführt, ist ein sichtbares Attentat der Kapitalisten gegen die Arbeiter und wird von diesen (...) in der Regel mit sofortigem Kampf beantwortet, in günstigen Fällen auch abgewehrt. Hingegen das Sinken des relativen Lohns wird anscheinend ohne die geringste persönliche Teilnahme des Kapitalisten bewirkt, und dagegen haben die Arbeiter innerhalb des Lohnsystems, das heisst auf dem Boden der Warenproduktion, gar keine Möglichkeit des Kampfes und der Abwehr.“7
Der Anstieg der Arbeitslosigkeit stellt die Arbeiterklasse vor dieselben Schwierigkeiten wie die Intensivierung der Ausbeutung (Angriff auf den relativen Lohn). Wenn der kapitalistische Angriff der Arbeitslosigkeit die Jungen betrifft, die noch nie gearbeitet haben, enthält sie nicht die explosive Dimension wie bei Entlassungen, schlicht da gar niemand entlassen werden muss. Die Existenz einer höheren Arbeitslosigkeit jedoch stellt einen antreibenden Faktor der unmittelbaren Arbeiterkämpfe dar, weil sie für eine wachsende Anzahl von noch beschäftigen Arbeitern eine ständige Gefahr repräsentiert, aber auch weil dieses gesellschaftliche Phänomen Fragen hervorruft, deren Antwort nicht um die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels umhin kommt. Rosa Luxemburg fügt bezüglich des Kampfs gegen die relative Lohnsenkung hinzu: „Der Kampf gegen das Sinken des relativen Lohns bedeutet deshalb auch den Kampf gegen den Warencharakter der Arbeitskraft, das heisst gegen die kapitalistische Produktion im ganzen. Der Kampf gegen den Fall des relativen Lohns ist also nicht mehr ein Kampf auf dem Boden der Warenwirtschaft, sondern ein revolutionärer, umstürzlerischer Anlauf gegen den Bestand dieser Wirtschaft, er ist die sozialistische Bewegung des Proletariats.“
Die 1930er-Jahre zeigten, wie mit der Massenarbeitslosigkeit die absolute Verarmung explodiert. Wäre der Arbeiterklasse nicht im voraus eine Niederlage zugefügt worden, wäre das allgemeine, absolute Gesetz der Kapitalakkumulation Gefahr gelaufen, sich ins Gegenteil zu kehren: das Gesetz der Revolution. Die Arbeiterklasse hat ein historisches Gedächtnis, das mit der Vertiefung der Krise langsam aktiviert wird. Die Massenarbeitslosigkeit und die Lohnsenkungen wecken heute mit der allgemeinen Verunsicherung und der generalisierten Verarmung wieder die Erinnerung an die 30er-Jahre. Der Abbau des Wohlfahrtsstaates wird die marxistische Sichtweise bestätigen.
Wenn Rosa Luxemburg darauf hinweist, dass die Arbeiter auf dem Terrain der Produktion von Konsumgütern nicht die geringste Möglichkeit haben, sich gegen die relative Lohnsenkung zur Wehr zu setzen, so ist das weder Fatalismus noch Pseudoradikalismus, wie ihn die letzte Essener Tendenz der KAPD mit der Parole „die Revolution oder nichts“ vertreten hat, sondern die Erkenntnis, dass der Kampf nicht in den Grenzen der unmittelbaren Verteidigungskämpfe bleiben kann und mit einer weitest möglichen politischen Vision geführt werden muss. In den 80er-Jahren sind die Fragen der Arbeitslosigkeit und der Intensivierung der Ausbeutung bereits gestellt worden, jedoch oft auf eine eingeschränkte und lokale Weise. Die englischen Minenarbeiter achteten nur auf die Rettung ihrer Arbeitsplätze. Die heutige qualitative Vertiefung der Krise erlaubt, dass Fragen über die Arbeitslosigkeit, die Armut, die Ausbeutung in umfassender und auf politische Art gestellt werden. Das ist auch bei der Rente, der Gesundheit, der Versorgung von Arbeitslosen, den Lebensbedingungen, der Länge des Arbeitslebens und bei der Zukunft der kommenden Generationen der Fall. In noch sehr embryonaler Form ist das in den letzten Kämpfen gegen die Angriffe auf das Rentenwesen identifizierte Potential vorhanden. Diese langfristige Lehre ist am wichtigsten. Sie ist von grösserer Tragweite als der Rhythmus, mit dem die unmittelbare Kampfbereitschaft nun wieder hergestellt wird. Rosa Luxemburg erläutert, dass die direkte Konfrontation mit den zerstörerischen Auswirkungen der objektiven Mechanismen des Kapitalismus (Massenarbeitslosigkeit, Intensivierung der relativen Ausbeutung) die Auslösung von Kämpfen zunehmend erschwert. Deshalb werden sie auf der Ebene der Politisierung auch bedeutsamer, selbst bei einem langsameren Rhythmus und mühsameren Verlauf.
Mit der Vertiefung der Krise kann es sich das Kapital nicht mehr leisten, bedeutende materielle Zugeständnisse zu machen um damit das Ansehen der Gewerkschaften aufzupolieren, wie dies 1995 in Frankreich noch der Fall war.8 Trotz der gegenwärtigen Illusionen der Arbeiter sind die Möglichkeiten der Bourgeoisie, die keimende Kampfbereitschaft für gross angelegte Manöver zu missbrauchen, eingeschränkt. Diese Grenzen zeigen sich daran, dass die Gewerkschaften gezwungen sind, allmählich wieder ihre Rolle als Saboteure der Kämpfe zu übernehmen: „Heute wird wieder auf das in der Geschichte des Klassenkampfes eher klassische Schema zurückgegriffen: Die Regierung schlägt hart zu, die Gewerkschaften widersetzen sich und predigen zunächst die Gewerkschaftseinheit, um die Arbeiter massenhaft hinter sich zu scharen und unter gewerkschaftlicher Kontrolle einzupacken. Dann eröffnet die Regierung Verhandlungen, und die Gewerkschaften geben die Einheit auf, um besser die Spaltung und Verwirrung in die Reihen der Arbeiter hinein zu tragen. Diese Methode, die auf der gewerkschaftlichen Spaltung gegenüber dem Anstieg des Klassenkampfs aufbaut, ist für die Bourgeoisie die bewährteste, um allgemein den gewerkschaftlichen Rahmen zu halten, wobei der Verlust des Ansehens soweit wie möglich auf den einen oder anderen bereits im voraus bestimmten Gewerkschaftsapparat konzentriert wird, der einige Federn lassen muss. Dies bedeutet aber, dass die Gewerkschaften heute wieder der Feuerprobe unterworfen werden und dass die unweigerliche Entwicklung der kommenden Kämpfe für die Arbeiterklasse erneut das Problem der Auseinandersetzung mit ihren Feinden stellen wird, in der sie ihre Klasseninteressen verteidigen und die Erfordernisse des Kampfes erkennen muss.“9
Auch wenn die Bourgeoisie heute bei der Durchführung von gross angelegten Manövern gegenüber der Arbeiterklasse noch kaum beunruhigt ist, so wird die Verschlimmerung der wirtschaftlichen Lage dazu tendieren, dass immer häufiger spontane, punktuelle, isolierte Konfrontationen zwischen Arbeitern und Gewerkschaften stattfinden.
Die Wiederholung des klassischen Schemas der Konfrontation mit der gewerkschaftlichen Sabotage, die nun wieder auf die Tagesordnung kommt, begünstigt so die Möglichkeit für die Arbeiter, sich auf die Lehren der Vergangenheit zu beziehen.
Das sollte uns aber nicht zu einer schematischen Haltung verleiten, die für das Verständnis der zukünftigen Kämpfe und die Intervention in ihnen einfach auf den Rahmen und die Kriterien der 1980er-Jahre abstellt. Die gegenwärtigen Kämpfe sind diejenigen einer Klasse, die erst wieder zu ihrer ganz elementaren Klassenidentität zurückfinden muss. Die Schwierigkeit zu verstehen, dass man zu einer gesellschaftlichen Klasse gehört, und die fehlende Erkenntnis darüber, dass man einem Klassenfeind gegenübersteht, sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Auch wenn die Arbeiter noch ein Grundgefühl für die Notwendigkeit der Solidarität haben (da dies zu den proletarischen Daseinsbedingungen gehört), müssen sie wieder einen Begriff dafür gewinnen, was die Klassensolidarität wirklich ist.
Um die Rentenreform umzusetzen, musste die Bourgeoisie nicht auf die gewerkschaftliche Sabotage der Ausweitung der Bewegung zurückgreifen. Der Kern ihrer Strategie bestand darin, dass die Lehrer als Hauptziel spezifische Forderungen aufstellten. Zu diesem Zweck sollte dieser Sektor, der bereits durch frühere Angriffe arg betroffen war, nicht nur den allgemeinen Angriff auf die Renten über sich ergehen lassen, sondern darüber hinaus einen zusätzlichen besonderen, nämlich den Plan der Dezentralisierung des nicht unterrichtenden Personals, auf welchen der Sektor in der Tat die Mobilisierung ganz konzentrierte. Zentrale Forderungen für sich zu beanspruchen, die den Kampf zur Niederlage verurteilen, ist immer das Merkmal einer wesentlichen Schwäche der Arbeiterklasse, die sie noch überwinden muss, um bedeutend voranzukommen. Ein Beispiel, das diese Notwendigkeit veranschaulicht, ist dasjenige der Kämpfe von 1980 in Polen, wo die Illusionen bei den Arbeitern über die westliche Demokratie es ermöglichten, dass die Forderung nach „freien Gewerkschaften“ schliesslich zuoberst auf der Forderungsliste stand, die der Regierung vorgelegt wurde, was das Tor zur Niederlage und zur Unterdrückung der Bewegung aufstiess.
