Nach mehr als einem Jahr ist es uns gelungen, eine weitere Internationale Revue in deutscher Sprache herauszugeben. Die meisten Artikel sind schon seit längerem auf dem Web veröffentlicht. Unter den heutigen historischen Bedingungen geben wir der Veröffentlichung der Texte auf dem Netz Vorrang. Trotzdem ist es wichtig, dass regelmäßig eine gedruckte Presse erscheint. Gerade auch um eine Kontinuität zu erhalten, die für die Presse der Arbeiterklasse immer wichtig war.
Der erste Artikel in dieser Internationalen Revue, Die Trump-Wahl und das Zerbröckeln der kapitalistischen Weltordnung, ist ein Artikel, der kurz nach der Wahl von Trump in den USA geschrieben wurde. Er ist eine Umsetzung auf die konkrete Wirklichkeit der USA, vom thesenartig längeren Artikel Über das Problem des Populismus abgeleitet, der auf mehrere Aspekte des aufkeimenden Populismus in verschiedenen Ländern eingeht. Wer diese Artikel aufmerksam liest, wird feststellen, dass viele der gemachten Einschätzungen sich schon bewahrheitet haben, andere mögen einer Bestätigung harren und zu Widerspruch anregen. Notwendig war es, das Phänomen des Populismus aufzuarbeiten und seine Ursachen zu analysieren. Infolge der linken Regierungen an der Macht in den 90-er-Jahren (13 von 15 Regierungen der damaligen EU waren linke Regierungen), danach durch die Teilnahme an den Koalitionsregierungen haben die klassischen linken Parteien ihre traditionelle Oppositionsrolle im bürgerlichen Parlament weitgehend aufgegeben und verloren. Dies und der Verschleiß der traditionellen Mitteparteien haben eine Erstarkung der populistischen Tendenzen mit sich gebracht, da alle Parteien die Angriffe auf die Arbeiterklasse und das Kleinbürgertum mit sog. neoliberalen Konzepten vorangetrieben haben. Quantitativ ins Gewicht fallende Teile von allen bedeutenden Gesellschaftsklassen - Bourgeoisie, Proletariat und Kleinbürgertum - suchen als Reaktion auf ihre verschlechterten Lebensbedingungen ihr Heil in den populistischen Strömungen. Es ist ein Problem für die „verantwortungsvolleren“ Teile der Bourgeoisie, sie ringt nach Strategien, um die Zerfallserscheinungen ihres Systems zu bekämpfen.
Aufgrund einer weiteren Schwächung der Arbeiterklasse müssen wir uns darauf besinnen, was beim jetzigen Kräfteverhältnis zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse fraktionsartige Arbeit einer revolutionären Organisation bedeutet. Um den fortschreitenden Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft zu bekämpfen, braucht es den Aufschwung des Klassenkampfes. Die revolutionäre Organisation hat zur Stunde die wichtige Aufgabe, die Prinzipien und Verhaltensweisen, die von den Vorgängerorganisationen erarbeitet wurden, für eine zukünftige Generation von Revolutionären aufrechtzuerhalten und weiterzugeben, die sog. Brückenfunktion. Dies ist auch ein Grund für den Schwerpunkt dieser Internationalen Revue, die eine vierteilige Serie einer Polemik von Internationalisme aus dem Jahre 1948 veröffentlicht (Kritik an Pannekoeks Buch Lenin als Philosoph).
Der andere Grund dieses Schwerpunktes ist, dass die bisher weitreichendste Erfahrung einer proletarischen Revolution ihren 100-sten Geburtstag hat – die Russische Revolution.
Der Artikel Russland 1917 und das revolutionäre Gedächtnis ist eine Übersicht über die Artikel, die wir noch über die Russische Revolution veröffentlichen, da es das wichtigste Ereignis für die Arbeiterklasse und die Perspektive der Menschheit darstellt. Das erste Mal in der Menschheitsgeschichte ist es einer unterdrückten Klasse gelungen, mit einem kommunistischen Programm als Leitlinie, die Macht zu erobern. Dieses fast unglaubliche Ereignis, veranlasst die herrschenden Klassen einen Wust an deformierten Darstellungen auf den verschiedenen Medienkanälen zu veröffentlichen, denen wir mit unseren geringen Kräften versuchen entgegenzusteuern, damit das revolutionäre Gedächtnis nicht vollends verloren geht. Ein Hauptangriffspunkt der Bourgeoisie sind die Bolschewiki und vor allem Lenin, der eine Fülle von politischen Orientierungen für die Weltarbeiterklasse auf den Punkt bringen konnte.
Aus diesem Grunde haben wir die Serie Pannekoeks „Lenin als Philosoph“ – eine Kritik von Internationalisme (1948) – ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Die Reduzierung Lenins auf seine angeblich rückständige Philosophie seitens eines Anton Pannekoek wird in diesen Artikeln ins richtige Licht gerückt. In dieser Serie wird an verschiedenen Orten darauf hingewiesen, dass die revolutionäre Organisation zum Hauptberuf die politische Arbeit hat. Das Scheitern der Russischen Revolution auf die philosophische Rückständigkeit der Bolschewiki und insbesondere Lenins zurückzuführen, ist eine völlige Missachtung der bahnbrechenden politischen Errungenschaften der Bolschewiki und Lenins, die im Feuer der Revolution politische Orientierungen entwickeln mussten, die nicht immer richtig waren, aber insgesamt die erste revolutionäre Machtergreifung des Proletariats ermöglichten. Die vier Artikel und das Vorwort vermitteln uns, was die Prioritäten einer revolutionären Organisation sind, sowohl in politischer Hinsicht wie für ihre philosophische Arbeit, die Erarbeitung einer revolutionären Theorie. Die Artikel der Serie sind ein Zeugnis der Zusammenführung von Politik und Theorie, die Pannekoek nicht gelungen war, der vielmehr selber in einen mechanistischen, bürgerlichen Materialismus verfiel, den er Lenin vorwarf. Die Gleichung rückständiger Kapitalismus = rückständige Philosophie war ein Rückfall in Kautskys Kritik an der Russischen Revolution, der behauptete dass die Russische Revolution keine Orientierung sein kann für die westliche Arbeiterklasse, da Russland ökonomisch zu rückständig sei. Somit vergisst er, dass die Bolschewiki am linken Flügel der internationalen, insbesondere dem linken Flügel der dazumal noch halbwegs marxistischen Sozialdemokratie mitkämpften. Wie Engels schon festgehalten hatte, gibt es nicht nur eine dialektische Entwicklung der materiellen Basis sondern auch des Überbaus. Die Serie ist selber eine hervorragende Synthetisierung der besten Beiträge der Arbeiterklasse und ihrer Theoretiker, wie Anton Pannekoek und Lenin. In dem unten zitierten Abschnitt wird die Hauptaufgabe des Proletariat hervorgehoben und die Wechselwirkung zwischen den theoretischen Erarbeitungen und der politischen Intervention:
„Die Arbeiterbewegung ist also durch ihre eigene revolutionäre gesellschaftliche Existenz spezialisiert, durch die Tatsache, dass sie innerhalb des Kapitalismus, gegen die Bourgeoisie und in der rein politischen Sphäre kämpft, die – bis zum Aufstand – den Schwerpunkt im Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat bildet.
Dies gewährleistet, dass – abhängig von dem Fortschritt, den die wirkliche Befreiung des Proletariats macht – die Entwicklung des Wissens innerhalb der Arbeiterbewegung einen dualistischen Aspekt beinhaltet. Auf der einen Seite ist sie politisch, beeinflusst von unmittelbaren und dringenden Fragen. Auf der anderen Seite ist sie theoretisch und wissenschaftlich, entwickelt sich langsamer und (bis jetzt) meist in den Perioden des Rückflusses der Arbeiterbewegung. Dieser Aspekt behandelt Fragen, die gleichermaßen wichtig wie die politischen Probleme sind und sicherlich in einer Wechselbeziehung zu ihnen stehen, aber weniger direkt und drängend sind.“ (siehe diese Internationale Revue: Politik und Philosophie von Lenin bis Harper [Pannekoek] 2. Teil, S. 23)
Wie das obige Zitat vermittelt, ist in Phasen des Rückflusses des Klassenkampfs – und in einer solchen Phase befinden wir uns unbestreitbar – die theoretische und wissenschaftliche Seite der politischen Arbeit im Zentrum. Dass dies im Moment nicht von vielen politisierten Menschen und Proletariern verstanden wird, können wir unmittelbar nicht ändern. Die fraktionsähnliche Arbeit verpflichtet uns aber, genau diese Lehren wachzuhalten und weiterzugeben, auch wenn es im Moment nur wenige politisierte Menschen erreicht. Es wird die Aufgabe der Genossen der zukünftigen revolutionären Organisation sein, dieses Erbe weiterzutragen und mit neuen Erkenntnissen zu bereichern. Wenn eine Phase kommt, in welcher der Klassenkampf ansteigt, sind diese Erkenntnisse unabdingbar, um den Klassenkampf voranzubringen und letzlich den Kapitalismus revolutionär zu überwinden.
Juni 2017, IKS
Was kann die Welt von der neuen Trump-Administration in den USA erwarten? Während die traditionellen politischen Eliten auf dem ganzen Globus konsterniert und voller Sorge sind, sehen die russische Regierung sowie die rechten Populisten in Amerika und in ganz Europa die Geschichte auf ihrer Seite. Und während die großen, weltweit operierenden Konzerne (wie die Autoindustrie) Vergeltungsmaßnahmen fürchten, wenn sie nicht in den Vereinigten Staaten produzieren, waren die Börse und die Wirtschaftsinstitute anfangs zuversichtlich und erwarteten steigendes Wachstum in den USA und selbst der Weltwirtschaft unter Trump. Was den Herrn Präsidenten selbst angeht, widerspricht er nicht nur regelmäßig seiner eigenen, neuen Administration, sondern auch sich selbst. Die NATO, der Freihandel oder die Europäische Union können in einem Satz „unerlässlich“ und im nächsten „obsolet“ sein.
Statt dabei mitzumachen, bezüglich der nahen Zukunft der US-Politik in die Glaskugel zu starren, wollen wir hier zuallererst versuchen zu analysieren, warum Trump zum Präsidenten gewählt wurde, obwohl die traditionellen politischen Eliten ihn nicht wollten. Aus diesem Gegensatz zwischen dem, was Trump repräsentiert, und den Interessen der herrschenden Klasse insgesamt in den USA hoffen wir einen festeren Boden zu erreichen, um erste Hinweise darauf zu geben, was man von seiner Präsidentschaft erwarten kann, ohne zu sehr der Spekulation anheimzufallen.
Es ist kein Geheimnis, dass Donald Trump wie ein Fremdkörper in der Republikanischen Partei aussieht, die ihn für die Wahlen zum Weißen Haus nominiert hatte. Er ist weder religiös noch konservativ genug für die christlichen Fundamentalisten, die eine wichtige Rolle in dieser Partei spielen. Seine wirtschaftspolitischen Vorschläge, wie staatlich organisierte Infrastruktur-Programme, Protektionismus oder die Ersetzung von „Obamacare“ durch eine staatlich gestützte Sozialversicherung für jedermann – ein Gräuel für die Neoliberalen, die noch immer in den republikanischen Zirkeln eine wichtige Rolle spielen, wie auch in der Demokratischen Partei. Seine Pläne für eine Annäherung an Putins Russland stehen im Gegensatz zur Doktrin der Militär- und Geheimdienstlobby, die sowohl in der Republikanischen als auch in der Demokratischen Partei sehr stark ist.
Die Präsidentschaftskandidatur Trumps wurde durch eine beispiellose Revolte der republikanischen Mitgiederschaft und Anhänger gegen ihre Führer ermöglicht. Die anderen Kandidaten, ob sie vom Bush-Clan, von den christlichen Evangelisten, den Neoliberalen oder von der Tea Party kamen, waren alle durch ihre Beteiligung in der Bush-Administration, die der Obamas vorausging, oder durch ihre Unterstützung für Letztere diskreditiert. Die Tatsache, dass angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/08 ein republikanischer Präsident nichts getan hatte, um Millionen von kleinen Hauseigentümern und angehenden kleinen Hausbesitzern – die in vielen Fällen Job, Haus und Ersparnisse auf einen Schlag verloren hatten – zu helfen, während den Banken mit Regierungsgeldern aus der Patsche geholfen wurde, war für traditionelle republikanische Wähler unverzeihlich. Darüber hinaus hatte keiner der anderen Parteikandidaten in wirtschaftlichen Belangen anderes anzubieten als noch mehr von dem, was schon das Desaster von 2008 nicht verhindert konnte.
In der Tat richtete sich die Revolte der traditionellen republikanischen Wähler nicht nur gegen ihre Führung, sondern auch gegen einige der traditionellen „Werte“ der Partei. Somit war die Kandidatur von Trump nicht nur möglich gemacht worden, sie wurde im Grunde der Parteiführung aufgezwungen. Natürlich hätte Letztere dies verhindern können – aber nur mit dem Risiko, sich weiter von ihrer Massenbasis zu entfremden oder gar die Partei zu spalten. Dies erklärt, warum die Versuche, Trumps Kandidatur zu durchkreuzen, nur halbherzig waren und unwirksam blieben. Am Ende war die „Grand Old Party“ gezwungen, einen „Deal“ mit dem Eindringling von der Ostküste abzuschließen.
Eine ähnliche Revolte fand innerhalb der Demokratischen Partei statt. Nach acht Jahren Obama hat der Glaube an das berühmte „Yes we can“ („ja, wir können“ das Leben der Bevölkerung im Allgemeinen verbessern) erheblich nachgelassen. Der Führer dieser Rebellion war Bernie Sanders, der selbsternannte „Sozialist“. Wie Trump auf republikanischer Seite war Sanders ein neues Phänomen in der modernen Geschichte der Demokraten. Nicht dass „Sozialisten“ als solche ein Fremdkörper innerhalb der Partei sind. Doch sie gehören ihr als eine Minderheit unter vielen anderen an, die den Anspruch der Multi-Kulti-Pluralität in der Partei untermauern. Sie werden jedoch als ein fremdes Element betrachtet, wenn sie Ansprüche auf eine Kandidatur für das Oval Office anmelden. Ob unter Bill Clinton oder Barak Obama, zeitgenössische demokratische Präsidenten kombinieren den sozialen Wohlfahrtstouch mit fundamental „neoliberaler“ Wirtschaftspolitik. Eine direkte, interventionistische, staatliche Wirtschaftspolitik mit einem ausgeprägten „keynesianischen“ Charakter (wie die von F.D. Roosevelt vor und während des II. Weltkrieges) ist für die Demokraten genauso ein Gräuel wie für die Republikaner heute. Dies erklärt, warum Sanders nie ein Geheimnis aus der Tatsache machte, dass seine Politik in einigen Fragen der Politik Trumps näher steht als der Hillary Clintons. Nach der Trump-Wahl bot Sanders ihm sofort seine Unterstützung bei der Umsetzung seiner „Versicherung für alle“ an.
Jedoch wurde im Gegensatz zu den Republikanern die Revolte in der Demokratischen Partei erfolgreich niedergeschlagen und Clinton statt Sanders sicher nominiert. Dies hatte Erfolg, nicht nur weil die Demokratische Partei die besser organisierte und kontrollierte von beiden Parteien ist. Sondern auch weil die Elite dieser Partei weniger diskreditiert worden war als ihr republikanischer Gegenpart.
Doch paradoxerweise ebnete dieser Erfolg der Parteiführung nur den Weg in ihre Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen. Indem Sanders ausgeschaltet wurde, ließen die Demokraten den einzigen Kandidaten links liegen, der gute Aussichten hatte, Trump zu besiegen. Die Demokratische Partei realisierte zu spät, dass Trump der Gegner sein würde, und dann unterschätzten sie sein Wählerpotenzial. Sie unterschätzten auch das Ausmaß, in dem Hillary Clinton diskreditiert war. Dies vor allem wegen ihres Images als Repräsentantin von „Wall Street“, der „Ostküsten-Finanzoligarchie“ – gemeinhin als „Hauptschuldige“ und gleichzeitig als Hauptprofiteure der Finanzkrise betrachtet. Im Grunde wurde sie genauso mit der Katastrophe von 2008 identifiziert wie die republikanische Führung. Die arrogante Selbstgefälligkeit der demokratischen Elite und ihre Blindheit gegenüber dem Ausmaß der Wut und der Ressentiments in der Bevölkerung sollte die ganze Wahlkampagne Clintons kennzeichnen. Ein Beispiel hierfür war das einseitige Vertrauen in die eher traditionellen Massenmedien, während Trumps Wahlkampfteam die Möglichkeiten der neuen Medien bis an die Grenzen des Möglichen ausschöpfte. Weil sie nicht Sanders wollten, bekamen sie Trump. Selbst für jene innerhalb der US-Bourgeoisie, die einen starken Widerwillen gegen neo-keynesianische Wirtschaftsexperimente haben, wäre Sanders zweifellos das geringere Übel gewesen. Sanders wollte – nicht anders als Trump – den Prozess der – wie sie so schön heißt – „Globalisierung“ verlangsamen. Doch er hätte dies weitaus moderater und mit einem größeren Verantwortungssinn gemacht. Mit Trump kann sich die herrschende Klasse der führenden Weltmacht nicht einmal sicher sein, was sie erwartet.
Die Vereinigten Staaten sind ein Land, das von Siedlern gegründet und von Einwandererwellen bevölkert worden war. Die Integration der unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen und Interessen in eine Nation ist eine historisch gewachsene Aufgabe des herrschenden konstitutionellen und politischen Systems. Eine besondere Herausforderung für dieses System ist der Einbindungsprozess der Führer der verschiedenen Einwanderer-Gemeinschaften in die Regierung, da jede neue Immigranten-Welle zuunterst der gesellschaftlichen Stufenleiter beginnt und „sich nach oben arbeiten“ muss. Der angebliche amerikanische Schmelztiegel ist in Wahrheit ein höchst kompliziertes System (nicht immer) friedlicher Koexistenz zwischen unterschiedlichen Gruppierungen.
Historisch war zusammen mit Institutionen wie den religiösen Organisationen die Bildung krimineller Organisationen für ausgeschlossene Gruppen ein probates Mittel gewesen, um Zugang zur Macht zu erlangen. Die amerikanische Bourgeoisie hat eine lange Erfahrung mit der Integration der besten Schläger aus der Unterwelt in die höheren Ränge. Eine oft wiederholte Familiesaga: der Vater ein Gangster, der Sohn ein Rechtsanwalt oder Politiker (der Enkel ein Philanthrop und Förderer der Künste). Der Vorteil dieses Systems war, dass die Gewalt, auf die es sich stützte, nicht offen politisch war. Dies machte sie kompatibel mit dem herrschenden Zwei-Parteien-Staatssystems. Zu welcher Seite die italienischen, irischen oder jüdischen Stimmen gingen, hing von der entsprechenden Konstellation ab und davon, was Trump „Deals“ nennen würde, die Republikaner und Demokraten den verschiedenen Communities und deren eigennützigen Interessen angeboten haben. In den USA müssen diese Konstellationen zwischen den Communities ständig im Auge behalten werden, nicht nur jene zwischen den verschiedenen Industrien oder Wirtschaftsbranchen beispielsweise.