In den Kämpfen in Frankreich im Frühjahr 2003 führten der Verlust der Klassenidentität und des Begriffs der Arbeitersolidartität dazu, dass die Lehrer schliesslich akzeptierten, dass ihre besonderen Forderungen vor die allgemeine Frage der Angriffe auf die Renten gestellt wurden. Die Revolutionäre dürfen nicht davor zurückschrecken, diese Schwäche der Klasse einzugestehen und ihre Intervention danach auszurichten.
Der Klassenkampfbericht des 15. Kongresses legt besonderes Gewicht auf das Wiedererstarken der Kampfbereitschaft, das es dem Proletariat erst erlauben wird voran zu kommen. Doch hat dies nichts mit einer operaistischen Anbetung der Kampfbereitschaft als solcher zu tun. In den 30er-Jahren gelang es der Bourgeoisie, die Kampfbereitschaft der Arbeiter auf den Weg der Kriegsvorbereitung zu lenken. Die Wichtigkeit der heutigen Kämpfe besteht darin, dass sie den Ort der Bewusstseinsentwicklung in der Arbeiterklasse darstellen können. Auch wenn es unmittelbar lediglich und bescheiden um die Wiedererlangung der Klassenidentität durch das Proletariat geht, so ist dies doch der Knackpunkt für die Wiederbelebung des kollektiven und historischen Gedächtnisses des Proletariats und für die Entfaltung der Klassensolidarität. Diese ist die einzige Alternative zur wahnsinnigen bürgerlichen Konkurrenzlogik, wo jeder gegen jeden kämpft.
Die Bourgeoisie ihrerseits macht sich keine Illusionen darüber, dass diese Frage nebensächlich wäre. Bis heute hat sie alles daran gesetzt zu verhindern, dass eine Bewegung losbricht, die den Arbeitern ihre Zugehörigkeit zu einer und derselben Klasse in Erinnerung rufen könnte. Die Lehre aus 2003 ist, dass sich mit der Zuspitzung der Krise der Arbeiterkampf unweigerlich entwickeln wird. Es ist nicht so sehr die Kampfbereitschaft als solche, die die herrschende Klasse beunruhigt, sondern vielmehr die Gefahr, dass die Auseinandersetzungen das Bewusstsein der Arbeiterklasse nähren. Die Bourgeoisie ist heute in dieser Frage nicht weniger, sondern mehr in Sorge als in der Vergangenheit, und zwar weil die Krise heute tiefer und globaler ist. Ihre Hauptsorge besteht darin, dass immer dann, wenn die Kämpfe nicht vermieden werden können, wenigstens deren positiven Auswirkungen auf das Selbstvertrauen, auf die Solidarität und das Nachdenken in der Arbeiterklasse in Grenzen gehalten werden, d.h. dafür zu sorgen, dass aus dem Kampf die falschen Lehren gezogen werden. In den 80er-Jahren hat die IKS gelernt, in den damaligen Kämpfen in jedem Einzelfall das Hindernis für den Fortschritt der Bewegung zu erkennen und die Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften und den Linken auf den Punkt zu bringen. Oft war es die Frage der Ausweitung der Kämpfe. Konkrete Vorstösse in den Vollversammlungen, mit denen wir dazu aufriefen, zu den anderen Arbeitern zu gehen, stellten den Sprengstoff dar, mit dem wir den Boden für das allgemeine Voranschreiten der Bewegung ebneten. Die wichtigsten Fragen heute – was ist der Klassenkampf, was sind seine Ziele, seine Methoden, wer sind die Gegner, welches sind die zu überwindenden Hindernisse? – scheinen die Antithese der Fragen der 80er-Jahre zu sein. Sie scheinen „abstrakter“ zu sein, da sie unmittelbar weniger umsetzbar sind, eine Rückkehr zum Ausgangspunkt der Ursprünge der Arbeiterbewegung darstellen. Die heutigen Fragen anzugehen erfordert mehr Geduld, eine langfristige Sicht, tiefere politische und theoretische Fähigkeiten für die Intervention. Eigentlich sind die gegenwärtig wesentlichen Fragen nicht abstrakter, sondern schlicht globaler. Es ist weder abstrakt noch rückständig, in einer Vollversammlung zur Frage der Forderungen der Bewegung zu intervenieren oder die Gewerkschaften dabei zu entlarven, wie sie jede wirkliche Perspektive einer Ausweitung verhindern. Der allgemeine Charakter dieser Fragen weist den weiteren Weg. Vor 1989 scheiterte das Proletariat genau deshalb, weil es die Frage des Klassenkampfes zu eng stellte. Und weil das Proletariat in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre in der Gestalt von Minderheiten das Bedürfnis nach einer globaleren Sichtweise zu spüren begonnen hat, hat umgekehrt die Bourgeoisie, die sich der potentiellen Gefahr bewusst ist, die Antiglobalisierungbewegung geschaffen, um den auftauchenden Fragen eine falsche Antwort zu liefern.
Darüber hinaus sind die linken Teile des Kapitals, insbesondere die Linksextremen, zu Meistern in der Kunst geworden, die Auswirkungen des Zerfalls der Gesellschaft gegen die Arbeiterkämpfe einzusetzen. Während die Wirtschaftskrise eine tendenziell allgemeine Infragestellung des Systems begünstigt, hat der Zerfall gerade die gegenteilige Wirkung. Während der Bewegung in Frankreich im Frühjahr 2003 und beim Metallarbeiterstreik in Deutschland sahen wir, wie die Gewerkschaftsaktivisten im Namen der „Ausweitung“ oder der „Solidarität“ die Mentalität kultivierten, die Minderheiten von Arbeitern beseelt, wenn sie anderen Arbeitern den Kampf aufzuzwingen versuchen und ihnen dabei die Verantwortung für eine Niederlage der Bewegung zuschieben, wenn sie sich weigern, in die Aktionen einbezogen zu werden.
Während der Märzaktion 1921 in Deutschland waren die tragischen Szenen, die sich vor den Fabriken abspielten, als die Arbeitslosen versuchten, die Arbeiter davon abzuhalten, die Arbeit wieder aufzunehmen, ein Ausdruck der Verzweiflung angesichts des Abebbens der revolutionären Welle. Die Aufrufe der französischen Linksextremen im letzten Frühjahr, die Schüler von den Abschlussprüfungen abzuhalten, das Theater der westdeutschen Gewerkschafter, die die ostdeutschen Metallarbeiter – die keinen langen Streik für die 35-Stunden-Woche machen wollten – an der Wiederaufnahme der Arbeit hindern wollten, sind gefährliche Angriffe gegen den eigentlichen Begriff der Arbeiterklasse und der Solidarität. Sie sind umso gefährlicher, als sie die Ungeduld, den Unmittelbarkeitswahn und den sinnlosen Aktivismus fördern, welche Erscheinungen ohnehin charakteristisch für den Zerfall sind. Wir sind vorgewarnt: Obwohl die kommenden Kämpfe zwar ein Ort der Bewusstseinsentwicklung sind, unternimmt die Bourgeoisie alles, um sie in einen Friedhof des proletarischen Nachdenkens zu verwandeln.
Hier sehen wir für die kommunistische Intervention wertvolle Aufgaben: „geduldig erklären“ (Lenin), weshalb die Solidarität nicht verordnet werden kann, sondern ein gegenseitiges Vertrauen zwischen den verschiedenen Teilen der Klasse voraussetzt; erklären, warum die Linke, im Namen der Arbeitereinheit, alles unternimmt, um diese Einheit zu zerstören.
Alle Teile des proletarischen politischen Milieus anerkennen die Bedeutung der Krise bei der Entwicklung der Kampfbereitschaft der Arbeiter. Aber die IKS ist unter den gegenwärtig existierenden Strömungen die einzige, die davon ausgeht, dass die Krise das Klassenbewusstsein der grossen Massen anregt. Die anderen Gruppen beschränken in ihrer Analyse die Rolle der Krise auf den Umstand, dass sie die Arbeiter rein physisch zum Kampf drängt. Für die Rätisten zwingt die Krise die Klasse mehr oder weniger mechanisch zur Revolution. Für die Bordigisten bringt das Erwachen des „Klasseninstinkts“ den Inhaber der Klassenbewusstseins, d.h. die Partei, an die Macht. Für das IBPR kommt das Klassenbewusstsein von aussen, von der Partei. Unter den suchenden Gruppen, meinen die Autonomen (die sich insofern auf den Marxismus berufen, als sie die Notwendigkeit der Autonomie des Proletariats gegenüber den anderen Klassen betonen) und die Operaisten, dass die Revolution das Ergebnis der Arbeiterrevolte und eines individuellen Wunsches nach einem besseren Leben sei. Diese falschen Auffassungen wurden durch die Unfähigkeit der jeweiligen Gruppen verstärkt zu verstehen, dass das Scheitern einer proletarischen Antwort auf die Krise von 1929 eine Folge der vorangegangenen Niederlage der weltweiten revolutionären Welle war. Eine Konsequenz dieses mangelnden Verständnisses ist die immer noch kursierende Idee, wonach der imperialistische Krieg für die Revolution die günstigeren Voraussetzungen schaffe als die Krise (vgl. dazu unseren Artikel „Warum die Alternative Krieg oder Revolution“ in: Revue Internationale, Nr. 30).