Doch dieser im Kern nicht-parteipolitische Integrationsprozess, der mit der Stabilität des Parteiapparates vereinbar ist, beginnt angesichts der Forderungen der schwarzen Amerikaner_innen zum ersten Mal zu misslingen. Letztere waren ursprünglich nicht als Siedler, sondern als Sklaven nach Amerika gekommen. Von Anfang an hatten sie die volle Wucht des modernen, kapitalistischen Rassismus zu ertragen. Um Zugang zur bürgerlichen Gleichheit vor dem Gesetz und zu Macht und Privilegien für eine schwarze Elite zu erlangen, mussten offen politische Bewegungen geschaffen werden. Ohne Martin Luther King, die Bürgerrechtsbewegung, aber auch eine Gewalt ganz neuer Art – die Unruhen in den schwarzen Ghettos in den 1960er Jahren und die Black Panthers - hätte es keinen Präsidenten Obama gegeben. Der etablierten herrschenden Elite gelang es, diese Herausforderung zu bewältigen, indem die Bürgerrechtsbewegung der Demokratischen Partei angegliedert wurde. Doch auf diese Weise wurde die existierende Unterscheidung zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen und den politischen Parteien in Frage gestellt. Die schwarzen Stimmen gehen in der Regel an die Demokratische Partei. Zunächst waren die Republikaner in der Lage, dies zu kompensieren, indem sie einen mehr oder weniger stabilen Anteil an den Stimmen der Latinos erhielt (in erster Linie die kubanische Exil-Community). Was die „weißen“ Stimmen anging, gingen sie nach wie vor an die eine oder andere Seite, abhängig davon, was im Angebot war.
Bis zu den Wahlen 2016. Einer der Faktoren, die Trump ins Weiße Haus brachten, war das Wahlbündnis, das er mit unterschiedlichen Gruppen der „weißen Rechtsextremisten“ einging. Anders als der altbackene Rassismus des KuKluxKlan mit seiner Nostalgie für das Sklavensystem, das in den Südstaaten bis zum amerikanischen Bürgerkrieg regiert hatte, richtet sich der Hass dieser neuen Strömungen gegen die städtischen und ländlichen Schwarzen, aber auch gegen arme Latinos, die zum Dasein von Kriminellen und gesellschaftlichen Parasiten verdammt sind. Obwohl Trump selbst kein Rassist dieser Art sein mag, schufen diese modernen weißen Rechtsextremisten eine Art Wählerblock zu seinem Gunsten. Zum ersten Mal gaben Millionen von weißen Wählern ihre Stimme nicht entsprechend der Empfehlung „ihrer“ unterschiedlichen Communities und nicht für die eine oder andere Partei ab, sondern für jemanden, den sie als den Repräsentanten einer größeren „weißen“ Community betrachteten. Der zugrundeliegende Prozess ist eine wachsende „Kommunitarisierung“ der bürgerlichen Politik in den USA. Ein weiterer Schritt in die Segregration des so genannten Schmelztiegels.
Das Problem aller republikanischen Kandidaten, die versuchten, Trump entgegenzutreten, und schließlich auch Hillary Clintons war nicht nur, dass sie nicht überzeugend waren, sondern auch dass sie selbst davon nicht überzeugt zu sein schienen. Alles, was sie vorschlagen konnten, waren die unterschiedlichen Variationen des „business as usual“. Vor allem hatten sie keine Alternativen zu Trumps „Amerika wieder groß machen“. Hinter diesem Slogan verbirgt sich nicht einfach eine neue Version des alten Nationalismus. Trumps Amerikanismus ist von einer neuen Art. Er enthält das eindeutige Eingeständnis, dass die USA nicht mehr so „groß“ sind wie einst. Wirtschaftlich sind sie unfähig gewesen, den Aufstieg Chinas zu verhindern. Militärisch erlebten sie eine Reihe von mehr oder weniger demütigenden Rückzügen: Afghanistan, Irak, Syrien. Die USA sind eine Macht im Niedergang, selbst wenn sie ökonomisch und vor allem militärisch sowie technologisch das mit Abstand führende Land sind. Aber nicht nur das. Die USA sind keine Ausnahme in einer ansonsten blühenden Welt. Ihr Niedergang ist zum Symbol für den Niedergang des Kapitalismus in seiner Gesamtheit geworden. Das Vakuum, das durch den Mangel an jeglichen Alternativen seitens der etablierten Eliten geschaffen wurde, hat Trump zu seiner Chance verholfen. Nicht dass die USA nicht bereits versucht haben, angesichts ihres historischen Niedergangs zu reagieren. Einige der Änderungen, die von Trump angekündigt wurden, begannen bereits zuvor, namentlich unter Obama. Sie schlossen eine größere Priorität für die Pazifikregion in wirtschaftlicher und vor allem militärischer Hinsicht mit ein, so dass die europäischen NATO-“Partner“ aufgefordert waren, eine größere Last als zuvor zu tragen; oder auf wirtschaftlicher Ebene, wo mit der Krise von 2008 und ihren Nachwirkungen eine dirigistischere Politik Einkehr gehalten hat. Doch dies kann den gegenwärtigen Niedergang nur verlangsamen, wohingegen Trump behauptet, in der Lage zu sein, ihm umzukehren.
Angesichts dieses Niedergangs, angesichts auch wachsender Klassen-, religiöser und ethnischer Spaltungen möchte Trump die kapitalistische Nation hinter ihrer herrschenden Klasse im Namen eines neue Amerikanismus vereinen. Die Vereinigten Staaten waren laut Trump zum Hauptopfer des Restes der Welt geworden. Er behauptet, während die USA sich und ihre Ressourcen für die Aufrechterhaltung der alten Welt ausgezehrt habe, habe der Rest der Welt auf Kosten von „God’s own country“, von dieser Ordnung profitiert. Die Trumpisten denken hier nicht nur an die europäischen und ostasiatischen Staaten, die den US-amerikanischen Markt mit ihre Waren überfluteten. Einer der „Hauptausbeuter“ der Vereinigten Staaten ist, laut Trump, Mexiko, das er beschuldigte, seine Überbevölkerung in das US-amerikanische Wohlfahrtssystem zu exportieren, während es gleichzeitig seine eigene Industrie in einem solchen Umfang ausgebaut hat, dass seine Automobilindustrie die seines nördlichen Nachbarn überholt hat.
Dies bedeutet eine neue und aggressive Form des Nationalismus, der an dem deutschen „Underdog“-Nationalismus nach dem I. Weltkrieg und dem Versailler Vertrag erinnert. Die Ausrichtung dieser Form des Nationalismus ist nicht mehr die Rechtfertigung dafür, eine amerikanische Weltordnung durchzusetzen. Seine Orientierung besteht darin, die herrschende Weltordnung in Frage zu stellen.
Doch die Frage, die sich die Welt stellt, ist, ob Trump ein wirkliches politisches Angebot in Antwort auf den Niedergang der USA hat. Wenn nicht, wenn seine Alternative rein ideologisch ist, dann wird er sich wahrscheinlich nicht lange halten. Sicherlich hat Trump kein kohärentes Programm für sein nationales Kapital. Niemand ist sich darüber klarer als Trump selbst. Seine Politik, erklärt er wiederholt, ist es, „große Deals“ für die USA (und für ihn selbst) zu machen, wann immer sich eine Gelegenheit ergibt. Das neue Programm für das US-amerikanische Kapital ist, so scheint es, Trump selbst: ein Risiko liebender, einige Male bankrott gegangener Geschäftsmann als Staatsoberhaupt.
Doch dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass Trump keine Chance hat, den Niedergang der USA zumindest zu verlangsamen. Er könnte zumindest teilweise Erfolg haben – aber nur wenn er Glück hat. Hier kommen wir zum Kernpunkt des Trumpismus. Der neue Präsident, der den führenden Staat der Welt betreiben will, als wäre dieser ein kapitalistisches Unternehmen, ist bereit, bei der Verfolgung seiner Ziele unkalkulierbare Risiken in Kauf zu nehmen – Risiken, die kein „konventioneller“, bürgerlicher Politiker eingehen möchte. Wenn sie funktionieren, dann können sie sich als nützlich für den US-Kapitalismus auf Kosten seiner Rivalen erweisen, ohne das System in seiner Gesamtheit allzu stark zu beschädigen. Doch wenn sie fehlschlagen, dann können die Konsequenzen für die USA und für den Weltkapitalismus katastrophal sein.
Wir können bereits drei Beispiele für die Art von Vanbanque-Spiel geben, das Trump aus der Taufe heben möchte. Eines von ihnen ist seine protektionistische Erpressungspolitik. Sein Ziel ist es nicht, der gegenwärtigen ökonomischen Weltordnung („Globalisierung“) ein Ende zu bereiten, sondern einen besseren Deal innerhalb dieser Ordnung zu erhalten. Die USA sind das einzige Land, dessen innerer Markt so groß ist, dass sie ihre Rivalen mit protektionistischen Maßnahmen solchen Ausmaßes drohen können. Der Gipfel der Rationalität von Trumps Politik ist das Kalkül, dass seine Hauptrivalen weniger verrückt sind als er, d.h. dass sie keinen protektionistischen Handelskrieg riskieren wollen. Doch sollten seine Maßnahmen eine Kettenreaktion auslösen, die aus der Kontrolle gerät, dann könnte das Resultat eine Fragmentierung des Weltmarktes sein, wie es zuletzt während der Großen Depression geschehen war.
Das zweite Beispiel ist die NATO. Schon die Obama-Administration hatte begonnen, die europäischen „Partner“ unter Druck zu setzen, damit sie eine größere Last für die Allianz in Europa und darüber hinaus tragen. Der Unterschied ist nun, dass Trump bereit ist, damit zu drohen, die NATO auszurangieren oder ins Abseits zu stellen, falls Washingtons Wille nicht entsprochen wird. Auch hier spielt Trump mit dem Feuer, ist die NATO doch in erster Linie ein Instrument zum Schutz der Präsenz des US-Imperialismus in Europa.
Unser letztes Beispiel hier ist Trumps Projekt eines „big deals“ mit Putins Russland. Eines der Hauptprobleme der russischen Wirtschaft heute besteht darin, dass sie den Übergang von der stalinistischen Kommandowirtschaft zu einer gut funktionierenden kapitalistischen Ordnung nicht wirklich vollendet hat. Diese Transformation war in einer ersten Phase von der strategischen Priorität des Putin-Regimes blockiert, die da lautete, zu verhindern, dass strategisch wichtige Rohstoffe oder die Rüstungsindustrie von ausländischem Kapital aufgekauft werden. Die notwendige Privatisierung war nur halbherzig, sodass ein großer Teil der russischen Industrie immer noch auf der Grundlage einer administrativen Vergabe von Ressourcen funktioniert. In einer zweiten Phase war es der Plan Putins, die Privatisierung und Modernisierung der Wirtschaft in Zusammenarbeit mit der europäischen Bourgeoisie, in erster Linie mit Deutschland anzugehen. Doch dieser Plan wurde von Washington im Wesentlichen durch seine Politik der Wirtschaftssanktionen gegen Russland erfolgreich vereitelt. Obwohl der Anlass dieser Sanktionen Moskaus Annexionspolitik gegenüber der Ukraine war, zielten sie zusätzlich darauf ab, eine Stärkung der Ökonomien sowohl Russland als auch Deutschlands zu verhindern.
Doch dieser Erfolg – möglicherweise die Haupterrungenschaft der Obama-Präsidentschaft gegenüber Europa – hat negative Konsequenzen für die Weltwirtschaft insgesamt. Die Etablierung von eher klassischem Privateigentum in Russland würde ein Cluster von neuen kreditwürdigen Wirtschaftsakteuren schaffen, die mit Land und Bodenschätzen für ihre Finanzanleihen bürgen könnten. Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Weltwirtschaft heute, wo selbst in China das Wachstum sich verlangsamt – kann der Kapitalismus es sich da leisten, auf solche „Deals“ zu verzichten?
Nein, sagt Trump. Seine Idee ist, dass nicht Deutschland und Europa, sondern die USA selbst zu Putins „Partner in Transformation“ werden. Laut Trump (der natürlich auch auf lukrative Deals für sich selbst hofft) kann die russische Bourgeoisie, die offensichtlich nicht in der Lage ist, ihre Modernisierung selbst in Angriff zu nehmen, zwischen drei möglichen Partnern wählen, von denen der dritte China ist. Da Letzterer die größte Bedrohung für die USA darstellt, ist es lebensnotwendig, dass Washington und nicht China diese Rolle annimmt.
Jedoch hatte keines von Trumps Projekten solch einen erbitterten Widerstand innerhalb der herrschenden Klasse der USA provoziert wie dieses. Die ganze Phase zwischen der Wahl Trumps und seinem Amtsantritt war von den gemeinsamen Versuchen der „Geheimdienst-Community“, der Mainstream-Medien und der Obama-Administration dominiert, die ins Auge gefasste Annäherung an Moskau zu sabotieren. Hier denken sie alle, dass die Risiken, die Trump eingehen möchte, zu hoch sind. Auch wenn es zutrifft, dass der Hauptherausforderer heute China ist, würde ein modernisiertes Russland eine beträchtliche, zusätzliche Gefahr für die USA bilden. Immerhin ist Russland (auch) eine europäische Macht und Europa immer noch das Zentrum der Weltwirtschaft. Und Russland besitzt noch immer das zweitgrößte Nukleararsenal nach den USA. Ein anderes mögliches Problem ist, dass wenn die Sanktionen gegen Russland aufgehoben wären, der Sphinx im Kreml, Wladimir Putin, es durchaus zugetraut wird, Trump auszutricksen, indem die Europäer wieder in seine Pläne einbezogen werden würden (um seine Abhängigkeit von den USA zu begrenzen). Die französische Bourgeoisie zum Beispiel ist bereits in den Startlöchern für diesen Fall: Zwei der Hauptkandidaten für die kommenden Präsidentschaftswahlen dort – Fillon und Le Pen – machen kein Hehl aus ihren Sympathien für Russland. Im Augenblick bleibt der Ausgang dieses Konfliktes innerhalb der US-Bourgeoisie offen. Unterdessen bleibt die Argumentation Trumps einseitig ökonomisch (obgleich es überhaupt nicht ausgeschlossen ist, dass er sein Abenteurertum auf eine Politik der militärischen Provokation gegen Peking ausweitet). Doch was zutrifft, ist die Tatsache, dass eine wirksame, langfristige Anntwort auf die chinesische Herausforderung eine starke wirtschaftliche Komponente haben muss und nicht allein auf militärischer Ebene stattfinden kann. Es gibt insbesondere zwei Gebiete, auf denen die US-Ökonomie eine weitaus schwerere Last schultern muss als China und die Trump zu „rationalisieren“ versuchen muss. Eines ist der enorme Militäretat. Was diesen Aspekt angeht, hat die Politik gegenüber Russland auch eine ideologische Dimension, da in den letzten Jahren die Idee, dass Putin die Sowjetunion re-etablieren will, eine der Hauptrechtfertigungen für die fortgesetzten astronomischen „Verteidigungs-“Ausgaben in den USA gewesen war.
Den anderen Etat, den Trump bedeutend reduzieren möchte, ist der Wohlfahrtsetat. Hier, beim Angriff gegen die Arbeiterklasse, kann er jedoch auf die Unterstützung der gesamten herrschenden Klasse zählen.
Neben dem Verhalten eines unverantwortlichen Abenteurers ist das andere Hauptmerkmal des Trumpismus die Gewaltandrohung. Eine seiner Spezialitäten ist es, international operierenden Konzernen mit Zwangsmaßnahmen zu drohen, sollten sie nicht tun, was er will. Was er will, sagt er, sind „Jobs für amerikanische Arbeiter“. Seine Art der Schikanierung des Big Business per Tweet ist auch darauf aus, all jene zu beeindrucken, die in ständiger Furcht leben, weil ihre Existenzen von den Launen solcher gigantischer Konzerne abhängen. Diese Arbeiter_innen sind aufgefordert, sich mit seiner Stärke zu identifizieren, die angeblich nur zu ihren Diensten ist, weil sie gute, gehorsame, ehrliche Amerikaner seien, die hart für ihr Land schuften.
Während seines Wahlkampfes sagte Trump seiner Widersacherin Hillary Clinton, er werde „sie einsperren“. Später erklärte er, dass man Nachsicht mit ihr üben müsse – als ob es von seinen persönlichen Launen abhängt, ob andere Politiker im Gefängnis landen oder nicht. Für illegale Immigranten ist eine solche Nachsicht nicht vorgesehen. Schon Obama deportierte mehr von ihnen als jeder US-amerikanische Präsident zuvor. Trump möchte sie für zwei Jahre ins Gefängnis stecken, ehe sie zwangsweise vertrieben werden. Das Versprechen des Blutvergießens ist die Aura, durch die er eine wachsende Masse von jenen in dieser Gesellschaft anzieht, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu verteidigen, aber nach Rache dürsten. Leute, die zu seinen Meetings kommen, um zu protestieren, ließ er vor den Augen der Fernsehnation zusammenschlagen. Frauen, Außenseiter, so genannte Untüchtige – ihnen allen wird zu verstehen gegeben, dass sie sich glücklich schätzen können, wenn sie „nur“ seiner verbalen Gewalt ausgesetzt sind. Nicht nur möchte er eine Mauer bauen, um die Mexikaner draußen zu halten – er verspricht darüber hinaus, sie dafür selbst bezahlen zu lassen. Zum Ausschluss kommt noch die Demütigung hinzu.
Diese Drohungen waren ein wohl kalkulierter Teil der Wahlkampagne Trumps, aber nach seiner Amtsübernahme verlor er keine Zeit, um einige „vollendete Tatsachen“ zu schaffen, die beweisen sollten, dass er im Gegensatz zu früheren Politikern, das macht, was er sagt. Die spektakulärste dieser Maßnahmen ist wohl das Dekret – welches große Konflikte sowohl in der herrschenden Klasse wie auch bei der Bevölkerung insgesamt -hervorgerufen hat – über die „Einreisesperre gegen Muslime“, welches besagt, dass Menschen aus bestimmten Ländern mit muslimischer Mehrheit die Einreise oder Wiedereinreise in die USA verwehrt sei. Dies ist vor allem eine Absichtserklärung, Minderheiten aufs Korn zu nehmen und allgemein den Islam dem Terrorismus gleichzusetzen, obwohl Trump behauptet, dass diese Maßnahme nicht spezifisch auf Muslime abziele.
Was Amerika benötige, erzählt er der Welt, seien mehr Waffen und mehr Folter. Unsere moderne bürgerliche Zivilisation lässt es nicht an solchen prahlerischen Schlägertypen und Händelsuchern mangeln, wie sie auch jene bewundert und ihnen applaudiert, die sich nehmen, was immer sie auf Kosten anderer ergattern können. Neu ist, dass Millionen von Menschen in einem der modernsten Länder der Welt solch einen Schlägertypen zum Staatsoberhaupt haben wollen. Trump ist wie sein Vorbild und Möchtegern-Freund Putin nicht trotz, sondern wegen seines rücksichtlosen Benehmens populär.
Im Kapitalismus gibt es stets zwei mögliche Alternativen: entweder Äquivalententausch oder Nicht-Äquivalententausch (Raub). Man kann entweder jemand anders das Äquivalent dafür geben, was man von ihm erhält, oder man kann es lassen. Damit der Markt funktioniert, müssen seine Subjekte auf die Gewalt im Wirtschaftsleben verzichten. Sie tun dies unter der Androhung von Zwangsmaßnahmen, wie das Gefängnis, aber auch auf der Grundlage des Versprechens, dass sich ihr Verzicht langfristig in Bezug auf die Sicherheit ihrer Existenz auszahlt. Jedoch ist die Basis des Wirtschaftslebens im Kapitalismus in der Tat der Raub: der Mehrwert, den der Kapitalist durch die unbezahlte Mehrarbeit der Lohnarbeiter_innen erlangt. Dieser Raub ist in Gestalt des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln legalisiert worden; er wird täglich vom Staat, der der Staatsapparat der herrschenden Klasse ist, erzwungen. Die kapitalistische Ökonomie erfordert ein Gewalttabu auf dem Marktplatz. Kaufen und Verkaufen sollen friedliche Handlungen sein – einschließlich des Kaufens und Verkaufens von Arbeitskraft: Arbeiter_innen sind keine Sklaven. Unter „normalen“ Umständen sind arbeitende Menschen bereit, mehr oder wenig friedlich unter solchen Bedingungen zu leben, auch wenn sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass es eine Minderheit gibt, die sich weigert, dasselbe zu tun. Diese Minderheit setzt sich aus dem kriminellen Milieu, das vom Raub lebt, und dem Staat zusammen, der der größte Räuber von allen ist, sowohl im Verhältnis zu seiner „eigenen“ Bevölkerung (Steuern) als auch im Verhältnis zu anderen Staaten (Krieg). Und obwohl der Staat die Kriminellen zwecks Verteidigung des Privateigentums unterdrückt, neigen in den oberen Rängen die Topgangster und der Räuberstaat eher dazu, miteinander zu kooperieren als sich gegenseitig zu bekämpfen. Doch wenn der Kapitalismus nicht einmal mehr die Illusion einer möglichen Verbesserung der Lebensbedingungen für die Gesellschaft insgesamt glaubwürdig anbieten kann, beginnt die Gesellschaft insgesamt ihre Kooperationsbereitschaft aufzukündigen.
Heute sind wir in eine Periode eingetreten, wo (nicht anders als in den 1930er Jahren) große Sektoren der Gesellschaft sich hintergangen fühlen und nicht mehr glauben, dass sich ihr Gewaltverzicht auszahlt. Jedoch bleiben sie eingeschüchtert von der Drohung der Repression, durch den illegalen Status der kriminellen Welt. Dies ist der Moment, wo die Sehnsucht, Teil jener zu sein, die ohne Furcht rauben können, politisch wird. Die Essenz ihres „Populismus“ ist die Forderung, dass Gewalt gegen bestimmte Gruppen legalisiert oder zumindest inoffiziell toleriert wird. In Hitler-Deutschland beispielsweise war der Kurs zum Weltkrieg eine „normale“ Manifestation des „Räuber-Staats“, der dies mit Stalins Russland, Roosevelts Amerika, etc. teilte. Was neu am Nationalsozialismus war, war der systematische, staatlich organisierte Raub gegen Teile der eigenen Bevölkerung. Die Hatz auf die Sündenböcke und Pogrome wurden legalisiert. Der Holocaust war nicht in erster Linie das Produkt des historischen Antisemitismus oder des Nazismus. Er war das Produkt des modernen Kapitalismus. Die Räuberei wurde zur alternativen wirtschaftlichen Perspektive für die Sektoren der Bevölkerung, die in die Barbarei versanken. Doch diese Barbarei ist die Barbarei des kapitalistischen Systems selbst. Die Kriminalität ist genauso Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft wie die Börse. Raub und Kaufen/Verkaufen sind die beiden Antipoden einer fortgeschrittenen, modernen Gesellschaft, die auf Privateigentum basiert. Die Profession des Räubers kann erst mit der Abschaffung der Klassengesellschaft abgeschafft werden. Wenn der Raub beginnt, das Kaufen und Verkaufen zu ersetzen, ist dies gleichermaßen Selbstverwirklichung und Selbstzerstörung der bürgerlichen Zivilisation. Mangels einer Alternative, einer revolutionären, kommunistischen Perspektive nimmt das Verlangen nach Gewalt gegen Andere zu.
Was geschieht, wenn Teile der herrschenden Klasse, gefolgt von einigen Zwischenschichten der Gesellschaft, das Vertrauen in die Möglichkeit nachhaltigen Wachstums für die Weltwirtschaft zu verlieren beginnen? Oder wenn sie beginnen, die Hoffnung zu verlieren, dass sie selbst von welchem Wachstum auch immer profitieren? Sie werden keinesfalls auf ihre Ansprüche auf einem (größeren) Anteil am Reichtum und an der Macht verzichten. Sollte der verfügbare Reichtum nicht mehr wachsen, können sie trotzdem um einen größeren Anteil auf Kosten des Restes kämpfen. Hier liegt die Verbindung zwischen der ökonomischen Lage und dem wachsenden Durst nach Gewalt. Die Perspektive des Wachstums wird ersetzt durch die Perspektive des Raubs und der Plünderung. Wenn Millionen von illegalen Arbeiter_innen ausgewiesen werden würden, so ihr Kalkül, gäbe es mehr Jobs, Wohnungen, Sozialfürsorge für jene, die bleiben. Dasselbe trifft auf jene zu, die von Sozialhilfe leben, ohne jemals Beiträge geleistet zu haben. Was die ethnischen Minderheiten angeht, haben einige von ihnen Geschäfte, die in die Hände Anderer übergehen könnten. Diese Denkweise sickert aus den Untiefen der bürgerlichen „Zivilgesellschaft“ hervor.
Jedoch beginnt, wie ein altes Sprichwort besagt, der Fisch vom Kopf her zu stinken. Es ist in erster Linie der staatliche und ökonomische Apparat der herrschenden Klasse selbst, der den Fäulnisprozess erzeugt. Die Diagnose, die von den kapitalistischen Medien angestellt wurde, ist, dass die Trump-Präsidentschaft, der Triumph der Brexit-Anhänger in Großbritannien, der Aufstieg des rechten „Populismus“ in Europa das Ergebnis des Protestes gegen die „Globalisierung“ sind. Doch dies ist nur zutreffend, wenn die Gewalt als die Essenz dieses Protestes verstanden wird und wenn die Globalisierung nicht nur als eine wirtschaftliche Option unter anderen verstanden wird, sondern als ein Etikett für die äußerst gewaltsamen Mittel, die einen niedergehenden Kapitalismus in den jüngsten Jahrzehnten am Leben gehalten haben. Das Resultat dieser gigantischen ökonomischen und politischen Offensive der Bourgeoisie (eine Art Krieg der kapitalistischen Klasse gegen den Rest der Menschheit und gegen die Natur) war die Erzeugung von Millionen von Opfern nicht nur in der arbeitenden Bevölkerung des gesamten Planeten, sondern auch innerhalb des Apparates der herrschenden Klasse selbst. Es ist nicht zuletzt dieser Aspekt, der in seinen Dimensionen absolut beispiellos in der modernen Geschichte ist. Beispiellos auch der Umfang, in dem Teile der US-amerikanischen Bourgeoisie und ihres Staatsapparates diesen Verheerungen zum Opfer fielen. Und dies, obwohl die Vereinigten Staaten der Hauptanstifter dieser Politik waren. Es ist, als ob die herrschende Klasse gezwungen war, Teile ihres eigenen Körpers zu amputieren, um den Rest zu retten. Ganze Sektoren der nationalen Industrie wurden geschlossen, weil ihre Produkte anderswo billiger hergestellt werden konnten. Nicht nur diese Industrien mussten dichtmachen – ganze Teile des Landes verödeten in diesem Prozess: Regionale und kommunale Verwaltungen, lokale Konsumgüterhersteller, der lokale Einzelhandel und die Kreditwirtschaft, Zulieferer, die Bauindustrie, etc. – sie alle wurden zertrümmert. Nicht nur Arbeiter_innen, sondern auch große und kleine Unternehmen, öffentliche Bedienstete und lokale Würdenträger waren unter ihren Opfern. Verloren die Arbeiter_innen ihre Lebensgrundlage, so gingen diese bürgerlichen und kleinbürgerlichen Opfer ihrer Macht, ihren Privilegien und ihrer gesellschaftlichen Stellung verlustig.
Dieser Prozess fand in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr oder weniger radikal in allen alten Industrieländern statt. Doch in den USA hat es zusätzlich eine Art Erdbeben innerhalb des militärischen und des „Nachrichtendienst“-Apparates gegeben. Unter Bush jr. und Rumsfeld wurden Teile der bewaffneten und Sicherheitskräfte und sogar der „Nachrichtendienste“ „privatisiert“ – Maßnahmen, die vielen hochrangigen Führern den Job kosteten. Zusätzlich mussten sich die „Nachrichtendienste“ der Konkurrenz der modernen Medienkonzerne wie Google oder Facebook erwehren, die in gewisser Weise genauso gut informiert und genauso wichtig für den Staat sind wie der CIA und das FBI. Im Verlauf dieses Prozesses hat sich das Kräfteverhältnis innerhalb der herrschenden Klasse verändert, einschließlich der ökonomischen Ebene, wo der Kredit- und Finanzsektor („Wall Street“) und die neuen Technologien („Silicon Valley“) nicht nur zu den Hauptprofiteuren der „Globalisierung“ zählen, sondern auch zu ihren Hauptprotagonisten.
Im Gegensatz zu diesen Sektoren, die die Kandidatur Hillary Clintons unterstützten, sind die Anhänger Trumps nicht spezifischen Wirtschaftsfraktionen zuzuordnen, obwohl seine stärksten Unterstützer unter den Kapitänen der alten Industrien zu finden sind, die so zahlreich in den letzten Jahrzehnten niedergegangen sind. Vielmehr können sie hier und da im staatlichen und wirtschaftlichen Machtapparat angetroffen werden. Dies waren die Heckenschützen, die hinter den Kulissen das Kreuzfeuer gegen Clinton als die angebliche Kandidatin von „Wall Street“ produzierten. Sie schlossen Geschäftsleute, frustrierte Publizisten und FBI-Führer mit ein. Für jene unter ihnen, die die Hoffnung verloren haben, sich selbst „wieder groß zu machen“, war die Unterstützung für Trump vor allem eine Art politischer Vandalismus, blinde Rache gegen die herrschende Elite.
Diesen Vandalismus erkennt man auch im Willen einiger Fraktionen der herrschenden Klasse – vor allem derjenigen Teile, die mit der Ölindustrie verbunden sind –, Trumps großspurige Verwerfung des von der Wissenschaft vertretenen Klimawandels zu unterstützen, den er bekanntlich als Falschmeldung der Chinesen bezeichnet. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass bedeutende Teile der Bourgeoisie jegliche Zukunftsvision für die Menschheit verloren haben, dass sie offen bereit sind, ihre („nationalen“) Gewinnmargen über alle Erwägungen gegenüber der natürlichen Umwelt zu stellen und somit die Grundlagen des ganzen menschlichen Lebens in Frage zu stellen. Diesen Krieg gegen die Natur, der im Laufe der „neoliberalen“ Weltordnung wesentlich intensiviert worden ist, werden Trump und seine Vandalenkomplizen noch rücksichtsloser fortsetzen.
Was geschehen ist, ist sehr schwerwiegend. Während die führenden Fraktionen der US-amerikanischen Bourgeoisie immer noch an der herrschenden Weltwirtschaftsordnung festhalten und sich für ihre Aufrechterhaltung einsetzen, hat der Konsens in dieser Frage innerhalb der herrschenden Klasse zu bröckeln begonnen. Dies erstens, weil ein wachsender Teil von ihr sich nicht um diese Weltordnung schert. Zweitens, weil die herrschenden Fraktionen unfähig waren, die Einkehr eines Kandidaten dieser Desperados ins Weiße Haus zu verhindern. Die Erosion sowohl des Zusammenhalts der herrschenden Klasse als auch ihrer Kontrolle über ihren eigenen politischen Apparat konnte sich kaum deutlicher manifestieren. Seit die US-amerikanische Bourgeoisie mit ihrem Sieg im II. Weltkrieg die führende Rolle in der Leitung der Weltwirtschaft insgesamt von ihrem britischen Gegenpart übernommen hatte, hat sie sich kontinuierlich dieser Verantwortung gestellt. Im Allgemeinen ist die Bourgeoisie des führenden nationalen Kapitals in der besten Position, um diese Rolle anzunehmen. Dies umso mehr, wenn, wie die Vereinigten Staaten, sie über die militärische Macht verfügt, um ihrer Führungskraft zusätzliche Autorität zu verleihen. Es ist daher bemerkenswert, dass heute weder die USA noch ihr Vorgänger Großbritannien in der Lage sind, diese Rolle weiterhin auszufüllen – und dies im Kern aus denselben Gründen. Es ist das Gewicht des politischen Populismus, das London aus den europäischen Wirtschaftsinstitutionen hinausbefördert hat. Es hatte etwas von Verzweiflung, als zu Beginn des neuen Jahres die FINANCIAL TIMES, eine der wichtigen Stimmen der City of London, die deutsche Bundeskanzlerin Merkel aufgefordert hatte, die Führung der Welt zu übernehmen. Trump jedenfalls scheint unwillig und unfähig, diese Rolle anzunehmen, und es gibt keinen anderen Weltführer im Moment, der ihn ersetzen könnte. Eine gefährliche Phase liegt vor dem kapitalistischen System und für die Menschheit.
Das Ansteigen der Entsolidarisierung zeigt deutlich an, dass der Sieg von Trump nicht nur das Resultat eines Verlustes der Perspektive für die herrschende Klasse ist, sondern auch für die Arbeiterklasse. Infolgedessen sind viel mehr Arbeiter_innen, als es sonst der Fall wäre, negativ beeinflusst sind von dem, was sich Populismus nennt. Es ist beispielsweise bemerkenswert, dass neben den Millionen weißer Arbeiter_innen viele Latinos für Trump gestimmt zu haben scheinen, trotz seiner Hetztiraden gegen sie. Viele von ihnen waren unter den Letzten, die Zugang zu „God’s own country“ erhielten – eben weil sie befürchten, zu den ersten zu gehören, die ausgewiesen werden, sind sie dazu verleitet zu denken, dass sie sicherer wären, wenn das Tor fest hinter ihnen geschlossen werden würde.
Was ist mit der Arbeiterklasse geschehen, mit ihrer revolutionären Perspektive, mit ihrer Klassenidentität und ihren Traditionen der Solidarität? Vor über einem halben Jahrhundert gab es ein Comeback der Arbeiterklasse auf der Bühne der Geschichte, vor allem in Europa (Mai 1968 in Frankreich, heißer Herbst 1969 in Italien, 1970 in Polen, etc.), aber auch darüber hinaus. In der Neuen Welt manifestierte sich diese Wiedergeburt des Klassenkampfes in Lateinamerika (vor allem 1969 in Argentinien), aber auch in Nordamerika, insbesondere in den Vereinigten Staaten. Es gab wichtige Ausdrücke dieses Wiedererwachens. Einer davon war eine ganze Entwicklung von oftmals großen wilden Streiks und anderen, häufig radikalen Kämpfen auf einem wirtschaftlichem Terrain, für Arbeiterforderungen. Der andere Ausdruck war das Wiederauftreten von politisierten Minderheiten unter der neuen Generation, die sich von der revolutionären, proletarischen Politik angezogen fühlten. Besonders wichtig war die Tendenz, eine kommunistische Perspektive gegen den Stalinismus zu entwickeln, der mehr oder weniger klar als konterrevolutionär erkannt wurde. Die Rückkehr auf die Hauptbühne der Arbeiterkämpfe, die Klassenidentität und -solidarität und eine proletarische, revolutionäre Perspektive gingen Hand in Hand. In den 1960er und 1970er Jahren wurden wahrscheinlich Millionen von jungen Menschen in den alten Industrieländern auf diese Art mehr oder weniger politisiert – Hoffnung und Stärke der Menschheit.
Abseits vom Leid der Arbeiterklasse waren die beiden brennendsten Fragen damals in den Vereinigten Staaten der Vietnamkrieg (die US-Regierung hatte darüber hinaus eine allgemeine Wehrpflicht eingeführt) sowie der rassistische Ausschluss von und die Gewalt gegen Schwarze(n). Ursprünglich waren diese Fragen zumindest teilweise zusätzliche Faktoren der Politisierung und Radikalisierung. Doch ohne jegliche eigene politische Erfahrung, ohne die Anleitung durch eine in proletarischem Sinne politisierte ältere Generation hegten die jungen Aktivisten enorme Illusionen über die Möglichkeiten einer schnellen gesellschaftlichen Umwandlung. Insbesondere waren die damaligen Klassenbewegungen viel zu schwach, um die Regierung zu zwingen, den Vietnam-Krieg zu beenden, oder um Schwarze oder andere Minderheiten vor Rassismus und Diskriminierung zu schützen (anders als die revolutionäre Bewegung in Russland 1905, die die Revolte gegen den Russisch-japanischen Krieg genauso miteinschloss wie den Schutz der Juden in Russland vor Pogromen). Da Fraktionen innerhalb der US-amerikanischen Bourgeoisie im eigenen Klasseninteresse ihr Engagement in Vietnam beenden und der afroamerikanischen Bourgeosie gestatten wollten, an der Macht teilzuhaben, wurden viele dieser jungen Militanten in die bürgerliche Politik gezogen und kehrten der Arbeiterklasse den Rücken zu. Andere, die zwar der Sache der Arbeiter_innen treu blieben, traten, weil sie von der Ungeduld überwältigt wurden, als linke Kandidaten in staatlichen Wahlen an oder engagierten sich in den Gewerkschaften, in der Hoffnung, etwas Unmittelbares und Spürbares für jene zu erreichen, die sie zu vertreten behaupteten. Hoffnungen, die konstant enttäuscht wurden. Die Arbeiter_innen entwickelten eine immer offenere Feindseligkeit gegen diese Linksextremisten, die zudem sich selbst und den Leumund der Revolution durch ihre Identifizierung mit der brutalen, konterrevolutionäre Linken, namentlich mit den stalinistischen Regimes, und durch ihre bürgerliche, manipulative Annäherung an die Politik diskreditierten. Was diese Militanten selbst anging, so entwickelten sie ihrerseits eine Feindseligkeit gegenüber der Arbeiterklasse, die sich weigerte, ihnen zu folgen – eine Feindseligkeit, die häufig in Hass umschlug. All dies lief auf eine großflächige Zerstörung der politisch-revolutionären Klassenenergie hinaus. Es war die Tragödie nahezu einer ganzen Generation der Arbeiterklasse, die so vielversprechend begonnen hatte. Was folgte, war der Kollaps des Stalinismus 1989 (missverstanden und missinterpretiert als Zusammenbruch des Kommunismus und des Marxismus) und die Schließung ganzer traditioneller Industrien in den alten kapitalistischen Ländern (missverstanden und falsch dargestellt als das Verschwinden der Arbeiterklasse in diesem Teil der Welt). In diesem Kontext war (wie zum Beispiel der französische Soziologe Didier Eribon hervorgehoben hat) die politische Linke (die laut der IKS die Linke des Kapitals, Teil des herrschenden Apparates ist) unter den Ersten, die das Verschwinden der Arbeiterklasse erklärten. Es ist bezeichnend, dass im jüngsten Wahlkampf in den USA die Kandidatin der Demokraten (die einst behaupteten, die „organisierte Arbeit“ zu repräsentieren) sich nie auf so etwas wie die Arbeiterklasse bezog, wohingegen der Multi-Milliardär Donald Trump dies laufend tat. Im Grunde war eines seiner wichtigsten Wahlversprechen, die amerikanische Arbeiterklasse (verstanden nur als Arbeiter im Blaumann), die für ihn ein wesentlicher Bestandteil der amerikanischen Nation war (seine Arbeiterklasse ist eine, von der Kapitalisten träumen: patriotisch, hart arbeitend, gefügig), vor ihrer „Auslöschung“ zu bewahren.