Demgegenüber stellt der Marxismus die Frage, wie folgt: „Die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus stützt sich nämlich bekanntermassen auf drei Ergebnisse der kapitalistischen Entwicklung: vor allem auf die wachsende Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zu einem unvermeidlichem Ergebnis macht, zweitens auf die fortschreitende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die die positiven Ansätze der künftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens auf die wachsende Machte und Klassenerkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der bevorstehenden Umwälzung bildet.“10
Rosa Luxemburg unterstrich das Verhältnis zwischen diesen drei Gesichtspunkten und der Rolle der Krise und schrieb dazu: „Die Sozialdemokratie leitet ihr Endziel ebenso wenig von der siegreichen Gewalt der Minderheit wie von dem zahlenmässigen Übergewicht der Mehrheit, sondern von der ökonomischen Notwendigkeit und der Einsicht in diese Notwendigkeit ab, die zur Aufhebung des Kapitalismus durch die Volksmasse führt und die sich vor allen in der kapitalistischen Anarchie äussert.“11
Während der Reformismus (und heutzutage die Linke des Kapitals) Verbesserungen dank der staatlichen Intervention und Gesetzen, die die Arbeiter schützen würden, verspricht, enthüllt die Krise, „dass das Lohnsystem nicht ein Rechtsverhältnis, sondern ein rein ökonomisches ist“.12
Unter den Angriffen, denen die Klasse ausgesetzt ist, beginnt sie das wahre Wesen des Kapitalismus zu verstehen. Dieser marxistische Standpunkt bestreitet überhaupt nicht die Wichtigkeit der Rolle der Revolutionäre und der Theorie für diesen Prozess. Die Arbeiter werden die Bestätigung und die Erklärung für ihre eigenen Erfahrungen in der marxistischen Theorie finden.
Oktober 2003
Seit nunmehr über zweieinhalb Jahren kündigt die Bourgeoisie den Aufschwung an und nach jedem Quartal sieht sie sich gezwungen, seinen Beginn wieder zu verschieben. Seit ebenfalls mehr als zweieinhalb Jahren liegen die Ergebnis der Wirtschaftsentwicklung systematisch unter den Vorhersagen, was die herrschende Klasse dazu zwingt, sie ständig nach unten zu revidieren. Die gegenwärtige Rezession hat im zweiten Halbjahr 2000 begonnen und ist somit bereits eine der längsten seit dem Ende der 60er-Jahre. Und auch wenn sich jenseits des Atlantiks erste Anzeichen eines Aufschwungs zeigen, so sind Europa und Japan noch weit davon entfernt. Man Muss auch darauf hinweisen, dass der Aufwärtstrend in den USA hauptsächlich das Produkt eines in den vergangenen 40 Jahren beispiellosen staatlichen Interventionismus und einer Flucht nach vorn in Form einer massiven Verschuldung ist. Bereits machen sich Ängste über eine neue spekulative Blase, diesmal im Immobiliensektor, breit.
Was den auf eine Unterstützung der wirtschaftlichen Aktivitäten abzielenden staatlichen Interventionismus anbetrifft, so Muss man feststellen, dass die amerikanische Regierung das Budgetdefizit unkontrolliert ansteigen lässt. Im Jahr 2001 schloss der Haushalt mit 130 Milliarden Dollar noch positiv, während das Defizit 2003 gemäss Schätzungen bereits 300 Milliarden (3,6% des BSP) erreichen wird. Heute beunruhigen das Ausmass dieses Defizits sowie die Aussicht des weiteren Anstiegs angesichts des Irakkonflikts und der sinkenden Steuereinnahmen die politische Klasse und die Geschäftskreise in den USA mehr und mehr.
Die drastische Reduktion der Zinsraten durch die Zentralbank hat nicht nur die Unterstützung der wirtschaftlichen Aktivitäten zum Ziel, sondern hauptsächlich die Aufrechterhaltung der Nachfrage der Haushalte durch neue Verhandlungen über ihre Hypothekarschulden. Das abnehmende Gewicht der Zahlungen für Hypothekarkredite erlaubte somit eine Steigerung der von den Banken gewährten Verschuldung. Die Hypothekarschuld der amerikanischen Haushalte ist auf diese Weise auf 700 Milliarden Dollar (mehr als das Zweifache der öffentlichen Verschuldung!) angestiegen. Die Zunahme der gesamten amerikanischen Verschuldung, also des Staates, der Haushalte und Unternehmen erklärt, weshalb die USA schneller als andere Länder wieder auf Wachstumskurs gekommen sind. Allerdings kann er nur gehalten werden, wenn ihre wirtschaftliche Aktivität mittelfristig weiter unterstützt wird, sonst geht es ihnen wie Japan vor mehr als 10 Jahren, als eine spekulative Blase im Immobiliensektor platzte und Rechnungen angesichts vieler ungedeckter Schulden nicht mehr beglichen werden konnten.
Europa wird sich einen solchen Luxus kaum leisten können, denn seine Defizite sind bereits beim Eintritt der Rezession eindrücklich gewesen und diese hat sie nur noch vergrössert. So sind Deutschland und Frankreich, die zusammen das ökonomische Herz Europas bilden, mit einer öffentlichen Verschuldung von 3,8% beziehungsweise 4% des BIP die schlechtesten Schüler der Klasse. Sie befinden sich weit über der im Vertrag von Maastricht fixierten Schwelle (3%) und laufen somit Gefahr, von den Blitzen der europäischen Kommission getroffen, sprich mit den dafür vorgesehenen Bussen bestraft zu werden. Somit sind die Möglichkeiten Europas, eine konsequente Ankurbelungspolitik zu betreiben, eingeschränkt. Hinzu kommt, dass die USA mit der Abwertung des Dollars gegenüber dem Euro zur Reduktion des Handelsdefizits Europa im Weg stehen, das mehr und mehr Probleme hat, einen Exportüberschuss zu erzielen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich die zentralen Länder Europas wie Deutschland, Frankreich, Holland und Italien in einer Rezession befinden und die anderen nicht weit davon entfernt sind.
Diejenigen, die beim Fall der Berliner Mauer noch den Reden der Bourgeoisie über den Beginn eines neuen Wachstumszeitalters und die Öffnung des osteuropäischen Marktes geglaubt hatten, sind bereits eines Besseren belehrt worden. Die Wiedervereinigung Deutschlands stellt in keiner Art und Weise ein Sprungbrett zur deutschen Herrschaft dar, sondern eher eine schwere Last für das Land. Deutschland war einmal die Lokomotive Europas, aber seit der Wiedervereinigung ist es lediglich noch der letzte Wagen, der kaum mehr in der Lage ist, dem Rhythmus des Zuges zu folgen. Die Inflation ist niedrig und kippt beinahe in eine Deflation, die hohen realen Zinsraten zähmen die Aktivitäten noch mehr, und die Existenz des Euro unterbindet von nun an eine Politik der kompetitiven Abwertung der nationalen Währung. Die Arbeitslosigkeit, die Lohnbescheidenheit und die Rezession führen zu einer Stagnation des inneren Marktes, wie sie in vorangegangen Konjunkturabkühlungen in diesem Land noch nie beobachtet worden ist. Weiter wird auch die zukünftige Integration der osteuropäischen Länder schwer auf der Konjunktur lasten.
All das führt unausweichlich zu einem drastischen Anstieg der Angriffe gegen die Arbeitsbedingungen und das Lebensniveau der Arbeiterklasse. Austeritätsmassnahmen, Massenentlassungen und beispiellose Verschärfungen der Ausbeutung der Arbeit stehen auf den Tagesordnungen der Bourgeoisie überall in der Welt. Gemäss den stark untertriebenen offiziellen Statistiken wird die Arbeitslosigkeit in Deutschland bald 5 Millionen betragen und Ende des Jahres 6,1% in den USA sowie 10% in Frankreich. In Europa gibt die französisch-deutsche Achse mit dem Raffarin-Plan und Schröders Agenda 2010 den Ton der Politik an, die überall eingeleitet wird: Zurückfahren des Budgetdefizits, Verminderung der Steuern für hohe Einkünfte, Lockerung der Kündigungsbestimmungen, Reduktion der Arbeitslosenentschädigung und verschiedener Zuschüsse, Verminderung der Rückzahlungen für Pflegekosten und Erhöhung des Rentenalters. Die bereits Pensionierten müssen heute insbesondere die Kosten der Austeritätsmassnahmen tragen, womit definitiv die Idee einer wohlverdienten Ruhe nach dem Arbeitsleben zerschlagen wird. In den USA beobachtet man seit dem Zusammenbruch von Pensionskassen oder deren hohen Verlusten seit dem Börsenkrach eine massive Rückkehr von bereits Pensionierten auf den Arbeitsmarkt. Sie stehen unter dem Zwang zu arbeiten, um zu überleben. Die Arbeiterklasse steht also vor einer umfangreichen Austeritätsoffensive, die übrigens auf ökonomischer Ebene die Rezession nur verlängern und weitere Angriffe nach sich ziehen wird.
Der ununterbrochene Niedergang der Wachstumsraten seit dem Ende der 60er-Jahre1 entlarvt die durch die Bourgeoisie geschickt während der ganzen 90er-Jahre aufrechterhaltene Lüge über die dank der New Economy, der Globalisierung sowie der neoliberalen Rezepte angeblich wiedergefundene wirtschaftliche Prosperität des Kapitalismus. Die Krise hat denn auch nichts mit der Wirtschaftspolitik zu tun: Wenn sich die keynesianischen Rezepte der 50er- und 60er-Jahre, später die neokeynesianischen der 70er-Jahre erschöpft haben und wenn die neoliberalen Rezepte der 80er- und 90er-Jahre nichts haben lösen können, so ist das darauf zurück zu führen, dass die globale Krise nicht die Folge einer falschen Wirtschaftspolitik ist, sondern einfach die Grundwidersprüche der kapitalistischen Mechanismen offenbart. Wenn die Krise nichts mit der Wirtschaftspolitik zu tun hat, so erst recht nicht mit der Ausrichtung der Regierung. Ob es nun eine linke oder rechte Regierung ist, sie alle haben der Reihe nach alle verfügbaren Rezepte ausprobiert. So sind die gegenwärtigen Regierungen der USA und Englands, die als die glühendsten Vertreter des Neoliberalismus und der Globalisierung gelten, von entgegengesetzter politischer Ausrichtung und wenden heute die weitreichendsten neokeynesianischen Rezepte an, indem sie die öffentlichen Defizite zügellos ansteigen lassen. Wenn man die Austeritätsprogramme der rot-grünen Regierung Schröder und der rechtsliberalen Regierung Raffarin unter die Lupe nimmt, so Muss man feststellen, dass sie sich gleichen wie ein Tropfen dem anderen, dass sie die gleichen Massnahmen anwenden.