Das momentane Verschwinden einer Arbeiteridentität und Solidarität aus der ersten Reihe der Bühne ist eine Katastrophe für das Proletariat und die Menschheit. Im Angesicht der gegenwärtigen Unfähigkeit beider Hauptklassen der modernen Gesellschaft, eine glaubwürdige Perspektive vorzustellen, kommt der eigentliche Kern der bürgerlichen Gesellschaft deutlicher zum Vorschein: die Entsolidarisierung. Das Prinzip der Solidarität, das das Sicherheitsnetz in mehr oder weniger allen vor-kapitalistischen Gesellschaften war, die auf Naturalwirtschaft und nicht auf die „Marktwirtschaft“ basierten, ist ersetzt worden durch das Sicherheitsnetz des Privateigentums – für jene, die solches besitzen. In der bürgerlichen Gesellschaft muss man in der Lage sein, sich selbst zu helfen, und die Mittel zu diesem Zweck sind nicht die Solidarität, sondern Kreditwürdigkeit und Versicherungen. Viele Jahrzehnte lang wurde der Wohlfahrtsstaat in den wichtigsten Industrieländern – obwohl ein integraler Bestandteil der Kredit- und Versicherungswirtschaft – dazu benutzt, um diese Eliminierung der Solidarität von der gesellschaftlichen „Agenda“ zu kaschieren. Heute wird die Absage an die Solidarität nicht nur nicht kaschiert, sondern sie gewinnt noch dazu an Boden.
Die Demonstrationen von Millionen von Menschen, hauptsächlich Frauen, überall in den Vereinigten Staaten gegen den neuen Präsidenten am Tag nach seiner Amtseinführung machten deutlich, dass große Teile der arbeitenden Bevölkerung in den USA weder Trump noch die Tendenz, wofür er steht, unterstützen. Weit entfernt davon, Trumps Nationalismus Paroli zu bieten, tendierten diese Demonstrationen jedoch dazu, Trump auf seinem eigenen Terrain zu antworten, indem sie behaupteten: „Wir sind das wahre Amerika“. Diese Demonstrationen zeigen in Wirklichkeit, dass die populistische Politik des Ausschlusses und der Sündenbocksuche nicht die einzige Gefahr für die Arbeiterklasse ist. Diese junge Generation, die ihren Protest zum Ausdruck bringt, ohne Trump zu verfallen, befindet sich in der Gefahr, stattdessen in die Falle der Verteidigung einer „demokratischen“ und „liberalen“ bürgerlichen Gesellschaft zu tappen. Die herrschenden Fraktionen der Bourgeoisie wären entzückt, die Unterstützung der intelligentesten und großzügigsten Sektoren der Arbeiterklasse für die Verteidigung der aktuellen Version eines Ausbeutungssystems zu gewinnen, das – selbst ohne „Populismus“ – schon seit langem eine Gefahr für die Existenz unserer Spezies geworden ist und das außerdem selbst der Erzeuger des „Populismus“ ist, den es in Schach halten will. Es ist unbestritten, dass heute vielen Arbeiter_innen in Ermangelung einer revolutionären Alternative, der sie vertrauen können, ein Obama, ein Sanders oder eine Merkel als das geringere Übel erscheint, verglichen mit einem Trump, einem Farrage, einer Le Pen oder der „Alternative für Deutschland“. Doch gleichzeitig sind diese Arbeiter_innen empört darüber, was die „liberale Gesellschaft“ der Menschheit in den vergangenen Jahrzehnten angetan hat. Die Klassenantagonismen bleiben.
Es sollte ebenfalls darauf hingewiesen werden, dass der Widerstand innerhalb der Arbeiterklasse gegen den Populismus in sich selbst kein Beweis dafür ist, dass diese Arbeiter_innen den bürgerlichen Liberalen folgen und bereit sind, ihre eigenen Klasseninteressen zu opfern. Millionen von Arbeiter_innen im Zentrum des globalisierten Systems von Produktion und Austausch sind sich vor allem allzusehr bewusst, dass ihre materielle Existenz von einem weltweiten System von Produktion und Austausch abhängt und dass es keine Umkehr zu einer lokaleren Arbeitsteilung gibt. Sie sind sich ebenfalls bewusst, dass das, was Marx die „Sozialisierung“ der Produktion nannte (die Ersetzung der individuellen durch die assoziierte Arbeit), sie lehrt, mit jedem auf Weltebene zusammenzuarbeiten, und dass nur auf einer solchen Ebene die gegenwärtigen Probleme der Menschheit überwunden werden können. In der aktuellen historischen Lage sucht das revolutionäre Potenzial der zeitgenössischen Gesellschaft mangels einer Klassenidentität und einer Perspektive des Kampfes für eine klassenlose Gesellschaft momentan Zuflucht in den „objektiven“ Bedingungen: die Fortdauer der Klassenantagonismen, die unversöhnliche Natur ihrer Klasseninteressen, die weltweite Zusammenarbeit der Proletarier in der Produktion und in der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens. Allein das Proletariat hat ein objektives Interesse an der Auflösung des Widerspruchs zwischen weltweiter Produktion und privater und nationalstaatlicher Aneignung des Reichtums. Da die Menschheit nicht zurück zur lokalen Marktproduktion gehen kann, kann sie nur vorwärts schreiten, indem sie das Privateigentum abschafft, indem sie den internationalen Produktionsprozess der gesamten Menschheit zur Verfügung stellt.
Auf dieser objektiven Grundlage können sich die subjektiven Bedingungen für die Revolution immer noch erholen, insbesondere durch die Rückkehr des ökonomischen Kampfes des Proletariats in einem bedeutenden Ausmaß und durch die Entfaltung einer neuen Generation von revolutionären, politischen Minderheiten mit dem notwendigen Wagemut, um mehr denn je die Sache der Arbeiterklasse aufzugreifen, und mit der Nachhaltigkeit, die notwendig ist, das Proletariat von seiner eigenen revolutionären Mission zu überzeugen.
Steinklopfer, Ende Januar 2017
Der folgende Artikel ist ein Dokument, das wir in der IKS gegenwärtig diskutieren und im Juni 2016, ein paar Wochen vor der Brexit-Abstimmung in Großbritannien, geschrieben worden ist.
Wir sind gegenwärtig Zeuge einer Welle des politischen Populismus in den alten zentralen Ländern des Kapitalismus. In den Staaten, in denen dieses Phänomen schon länger etabliert ist, wie Frankreich oder die Schweiz, sind die rechten Populisten zur größten politischen Partei in der Wählergunst geworden. Noch auffälliger ist das Vordringen des Populismus in den Ländern, die bis vor kurzem für ihre Stabilität und Effektivität der herrschenden Klasse bekannt waren: die USA, Großbritannien, Deutschland. In diesen Ländern ist es dem Populismus erst jüngst gelungen, einen direkten und ernsthaften Einfluss zu erlangen.
In den Vereinigten Staaten hat das politische Establishment anfangs die Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump in der Republikanischen Partei sträflich unterschätzt. Seine Bewerbung wurde zunächst mehr oder weniger offen sowohl von der etablierten Parteihierarchie als auch von der religiösen Rechten abgelehnt. Sie alle wurden von der Unterstützung überrascht, die er sowohl im bible belt als auch in den alten städtischen industriellen Zentren, insbesondere in Teilen der „weißen“ Arbeiterklasse, genießt. Die anschließenden Medienkampagnen, die dazu bestimmt waren, ihn in seine Schranken zu weisen, und unter anderem vom WALL STREET JOURNAL sowie von den Medien und Finanzoligarchen der Ostküste angeführt wurden, haben Trumps Popularität nur noch weiter gesteigert. Der teilweise Ruin wichtiger Zwischenschichten, aber auch unter den Angehörigen der Arbeiterklasse, von denen viele ihre Ersparnisse und ihr Zuhause durch die Finanz- und Immobilienkrisen 2007-08 verloren hatten, sorgten für Empörung gegen das alte politische Establishment, das schnell intervenierte, um den Bankensektor zu retten, während jene kleinen Sparer, die versucht hatten, zu Eigentümern ihres eigenen Zuhauses zu werden, ihrem Schicksal überlassen wurden.
Das Versprechen Trumps, dass er die kleinen Sparer unterstützen, den öffentlichen Gesundheitsdienst aufrechterhalten, die Börsen und das big business in der Finanzwelt besteuern und keine Immigranten hereinlassen werde, die von Teilen der Armen als potenzielle Konkurrenten gefürchtet werden, ist sowohl unter den christlichen Fundamentalisten als auch unter den eher traditionell linken, demokratischen WählerInnen, die nur ein paar Jahre zuvor sich nicht einmal vorstellen konnten, einem solchen Politiker ihre Stimme zu geben, auf Widerhall gestoßen.
Ein halbes Jahrhundert des bürgerlichen politischen „Reformismus“, in dem linke Kandidaten, ob auf Gemeinde- oder auf lokaler Ebene, ob in Parteien oder Gewerkschaften, gewählt worden waren, um angeblich ArbeiterInneninteressen zu verteidigen, stattdessen aber konsequent die Interessen des Kapitals wahrten, haben den Boden dafür bereitet, dass der sprichwörtliche „Mann auf der Straße“ erwägt, einen Multimillionär vom Schlage eines Trump zu unterstützen, in der Annahme, dass er wenigstens nicht „gekauft“ werden könne von der herrschenden Klasse.
In Großbritannien scheint der Hauptausdruck des Populismus zurzeit nicht ein spezifischer Kandidat oder eine politische Partei zu sein (obwohl die UKIP von Nigel Farage zu einem wichtigen Mitspieler auf der politischen Bühne geworden ist), sondern die Popularität des Ansinnens, die EU zu verlassen, und die Entscheidung darob per Referendum. Die Tatsache, dass diese Option vom Mainstream der Finanzwelt (die City von London) und der britischen Industrie abgelehnt wird, hat auch hier dazu geführt, dass die Popularität des „Brexit“ in Teilen der Bevölkerung gewachsen ist. Abgesehen davon, dass dies ein Ausdruck der Partikularinteressen von Teilen der herrschenden Klasse ist, die viel enger mit den früheren Kolonien verbunden sind (Commonwealth) als mit Kontinentaleuropa, scheint einer der Antriebe für diese Gegnerschaft darin zu bestehen, den neuen rechtspopulistischen Bewegungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Möglicherweise werden Leute wie Boris Johnson und andere „Brexit“-Befürworter unter den Tories im Falle eines eventuellen Austritts diejenigen sein, die dann retten müssen, was noch zu retten ist, und zwar indem sie versuchen, eine Art von engem assoziierten Status gegenüber der Europäischen Union auszuhandeln, mutmaßlich nach Schweizer Muster (wobei dieser Staat normalerweise die EU-Regeln übernimmt, ohne jedoch bei deren Formulierungen etwas zu bestellen zu haben).
Doch ist es auch möglich, dass Politiker der Konservativen Partei selbst von der populistischen Stimmung angesteckt werden, die auch in Großbritannien nach der Finanz- und Immobilienkrise, welche bedeutende Teile der Bevölkerung erfasst hat, schnell an Boden gewonnen hat.
In Deutschland, wo es nach dem II. Weltkrieg der Bourgeoisie bis dato stets gelungen war, die Etablierung parlamentarischer Parteien rechts von den Christdemokraten zu verhindern, trat eine neue populistische Bewegung sowohl auf den Straßen (Pegida) als auch bei den Wahlen (AfD) auf den Plan, nicht als Reaktion auf die „Finanz“krise von 2007-08 (die Deutschland relativ unbeschadet abwetterte), sondern auf die anschließende „Euro“-Krise, die von Teilen der Bevölkerung als eine direkte Bedrohung der Stabilität der gemeinsamen europäischen Währung und somit der Ersparnisse von Millionen von Menschen wahrgenommen wurde.
Doch kaum war diese Krise zumindest für den Augenblick entschärft, begann ein massiver Zustrom von Flüchtlingen, ausgelöst insbesondere durch den syrischen Bürgerkrieg und den imperialistischen Krieg in Syrien und durch den IS im Norden des Irak. Dies wiederum trieb eine populistische Bewegung an, die eigentlich zu straucheln begonnen hatte. Obwohl eine ansehnliche Mehrheit der Bevölkerung immer noch die „Willkommenskultur“ von Bundeskanzlerin Merkel und vielen Führern der deutschen Wirtschaft unterstützt, vervielfachten sich in vielen Teilen des Landes die Angriffe gegen die Flüchtlingsunterkünfte; auf dem Gebiet der ehemaligen DDR breitete sich gar eine regelrechte Pogromstimmung aus.
Das Ausmaß, in dem der Aufstieg des Populismus mit der Diskreditierung des parteipolitischen Establishments verknüpft ist, wird durch die jüngsten Präsidentschaftswahlen in Österreich illustriert, wo in der zweiten Runde, bei den Stichwahlen, ein Kandidat der Grünen gegen den Kandidaten der populistischen Rechten antritt, nachdem sowohl die Sozialdemokraten als auch die Christdemokraten, die zusammen das Land seit dem Ende des II. Weltkrieges regierten, das größte Wahldebakel aller Zeiten erlitten haben.
Als Folge aus den österreichischen Wahlen schlossen politische Beobachter in Deutschland, dass eine Fortsetzung der gegenwärtigen Koalition von Christ- und Sozialdemokraten in Berlin nach den nächsten Wahlen höchstwahrscheinlich den Aufstieg des Populismus weiter begünstigen würde. Gleichgültig, ob Große Koalitionen zwischen linken und rechten Parteien (oder „Kohabitationen“, wie in Frankreich) oder wechselnde rechte und linke Regierungen – nach fast einem halben Jahrhundert der chronischen Wirtschaftskrise und rund 30 Jahren des kapitalistischen Zerfalls glauben große Teile der Bevölkerung nicht mehr daran, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen den etablierten linken und rechten Parteien gibt. Im Gegenteil, diese Parteien werden als eine Art Kartell betrachtet, das seine eigenen Interessen und das der Superreichen verteidigt, auf Kosten der Gesamtbevölkerung und des Staates. Nachdem die Arbeiterklasse es nach 1968 versäumt hatte, ihre Kämpfe zu politisieren und weitere bedeutende Schritte zur Entwicklung ihrer eigenen revolutionären Perspektive zu unternehmen, facht diese Desillusionierung zurzeit vor allem die Flammen des Populismus an. In den westlichen Industrieländern ist der islamistische Terror insbesondere nach 9/11 in den USA zu einem weiteren Faktor geworden, der den Populismus beschleunigt. Gegenwärtig stellt dies insbesondere für die Bourgeoisie in Frankreich ein Problem dar, da das Land zum wiederholten Male im Fokus solcher Angriffe stand. Die Notwendigkeit, den weiteren Aufstieg des Front National zu kontern, war eines der Motive für den antiterroristischen Ausnahmezustand und für die kriegerische Sprache von François Hollande nach den jüngsten Angriffen, der als Führer einer angeblichen internationalen Koalition gegen den IS posiert. Der Verlust des Vertrauens der Bevölkerung in die Entschlossenheit und Fähigkeit der herrschenden Klasse, ihre Bürger auf der Sicherheits- (und nicht nur wirtschaftlichen) Ebene zu schützen, ist einer der Gründe für die gegenwärtige populistische Welle.
Die Wurzeln des zeitgenössischen Rechtspopulismus sind also vielfältig und variieren von Land zu Land. In den einst stalinistisch beherrschten Ländern Osteuropas scheinen sie mit der Rückständigkeit und dem Provinzialismus des politischen und wirtschaftlichen Lebens unter den früheren Regimes wie auch mit der traumatisierenden Brutalität ihres Übergangs in einen effektiveren, westlich geprägten Kapitalismus nach 1989 einherzugehen.
In einem so wichtigen Land wie Polen stellt die populistische Rechte bereits die Regierung, während in Ungarn (ein Zentrum der ersten Welle der proletarischen Weltrevolution 1917-23) das Regime von Victor Orban pogromistische Attacken mehr oder weniger fördert und schützt.
Allgemeiner betrachtet, sind die Reaktionen gegen die „Globalisierung“ ein maßgeblicher Faktor beim Aufstieg des Populismus gewesen. In Westeuropa hat die Stimmung „gegen Brüssel“ und die EU zur Grundnahrung solcher Bewegungen gehört. Doch heute manifestiert sich eine solche Atmosphäre auch in den Vereinigten Staaten, wo Trump nicht der einzige Politiker ist, der damit droht, das Freihandelsabkommen TTIP, das zwischen Europa und Nordamerika ausgehandelt wurde, auf Eis zu legen. Diese Reaktion gegen die „Globalisierung“ sollte nicht mit jener neo-keynesianischen Korrektur der (realen) Exzesse des Neo-Liberalismus verwechselt werden, die von linken Repräsentanten wie ATTAC vorgebracht wird. Während Letztere eine verantwortungsvolle, kohärente alternative Wirtschaftspolitik für das nationale Kapital vorschlagen, stellt die populistische Kritik mehr eine Art politischen und ökonomischen Vandalismus dar, was bereits in den Referenden über das Maastricht-Abkommen in Frankreich, den Niederlanden und Irland manifest wurde, wo sie ein Momentum bei der Ablehnung darstellte.
Die populistischen Parteien sind bürgerliche Fraktionen und Bestandteil des totalitären staatskapitalistischen Apparates. Was sie propagieren, sind bürgerliche und kleinbürgerliche Ideologien und Verhaltensweisen, Nationalismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Autoritätsglaube, kultureller Konservatismus. Sie stellen schlichtweg eine Verstärkung der Vorherrschaft durch die herrschende Klasse und ihres Staates über die Gesellschaft dar. Sie erweitern den Spielraum des Parteiapparates der Demokratie und liefern zusätzliche Feuerkraft für sein ideologisches Bombardement. Sie erfüllen die Mystifikation der Wahlen und die Anziehungskraft des Wählens mit neuem Leben, sowohl durch jene WählerInnen, die sie selbst mobilisieren, als auch durch jene, die mobilisiert werden, um gegen sie zu stimmen. Obgleich sie teilweise das Produkt der wachsenden Desillusionierung über die traditionellen Parteien sind, können sie auch helfen, das Image Letzterer zu verbessern, die sich im Gegensatz zu den Populisten als menschlicher und demokratischer darstellen können. In dem Ausmaß, in dem ihr Diskurs dem der Faschisten in den 1930er Jahren ähnelt, neigt ihr Aufschwung dazu, dem Antifaschismus neues Leben einzuhauchen. Dies ist besonders in Deutschland der Fall, wo die Machtübernahme durch die „faschistische“ Partei zur größten Katastrophe in seiner Nationalgeschichte geführt hatte, mit dem Verlust von nahezu der Hälfte seines Territoriums und der Einbüßung seines Status‘ als wichtige Militärmacht, mit der Zerstörung seiner Städte und der praktisch irreparablen Beschädigung seines internationalen Prestiges durch die Verübung von Verbrechen, die als die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschheit in die Geschichte eingegangen sind.
Dennoch haben, wie wir bis jetzt gesehen haben, vor allem in den Kernländern des Kapitalismus die führenden Fraktionen der Bourgeoisie ihr Bestes gegeben, um den Aufstieg des Populismus zu verhindern und insbesondere, falls möglich, seine Regierungsbeteiligung zu vermeiden. Nach Jahren der zumeist erfolglosen Abwehrkämpfe auf dem eigenen Terrain scheinen bestimmte Sektoren der Arbeiterklasse heute zu meinen, dass man die herrschende Klasse statt durch Arbeiterkämpfe eher dadurch unter Druck setzen und ihr Angst einjagen könne, wenn man die populistische Rechte wählt. Die Grundlage für diesen Eindruck besteht darin, dass das „Establishment“ alarmiert auf den Wahlerfolg der Populisten reagiert. Warum diese Zurückhaltung der Bourgeoisie gegenüber „einem der Ihren“?
Bis jetzt haben wir dazu geneigt, davon auszugehen, dass dies vor allem wegen des historischen Kurses (d.h. wegen des noch immer unbesiegten Status‘ der gegenwärtigen Generation des Proletariats) geschieht. Heute ist es notwendig, diesen Rahmen angesichts der Entwicklung der gesellschaftlichen Realität kritisch zu hinterfragen.
Es stimmt, dass die Etablierung populistischer Regierungen in Polen und Ungarn verhältnismäßig unbedeutend ist, verglichen mit dem, was in den alten, westlichen kapitalistischen Kernländern geschieht. Bedeutsamer jedoch ist, dass diese Entwicklung im Augenblick nicht zu einem großen Konflikt zwischen Polen und Ungarn auf der einen sowie der NATO oder der EU auf der anderen Seite geführt hat. Im Gegenteil, Österreich, das anfangs, unter einem sozialdemokratischen Kanzler, der „Willkommenskultur“ von Angela Merkel im Sommer 2015 nachgeeifert hatte, folgte schnell dem Beispiel Ungarns, als es Zäune entlang seiner Grenze errichtete. Und der ungarische Ministerpräsident ist zu einem Lieblingsgesprächspartner der bayrischen CSU geworden, die Bestandteil der Merkel-Regierung ist. Wir können von einem Prozess der gegenseitigen Angleichung zwischen populistischen Regierungen und wichtigen innerstaatlichen Institutionen sprechen. Trotz ihrer anti-europäischen Demagogie gibt es im Augenblick kein Anzeichen dafür, dass diese populistischen Regierungen Polen und Ungarn aus der EU zurückziehen wollen. Im Gegenteil, was sie nun propagieren, ist die Verbreitung des Populismus innerhalb der Europäischen Union. In Bezug auf konkrete Interessen bedeutet dies, dass „Brüssel“ sich weniger in nationale Angelegenheiten einmischen, aber gleichzeitig damit fortfahren soll, dieselben oder gar noch mehr Subventionen nach Warschau und Budapest zu transferieren. Was die EU angeht, so gleicht sie sich diesen populistischen Regierungen an, die sie zuweilen für ihre „konstruktiven Beiträge“ auf komplizierten EU-Gipfeln preist. Und obwohl es auf der Aufrechterhaltung gewisser „demokratischer Mindeststandards“ besteht, hat Brüssel es im Augenblick unterlassen, irgendeine der angedrohten Sanktionen gegen diese Länder zu verhängen.
Was Westeuropa angeht, war Österreich, um noch einmal daran zu erinnern, bereits ein Vorreiter in dieser Politik gewesen, als einst die Partei von Jörg Haider als Juniorpartner in eine Koalitionsregierung einbezogen worden war. Das Ziel dabei – die populistische Partei zu diskreditieren, indem sie dazu gebracht wird, Verantwortung bei der Staatsführung zu übernehmen – gelang zum Teil. Zeitweise. Heute jedoch ist die FPÖ in Sachen Wahlen stärker denn je zuvor und gewann fast die Wahlen zum Bundespräsidenten. Natürlich spielt der Bundespräsident in Österreich eine hauptsächlich symbolische Rolle. Doch dies ist in Frankreich, der zweitstärksten Wirtschaftsmacht mit der zweitgrößten Konzentration des Proletariats im westlichen Kontinentaleuropa, anders. Die Weltbourgeoisie schaut mit Sorge auf die nächsten Präsidentschaftswahlen in diesem Land, wo der FN die führende Partei in der Wählergunst ist. Viele politischen Experten der Bourgeoisie haben aus dem aktuellen Scheitern der Republikanischen Partei in den USA, Trumps Kandidatur zu verhindern, den Schluss gezogen, dass früher oder später die Beteiligung der Populisten an westlichen Regierungen mehr oder weniger unvermeidlich wird und dass es besser ist, sich auf einen solchen Fall vorzubereiten. Diese Debatte ist die erste Reaktion auf die Erkenntnis, dass die Versuche, den Populismus bis dato auszuschließen oder zu begrenzen, nicht nur ihre eigenen Grenzen aufgewiesen bekommen haben, sondern sogar den entgegengesetzten Effekt haben. Die Demokratie ist die Ideologie, die am besten zu den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften passt und die wichtigste Einzelwaffe gegen das Klassenbewusstsein des Proletariats. Doch heute wird die Bourgeoisie mit dem Paradoxon konfrontiert, dass sie, setzt sie die Politik fort, Parteien auf Distanz zu halten, die nicht ihre demokratischen Regeln der political correctness befolgen, eine ernsthafte Beschädigung ihres demokratischen Images riskiert. Wie soll gerechtfertigt werden, dass Parteien mit einem beträchtlichen, wenn nicht sogar mit einem mehrheitlichen Stimmenanteil außen vor gelassen werden, ohne sich selbst zu diskreditieren und in unentwirrbare argumentative Widersprüche zu geraten? Mehr noch, die Demokratie ist nicht nur eine Ideologie, sondern auch ein höchst effizientes Mittel der Klassenherrschaft – nicht zuletzt weil sie in der Lage ist, neue politische Impulse, die aus der Gesellschaft als solche kommen, zu erkennen und zu assimilieren.
In diesem Rahmen stellt die herrschende Klasse die Perspektive einer möglichen populistischen Einbindung in die Regierung ins Verhältnis zum gegenwärtigen Kräfteverhältnis mit dem Proletariat. Die gegenwärtigen Trends deuten an, dass die große Bourgeoisie selbst nicht glaubt, dass eine immer noch unbesiegte Arbeiterklasse zwangsläufig solch eine Option ausschließt. Zunächst einmal würde eine solche Möglichkeit nicht die Abschaffung der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie bedeuten, wie dies in Italien, Spanien und Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren nach der Niederlage des Proletariats der Fall war. Selbst in Osteuropa haben die existierenden rechtspopulistischen Regierungen nicht versucht, die anderen Parteien zu verbieten oder ein System von Konzentrationslagern zu etablieren. Solche Maßnahmen würden in der Tat nicht akzeptiert werden von der heutigen Generation von ArbeiterInnen, insbesondere nicht in den westlichen Ländern und vielleicht nicht einmal in Polen und Ungarn.
Außerdem und andererseits ist die Arbeiterklasse, obgleich nicht endgültig und historisch besiegt, gegenwärtig auf der Ebene ihres Klassenbewusstseins, ihres Kampfgeistes und ihrer Klassenidentität geschwächt. Der historische Kontext hierfür ist vor allem die Niederlage der ersten revolutionären Welle Ende des I. Weltkriegs und das Ausmaß sowie die Dauer der Konterrevolution, die ihr folgte.
In diesem Kontext ist die erste Ursache dieser Schwäche die Unfähigkeit der Klasse, eine adäquate Antwort in ihren Abwehrkämpfen auf den gegenwärtigen Zustand des staatskapitalistischen Managements, die „Globalisierung“, zu finden. In ihren Abwehrkämpfen spüren die ArbeiterInnen zu Recht, dass sie direkt mit dem Weltkapitalismus in seiner Gesamtheit konfrontiert sind. Weil heute nicht nur Handel und Verkehr, sondern auch zum ersten Mal die Produktion globalisiert ist, kann die Bourgeoisie auf jeglichen lokalen oder nationalen Widerstand des Proletariats rasch reagieren, indem sie die Produktion verlagert. Diesem scheinbar überwältigenden Instrument zur Disziplinierung der Arbeit kann nur wirksam durch einen internationalen Klassenkampf entgegengewirkt werden, eine Ebene der Auseinandersetzung, die zu erklimmen die Klasse in absehbarer Zukunft noch unfähig ist.
Die zweite Ursache dieser Schwächung ist die Unfähigkeit der Klasse, die Politisierung ihrer Kämpfe nach dem Anfangsimpuls von 1968/69 anzustreben. Daraus resultierte das Ausbleiben jeglicher Entwicklungsperspektive für ein besseres Leben oder eine bessere Gesellschaft: die gegenwärtige Phase des Zerfalls. Insbesondere der Zusammenbruch der stalinistischen Regimes in Osteuropa schien die Unmöglichkeit einer Alternative zum Kapitalismus zu bekräftigen.
In einer kurzen Zeitspanne, etwa von 2003 bis 2008, gab es zarte, relativ unauffällige erste Anzeichen des Beginns eines zwangsläufig langwierigen und schwierigen Prozesses der proletarischen Erholung von diesen Schlägen. Insbesondere die Frage der Klassensolidarität, nicht zuletzt die zwischen den Generationen, wurde allmählich vorgebracht. Die Anti-CPE-Bewegung 2006 war der Höhepunkt dieser Phase, weil es ihr gelang, die französische Bourgeoisie zum Einlenken zu zwingen und weil das Beispiel dieser Bewegung und ihr Erfolg Bereiche der Jugend in anderen europäischen Ländern, einschließlich Deutschland und Großbritannien, inspirierte.
Jedoch erfroren diese ersten Knospen einer möglichen proletarischen Wiederbelebung infolge einer dritten negativen Welle von Ereignissen historischen Ausmaßes in der Phase nach‚1968, die einen dritten herben Rückschlag für das Proletariat bedeuteten: die wirtschaftlichen Kalamitäten von 2007/08, denen die gegenwärtige Welle von Flüchtlingen und anderen Immigranten folgte – die größte seit Ende des II. Weltkrieges.
Das Besondere an der Krise von 2007/08 war, dass sie als eine Finanzkrise von enormen Ausmaßen begann. Für Millionen von ArbeiterInnen bestand eine der schlimmsten Auswirkungen dieser Krise, in einigen Fällen sogar die Hauptauswirkung, nicht darin, dass ihnen der Lohn gekürzt wurde, die Steuern erhöht wurden oder dass sie ihren Job verloren, Maßnahmen, die von den Arbeitgebern oder dem Staat erzwungen werden, sondern im Verlust des Zuhauses, der Ersparnisse, Versicherungen, etc. Diese Verluste auf finanzieller Ebene erscheinen als Verluste von Staatsbürgern in der bürgerlichen Gesellschaft und nicht als spezifisch proletarisches Los. Ihre Ursachen bleiben unklar, begünstigen Personifizierung und Verschwörungstheorien.
Die Besonderheit der Flüchtlingskrise ist, dass sie im Kontext der „Festung Europa“ (und der Festung Nordamerika) stattfindet. Im Gegensatz zu den 1930er Jahren ist seit 1968 die kapitalistische Weltkrise von einem internationalen staatskapitalistischen Management unter der Leitung der Bourgeoisie der alten kapitalistischen Länder flankiert worden. Als Folge dessen scheinen nach fast einem halben Jahrhundert der chronischen Krise Westeuropa und Nordamerika immer noch als Oasen des Friedens, Wohlstandes und der Stabilität, zumindest im Vergleich mit der „Welt da draußen“. In solch einem Kontext ist es nicht nur die Furcht vor der Konkurrenz der Immigranten, die Teile der einheimischen Bevölkerung alarmieren, sondern auch die Furcht, dass das Chaos und die Gesetzlosigkeit, die als etwas erscheinen, das von draußen kommt, zusammen mit den Flüchtlingen Zutritt zur „zivilisierten“ Welt erhalten. Auf der gegenwärtigen Ebene des Klassenbewusstseins ist es für die meisten ArbeiterInnen zu schwierig zu verstehen, dass sowohl die chaotische Barbarei in der kapitalistischen Peripherie als auch ihr immer näheres Vordringen zu den Kernländern das Resultat des Weltkapitalismus und der Politik der führenden kapitalistischen Länder sind.
Dieser Kontext der „Finanz“-, „Euro“- und Flüchtlingskrise hat zurzeit das erste embryonale Streben nach einer Erneuerung der Klassensolidarität im Keim erstickt. Dies ist möglicherweise zumindest teilweise der Grund, warum der Kampf der Indignados, auch wenn er länger und in gewisser Weise tiefergehend war als die Anti-CPE -Bewegung, darin scheiterte, die Angriffe in Spanien zu stoppen, und so leicht von der Bourgeoisie ausgenutzt werden konnte, um eine neue linke Partei zu gründen: Podemos.
Das politische Hauptresultat dieser neuen Welle der De-Solidarisierung von 2008 bis heute war die Stärkung des Populismus. Letzterer ist nicht nur Symptom einer weiteren Schwächung des proletarischen Klassenbewusstseins und Kampfgeistes, sondern bildet auch einen weiteren treibenden Faktor dafür. Nicht nur, weil der Populismus in die Reihen des Proletariats vordringt; tatsächlich widersetzen sich zentrale Sektoren heftig diesem Einfluss, wie das deutsche Beispiel veranschaulicht. Sondern auch, weil die Bourgeoisie von dieser Heterogenität der Klasse profitiert, um das Proletariat weiter zu spalten und zu verwirren. Heute scheinen wir uns einer Situation anzunähern, die auf den ersten Blick gewisse Ähnlichkeiten mit den 1930er Jahren aufweist. Natürlich ist das Proletariat nicht politisch und physisch besiegt worden, wie dies damals in Deutschland der Fall gewesen war. Infolgedessen kann der Antipopulismus nicht genau dieselbe Rolle spielen wie der Antifaschismus der 30er Jahre. Es scheint auch eine Charakteristik der Zerfallsphase zu sein, dass solche falsche Alternativen weniger scharf konturiert sind als früher. Dennoch: Während in einem Land wie Deutschland vor acht Jahren die ersten Schritte der Politisierung einer kleinen Minderheit von suchenden jungen Leuten unter dem Einfluss der Losung: „Nieder mit dem Kapitalismus, der Nation und dem Staat“ gemacht wurden, werden sie heute vor dem Hintergrund der Verteidigung der Flüchtlinge und der „Willkommenskultur“ in der Konfrontation gegen die Neonazis und Rechtspopulisten gemacht.
In der gesamten Periode im Anschluss an‚ 1968 war das Gewicht des Antifaschismus zumindest durch die Tatsache abgemildert, dass die konkrete faschistischen Gefahr entweder in der Vergangenheit lag oder von mehr oder weniger marginalisierten Rechtsextremisten repräsentiert wurde. Heute verleiht der Aufstieg des Rechtspopulismus als ein potenzielles Massenphänomen der Verteidigung der Demokratie ein neues, griffigeres und wichtiges Ziel, für das sie mobilisieren kann.
Wir möchten diesen Teil mit der Feststellung schließen, dass das gegenwärtige Wachstum des Populismus und seines Einflusses auf die bürgerliche Politik insgesamt auch durch die aktuelle Schwäche des Proletariats ermöglicht wurde.
Obwohl die bürgerliche Debatte darüber, wie man mit dem wiedererwachenden Populismus verfahren soll, gerade erst begonnen hat, können wir bereits einige Parameter nennen, die vorgestellt wurden. Wenn wir die Debatte in Deutschland betrachten – das Land, wo die Bourgeoisie vielleicht am sensibelsten und am wachsamsten in solchen Fragen ist -, können wir drei Aspekte identifizieren, die vorgebracht wurden.
Erstens, dass es ein Fehler der „Demokraten“ sei, den Populismus zu bekämpfen zu versuchen, indem man seine Sprache und Vorschläge annehme. Laut dieser Argumentation war es eben dieses Kopieren der Populisten, das teilweise das Fiasko der Regierungsparteien in den jüngsten Wahlen in Österreich erklärt und das Scheitern der traditionellen Parteien in Frankreich bei dem Versuch, den Vormarsch des FN zu stoppen, zu erklären hilft. Die Wähler der Populisten, argumentieren sie, zögen das Original jeder Kopie vor. Statt Zugeständnisse zu machen, sagen sie, sei es notwendig, die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen dem „verfassungsgetreuen Patriotismus“ und dem „chauvinistischen Nationalismus“, zwischen Weltoffenheit und Fremdenfeindlichkeit, Toleranz und Autoritätsgläubigkeit, Modernität und Konservatismus, zwischen Humanismus und Barbarei herauszustreichen. Laut dieser Argumentationslinie seien westliche Demokratien heute „reif“ genug, um mit dem modernen Populismus fertigzuwerden, während man gleichzeitig eine Mehrheit für die „Demokratie“ erhalten könne, wenn man seine Positionen „offensiv“ vortrage. Dies ist beispielsweise die Position der gegenwärtigen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Zweitens wird darauf bestanden, dass das Wahlvolk in die Lage versetzt werden sollte, wieder einen Unterschied zwischen Rechts und Links zu erkennen, damit der gegenwärtige Eindruck eines Kartells der etablierten Parteien korrigiert werden könne. Diese Idee, vermuten wir, war bereits die Motivation für die in den vergangenen beiden Jahren von der CDU/SPD-Koalition betriebenen Vorbereitungen für eine mögliche künftige christdemokratisch-grüne Koalition. Der Ausstieg aus der Kernkraft nach der Fukushima-Katastrophe, der nicht in Japan, sondern in Deutschland angekündigt wurde, und die aktuelle Euphorie der Grünen für eine „Willkommenskultur“ gegenüber den Flüchtlingen, die nicht mit der SPD, sondern mit Angela Merkel in Verbindung gebracht wird, waren die bisherigen Hauptschritte in dieser Strategie. Jedoch bedroht der unerwartet schnelle Aufstieg der AfD in der Wählergunst heute die Verwirklichung einer solchen Strategie (der jüngste Versuch, die liberale FDP ins Parlament zurückzubringen, mag eine Reaktion darauf sein, da diese Partei sich eventuell einer „schwarz-grünen“ Koalition anschließen könnte). Im Gegenzug könnte die SPD, jene Partei, die in Deutschland die „neoliberale Revolution“ mit der Agenda 2010 unter Schröder angeführt hatte, dann eine eher „linke“ Haltung einnehmen. Im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern, wo die Rechtskonservativen unter Thatcher und Reagan die notwendigen „neoliberalen“ Maßnahmen durchsetzten, mussten sich in vielen kontinentaleuropäischen Ländern die Linken (als die politischeren, verantwortlicheren und disziplinierteren Parteien) daran beteiligen oder gar ihre Umsetzung in die Hand nehmen.