Angesichts der sich seit 35 Jahren drehenden Krisenspirale und der ununterbrochenen Austeritätsmassnahmen besteht eine der wesentlichen Verantwortungen der Revolutionäre darin aufzuzeigen, dass die Wurzeln in der historischen Sackgasse des Kapitalismus liegen und dass die im Zentrum der kapitalistischen Produktionsverhältnisses liegende Lohnarbeit2 überholt ist. Tatsächlich vereint die Lohnarbeit gleichzeitig all die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Beschränktheiten der kapitalistischen Produktion des Profits sowie die Hindernisse bei der vollständigen Realisierung des letzteren.3 Die Verallgemeinerung der Lohnarbeit lag der Expansion des Kapitalismus im 19. Jahrhundert zugrunde; seit dem Ersten Weltkrieg ist sie die Grundlage der relativen Beschränktheit des zahlungsfähigen Marktes gemessen an den Notwendigkeiten der Akkumulation. Es liegt in der Verantwortung der Revolutionäre, gegen all die mystifizierenden, also falschen Erklärungen für die Krise anzutreten, die Sackgasse aufzuzeigen: Der Kapitalismus war eine notwendige und fortschrittliche Produktionsweise, die heute historisch überholt ist und die Menschheit ins Verderben führt. Wie bei all den dekadenten Phasen der vergangenen antiken und feudalen Produktionsweisen liegt die Sackgasse im Umstand begründet, dass die grundlegenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses zu eng geworden sind und keine weitere Entwicklung der Produktivkräfte im bisherigen Ausmass erlauben.4 In der heutigen Gesellschaft stellt die Lohnarbeit diese Bremse für die volle Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse dar. Einzig die Aufhebung dieser sozialen Verhältnisse und die Einführung des Kommunismus werden der Menschheit die Befreiung von diesen Widersprüchen bringen.
Seit dem Fall der Berliner Mauer führt die Bourgeoisie unaufhörlich Kampagnen über die „Unmöglichkeit des Kommunismus“, „die Utopie der Revolution“ und die „Auflösung der Arbeiterklasse“ in einer Masse von Bürgern, deren einzige legitime Handlungsweise die „demokratische“ Reform eines Kapitalismus sei, der als der unüberwindbare Horizont der Menschheit dargestellt wird. Im Rahmen dieses ideologischen Angriffs kommt den Globalisierungsgegnern das Protestmonopol zu. Die Bourgeoisie gibt sich alle Mühe, ihnen eine erstrangige Stellung als privilegierte Gesprächspartner und Kritiker zu geben: In den Medien wird den Analysen und Aktionen dieser Strömung viel Platz eingeräumt. Ihre hervorragendsten Vertreter erhalten gelegentlich Einladungen an Gipfeltreffen oder an andere offizielle Veranstaltungen. Der Grund liegt darin, dass sich die ideologischen Versatzstücke der Globalisierungsgegner mit der Kampagne der Bourgeoisie über die „Utopie des Kommunismus“ ideal ergänzen, da sie von den gleichen Voraussetzungen ausgehen: Der Kapitalismus sei das einzig mögliche System und seine Reform somit die einzige Alternative. Diese Bewegung mit der ATTAC an der Spitze und ihren Wirtschaftsexperten vertritt die Auffassung, dass der Kapitalismus so human gestaltet werden könne, dass der „gute und regulierte Kapitalismus“ den „schlechten Finanzkapitalismus“ ersetzen werde. Die Krise sei die Konsequenz der neoliberalen Deregulierung und der Politik des Finanzkapitalismus, der seine Diktatur der 15% zwingendem Ertrag über den Industriekapitalismus errichtet habe. Dies sei anscheinend alles an einer obskuren Versammlung 1979 im sogenannten „Washingtoner Konsens“ entschieden worden. Die Austerität, die finanzielle Instabilität, die Rezessionen usw. seien nichts anderes als die Konsequenz dieses neuen Kräfteverhältnisses, das sich innerhalb der Bourgeoisie zugunsten des Wucherkapitals herausgebildet habe. Daher auch die Forderung nach „Regulierung der Finanzen“, der „Zurückdrängung“ und „Umleitung der Investitionen in die produktive Sphäre“ usw.
In diesem Umfeld allgemeiner Verwirrung über die Ursprünge und Gründe der Krise ist es an den Revolutionären, die Grundlagen für ein klares Verständnis herzustellen und vor allem zu zeigen, dass sie das Produkt des historischen Bankrotts des Kapitalismus ist. Mit anderen Worten haben sie die Aufgabe nachzuweisen, dass der Marxismus auch und gerade auf diesem Gebiet immer noch gültig ist. Leider Muss man aber feststellen, dass die Krisenanalysen der Gruppen des proletarischen Milieus wie des PCInt - Programme Communiste oder des IBRP weit davon entfernt sind, dieser Aufgabe gerecht zu werden und sich von der Ideologie der Globalisierungsgegner abzugrenzen. Gewiss gehören diese beiden Gruppen unbestreitbar zum proletarischen Milieu und unterscheiden sich grundlegend von der Antiglobalisierungsbewegung durch ihre Denunzierung der reformistischen Illusionen und durch die Verteidigung der Perspektive einer kommunistischen Revolution. Ihre eigene Analyse der Krise ist indessen zu weiten Teilen dieser Bewegung abgekupfert.
Einige ausgewählte Beispiele: „Die aus der Spekulation hervorgehenden Gewinne sind so wichtig, dass sie nicht nur für die ,klassischen‘ Unternehmen attraktiv sind, sondern auch für viele andere. Wir erwähnen hier die Versicherungen oder die Pensionsfonds, bei denen Enron ein exzellentes Beispiel darstellt ... Die Spekulation ist ein komplementäres, um nicht zu sagen das hauptsächliche Element der Bourgeoisie, sich den Mehrwert anzueignen ... Es hat sich die Regel eingebürgert, dass der Ertrag von Investitionen in Unternehmen im Minimum 15% betragen Muss. Um bei den Aktien eine solche Wachstumsrate zu erreichen oder zu übertreffen, musste die Bourgeoisie die Ausbeutungsbedingungen der Arbeiterklasse verschärfen: Der Arbeitsrhythmus ist intensiviert, die Reallöhne sind gesenkt worden. Massenentlassungen haben Hunderttausende von Arbeitern betroffen“ (IBRP, in: Bilan et Perspectives, Nr. 4, S. 6). Man kann bereits feststellen, dass es eine seltsame Art der Problemstellung für eine Gruppe ist, die sich als „materialistisch“ versteht und die selbst die IKS als „idealistisch“ auffasst. „Eine Regel hat sich eingebürgert“, sagt uns das IBRP. Hat sie sich von ganz alleine eingebürgert? Wir wollen dem IBRP keine solche Idee unterstellen. Es ist eine Klasse, eine Regierung oder eine gegebene menschliche Organisation, die eine solche Regel aufgestellt hat, aber warum? Weil etwa gewisse Mächtige dieser Erde plötzlich gieriger und böser geworden sind, als dies normalerweise der Fall ist? Weil die „Bösen“ den Sieg über die „Guten“ (oder die „weniger Bösen“) davon getragen haben. Oder ganz einfach, wie es die Auffassung des Marxismus ist, weil die objektiven Bedingungen der Weltwirtschaft die herrschende Klasse dazu gezwungen hat, die Ausbeutung der Arbeiter zu verschärfen. Leider wird in der zitierten Passage das Problem nicht von dieser Seite angegangen.
Weiter, und das ist noch schlimmer, könnte man solche Stellen in irgendwelchem Heftchen der Antiglobalisierungsbewegung finden: Die Finanzspekulation sei zur Hauptquelle des kapitalistischen Profits geworden; die Finanzspekulation habe den Unternehmen ihre Regel von den 15% aufgezwungen; die Finanzspekulation sei verantwortlich für die verschärfte Ausbeutung, die Massenentlassungen und die Lohnsenkungen und schliesslich sei es die Finanzspekulation, die am Ursprung des Deindustrialisierungsprozesses und der Misere auf dem gesamten Planeten stehen würde. „Die Akkumulation der finanziellen und spekulativen Profite nährt den Prozess der Deindustrialisierung und zieht Arbeitslosigkeit und Elend auf dem gesamten Planeten nach sich“ (ebd., S. 7).
Was den PCInt – Programme Communiste anbelangt, so steht es mit dieser Organisation kaum besser, auch wenn sie sich weit allgemeiner hält und sich mit der Autorität Lenins schmückt:
„Das Finanzkapital, die Banken werden aufgrund der kapitalistischen Entwicklung die wirklichen Akteure der Zentralisierung des Kapitals, was zu einer Zunahme der Macht der gigantischen Monopole führt. Im imperialistischen Stadium des Kapitalismus beherrscht das Finanzkapital die Märkte, die Unternehmen, die ganze Gesellschaft, und diese Herrschaft führt wiederum zur finanziellen Konzentration bis zu dem Punkt, an dem ,das Finanzkapital, das in wenigen Händen konzentriert ist und faktisch eine Monopolstellung einnimmt, ziehtkolossale und stets zunehmende Profite aus Gründungen, aus dem Emissionsgeschäft, aus Staatsanleihen usw. , verankert die Herrschaft der Finanzoligarchie und legt der gesamten Gesellschaft einen Tribut zugunsten der Monopolisten auf‘5. Der Kapitalismus entwickelt sich aus dem kleinen Wucherkapital und beendet seine Evolution in der Form eines gigantischen Wucherkapitals“ (Programme Communiste, Nr. 98, S. 1, eigene Übersetzung). Hier haben wir also ein weiteres Beispiel einer Denunzierung des parasitären Finanzkapitals, das auch den radikalsten Globalisierungsgegnern gefallen könnte.6
Man sucht in diesen Textausschnitten vergeblich nach irgendeinem Beweis, dass der Kapitalismus als Produktionsweise überholt sei, dass es der Kapitalismus als Gesamtheit sei, der verantwortlich für die Krisen, die Kriege und das Elend auf der Welt sei. Man sucht vergeblich nach einer Verurteilung der Hauptidee der Globalisierungsgegner, gemäss der das Finanzkapital schuld an der Krise sei, während es eben tatsächlich der Kapitalismus als System ist. Diese beiden Gruppen der Kommunistischen Linken lassen mit der Übernahme einer ganzen Reihe von Argumenten der Globalisierungsgegner die Türe weit offen für die opportunistischen Theorien der linken Analysen. Sie stellen die Krise als Folge der Errichtung eines neuen Kräfteverhältnisses innerhalb der Bourgeoisie zwischen der Finanzoligarchie und dem industriellen Kapital dar. Die Finanzoligopole hätten sich mit der Entscheidung von Washington zur brüsken Erhöhung der Zinsraten über das Unternehmenskapital gestellt.
In Wirklichkeit gab es nie einen Triumph der Banken über die Industriellen, die Bourgeoisie als Gesamtheit ist in ihrer Offensive gegen die Arbeiterklasse zu einer höheren Geschwindigkeit übergegangen.
Die Verurteilung der Entwicklung der Finanzsphäre ist heute ein allen kritischen Ökonomen gemeinsames Thema. Die zurzeit modische Erklärung dieser ,Kritiker des Kapitalismus‘ lautet, dass die Profitrate tatsächlich angestiegen sei, aber dass sich die Finanzoligarchie den Profit angeeignet hätte, sodass die industrielle Profitrate sich nicht bedeutend erhöht hätte. Dies erklärt auch, weshalb die Wirtschaft nicht wieder in Schwung gekommen sei (siehe Grafik). Richtig ist, dass seit Anfang der 80er-Jahre in der Folge des Entscheids von 1979 zur Erhöhung der Zinsraten ein beträchtlicher Teil des Mehrwerts nicht mehr in der Selbstfinanzierung der Unternehmen akkumuliert, sondern in Form von Finanzerträgen verteilt worden ist. Die vorherrschende Antwort auf diese Feststellung lautet, dass das Wachstum der Finanzsphäre eine Folge der Umlenkung des globalen Profits sei, was wiederum die produktive Investition behindern würde. Die Schwäche des Wirtschaftswachstums würde sich so also aus dem Parasitismus der Finanzsphäre ergeben. Daraus leiten sich auch die pseudo-marxistischen ,Erklärungen‘, die sich auf Lenin stützen, ab: „Das Finanzkapital, das in wenigen Händen konzentriert ist und faktisch eine Monopolstellung einnimmt, zieht kolossale und stets zunehmende Profite aus Gründungen, aus dem Emissionsgeschäft, aus Staatsanleihen usw., verankert die Herrschaft der Finanzoligarchie und legt der gesamten Gesellschaft einen Tribut zugunsten der Monopolisten auf.“ (siehe Fussnote 5). Die Finanzprofite würden in den Unternehmen also einen wahrhaftigen Abfluss herbeiführen (den bekannten Ertrag von 15%).
Diese Analyse ist ein Rückschritt in die Vulgärökonomie, in der das Kapital je nach Höhe der relativen Profitrate quasi zwischen produktiver Investition oder Platzierung in der Finanzsphäre auswählen kann. Auf mehr theoretischer Ebene beziehen sich diese Erklärungen der parasitären Finanzsphäre auf zwei Theorien des Werts und des Profits.
Der marxistische Ansatz besagt, dass der Wert vor seiner Verteilung existiert und ausschliesslich im Produktionsprozess durch die Ausbeutung der Arbeitskraft hergestellt wird. Im Band 3 des Kapitals präzisiert Marx, dass der Zins „...ein Teil des Profits (ist), den das fungierende Kapital, statt in die eigne Tasche zu stecken, an den Eigner des Kapitals wegzuzahlen hat“ (MEW 25, S. 351). Diesbezüglich unterscheidet sich Marx radikal von der bürgerlichen Ökonomie, die den Profit als eine Summe der Einkünfte der Faktoren (Einkünfte der Arbeitskraft, Einkünfte des Kapitals, Einkünfte aus dem Boden usw.) darstellt. Die Ausbeutung verschwindet, weil jeder Faktor entsprechend seinem eigenen Beitrag zur Produktion entschädigt wird: „Für die Vulgärökonomie, die das Kapital als selbständige Quelle des Werts, der Wertschöpfung, darstellen will, ist natürlich diese Form ein gefundnes Fressen, eine Form, worin die Quelle des Profits nicht mehr erkenntlich und worin das Resultat des kapitalistischen Produktionsprozesses – getrennt vom Prozess selbst – ein selbständiges Dasein erhält.“ (MEW 25, S. 405 f.) Der Finanzfetischismus besteht aus der Illusion, dass die Ausgabe eines Kapitalanteilscheins (Aktie, Obligation usw.) im eigentlichen Sinn des Wortes Zinsen „produziert“. Mit einem solchen Titel kauft man sich jedoch lediglich das Anrecht auf einen Teil des geschaffenen Werts; es wird auf diese Weise aber noch kein Wert geschaffen. Einzig und allein die Arbeit fügt dem Produkt einen Wert hinzu. Das Kapital, das Eigentum, eine Aktie, ein Sparbuch oder ein Maschinenpark bringen nichts von alleine hervor. Die Menschen produzieren.7 Das Kapital bringt etwas ein, wie der Jagdhund das Wild apportiert. Es schafft nichts, aber es gibt seinem Besitzer das Recht auf einen Anteil dessen, was derjenige, der sich des Kapitals bedient hat, geschaffen hat. In diesem Sinn ist das Kapital weniger ein Objekt als vielmehr ein soziales Verhältnis: Ein Teil der Arbeitsfrucht anderer endet in den Händen des Kapitalbesitzers. Die Antiglobalisierungsideologie stellt diese Ordnung der Dinge auf den Kopf, weil sie die Schaffung von Mehrwert mit seiner Aufteilung verwechselt. Der kapitalistische Profit entsteht ausschliesslich aus der Ausbeutung der Arbeitskraft, es gibt für die Gesamtheit der Bourgeoisie keine Spekulationsprofite (auch wenn der eine oder andere besondere Sektor aus der Spekulation einen Gewinn ziehen kann). Die Börse bringt also keinen Wert hervor.
Die andere Theorie flirtet mit der Vulgärökonomie und versteht den globalen Profit als Summe aus dem industriellen Profit einerseits und dem Finanzprofit anderseits. Die Akkumulationsrate sei schwach, weil der Profit in der Finanzsphäre höher sei als der industrielle Profit. Diese Sichtweise stammt aus dem Nachlass der verstorbenen stalinistischen Parteien, die seinerzeit eine volkstümliche Kritik des Kapitalismus verbreitet haben. Diese besteht darin, dass eine parasitäre Oligarchie (die 200 Familien in Frankreich usw.) den ,legitimen‘ Profit an sich reissen würde. Es handelt sich eigentlich um dieselbe Idee: Gemäss diesem Finanzfetischismus bringt die Börse gleich wie die Ausbeutung der Arbeitskraft Wert hervor. In dieser Überlegung liegt auch die ganze Mystifikation der Tobin-Steuer, die auf eine Regulierung und einen menschlichen Kapitalismus abzielt. Wenn ein Neben- zu einem Hauptwiderspruch erhoben wird, birgt dies die Gefahr eines typisch linken Abgleitens in sich, das darin besteht, den guten Weizen vom schlechten Spreu zu trennen: den investierenden vom spekulierenden Kapitalismus. Das führt zur Sichtweise, dass die Aufblähung des Finanzsektors eine Art Parasitismus auf einem gesunden kapitalistischen Körper sei. Die Krise wird nicht verschwinden, auch nicht nach der Vernichtung des Programme Communiste so teuren gigantischen Wucherkapitals. Auf eine gewisse Weise führt diese Einengung des Blickwinkels auf die Ausweitung des Finanzsektors zu einer Unterschätzung des Ausmasses der Krise: Sie rühre von der parasitären Rolle des Finanzsektors, der den Unternehmen eine zu hohe Profitrate abverlange und sie so an der Realisierung ihrer produktiven Investitionen hindere. Wenn das tatsächlich der Fall wäre, so würde die „Euthanasie der Rentner“ (Keynes) das Problem lösen.