Heute jedoch ist es offensichtlich geworden, dass die notwendige Stufe der neo-liberalen Globalisierung von Exzessen begleitet wurde, die früher oder später korrigiert werden sollten. Dies war besonders nach 1989 der Fall, als der Zusammenbruch der stalinistischen Regimes so überwältigend all die ordo-liberalen Thesen über die Ungeeignetheit einer staatskapitalistischen Bürokratie für die Lenkung der Wirtschaft zu bestätigen schien. Solche Exzesse werden nun in wachsender Weise von seriösen Repräsentanten der bürgerlichen Klasse hervorgehoben. Zum Beispiel ist es für das Überleben des Kapitalismus nicht absolut unerlässlich, dass eine winzige Fraktion der Gesellschaft nahezu den gesamten Reichtum besitzt. Dies kann nicht nur sozial und politisch schädlich sein, sondern auch wirtschaftlich, da die Superreichen, statt den Löwenanteil ihres Reichtums auszugeben, vor allem um den Werterhalt ihres Reichtums besorgt sind und daher die Spekulation anheizen und zahlungsfähige Kaufkraft zurückhalten. Gleichermaßen ist es nicht absolut notwendig für den Kapitalismus, dass die Konkurrenz zwischen Nationalstaaten bis zum gegenwärtigen Ausmaß die Form von Steuerkürzungen und Staatsetats annimmt, so dass der Staat notwendige Investitionen nicht mehr sichern kann. Mit anderen Worten, die Idee ist, dass durch ein etwaiges Comeback einer Art neo-keynesianischer Korrektur die Linke, ob in traditioneller Form oder durch neue Parteien wie Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien, eine gewisse materielle Grundlage zurückerlangen kann, um sich selbst als Alternative zu den ordo-liberalen Rechtskonservativen zu profilieren. Es gilt jedoch festzuhalten, dass die heutigen Denkprozesse innerhalb der herrschenden Klasse über eine mögliche künftige Rolle der Linken nicht in erster Linie von der (unmittelbaren) Furcht vor der Arbeiterklasse bestimmt werden. Im Gegenteil, viele Elemente der gegenwärtigen Lage in den kapitalistischen Kernländern deuten darauf hin, dass der Hauptaspekt, der die Politik der herrschenden Klasse bestimmt, gegenwärtig das Problem des Populismus ist.
Der dritte Aspekt ist, dass die CSU, die Schwesterpartei von Merkels CDU, wie die britischen Tories um Boris Johnson denkt, dass Teile des traditionellen Parteiapparates Elemente populistischer Politik anwenden sollten. Wir sollten dabei anmerken, dass die CSU nicht mehr der Ausdruck der traditionell bayrischen, kleinbürgerlichen Rückständigkeit ist. Im Gegenteil, zusammen mit der südlichen Provinz von Baden-Württemberg ist Bayern heute ökonomisch der modernste Teil Deutschlands, das Rückgrat seiner Hightech- und Exportindustrien, die Produktionsbasis von Konzernen wie Siemens, BMW oder Audi.
Diese dritte Option, die natürlich von München propagiert wird, kollidiert mit der erstgenannten, die vor allem von Angela Merkel vorgebracht wird; die jüngsten Frontalzusammenstöße zwischen den beiden Parteien sind nicht nur Wahlmanöver oder (reale) Differenzen zwischen partikularen Wirtschaftsinteressen, sondern auch Unterschiede in der Vorgehensweise. Mit Blick auf die aktuelle Entschlossenheit der Bundeskanzlerin, ihre Auffassung nicht zu ändern, haben einige Repräsentanten der CSU sogar begonnen, „laut darüber nachzudenken“, bei den nächsten Bundestagswahlen ihre eigenen Repräsentanten in anderen Teilen Deutschlands in Opposition zur CDU aufzustellen.
Die Idee der CSU wie von Teilen der britischen Konservativen ist, dass, wenn populistische Maßnahmen unvermeidbar sind, es besser sei, wenn sie von einer erfahrenen und verantwortungsvollen Partei angewendet werden. Auf diese Art könnten solch oftmals unverantwortliche Maßnahmen einerseits begrenzt und andererseits durch begleitende Eingriffe ausgeglichen werden.
Trotz des realen Risses zwischen Merkel und Seehofer, wie zwischen Cameron und Johnson, sollten wir nicht das Element der Arbeitsteilung zwischen ihnen übersehen (ein Teil „offensiv“ demokratische Werte vertretend, der andere die Richtigkeit des „demokratischen Ausdrucks erzürnter Bürger“ anerkennend).
Auf alle Fälle veranschaulicht dieser Diskurs in seiner Gesamtheit, dass die führenden Fraktionen der Bourgeoisie dabei sind, auf gewisse Weise und in einem gewissen Umfang sich mit der Idee einer populistischen Regierungspolitik abzufinden, wie dies bereits teilweise von den Brexit-Tories und der CSU praktiziert wird.
Wie wir gesehen haben, hat es eine massive Zurückhaltung der Hauptfraktionen der Bourgeoisie in Westeuropa und Nordamerika gegenüber dem Populismus gegeben (und gibt es immer noch). Was sind die Ursachen? Im Grunde genommen stellen diese Bewegungen den Kapitalismus keineswegs in Frage. Nichts davon, was sie propagieren, ist der bürgerlichen Welt fremd. Anders als der Stalinismus stellt der Populismus nicht einmal die gegenwärtigen Formen des kapitalistischen Eigentums in Frage. Er ist natürlich eine „oppositionelle“ Bewegung. Aber dies waren Sozialdemokratie und Stalinismus in gewisser Weise auch, ohne dass es sie daran hinderte, verantwortungsvolle Mitglieder von Regierungen führender kapitalistischer Staaten zu sein.
Um diese Zurückhaltung zu erklären, ist es notwendig, den fundamentalen Unterschied zwischen dem heutigen Populismus und der Linken des Kapitals zu erkennen. Auch dann, wenn sie keine früheren Organisationen der Arbeiterbewegung repräsentieren (wie die Grünen zum Beispiel), stützen die Linken ihre Anziehungskraft auf die Propagierung früherer oder verzerrter Ideale der Arbeiterbewegung oder zumindest der bürgerlichen Revolution, obwohl sie gleichzeitig die besten Repräsentanten des Nationalismus und die besten Mobilmacher des Proletariats für den Krieg sein können. Mit anderen Worten, so chauvinistisch und sogar antisemitisch sie auch sein mögen, leugnen sie nicht prinzipiell die „Bruderschaft der Menschheit“ und die Möglichkeit, den Zustand der gesamten Welt zu verbessern. Im Grunde behaupten selbst die reaktionärsten neoliberalen Radikalen, dieses Ziel zu verfolgen. Dies ist zwangsläufig der Fall. Von Anbeginn stützte sich der Anspruch der Bourgeoisie, sich der Repräsentanz der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit als würdig zu erweisen, stets auf diese Perspektive.
Nichts von dem bedeutet, dass die Linke des Kapitals als Teil dieser verrotteten Gesellschaft nicht auch rassistisches, antisemitisches Gift verspritzt, das dem der rechten Populisten nicht unähnlich ist!
Im Gegensatz dazu verkörpert der Populismus die Abkehr von solch einem „Ideal“. Was er propagiert, ist das Überleben der Einen auf Kosten der Anderen. All seine Arroganz kreist um diesen „Realismus“, auf den er so stolz ist. Als solcher ist er das Produkt der bürgerlichen Welt und ihrer Weltsicht – vor allem aber ihres Zerfalls.
Zweitens schlägt der linke Flügel des Kapitals dem nationalen Kapital ein mehr oder weniger kohärentes und realistisches ökonomisches, politisches und soziales Programm vor. Im Gegensatz dazu ist der Populismus nicht deswegen so problematisch, weil er keine konkreten Vorschläge macht, sondern weil er mal das eine, mal das andere (und sei es das Gegenteil) vorschlägt, heute die eine Politik, morgen eine andere betreibt. Statt eine politische Alternative zu sein, repräsentiert er den Zerfall der bürgerlichen Politik.
Daher macht es, zumindest im Sinne des Terminus, der hier benutzt wird, wenig Sinn, von der Existenz eines linken Populismus als einem Pendant zum rechten Populismus zu sprechen.
Aller Ähnlichkeiten und Parallelen zum Trotz wiederholt sich die Geschichte niemals. Der Populismus von heute ist nicht dasselbe wie der Faschismus der 1920er und 1930er Jahre. Jedoch haben der Faschismus damals und der Populismus heute in gewissen Hinsichten ähnliche Ursachen. Insbesondere sind beide Ausdruck des Zerfalls der bürgerlichen Welt. Mit der historischen Erfahrung des Faschismus und vor allem des Nationalsozialismus ausgestattet, ist die Bourgeoisie der alten, zentralen kapitalistischen Länder sich sowohl dieser Ähnlichkeiten als auch der potenziellen Gefahren bewusst, die Letztere für die Stabilität der kapitalistischen Ordnung darstellen.
Dem Faschismus in Italien und Deutschland waren gemeinsam der Triumph der Konterrevolution und das Delirium der sich in eine mystische Gemeinschaft auflösenden Klassen nach einer vorherigen Niederlage der revolutionären Welle (hauptsächlich durch die Waffen der Demokratie und des linken Flügels des Kapitals). Gemeinsam auch ihre offene Anfechtung der imperialistischen Zerstückelung nach dem I. Weltkrieg und die Irrationalität vieler ihrer Kriegsziele. Doch trotz dieser Ähnlichkeiten (auf welcher Grundlage BILAN die Niederlage der revolutionären Welle und den Wechsel im historischen Kurs erkennen konnte, der die Möglichkeit für die Bourgeoisie schuf, das Proletariat für den Weltkrieg zu mobilisieren) lohnt es sich beim Unterfangen, den zeitgenössischen Populismus besser zu verstehen, einige Besonderheiten von historischen Entwicklungen im damaligen Deutschland näher unter die Lupe zu nehmen, einschließlich derer, die sie vom weitaus weniger irrationalen italienischen Faschismus unterschied. Erstens ging das Beben der etablierten Obrigkeiten der herrschenden Klassen und der Vertrauensverlust der Bevölkerung in ihre traditionelle politische, wirtschaftliche, ideologische und moralische Herrschaft viel tiefer als anderswo (ausgenommen Russland), da Deutschland der Hauptverlierer des Ersten Weltkrieges war und aus ihm in einem Zustand der ökonomischen, finanziellen und gar physischen Erschöpfung hervorging.
Zweitens war in Deutschland weitaus mehr als in Italien eine reale revolutionäre Situation eingetreten. Die Weise, wie die Bourgeoisie in der Lage war, dieses Potenzial schon früh im Keim zu ersticken, sollte uns nicht dazu verleiten, das Ausmaß dieses revolutionären Prozesses und die Intensität der Hoffnungen und Sehnsüchte zu unterschätzen, die von ihm geweckt wurden und ihn begleiteten. Die deutsche und die Weltbourgeoisie brauchten fast sechs Jahre, bis 1923, um alle Spuren dieser überbordenden Lebendigkeit auszulöschen. Heute ist es schwierig, sich das Ausmaß der Enttäuschung, die von dieser Niederlage verursacht wurde, und die Verbitterung vorzustellen, die sie hinterließ. Dem Vertrauensverlust der Bevölkerung in die herrschende Klasse folgte somit schnell die weitaus grausamere Enttäuschung über ihre eigenen (früheren) Organisationen (Sozialdemokratie und Gewerkschaften) und die Enttäuschung über die junge KPD und die Kommunistische Internationale.
Drittens spielten ökonomische Katastrophen eine weitaus zentralere Rolle beim Aufstieg des Nationalsozialismus, als dies beim Faschismus in Italien der Fall war. Die Hyperinflation 1923 in Deutschland (und anderswo in Mitteleuropa) untergrub das Vertrauen in die Währung als universelles Tauschmittel. Die Große Depression, die 1929 begann, fand nur sechs Jahre nach dem Trauma der Hyperinflation statt. Nicht nur, dass die große Depression eine Arbeiterklasse in Deutschland traf, deren Klassenbewusstsein und Kampfgeist längst zertrümmert war. Die Weise, in der die Massen intellektuell und emotional diese neue Episode der Wirtschaftskrise erfuhren, wurde wesentlich durch die Ereignisse von 1923 beeinflusst, sozusagen vorformatiert.
Die Krisen besonders im dekadenten Kapitalismus betreffen jeden Aspekt des wirtschaftlichen (und sozialen) Lebens. Sie sind Krisen der (Über-)Produktion – von Kapital, Waren, von Arbeitskraft – und der Aneignung und „Verteilung“ – finanzielle und Währungsspekulationen sowie den Crash eingeschlossen. Doch anders als der Ausdruck der Krise in der Produktion, wie Entlassungen und Lohnkürzungen, sind die negativen Auswirkungen auf die Bevölkerung auf der finanziellen und monetären Ebene weitaus abstrakter und obskurer. Dennoch können ihre Auswirkungen gleichermaßen verheerend für Teile der Bevölkerung sein; ihre Nachwirkungen können gar weltweit sein und sich sogar schneller verbreiten als das Echo auf ein Ereignis, das näher am Produktionsprozess liegt. Mit anderen Worten, während die letztgenannten Erscheinungen der Krise dazu neigen, die Entwicklung des Klassenbewusstseins zu begünstigen, neigen jene, die aus der finanziellen und monetären Sphäre kommen, eher zum Gegenteil. Ohne die Unterstützung durch den Marxismus ist es nicht leicht, die wahren Verbindungen zwischen z.B. einem finanziellen Crash in Manhattan und der Zahlungsunfähigkeit einer Versicherung oder gar eines Staates auf einem anderen Kontinent zu erkennen. Solch dramatische Systeme der Interdependenz, die blind zwischen Ländern, Völkern, Gesellschaftsklassen geschaffen werden und die hinter dem Rücken der Protagonisten funktionieren, können leicht zu einer Personifizierung und zu gesellschaftlicher Paranoia führen. Dass die jüngste Verschärfung der Krise des Kapitalismus auch eine Finanz- und Bankenkrise war, verknüpft mit den Spekulationsblasen und ihrem Platzen, ist nicht nur bürgerliche Propaganda. Dass ein falsches Spekulationsmanöver in Tokio oder New York den Kollaps einer Bank in Island auslösen oder den Immobilienmarkt in Irland erschüttern kann, ist keine Fiktion, sondern Realität. Nur der Kapitalismus kann solch eine Interdependenz auf Leben und Tod zwischen Menschen schaffen, die einander völlig gleichgültig sind, zwischen Protagonisten, die sich nicht einmal der Existenz des anderen bewusst sind. Es ist äußerst schwer für menschliche Wesen, mit solch einem Grad an Abstraktion, ob intellektuell oder emotional, klar zu kommen. Ein Weg, damit fertig zu werden, ist die Personifizierung, die die realen Mechanismen des Kapitalismus ignoriert: böse Kräfte, die absichtlich ausgesetzt werden, um uns zu schaden. Es ist umso wichtiger, diese Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten von Angriffen zu begreifen, da nicht mehr hauptsächlich das Kleinbürgertum und die so genannten Zwischenschichten ihre Ersparnisse verloren, wie 1923, sondern ArbeiterInnen, die ihr eigenes Zuhause besaßen oder versuchten, es zu besitzen, die Ersparnisse haben, Versicherungen, etc.
1932 sah sich die deutsche Bourgeoisie, die hauptsächlich gegen Russland in den Krieg zu ziehen plante, mit einem Nationalsozialismus konfrontiert, der zu einer wahren Massenbewegung geworden war. Bis zu einem gewissen Umfang saß die Bourgeoisie in der Falle, war sie Gefangener einer Situation, die größtenteils sie selbst zu verantworten hatte. Sie hätte für einen Krieg unter einer sozialdemokratischen Führung mit Unterstützung durch die Gewerkschaften in einer möglichen Koalition mit Frankreich oder Großbritannien, anfangs sogar als ihr Juniorpartner, optieren können. Aber dies hätte nach sich gezogen, die NS-Bewegung zu konfrontieren oder zumindest zu neutralisieren, die nicht nur zu groß geworden war, um ihrer Herr zu werden, sondern auch jenen Teil der Bevölkerung um sich sammelte, der sich nach einem Krieg sehnte. In dieser Lage machte die deutsche Bourgeoisie den Fehler, zu glauben, sie könne die NS-Bewegung beliebig instrumentalisieren.
Der Nationalsozialismus war nicht einfach ein Regime des Massenterrors, der von einer kleinen Minderheit gegen den Rest der Bevölkerung ausgeübt wurde. Er hatte eine eigene Massenbasis. Er war nicht nur ein Instrument des Kapitals, das der Bevölkerung aufgezwungen wurde. Er war auch das Gegenteil: ein blindes Instrument von atomisierten, pulverisierten und paranoiden Massen, die sich ihrerseits dem Kapital aufzwangen.
Dem Nationalsozialismus wurde daher zu einem bedeutenden Teil durch den Vertrauensverlust großer Bevölkerungsteile in die Autorität der herrschenden Klasse und ihre Fähigkeit , die Gesellschaft effektiv zu leiten und ihren Bürgern ein Minimum an körperlicher und ökonomischer Sicherheit zu gewähren, der Weg geebnet. Diese Erschütterung ihrer Fundamente wurde vom I. Weltkrieg eingeleitet und durch die darauffolgenden ökonomischen Katastrophen, die Hyperinflation, die (auf der Seite der Verlierer) aus dem Weltkrieg resultierte, und die Große Depression der 1930er Jahre verschärft. Das Epizentrum dieser Krise lag in den drei Reichen – das Deutsche, das Österreichisch-Ungarische und das Russische Reich -, die allesamt unter den Schlägen des (verlorenen) Krieges und der revolutionären Welle zusammengebrochen waren.
Anders als in Russland, wo die Revolution anfangs Erfolg hatte, scheiterte die Revolution in Deutschland und im früheren Österreich-Ungarn. Mangels einer proletarischen Alternative gegenüber der Krise der bürgerlichen Gesellschaft ergab sich eine große Leere, die um Deutschland und, sagen wir, Kontinentaleuropa nördlich des Mittelmeerbeckens angesiedelt war, doch weltweite Auswirkungen hatte und Auslöser einer Eskalation von Gewalt und Pogromisierung war, die sich auf Themen des Antisemitismus und Antibolschewismus bezogen und im „Holocaust“ und dem Beginn der Massenliquidierungen ganzer Völker insbesondere auf dem Territorium der UdSSR unter deutscher Besetzung kulminierten.
Die Form, die die Konterrevolution in der Sowjetunion annahm, spielte eine wichtige Rolle in der Entwicklung dieser Situation. Obwohl es nichts Proletarisches am stalinistischen Russland gab, erschreckte insbesondere die gewaltsame Enteignung der Bauernschaft (die „Kollektivierung der Landwirtschaft“ und die „Liquidierung der Kulaken“) nicht nur die kleinen Privateigentümer und Sparer in der restlichen Welt, sondern auch viele große. Dies war besonders in Kontinentaleuropa der Fall, wo diese Privateigentümer (die auch die bescheidensten Hauseigentümer miteinschloss) – anders als ihre britischen und US-amerikanischen Gegenparts ungeschützt durch das Meer und andere Barrieren vom „Bolschewismus“ – nur geringes Vertrauen in die Fähigkeit der existierenden instabilen, „demokratischen“ oder „autoritären“ europäischen Regimes hatten, sie vor der Enteignung durch die Krise oder den „jüdischen Bolschewismus“ zu schützen.
Wir können aus dieser historischen Erfahrung schließen, dass, wenn das Proletariat unfähig ist, seine eigene revolutionäre Alternative gegen den Kapitalismus vorzubringen, der Vertrauensverlust in die Fähigkeiten der herrschenden Klasse, „ihren Job zu machen“, möglicherweise zu einer Revolte führt, einem Protest, einer Explosion ganz anderer Art, eine, die nicht bewusst ist, sondern blind, nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit zugewandt ist, die nicht auf Vertrauen, sondern auf Angst basiert, nicht auf Kreativität, sondern auf Zerstörungswut und Hass.
Dieser Prozess, den wir gerade geschildert haben, war bereits der Zerfall des Kapitalismus. Und es ist mehr als verständlich, dass viele Marxisten und andere scharfsinnige Beobachter der Gesellschaft in den 1930ern erwarteten, dass diese Tendenz schnell die gesamte Welt verschlingen werde. Doch es stellte sich heraus, dass sie nur die erste Phase dieses Zerfalls war, noch nicht seine Endphase.
Namentlich drei Faktoren von weltgeschichtlicher Bedeutung drängten diese Zerfallstendenz zurück.
Erstens der Sieg der Anti-Hitler-Koalition im II. Weltkrieg, der das Prestige der „westlichen“ Demokratie und besonders des amerikanischen Modells auf der einen Seite sowie des „Sozialismus in einem Land“ und des sowjetischen Modells auf der anderen Seite erheblich steigerte.
Zweitens das „Wirtschaftswunder“ nach dem II. Weltkrieg vor allem im westlichen Block.
Diese zwei Faktoren waren der Bourgeoisie zuzuschreiben. Der dritte war der Arbeiterklasse zuzuschreiben: das Ende der Konterrevolution, die Rückkehr des Klassenkampfes auf der Hauptbühne der Geschichte und, mit ihm, (wenn auch konfus und flüchtig) das Wiederaufkommen einer revolutionären Perspektive. Die Bourgeoisie antwortete ihrerseits auf diese veränderte Lage nicht nur mit der Ideologie des Reformismus, sondern auch mit realen (natürlich nur vorübergehenden) Zugeständnissen und Verbesserungen. All dies stärkte unter den ArbeiterInnen die Illusion, dass das Leben sich verbessern ließe. Wie wir wissen, war es im Wesentlichen die Pattsituation zwischen den beiden Hauptklassen, von denen die eine nicht in der Lage ist, einen allgemeinen Krieg auszulösen, und die andere unfähig, sich auf eine revolutionäre Lösung zuzubewegen, welche zur gegenwärtigen Zerfallsphase führte. Nach dem Scheitern der ‚68er Generation, ihre Kämpfe zu politisieren, leiteten die Ereignisse von 1989 somit auf Weltebene die gegenwärtige Zerfallsphase ein. Doch es ist sehr wichtig zu begreifen, dass diese Phase nichts Stagnierendes ist, sondern ein Prozess. 1989 markierte vor allem das Scheitern des ersten Versuchs des Proletariats, seine eigenen revolutionäre Alternative neu zu entwickeln. Nach 20 Jahren der chronischen Krise und der Verschlechterung der Bedingungen für die Arbeiterklasse und für die Weltbevölkerung insgesamt waren auch das Prestige und die Autorität der herrschenden Klasse erodiert, jedoch nicht in dem gleichen Ausmaß. Zur Jahrtausendwende gab es noch immer wichtige Gegentendenzen, die die Reputation der führenden bürgerlichen Eliten aufwerteten. Wir möchten hier drei erwähnen:
Erstens beschädigte der Kollaps des Ostblockstalinismus in keiner Weise das Image der Bourgeoisie des früheren westlichen Blocks. Im Gegenteil, was er zu beweisen schien, war die Unmöglichkeit einer Alternative zum „westlichen, demokratischen Kapitalismus“. Natürlich wurde die Euphorie von 1989, wie die Illusion einer friedlicheren Welt, zum Teil schnell durch die Realität vertrieben. Doch es bleibt richtig, dass seit 1989 das Damoklesschwert der permanenten Bedrohung einer gegenseitigen Auslöschung durch einen nuklearen dritten Weltkrieg zumindest nicht mehr unmittelbar über unseren Häuptern schwebt. Auch konnten nach 1989, im Rückblick betrachtet, sowohl der II. Weltkrieg als auch der darauffolgende Kalte Krieg zwischen Ost und West glaubhaft als das Produkt der „Ideologie“ und des „Totalitarismus“ (also als Fehler des Faschismus und des „Kommunismus“) dargestellt werden. Auf ideologischer Ebene kam es der westlichen Bourgeoisie äußerst gelegen, dass der neue mehr oder weniger offene imperialistische Herausforderer der USA heute nicht mehr (das heutzutage „demokratische“) Deutschland, sondern das „totalitäre“ China ist, und dass viele der zeitgenössischen regionalen Kriege und terroristischen Angriffe dem „religiösen Fundamentalismus“ zugeordnet werden können.
Zweitens macht der aktuelle „Globalisierungs-“Zustand des Staatskapitalismus, der bereits zuvor eingeleitet wurde, im Zusammenhang mit der Phase nach 1989 eine reale Weiterentwicklung der Produktivkräfte in den früheren peripheren Ländern des Kapitalismus möglich. Selbstverständlich bilden die BRIC-Staaten alles andere als ein Modell dafür, wie die ArbeiterInnen in den alten kapitalistischen Ländern leben wollten. Doch andererseits erweckten sie den Eindruck eines dynamischen Weltkapitalismus. Angesichts der Bedeutung der Frage der Immigration für den heutigen Populismus sei anzumerken, dass diese Länder anerkanntermaßen einen bedeutenden Beitrag zur Stabilisierung der Situation leisten, da sie selbst Millionen von Migranten absorbieren, die andernfalls nach Europa und Nordamerika gehen würden.
Drittens finden die wirklich atemberaubenden Weiterentwicklungen auf der technologischen Ebene statt und haben Kommunikation, Bildung, Medizin, das Alltagsleben insgesamt „revolutioniert“, was einmal mehr den Eindruck einer pulsierenden Gesellschaft erweckt (was übrigens unser eigenes Verständnis rechtfertigt, dass die Dekadenz des Kapitalismus nicht einen Stopp der Produktivkräfte oder technologische Stagnation bedeutet).
Diese Faktoren (und es gibt wahrscheinlich noch weitere) konnten zwar nicht die gegenwärtige Zerfallsphase verhindern (und mit ihr eine erste Entwicklung des Populismus), aber doch einige ihrer Auswirkungen abschwächen. Im Gegensatz dazu deutet die zeitgenössische Stärkung desselben Populismus an, dass wir uns gewissen Grenzen dieser abschwächenden Effekte nähern, dass möglicherweise etwas eingeleitet wird, was man die zweite Stufe in der Zerfallsphase nennen könnte. Diese zweite Stufe wird, so meinen wir, gekennzeichnet von einem zunehmenden Vertrauensverlust wachsender Teile der Bevölkerung in die Bereitschaft oder Fähigkeit der herrschenden Klasse, sie zu beschützen. Ein Prozess der Desillusionierung, der zumindest für den Moment nicht proletarisch ist, sondern zutiefst anti-proletarisch. Hinter der Finanz-, Euro- und Flüchtlingskrise, die eher die auslösenden Faktoren denn die Grundursachen sind, ist diese neue Stufe selbstverständlich das Resultat der sich über Jahrzehnte anhäufenden Auswirkungen von tiefer liegenden Faktoren. An erster Stelle die Abwesenheit einer proletarischen, revolutionären Perspektive. Auf der anderen Seite (auf der des Kapitals) gibt es seine chronische Wirtschaftskrise, aber auch die Auswirkungen des immer abstrakteren Charakters der Funktionsweise der bürgerlichen Gesellschaft. Dieser dem Kapitalismus innewohnende Prozess erlebte in den vergangenen drei Jahrzehnten mit einer krassen Reduzierung der industriellen und Handarbeit in den alten kapitalistischen Ländern und der körperlichen Arbeit durch die allgemeine Automatisierung und die neuen Medien wie den PC und das Internet eine dramatische Beschleunigung. Parallel dazu ist das Medium des universellen Austausches größtenteils von Metall- und Papiergeld in elektronische Zahlungsmittel umgewandelt worden – Prozesse der Ent-Körperlichung und der Ent-Wirklichung.
Auf der Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise gibt es eine sehr spezifische Kombination von zwei Faktoren: die ökonomischen Mechanismen oder „Gesetze“ (der Markt) und die Gewalt. Auf der einen Seite ist die Voraussetzung für den Tausch von Äquivalenten der Verzicht auf Gewalt – Austausch statt Raub. Darüber hinaus ist die Lohnarbeit die erste Form der Ausbeutung, wo die Arbeitsverpflichtung und die Motivation im Arbeitsprozess selbst im Kern eine ökonomische und nicht durch direkte Gewalt erzwungene ist. Auf der anderen Seite stützte sich im Kapitalismus das ganze System des Äquivalententausches ursprünglich auf einen Nicht-Äquivalententausch – die gewaltsame Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln („ursprüngliche Akkumulation“), was die Vorbedingung für das Lohnsystem und im Kapitalismus ein permanenter Prozess ist, da die Akkumulation selbst ein mehr oder weniger gewaltsamer Prozess ist (siehe Luxemburgs „Die Akkumulation des Kapitals“). Diese dauerhafte Präsenz beider Pole des Widerspruchs (Gewalt und Gewaltverzicht) und die Ambivalenz, die dies schafft, durchtränkt das ganze Leben der bürgerlichen Gesellschaft. Sie begleitet jeden Austauschakt, in dem die alternative Option des Raubes ständig präsent ist. In der Tat: Eine Gesellschaft, die radikal auf den Austausch und daher auf Gewaltverzicht basiert, muss diesen Verzicht unter Androhung von Gewalt erzwingen, wobei es nicht bei der bloßen Androhung bleibt – ihre Gesetze, ihr Justizapparat, Polizei, Gefängnisse, etc. stehen im Einsatz. Diese Zweideutigkeit ist im Austausch zwischen Lohnarbeit und Kapital, wo der ökonomische Zwang von physischer Gewalt ergänzt wird, stets präsent. Er ist besonders da präsent, wo das Gewaltmittel par excellence in der bürgerlichen Gesellschaft direkt involviert ist – im Staat. In seinem Verhältnis zu seinen eigenen Bürgern (Zwang und Erpressung) und zu anderen Staaten (Krieg) ist das Instrument der herrschenden Klasse, um Raub und chaotische Gewalt zu unterdrücken, selbst gleichzeitig der verallgemeinerte, heilig gesprochene Raub.
Einer der zentralen Punkte dieses Widerspruchs und dieser Zweideutigkeit zwischen Gewalt und ihrem Verzicht in der bürgerlichen Gesellschaft liegt in jedem seiner individuellen Subjekte. Heutzutage ein normales Leben zu leben erfordert den Verzicht auf die Überfülle, auf eine ganze Welt von körperlichen, emotionalen, intellektuellen, moralischen, künstlerischen, kreativen Bedürfnissen. Sobald der reife Kapitalismus von der Stufe der formalen zur Stufe der realen Vorherrschaft übergegangen war, wurde dieser Verzicht nicht mehr in erster Linie durch eine äußere Gewalt durchgesetzt. Im Grunde ist jedes Individuum mehr oder weniger bewusst vor die Wahl gestellt, entweder die abstrakte Funktionsweise dieser Gesellschaft zu adaptieren oder ein „Verlierer“ zu sein, der gegebenenfalls in der Gosse landet. Disziplin ist zur Selbstdisziplinierung geworden, aber in solch einer Weise, dass jedes Individuum zum Unterdrücker der eigenen, vitalen Bedürfnisse wird. Natürlich enthält dieser Prozess der Selbstdisziplinierung auch ein Potenzial für die Emanzipation, und zwar für das Individuum und vor allem für das Proletariat als Gesamtheit (als selbstdisziplinierte Klasse par excellence), um das eigene Schicksal zu meistern. Doch im Augenblick, im „normalen“ Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft, ist diese Selbstdisziplin wichtig für die Verinnerlichung kapitalistischer Gewalt. Weil dies der Fall ist – zusätzlich zur proletarischen Option der Umwandlung dieser Selbstdisziplin in ein Mittel zur Verwirklichung, zur Revitalisierung menschlicher Bedürfnisse und der Kreativität -, lauert auch eine andere Option, jene der blinden Umlenkung der verinnerlichten Gewalt nach außen. Die bürgerliche Gesellschaft benötigt stets einen „Außenseiter“ und bietet ihn auch an, um die (Selbst-)Disziplin jener aufrechtzuerhalten, die vermeintlich dazugehören. Daher richtet sich die blinde Wieder-Veräußerlichung von Gewalt durch bürgerliche Subjekte „spontan“ (d.h. prädisponiert oder „geformt“, um so handeln) gegen solche Außenseiter (Pogromisierung).
Wenn die offene Krise der kapitalistischen Gesellschaft eine bestimmte Intensität erreicht hat, wenn die Autorität der herrschenden Klasse beschädigt ist, wenn bürgerliche Subjekte anfangen, die Fähigkeit und Entschlossenheit der Obrigkeiten anzuzweifeln, ihren Job zu machen und insbesondere sie vor einer Welt voller Fährnisse zu schützen, und wenn eine Alternative – die allein eine Alternative des Proletariats sein kann – ausbleibt, dann beginnen Teile der Bevölkerung gegen ihre herrschenden Eliten zu protestieren und gar zu revoltieren, jedoch nicht mit dem Ziel, ihre Herrschaft anzufechten, sondern um sie zu zwingen, ihre eigenen „gesetzestreuen“ Bürger gegen die „Auswärtigen“ zu beschützen. Diese Gesellschaftsschichten erleben die Krise des Kapitalismus als einen Konflikt zwischen diesen beiden ihm zugrundeliegenden Prinzipien: zwischen dem Markt und der Gewalt. Der Populismus ist die Option für die Gewalt, um die Probleme, die der Markt nicht zu lösen vermag, und gar die Probleme des Marktes an sich zu lösen. Wenn beispielsweise der Weltarbeitsmarkt die Arbeitsmärkte der alten kapitalistischen Länder mit einer Welle von Habenichtsen zu überfluten droht, besteht die Lösung darin, Grenzzäune zu errichten, Polizei an die Grenzen postieren und auf jeden zu schießen, der sie ohne Genehmigung zu übertreten versucht. Hinter der populistischen Politik lauert die Mordlust. Das Pogrom ist das Geheimnis seiner Existenz.
Steinklopfer, 8. Juni 2016
Für alle jene, die immer noch meinen, dass die größte Hoffnung der Menschheit der revolutionäre Umsturz des Weltkapitalismus sei, ist es unmöglich, den Beginn des Jahres 2017 zu begrüßen, ohne daran zu erinnern, dass es der 100. Jahrestag der Russischen Revolution ist. Und wir wissen, dass auch all jene, die darauf beharren, dass es keine Alternative zum gegenwärtigen gesellschaftlichen System gibt, sich auf ihre Weise daran erinnern werden.
Viele von ihnen ignorieren sie natürlich oder spielen ihre Bedeutung herunter, indem sie uns erzählen, dass dies uralte Geschichte sei. Alles habe sich seither verändert – und was soll es bezwecken, über eine Arbeiter_innenrevolution zu sprechen, wenn die Arbeiterklasse gar nicht mehr existiere oder dergestalt heruntergekommen sei, dass der Begriff „Arbeiter_innenrevolution“ sogar auf die Protestwähler_innen aus den alten, von der Globalisierung dezimierten Industriezentren zugunsten von Brexit und Trump angewandt werden könne?
Und wenn die Erhebung, die 1917 die Welt erschütterte, doch Erwähnung findet, dann wird sie in der Mehrheit der Fälle als eine Art Horrorstory ausgemalt, jedoch eine mit einer eindeutigen „Moral“: Denk‘ daran, dies geschieht, wenn du das gegenwärtige System herausforderst, wenn du auf den Irrglauben hereinfällst, dass eine höhere Gesellschaftsform möglich sei. Du erntest Terror, Gulag, den allgegenwärtigen, totalitären Staat. Es habe mit Lenin und seiner fanatischen Bande der Bolschewisten begonnen, deren Staatsstreich im Oktober 1917 der heranwachsenden Demokratie Russlands den Garaus gemacht habe; und es habe mit Stalin und einer Gesellschaft geendet, die in ihrer Gänze in ein Zwangsarbeitslager umgewandelt wurde. Und schließlich sei es kollabiert, was ein für alle Mal demonstriert habe, dass es unmöglich sei, eine moderne Gesellschaft anders als mit den Methoden des Kapitalismus zu organisieren.
Wir haben nicht die Illusion, dass es im Jahr 2017 eine leichte Angelegenheit ist zu erklären, was die Russische Revolution wirklich bedeutete. Dies ist eine Zeit größter Schwierigkeiten für die Arbeiterklasse und ihre kleinen revolutionären Minderheiten, eine Zeit, die von Gefühlen der Hoffnungslosigkeit und des Verlustes jeglicher Zukunftsperspektive dominiert wird, vom unheimlichen Ansteigen von Nationalismus und Rassismus, die dazu dienen, die Arbeiterklasse zu spalten, von der hasserfüllten Demagogie der Rechtspopulisten und den lärmenden Appellen der Linken, die „Demokratie“ gegen diesen neuen Autoritarismus zu verteidigen.