Diese Konzessionen auf analytischer Ebene an linksbürgerliche „Theorien“ führen dazu, eine gewisse Anzahl von ökonomischen Gegebenheiten als Beweis für die absolute Vorherrschaft des Finanzsektors und seine gegenüber der Wirtschaft praktizierte Blutsaugerei darzustellen. Die Beweisführung lässt einen richtiggehend schwindlig werden: „Die Grossunternehmen lenken ihre Investitionen in die Finanzmärkte, da sie als tragfähiger angesehen werden ... Dieser phänomenale Markt entwickelt sich in weit höherer Geschwindigkeit als derjenige der Produktion ... Was die täglichen monetären Währungstransaktionen im Umfang von 1300 Milliarden Dollar im Jahr 1996 betrifft, so sind davon 5 bis 8% zur Bezahlung von Waren oder Dienstleistungen über Grenzen hinweg getätigt worden ... 85% dieser 1300 Milliarden täglicher Operationen sind also rein spekulativ! Diese Zahlen müssen wieder angepasst werden, denn die 85% sind heute überholt“ (IBRP, in: Bilan et Perspectives, Nr. 4, S.6). Ja, sie sind tatsächlich überholt und die Beträge erreichen mittlerweile 1500 Milliarden Dollar, was den Umfang der Verschuldung der Dritten Welt ausmacht, aber diese Zahlen ängstigen nur die Ignoranten, denn sie machen keinen Sinn! In der Realität zirkulieren diese Gelder lediglich und die Summen sind um so grösser, je schneller sich das Karussell dreht. Es reicht, sich eine Person vorzustellen, die jede halbe Stunde zu spekulativen Zwecken eine Einheit von 100 in eine andere Währung umtauscht: Nach 24 Stunden beträgt die Summe der Transaktionen 4800. Wenn diese Person nun jede Viertelstunde dieselbe Operation vornimmt, so hat sich die Gesamtsumme verdoppelt. Diese Summe ist jedoch rein virtuell, denn die Person besitzt noch immer nur 100 plus 5 oder minus 10 je nach Talent in der Kunst des Spekulierens. Leider macht eine solch mediengerechte Darstellung der Tatsachen, wie sie auch das IBRP betreibt, die Interpretation der Krise als Produkt des parasitären Finanzsektors glaubwürdiger.
Tatsächlich ist die Aufblähung des Finanzsektors durch die Anhäufung nicht akkumulierten (d.h. nicht wieder investierten) Mehrwerts zu erklären. Die Überproduktionskrise und die beschränkt vorhandenen rentablen Akkumulationsfelder führen dazu, dass der Mehrwert in der Form von Einkommen aus dem Finanzsektor verteilt wird. Es ist also nicht das zinstragende Kapital, das sich den produktiven Investitionen entgegenstellen oder sie gar ersetzen würde. Die Aufblähung des Finanzsektors entspricht der Zunahme des nicht mehr profitabel investierbaren Mehrwerts.8 Die Verteilung der Gewinne aus dem Finanzkapital steht nicht automatisch in Widerspruch zur Akkumulation auf der Grundlage der Unternehmensselbstfinanzierung. Wenn die Profite aus der wirtschaftlichen Tätigkeit attraktiv sind, werden die Finanzerträge neu investiert und nehmen so an der Akkumulation der Unternehmen teil. Heute geht es nicht darum zu erklären, weshalb die Profite in der Form von Gewinnen des Finanzkapitals durch die Tür verschwinden, sondern weshalb sie nicht durch das Fenster zurückkommen und wieder produktiv im Wirtschaftskreislauf investiert werden. Wenn ein bedeutender Teil dieser Summen wieder investiert würde, so würde sich dies in einer Erhöhung der Akkumulationsrate ausdrücken. Wenn das aber nicht eintritt, so ist es auf die Überproduktionskrise und also die Verknappung von rentablen Akkumulationsfeldern zurückzuführen.
Der Finanzparasitismus ist ein Symptom, eine Folge der Schwierigkeiten des Kapitalismus und nicht die Ursache der Schwierigkeiten. Die Finanzsphäre ist das Schaufenster der Krise, weil sich in ihr die Börsenblasen, die Währungseinbrüche und die Bankenturbulenzen abspielen. Diese Erschütterungen sind aber die Konsequenzen der Widersprüche, die ihren Ursprung in der produktiven Sphäre haben.
Was spielt sich seit über 20 Jahren ab? Die Austeritätspolitik und die Lohnsenkungen9 erlaubten eine Wiederherstellung der unternehmerischen Profitrate, jedoch haben die gewachsenen Profite nicht zu einer Erhöhung der Akkumulationsrate (also der Investitionen) und somit der Arbeitsproduktivität geführt. Das Wachstum ist somit rezessiv geblieben (siehe Grafik). Kurz gesagt hat die Zurückstutzung der Arbeitskosten die Märkte eingeschränkt und somit zu einem Anwachsen der Finanzerträge und nicht zu einer Reinvestition der Profite geführt. Weshalb aber sind die Reinvestitionen heute so schwach, wenn doch die Unternehmensprofite wiederhergestellt worden sind? Warum kommt die Akkumulation nach dem nunmehr zwanzigjährigen Anstieg der Profitrate nicht wieder in Gang? Marx und später Rosa Luxemburg haben uns gelehrt, dass die Produktionsbedingungen (Auspressung von Mehrwert) eine Sache und die Realisierungsbedingungen dieser in den hergestellten Waren kristallisierten Mehrarbeit eine andere Sache sind. Die in den Produkten kristallisierte Mehrarbeit wird nur zu klingendem und akkumulierbarem Mehrwert, wenn die hergestellten Waren auf den Märkten verkauft worden sind. Dieser fundamentale Unterschied zwischen den Produktions- und Realisierungsbedingungen erlaubt es uns zu verstehen, weshalb es keine mechanische Verbindung zwischen Profitrate und Wachstum gibt.
Die Grafik fasst die Entwicklung des Kapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg sehr gut zusammen. In der aussergewöhnlichen Wachstumsphase während dem Wiederaufbau wachsen alle wichtigen Variablen wie Profit, Akkumulation, Wachstum und Arbeitsproduktivität oder sie bewegen sich auf hohem Niveau bis zum Wiederauftauchen der offenen Krise beim Übergang von den 60er- zu den 70er-Jahren. Die Produktivitätsgewinne beginnen sich seit den 60er-Jahren zu erschöpfen und reissen die anderen Variablen bis zu Beginn der 80er-Jahre mit sich in die Tiefe. Seither befindet sich der Kapitalismus auf ökonomischer Ebene in einer beispiellosen Situation, gekennzeichnet durch eine Konstellation von steigenden Profitraten und gleichzeitig mittelmässiger Arbeitsproduktivität, Akkumulationsrate und also Wachstumsrate. Dieses Auseinanderdriften von Profitrate und den anderen Variablen seit nun mehr als 20 Jahren kann nur im Rahmen der Dekadenz des Kapitalismus verstanden werden. Für das IBRP ist das aber nicht der Fall, es ist der Meinung, dass das Konzept der Dekadenz auf den Abfallhaufen der Geschichte gehöre: „Welche Rolle spielt also das Konzept der Dekadenz in einer militanten Kritik der politischen Ökonomie, d.h. der vertieften Analyse der Phänomene und der Dynamik des Kapitalismus in der gegenwärtigen Periode? Keine ... Mit dem Konzept der Dekadenz kann man weder die Krisenmechanismen erklären, noch das Verhältnis zwischen Krise und Aufblähung des Finanzsektors oder der Grossmachtpolitik zur Kontrolle der Finanzerträge und ihrer Ressourcen anprangern“ (IBRP: Eléments de réflexion sur les crises du CCI). Das IBRP zieht es vor, das Schlüsselkonzept der Dekadenz, das einst zu seinen eigenen Positionen gehörte10, fallen zu lassen, um es durch modische Erklärungen des globalisierungsfeindlichen Milieus wie der Aufblähung des Finanzsektors oder der Finanzrente zu ersetzen, um die Krise und die Politik der Grossmächte zu verstehen. Es geht sogar so weit zu behaupten, dass „.diese Konzepte (es ist hauptsächlich von der Dekadenz die Rede) nicht zur Methode und zum Arsenal zur Kritik der politischen Ökonomie gehören“ (ebd.).
Weshalb ist der Rahmen der Dekadenz unabdingbar für das Verständnis der Krise heute? Weil der ununterbrochene Niedergang der Wachstumsrate seit dem Ende der 60er-Jahre in den Ländern der OECD mit jeweils 5,2%, 3,5%, 2,8%, 2,6% und 2,2% für die 60er, 70er, 80er, 90er-Jahre und 2000–2002 die Rückkehr des Kapitalismus zu seiner durch den Ersten Weltkrieg eröffneten historischen Tendenz bestätigt. Die Klammer der aussergewöhnlichen Wachstumsphase (1950–1975) ist endgültig geschlossen.11 Damit fand der Kapitalismus nach einem letzten Aufbäumen unausweichlich zum Wachstumsrhythmus der Jahre 1914–1950 zurück. Ganz im Gegenteil zum Geschrei unserer Kritiker ist die Dekadenztheorie des Kapitalismus keineswegs das spezifische Produkt der 30er-Jahre.12 Sie stellt das Herzstück des historischen Materialismus dar, das endlich gefundene Geheimnis der Abfolge von Produktionsweisen in der Geschichte, und sie gibt somit den Rahmen zum Verständnis und zur Analyse der Evolution des Kapitalismus und insbesondere der Periode, die mit dem Ersten Weltkrieg einsetzte. Sie ist von allgemeiner Tragweite; sie ist für ein ganzes historisches Zeitalter gültig und hängt in keiner Weise von einer besonderen Periode oder einer momentanen ökonomischen Konjunktur ab. Aber selbst wenn wir die aussergewöhnliche Wachstumsphase zwischen 1950 und 1975 einbeziehen – zwei Weltkriege, die Depression der 30er-Jahre und mehr als 35 Jahre der Krise und Austerität präsentieren eine nüchterne Bilanz der Dekadenz des Kapitalismus: kaum 30 bis 35 (grosszügig gerechnet) Jahre ,Prosperität‘ auf 55 bis 60 Jahre von Krieg und/oder Wirtschaftskrise (und das Schlimmste kommt noch!). Die historische Tendenz zur Bremsung des Wachstums der Produktivkräfte durch die überholt gewordenen kapitalistischen Produktionsverhältnisses ist die Regel, der Rahmen zum Verständnis der Evolution des Kapitalismus, darin eingeschlossen die Ausnahme der Prosperitätsphase nach dem Zweiten Weltkrieg (wir werden darauf in einem nächsten Artikel zurück kommen). Im Gegensatz zur Vorstellung der reformistischen Strömung, die sich von den Ergebnissen des Kapitalismus der Belle Epoque hat vereinnahmen lassen, ist die Verwerfung der Dekadenz ein reines Produkt der Prosperitätsjahre.
Die Grafik zeigt uns übrigens auch deutlich, dass dem Anstieg der Profitrate weder eine Verbesserung der Arbeitsproduktivität noch eine Verringerung des Kapitals zugrunde liegt. Das erlaubt uns auch, endgültig mit dem Geschwätz über die angebliche ,neue technologische Revolution‘ Schluss zu machen. Gewisse von der Informationstechnologie entzückte Universitätsabsolventen sind der Bourgeoisie mit ihrer Kampagne über die New Economy in die Falle gegangen und verwechseln die Frequenz ihres Computers mit der Arbeitsproduktivität: Wenn der Pentium 4 zweihundertmal schneller als die erste Generation dieses Rechners dreht, bedeutet dies noch lange nicht, dass der Büroangestellte zweihundertmal schneller tippt und seine Produktivität entsprechend ansteigt. Die Grafik
zeigt deutlich, dass sich die Arbeitsproduktvität seit den 60er-Jahren im Niedergang befindet. Und der Grund dafür liegt darin, dass trotz der wiederhergestellten Profite die Akkumulationsrate (Investitionen als Grundlage für mögliche Gewinne in der Produktivität) nicht wieder angezogen hat. Die ,technologische Revolution‘ existiert nur in den bürgerlichen Kampagnen und in der Vorstellung derjenigen, die leichtfertig daran glauben. Die empirische Feststellung einer seit den 60er-Jahren ununterbrochenen Verlangsamung der Produktivität (des technischen Fortschritts und der Arbeitsorganisation) widerspricht dem in den Medien vermittelten und gut in den Köpfen verankerten Bild eines technologischen Wandels, einer neuen industriellen Revolution, die heute von der Informatik und der Telekommunikation, dem Internet und von Multimedia getragen werde. Wie kann man die Kraft dieser Mystifikation, die die Realität in unseren Köpfen verdreht, erklären?
Zuallererst Muss man daran erinnern, dass der Fortschritt in der Produktivität nach dem Zweiten Weltkrieg weit spektakulärer war als das, was uns heute als New Economy präsentiert wird. Die Einführung von Arbeitsschichten zu 8 Stunden, die Verallgemeinerung des Fliessbands in der Industrie, die schnellen Fortschritte in der Entwicklung und Verbreitung von neuen Transporttypen (Lastwagen, Zug, Flugzeug, Auto, Schiff), die Ersetzung von Kohle durch billigeres Erdöl, die Einführung von Kunststoffen und die Ersetzung von teureren Materialen, die Industrialisierung der Landwirtschaft, der selbstverständliche Zugang zur Elektrizität, zum Erdgas, zu fliessendem Wasser, zu Radio und Telefon, die Mechanisierung des Haushalts durch die Entwicklung von elektrischen Apparaten usw. sind weit spektakulärer was die Steigerung der Produktivität anbelangt als die neusten Entwicklungen im Bereich der Informatik und Telekommunikation. Deshalb befindet sich das Produktivitätswachstum seit den Goldenen Sechzigern im Niedergang.
Weiter wird eine permanente Verwirrung zwischen dem Auftauchen neuer Konsumgüter und dem Produktivitätsfortschritt aufrecht erhalten. Der Innovationsfluss, die Vervielfachung von noch so aussergewöhnlichen Neuheiten (DVD, GSM-Telefone, Internet usw.) auf der Ebene der Konsumgüter deckt sich nicht mit dem Phänomen der Produktivitätssteigerung. Diese bedeutet nämlich die Fähigkeit, Ressourcen bei der Produktion einer Ware oder Dienstleistung einzusparen. Der Ausdruck technischer Fortschritt Muss immer im Sinn eines Fortschritts der Produktions- und/oder Organisationstechnik verstanden werden, also vom strikten Standpunkt der Einsparung von Ressourcen in der Herstellung einer Ware oder der Ausrichtung einer Dienstleistung. So vorzüglich das numerische Wachstum auch sein mag, es übersetzt sich nicht in ein bedeutendes Wachstum der Produktivität im Produktionsprozess. Das ist der ganze Bluff der New Economy.
Im Gegensatz zu den Behauptungen unserer Kritiker, die die Realität der Dekadenz und die Gültigkeit der theoretischen Beiträge von Rosa Luxemburg verneinen und die aus dem tendenziellen Fall der Profitrate das Alpha und Omega der Evolution des Kapitalismus machen, zeigt der Wirtschaftsgang seit Beginn der 80er-Jahre deutlich, dass der Anstieg der Profitrate nicht wegen eines Anstiegs des Wachstums zustande kam. Es gibt gewiss eine starke Beziehung zwischen der Profitrate und der Akkumulationsrate, aber sie ist weder mechanisch noch einseitig: Es handelt sich um zwei teilweise unabhängige Variablen. Das widerspricht den Behauptungen derjenigen, für die die Überproduktionskrise zwingend vom Fall der Profitrate und der Rückkehr des Wachstums abhängig ist: „Der Widerspruch zwischen Produktion und Realisierung des Mehrwerts erscheint als eine Überproduktion von Gütern und also als Ursache der Sättigung des Marktes, die wiederum dem Akkumulationsprozess im Weg steht. Das System in seiner Gesamtheit ist somit nicht in der Lage, den Fall der Profitrate auszugleichen. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt ... Der Wirtschaftszyklus und der Verwertungsprozess machen den Markt ,zahlungsfähig‘ oder ,zahlungsunfähig‘. Diese widersprüchlichen Gesetze regeln den Akkumulationsprozess und nur mit ihnen kann man die ,Krise‘ des Marktes erklären“ (Text von Battaglia Comunista an der ersten Konferenz der Gruppen der kommunistischen Linken, Mai 1977). Heute können wir klar feststellen, dass die Profitrate seit 20 Jahren ansteigt, während das Wachstum bescheiden ist. Die Bourgeoisie hat niemals so viel von Deflation gesprochen wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Dem Kapitalismus gelingt es zwar, profitabel zu produzieren, aber das heisst nicht, dass er automatisch durch diesen Mechanismus auch gleich den zahlungsfähigen Markt schafft, auf dem er die in seinen Produkten kristallisierte Mehrarbeit in klingenden Mehrwert umwandeln kann, was ihm wiederum die Reinvestition des Profits erlauben würde. Die Bedeutung des Marktes hängt nicht mechanisch von der Entwicklung der Profitrate ab. Genau so wie bei den anderen die Entwicklung des Kapitalismus bestimmenden Parametern handelt es sich bei ihm um eine teilweise unabhängige Variabel. Das Verständnis dieses grundlegenden Unterschieds zwischen den Produktions- und den Realisierungsbedingungen erlaubt uns, wie es Marx und meisterhaft vertieft auch Rosa Luxemburg aufgezeigt haben, zu verstehen, weshalb es keinen Automatismus zwischen des Profitrate und dem Wachstum gibt.
Die neben der IKS zwei wichtigsten Gruppen der kommunistischen Linken – Programme Communiste und das IBRP – können den Widerstandskämpfen der Arbeiterklasse keine klare und kohärente Orientierung geben, da sie die Dekadenz als Rahmen für das Verständnis der gegenwärtigen Periode und der Krise verwerfen, die Entwicklung des Staatskapitalismus auf allen Ebenen unterschätzen, die Finanzspekulation als Ursache aller Übel auf der Welt bezeichnen. Um sich dessen zu vergewissern, braucht man lediglich ihre Analyse über die Politik der Bourgeoisie bezüglich der Austerität und die Schlussfolgerungen, die sie aus ihrer Analyse der Krise ziehen, zu konsultieren: „Im Lauf der 50er-Jahre sind die kapitalistischen Ökonomien wieder in Schwung gekommen und die Bourgeoisie sah ihre Profite wieder und zwar auf dauerhafte Weise aufblühen. Diese Expansion setzte sich auch im folgenden Jahrzehnt fort und stützte sich auf den Kredit und auf die Unterstützung des Staates. Sie hat unbestreitbar zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter (soziale Sicherheit, Kollektivabsprachen, Lohnerhöhungen...) geführt. Diese von der Bourgeoisie unter dem Druck der Arbeiterklasse gemachten Zugeständnisse führten zu einem Sinken der Profitrate. Dieses unabwendbare Phänomen ist auf die interne Dynamik des Kapitals zurückzuführen ... Im Anfangsstadium des Kapitalismus war die Bourgeoisie in der Lage, mit den aus den Kolonien und von ihren Völkern eingefahrenen Profiten einen gewissen sozialen Frieden zu garantieren, indem sie die Arbeiterklasse am ausgepressten Mehrwert teilhaben liess. Heute ist es nicht mehr so: Die Logik der Spekulation stellt alle in den vergangenen Jahrzehnten von der Arbeiterklasse der ,zentralen Länder‘ erkämpften sozialen Errungenschaften in Frage“ (IBRP, in: Bilan et Perspectives, Nr. 4, S. 5ff.).
Auch hier können wir feststellen, dass die Türen durch das Fallenlassen des Dekadenzrahmens sehr weit für Zugeständnisse gegenüber linken Analysen offen stehen. Das IBRP zieht es vor, die linken Märchen über die ,sozialen Errungenschaften (soziale Sicherheit, Kollektivabsprachen, Lohnerhöhungen...)‘ zu kopieren, die Zugeständnisse der Bourgeoisie unter dem Druck der Arbeiterklasse gewesen seien und in der gegenwärtigen Logik der Spekulation in Frage gestellt würden. Das IBRP würde sich besser auf die von den Gruppen der internationalen kommunistischen Linken (Bilan, Communisme usw. ) überlieferten theoretischen Errungenschaften stützen, die analysierten, dass diese Massnahmen von der Bourgeoisie benutzte Mittel waren, um die Arbeiterklasse an den Staat zu binden und sie von ihm abhängig zu machen!
In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus waren die Entwicklung der Produktivkräfte und des Proletariats ungenügend, um die Herrschaft der Bourgeoisie zu bedrohen und auf internationaler Ebene erfolgreich eine Revolution durchzuführen. Deshalb konnte sich die Arbeiterklasse in heftigen Kämpfen mittels eigener Organe, d.h. der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften, als Klasse im Kapitalismus konstituieren und zwar gegen all die Sabotageversuche der Bourgeoisie. Die Vereinigung des Proletariats ist mittels der Kämpfe um Reformen herbeigeführt worden und führte zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Klasse: Es wurden Reformen auf ökonomischer und politischer Ebene realisiert. Das Proletariat hat als Klasse die Bürgerrechte im politischen Leben der Gesellschaft erkämpft, oder in den Worten Marxens in Das Elend der Philosophie gesprochen: Die Arbeiterklasse hat das Recht zu leben und „als Klasse für sich selbst“ im gesellschaftlichen Leben zu existieren erkämpft. Sie besitzt als organisierte Klasse eigene Orte für tägliche Versammlungen, hat eigene Ideen und ein gesellschaftliches Programm, eigene Traditionen und Lieder.
Als der Kapitalismus 1914 in seine dekadente Phase trat, hat die Arbeiterklasse unter Beweise gestellt, dass sie in der Lage ist, die bürgerliche Herrschaft umzustürzen: Sie hat die Bourgeoisie zur Beendigung des Krieges gezwungen und eine internationale Welle von revolutionären Kämpfen entfesselt. Seither stellt das Proletariat für die Bourgeoisie eine ständige Gefahr dar. Deshalb kann sie nicht mehr tolerieren, dass die feindliche Klasse auf eigenem Terrain ständige Organisationen besitzt und darin ein eigenes Leben führt und eigene Gedanken hegt. Der Staat weitet seine totalitäre Herrschaft auf alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens aus. Alles wird von seinen allgegenwärtigen Tentakeln umfasst. Alles was sich in der Gesellschaft bewegt, Muss sich bedingungslos dem Staat unterwerfen oder ihm in einem tödlichen Kampf entgegentreten. Die Zeit, in der das Kapital die Existenz von permanenten proletarischen Organen tolerierte, ging endgültig zu Ende. Der Staat hat das organisierte Proletariat als permanente Kraft von der gesellschaftlichen Bühne vertrieben. „Seit dem Ersten Weltkrieg haben sich parallel zur wachsenden Bedeutung des Staates in der Wirtschaft die Gesetze vervielfacht, die die Beziehung zwischen Kapital und Arbeit regeln und damit einen engen Rahmen schaffen, der den proletarischen Widerstand aufs Minimum beschränken und ihn all seiner Kräfte berauben soll“ (Auszug aus unserer Broschüre: Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse). Der Staatskapitalismus bedeutet auf gesellschaftlicher Ebene die Überführung jeglichen Klassenlebens auf das Terrain der Bourgeoisie. Der Staat hat sich in gewissen Ländern über den Umweg der Gewerkschaften, in anderen auf direktem Weg der Streik- oder Hilfskassen und der Kranken- und Arbeitslosenversicherung bemächtigt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Arbeiterklasse eingerichtet worden waren. Die Bourgeoisie hat die politische Solidarität aus den Händen der Arbeiterklasse gerissen und sie in eine ökonomische Solidarität in den Händen des Staates umgewandelt. Der Staat hat durch die Aufteilung des Lohns in direkte Vergütung durch den Chef und eine indirekte Vergütung durch den Staat auf mächtige Weise die Mystifikation verstärkt, wonach er ein über den Klassen stehendes Organ sei, das die gemeinsamen Interessen und die soziale Sicherheit der Arbeiterklasse garantiere. Der Bourgeoisie ist es auf diesem Weg gelungen, die Arbeiterklasse ideologisch und materiell an den Staat zu binden. So lautete die Analyse der Italienischen Linken und der Belgischen Fraktion der Internationalen Kommunistischen Linken anlässlich der ersten in den 30er-Jahren vom Staat errichteten Arbeitslosen- und Hilfskassen.13
Was hat das IBRP der Arbeiterklasse zu sagen? Zuerst, dass die ,Logik der Spekulation‘ verantwortlich sei für die ,Infragestellung aller sozialer Errungenschaften‘ und dass die ,Aufblähung des Finanzsektors‘ das absolute Böse sei. Das IBRP vergisst so beiläufig, dass die Krise und die Angriffe gegen die Arbeiterklasse nicht erst bis zum Auftreten der ,Logik der Spekulation‘ gewartet haben. Glaubt das IBRP wirklich, wie es seine Prosa glauben lässt, dass es der Arbeiterklasse nach einer Überwindung der ,Logik der Spekulation‘ wieder besser gehen würde? Genau das Gegenteil ist der Fall. Diese linke Mystifikation, wonach der Kampf gegen die Austerität vom Kampf gegen die Logik der Spekulation abhängig sei, Muss mit allen Kräften bekämpft werden!
Aber es kommt noch viel schlimmer! Es handelt sich um eine enorme Mystifikation, dem Proletariat glauben zu machen, dass die soziale Sicherheit, die Kollektivabsprachen und selbst der Mechanismus der Lohnerhöhung über die Indexierung oder die automatische Teuerungsanpassung ,durch einen harten Kampf erreichte soziale Errungenschaften‘ seien. Bei der Reduktion der Tagesarbeitszeit, dem Verbot der Kinderausbeutung, dem Verbot der Frauen-Nachtarbeit usw. handelt es sich tatsächlich um Zugeständnisse, die durch einen harten Kampf der Arbeiterklasse in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus erreicht worden sind. Dagegen haben die angeblichen ,sozialen Errungenschaften‘ wie die soziale Sicherheit oder die Kollektivabsprachen in den Sozialverträgen für den Wiederaufbau überhaupt nichts mit dem proletarischen Klassenkampf zu tun. Die Arbeiterklasse war geschlagen, erschöpft vom Krieg, berauscht und mystifiziert durch den Nationalismus, euphorisiert von der Befreiung, kurz: Sie war nicht in der Lage, durch Kämpfe solche Errungenschaften zu erzielen. Die Bourgeoisie der Exilregierungen hat die Initiative für die Ausarbeitung der Sozialverträge für den Wiederaufbau ergriffen. Sie hat all die Mechanismen des Staatskapitalismus auf die Beine gestellt. Die Bourgeoisie hat mitten im Krieg in den Jahren 1943 und 1945 (!) die Initiative zur Versammlung aller ,lebendigen Kräfte der Nation‘, aller ,Sozialpartner‘ durch paritätische Zusammenkünfte von Vertretern der Unternehmer, der Regierung und der verschiedenen Parteien und Gewerkschaften., d.h. in der perfektesten nationalen Übereinstimmung der Résistance ergriffen, um den Wiederaufbau der zerstörten Wirtschaft zu planen und die gesellschaftlich schwierige Phase des Wiederaufbaus auszuhandeln. Es gab keine ,Zugeständnisse der Bourgeoisie unter dem Druck der Arbeiterklasse‘ im Sinn einer auf dem eigenen Terrain kämpfenden und eine eigene Strategie zur Überwindung des Kapitalismus entwickelnden Arbeiterklasse, die die Bourgeoisie dazu gezwungen hätte, einen Kompromiss zu akzeptieren. Jedoch sind Mittel in Übereinstimmung mit allen Teilen der Bourgeoisie (Unternehmer, Gewerkschaften, Regierung) eingesetzt worden, um die Arbeiterklasse sozial zu kontrollieren und so dem Wiederaufbau zum Erfolg zu verhelfen.13 Muss man daran erinnern, dass es auch die Bourgeoisie war, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine ganze Palette von Gewerkschaften wie die CFTC in Frankreich oder die CSC in Belgien auf die Beine gestellt hat?
Selbstverständlich verurteilen die Revolutionäre den Zugriff sowohl auf den direkten als auch auf den indirekten Lohn und die Angriffe auf das Lebensniveau, wenn die Bourgeoisie die soziale Sicherheit zusammenstreicht, aber niemals dürfen die Revolutionäre das Prinzip selber des von der Bourgeoisie errichteten Mechanismus zur Bindung der Arbeiterklasse an den Staat verteidigen!14 Die Revolutionäre sollen im Gegenteil die ideologische und materielle Logik, die diesem Mechanismus als angebliche ,Neutralität des Staates‘, der ,vom Staat organisierten sozialen Solidarität‘ usw. zugrunde liegt, anprangern.
Angesichts der allgemeinen Verschärfung der Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise und den Schwierigkeiten der Arbeiterklasse steht sehr viel auf dem Spiel. Deshalb Muss es die Aufgabe der Revolutionäre sein, eine notwendige Vertiefung als Antwort auf die durch die Geschichte gestellten neuen Fragen herbeizuführen. Diese Vertiefung kann aber nicht auf der Grundlage der von der extremen Linken des politischen Apparates der Bourgeoisie verbreiteten Analysen gemacht werden. Einzig auf der Grundlage des Marxismus und der Errungenschaften der kommunistischen Linken und insbesondere ihrer Analyse der Dekadenz des Kapitalismus werden die Revolutionäre auf der Höhe ihrer Verantwortung sein können.
C. Mcl
Links
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[5] https://de.internationalism.org/tag/3/44/internationalismus
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[8] https://de.internationalism.org/tag/2/40/das-klassenbewusstsein
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[10] https://de.internationalism.org/tag/3/45/kommunismus
[11] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/internationale-kommunistische
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