Doch dies ist für uns auch der Moment, uns das Werk unserer politischen Vorfahren, der linkskommunistischen Fraktionen in Erinnerung zu rufen, die die fürchterlichen Niederlagen der revolutionären Bewegungen überlebt hatten, welche von den Ereignissen in Russland 1917 ausgelöst worden waren. Sie versuchten, aus der resultierenden Degeneration und dem Untergang der kommunistischen Parteien, welche gebildet worden waren, um den Weg zur Revolution zu weisen, zu lernen. Indem sie sowohl dem offenen Terror der Konterrevolution in ihren stalinistischen und faschistischen Formen als auch den etwas versteckteren Irreführungen der Demokratie trotzten, begannen die klarsten linkskommunistischen Strömungen, wie jene rund um die Zeitschrift BILAN in den 1930er Jahren und INTERNATIONALISME in den 40er Jahren, eine „Bilanz“ der Revolution zu ziehen. Entgegen all ihrer Miesmacher versicherten sie sich zunächst einmal dessen, was in der Russischen Revolution wichtig und positiv gewesen war. Insbesondere bestanden sie darauf, dass:
– die „Russische“ Revolution nur eine Bedeutung besaß als ein erster Sieg der Weltrevolution und dass ihre einzige Hoffnung die Ausweitung der proletarischen Macht auf den Rest der Welt gewesen war;
– sie die Fähigkeit der Arbeiterklasse bestätigte, den bürgerlichen Staat niederzureißen und neue Organe der politischen Macht (am bemerkenswertesten die Sowjets oder Räte der Arbeiterdelegierten) zu schaffen;
– sie die Notwendigkeit für eine revolutionäre politische Organisation demonstrierte, die die Prinzipien des Internationalismus und der Arbeiterautonomie vertritt.
Gleichzeitig begannen die Revolutionäre der 30er und 40er Jahre auch die schmerzvolle Analyse der fatalen Irrtümer der Bolschewiki angesichts einer beispiellosen Lage für jegliche Arbeiterpartei, insbesondere:
– die wachsende Tendenz der Partei, sich an die Stelle der Sowjets zu setzen und die Fusion der Partei mit dem post-revolutionären Staat, was nicht nur die Macht der Sowjets, sondern auch die Kapazität der Partei untergrub, die Klasseninteressen der ArbeiterInnen auch in Opposition gegen den neuen Staat zu verteidigen;
– die Zuflucht in die „Rote Armee“ in Reaktion auf den Weißen Terror der Konterrevolution – ein Prozess, der zur Verwicklung der Bolschewiki in der Unterdrückung proletarischer Bewegungen und Organisationen führte;
– die Tendenz, den Staatskapitalismus als eine Übergangsstufe zum Sozialismus zu betrachten und sich sogar mit ihm zu identifizieren.
Die IKS hat von Anbeginn ihrer Existenz versucht, dieses Werk fortzuführen, die Lehren aus der Russischen Revolution und aus der internationalen revolutionären Welle 1917–23 zu ziehen. Wir haben über die Jahre eine beachtliche Sammlung von Artikeln und Broschüren erarbeitet, die sich mit dieser absolut entscheidenden Ära in der Geschichte unserer Klasse befassen. Im Verlaufe dieses Jahres und darüber hinaus werden wir sicherstellen, diese Texte unseren Leser_innen besser zugänglich zu machen, indem wir ein auf den neuesten Stand gebrachtes Dossier unserer wichtigsten Artikel über die Russische Revolution und die internationale revolutionäre Welle erstellen. Laufend werden wir Artikel zuoberst auf die Webseite stellen, die am direktesten entweder der chronologischen Entwicklung des revolutionären Prozesses entsprechen oder Antworten auf die wichtigsten Fragen enthalten, die sich angesichts der Attacken der bürgerlichen Propaganda oder in Diskussionen im und um das proletarische(n) politische(n) Milieu stellen. In diesem Sinne machen wir darauf aufmerksam, dass wir letzthin auf unserer Startseite einen Artikel über die Februarrevolution wiederveröffentlichen, der 1997 erstmals veröffentlicht worden ist. Ihm folgen Artikel über Lenins Aprilthesen, die Juli-Tage, den Oktoberaufstand und so weiter. Wir beabsichtigen, diesen Prozess über einen langen Zeitraum aufrechtzuerhalten, eben weil dieses Drama der Revolution und der Konterrevolution eine Reihe von Jahren angedauert und sich keinesfalls auf Russland beschränkt hat, sondern sein Echo überall auf dem Globus hatte, von Berlin bis nach Schanghai, von Turin bis nach Patagonien und von der Clydeside bis nach Seattle.
Gleichzeitig streben wir an, dieser Sammlung auch neue Artikel hinzuzufügen, die sich mit Themen befassen, die wir noch nicht ausführlich untersucht haben (wie den Angriff gegen die Revolution durch die damalige herrschende Klasse, den „Roten Terror“ und so weiter); Artikel, die auf die gegenwärtigen Kampagnen des Kapitalismus gegen das revolutionäre Gedächtnis der Arbeiterklasse antworten, und Artikel, die nach den heutigen Bedingungen für die proletarische Revolution schauen – darauf, was sie mit der Zeit der Russischen Revolution gemeinsam haben, aber auch und vor allem darauf, welche bedeutende Änderungen in den letzten 100 Jahren eingetreten sind.
Ziel dieses Projekts ist es nicht einfach, längst vergangene historische Ereignisse zu „feiern“ oder „ihrer zu gedenken“. Ziel ist es vielmehr, die Auffassung zu verteidigen, dass die proletarische Revolution heute sogar noch notwendiger ist, als sie es 1917 war. Angesichts des Horrors des ersten imperialistischen Weltkrieges zogen die damaligen Revolutionäre den Schluss, dass der Kapitalismus in die Epoche seines Niedergangs eingetreten war, was die Menschheit vor die Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei stellte; und die gar noch größeren Schrecken – symbolisiert durch Ortsnamen wie Auschwitz und Hiroshima –, die der Niederlage des ersten Versuchs einer sozialistischen Revolution folgten, sollten ihre Diagnose absolut bestätigen. Ein Jahrhundert später stellt die fortdauernde Existenz des Kapitalismus eine tödliche Gefahr für das eigentliche Überleben der Menschheit dar.
Aus ihrer Gefängniszelle heraus drückte Rosa Luxemburg 1918, am Vorabend der Revolution in Deutschland, ihre fundamentale Solidarität mit der Russischen Revolution und der bolschewistischen Partei aus, trotz all ihrer ernsten Kritik an den Irrtümern der Bolschewiki, insbesondere an der Politik des Roten Terrors. Ihre Worte sind für unsere eigene Zukunft so relevant wie die Aussichten, mit denen sie selbst konfrontiert war:
„Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab’s gewagt!
Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Rußland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Rußland gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem ‚Bolschewismus‘.“ 1
IKS
1 https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/teil4.htm [9]
Als die GCF (Gauche Communiste de France) sich entschied, Anton Pannekoeks „Lenin als Philosoph“ zu übersetzen und zu veröffentlichen, war nicht nur sein Pseudonym Harper, sondern auch Pannekoek selbst in Frankreich nahezu unbekannt. Doch dies war keinesfalls ein rein französisches Phänomen. Zwar war Frankreich noch nie durch seinen Eifer aufgefallen, Texte der marxistischen Arbeiterbewegung zu veröffentlichen, doch galt dies zu jener Zeit für jedes Land auch und diese „Vergesslichkeit“ ist nicht allein auf Pannekoek beschränkt. Angefangen mit Rosa Luxemburg, war die gesamte kommunistische Linke, ihr gesamtes theoretisches und politisches Wirken, all die leidenschaftlichen Kämpfe einer Strömung, die mitten in den revolutionären Kämpfen in Folge des ersten Weltkriegs geboren wurde, „vergessen“ worden. Es ist kaum zu glauben, dass nur zehn Jahre der stalinistischen Konterrevolution ausreichten, um diese so reichen und fruchtbaren Lehren der revolutionären Bewegung aus den Erinnerungen einer ganzen Generation, die diese durchlebt haben, zu löschen. Als ob eine Amnesie-Epidemie plötzlich über Millionen von Arbeitern, die aktiv an den Ereignissen teilgenommen haben, hereingebrochen wäre und diese vollkommen uninteressiert an allem, was mit revolutionärem Denken zu tun haben könnte, zurückgelassen hätte. Nur wenige Zeugnisse einer revolutionären Welle, die die Welt durchschüttelt hatten, waren in Form sehr kleiner, über die Welt verstreuter und voneinander isolierter Gruppen übrig geblieben. Letztere waren kaum in der Lage, den theoretischen Denkprozess fortzusetzen; eine Ausnahme bildeten kleine Ausgaben mit geringfügiger Verbreitung, die oftmals noch nicht einmal gedruckt werden konnten.
Es ist kein Wunder, dass Pannekoeks Buch „Lenin als Philosoph“, das 1938 am Vorabend des Krieges auf Deutsch erschien, kein Echo hervorrief und auch im stark eingeschränkten revolutionären Milieu auf keinerlei Resonanz stieß. Es war das unbestrittene Verdienst von Internationalisme (der Publikation der GCF), die, nachdem sich die Stürme des Zweiten Weltkrieges gelegt hatten, als erste den Text übersetzten und in den Ausgaben Nr. 18 – 29 (Februar – Dezember 1947) in Folge veröffentlichten. Internationalisme begrüßte Harpers Buch als „einen erstklassigen Beitrag zur revolutionären Bewegung und zur Emanzipation des Proletariats“. Weiterhin schrieb Internationalisme in ihrer Einleitung (Nr. 18, Februar 1947): „In einem einfachen, klaren Stil geschrieben, ist es eines der besten theoretischen Schriften der vergangenen Jahrzehnte. Ohne jede einzelne Schlussfolgerung zu teilen, kann niemand den enormen Wert dieser Arbeit leugnen“.
In derselben Einleitung drückte Internationalisme ihr Hauptanliegen aus:
„Die Degeneration der kommunistischen Internationale verursachte im revolutionären Milieu einen beunruhigenden Einbruch im Interesse an theoretischer und wissenschaftlicher Untersuchungsarbeit. Jenseits von BILAN, dem Magazin der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken und den Schriften der Rätekommunisten, einschließlich Harpers Buchs unternahm die europäische Arbeiterbewegung quasi keine theoretischen Anstrengungen. Für uns ist nichts schädlicher für die proletarische Bewegung als die theoretische Trägheit ihrer Militanten.“
Welch hohe Aufmerksamkeit sie Pannekoeks Buch zollte, beweist ihre vollständige Veröffentlichung. Doch darüber hinaus beteiligte sich Internationalisme mit einer Folge von Diskussionen und Kritiken (Nr. 30 – 33, Januar – April 1948) an der theoretischen Vertiefung. Internationalisme teilte vollständig Pannekoeks These, dass Lenin in seiner Polemik gegen die idealistischen Tendenzen des Neo-Machismus (Bogdanow usw.) auf Argumente des bürgerlichen Materialismus (ein mechanistischer und positivistischer Standpunkt) zurückfiel. Doch gleichzeitig wies Internationalisme die politischen Schlussfolgerungen Pannekoeks, die bolschewistische Partei sei eine nicht-proletarische Partei, eine Partei der Intelligentsia und die Oktoberrevolution eine bürgerliche Revolution gewesen, entschieden zurück.
Dieses Argument ist die Grundlage für die rätistische Analyse der bolschewistischen Partei und der Oktoberrevolution. Es unterscheidet die rätistische Strömung von der Italienischen Linken wie auch von der frühen KAPD. Der Rätismus ist das Ergebnis des Rückfalls hinter der (reiferen) Deutschen Linken, deren Erbe er beanspruchte. Ähnliche Analysen mit geringen Variationen finden sich bei Socialisme ou Barbarie oder Socialisme du Conseils, bei Chaulieu (Castoriadis), Mattick, Rubel und Korsch. Allen ist gemeinsam, dass sie die Oktoberrevolution auf ein strikt russisches Phänomen reduzieren und ihre internationale und historische Bedeutung vollkommen außer Acht lassen.
Ist dieser Punkt einmal erreicht, bleibt diesen Elementen nur noch übrig, das zurückgebliebene Niveau der industriellen Entwicklung festzustellen und daraus zu folgern, dass die objektiven Bedingungen für eine proletarische Revolution fehlten. Der Verlust des globalen Blicks auf die kapitalistische Entwicklung führt den Rätismus – über einige Umwege – zu den Positionen der Menschewiki: die Unreife der objektiven Bedingungen in Russland und dem daraus folgenden bürgerlichen Charakter der Revolution.
Dies alles deutet daraufhin, dass Pannekoeks Arbeit nicht von dem Bedürfnis getragen war, Lenins philosophischen Fehler zu beheben, sondern vom tiefen politischen Willen, die bolschewistische Partei zu bekämpfen, die er a priori – quasi von Natur aus – als eine Partei betrachtet, die von einem „halb bürgerlich-halb proletarischen Charakter des Bolschewismus und der russischen Revolution an sich“ (Einleitung von Paul Mattick zur franz. Ausgabe bei edition Spartacus, 1978) gekennzeichnet worden sei. „Um zu zeigen, was der Leninsche ‚Marxismus‘ wirklich bedeutete, unternahm Pannekoek eine kritische Prüfung seiner philosophischen Grundlagen, die unter dem Titel ‚Lenin als Philosoph‘ 1938 veröffentlicht wurde.“ (ebenda, S. 54, in: ‚Marxistischer Antileninismus’)
Der Wert solcher Unternehmungen muss hinterfragt werden und hier sind Pannekoeks Beweise kaum überzeugend. Der Charakter eines historischen Ereignisses von solcher Bedeutung wie die Oktoberrevolution oder die Rolle der bolschewistischen Partei aus einer philosophischen Polemik – wie wichtig auch immer – herzuleiten ist weit hergeholt. Weder die philosophischen Fehler Lenins 1908 noch der endgültige Triumph der stalinistischen Konterrevolution stellen einen Beweis dafür dar, dass die Oktoberrevolution nicht durch das Proletariat, sondern von einer dritten Klasse (der Intelligentsia) gemacht wurde. Dadurch, dass willkürlich falsche politische Schlüsse auf theoretisch richtige Annahmen gepfropft werden, dass ein kruder Zusammenhang zwischen Ursachen und Wirkungen hergestellt wird, gerät Pannekoek selbst in den Sog einer un-marxistischen Methode, die er völlig zu Recht an Lenin kritisiert.
Mit dem wiederauflebenden Klassenkampf nach 1968 nimmt das Proletariat den Faden wieder auf, der von der seit nahezu einem halben Jahrhundert triumphierenden Konterrevolution zerrissen worden war, und eignet sich die Arbeit der Linken wieder an, die den Schiffbruch der Kommunistischen Internationalen überlebt hatten. Heute tauchen die lang ignorierten Schriften und Debatten der Linken wieder auf und finden immer mehr Leser. Wie viele andere Schriften wurde auch Pannekoeks ‚Lenin als Philosoph’ wieder aufgelegt und kann von Tausenden von proletarischen Militanten gelesen werden. Doch wenn diese theoretisch-politischen Werke uns bei der Entwicklung der revolutionären Gedanken und Aktivitäten wirklich unterstützen sollen, dann müssen sie kritisch studiert werden. Dieser kritische Geist unterscheidet uns deutlich von der akademischen Mentalität, die, nachdem sie den einen oder anderen Autoren für sich entdeckt hat, diesen sofort zum neuen Idol macht und alles in Schutz nimmt, was dieser je geschrieben hat.
Gegen den Neo-Anti-Bolschewismus, der heute unter einigen Gruppen und in einigen Publikationen – wie PIC (Pour une Intervention Communiste) und Spartacus (mittlerweile aufgelöst) in Mode ist und meist damit endet, die gesamte sozialistische und kommunistische Bewegung, einschließlich der Oktoberrevolution, aus der Geschichte des Proletariats zu tilgen, können wir nur wiederholen, was Internationalisme in der Einleitung zu Pannekoeks Buch schrieb:
„Diese Entstellung des Marxismus verdanken wir den so eifrig wie ignorant auftretenden ‚Marxisten‘. Diese haben ihre Entsprechung in den kaum weniger ignorant auftretenden Anti-Marxisten. Der Anti-Marxismus ist zum Kennzeichen von deklassierten, entwurzelten, verbitterten, kleinbürgerlichen Halbintellektuellen geworden. Gleichermaßen abgestoßen vom monströsen russischen System, das aus der Oktoberrevolution hervorgekommen ist, wie auch von der harten und undankbaren wissenschaftlichen Untersuchungsarbeit, laufen diese Leute heute in Sack und Asche durch die Welt, in einem ‚Kreuzzug‘ auf der Suche nach neuen Ideen, doch nicht um sie zu verstehen, sondern um sie anzubeten.“
Was gestern richtig für den Marxismus war, ist heute richtig für den Bolschewismus und die Oktoberrevolution.
MC 1981
Bei der Lektüre von Harpers Buch über Lenin wird deutlich, dass es sich um eine ernsthafte und tiefgehende Studie über Lenins philosophische Arbeit handelt, getragen von einer klaren Struktur der materialistischen Dialektik, mit der er Lenins philosophisches Konzept abgleicht.
Für Harper stellt sich das Problem folgendermaßen: Statt Lenins Konzeption der Welt von seiner politischen Aktivität zu trennen, besteht der beste Weg, sich das Handeln dieses Revolutionärs anzuschauen, darin, die dialektischen Ursprünge seiner Aktivität zu begreifen. Für Harper ist „Materialismus und Empiriokritizismus“ das Werk, das Lenins Denken am besten beschreibt. Hier startet Lenin seinen Angriff auf den ausgeprägten Idealismus, den große Teile der russischen Intelligentsia, beeinflusst durch das philosophische Konzept Machs, angenommen hatten. Sein Ziel war es, dem Marxismus neues Leben einzuflößen, da dieser litt nicht nur unter dem Revisionismus Bernsteins sondern auch unter dem Machs itt.
Ausgehend von Marx und Dietzgen leitet Harper das Problem mit einer tiefgreifenden und scharfsinnigen Analyse der Dialektik ein. Mehr noch, Harper macht in seiner Untersuchung einen deutlichen Unterschied zwischen dem frühen Marx mit seinen ersten philosophischen Studien und dem späteren Marx, der mit der bürgerlichen Ideologie gebrochen hatte und den Klassenkampf „entdeckt“ hatte. Diese Unterscheidung erlaubt ihm den Widerspruch zwischen dem bürgerlichen Materialismus der prosperierenden kapitalistischen Epoche – verkörpert durch die Naturwissenschaft – und des revolutionären Materialismus, konkretisiert in der Wissenschaft der Gesellschaftsentwicklung, hervorzuheben. Harper bemüht sich, verschiedene, von Lenin entwickelte Konzeptionen zu widerlegen, die sich nach seiner Meinung weniger auf die Auseinandersetzung mit Machs Ideen bezogen als eher aus polemischen Gründen benutzt wurden, um die Einheit der russischen sozialdemokratischen Partei zu festigen.
Interessant ist Harpers Arbeit in Bezug auf sein Studium der Dialektik, wichtig seine Behandlung der Art und Weise, wie Lenin Machs Ideen korrigiert, doch der unbestreitbar interessanteste Teil (da er die wichtigsten Konsequenzen nach sich zieht) ist die Analyse der Quellen des Materialismus Lenins und ihr Einfluss auf seine Aktivitäten in der internationalen sozialistischen Diskussion und der Revolution 1917 in Russland.
Der erste Teil der Kritik beginnt mit einer Studie der philosophischen Ahnen Lenins, von Holbach über verschiedene französische Materialisten wie Lametrie bis hin zu Avenarius. Das gesamte Problem dreht sich um die Erkenntnistheorie. Selbst Plechanow entkam nicht der Sogwirkung des bürgerlichen Materialismus. Feuerbach ging Marx voran. All dies erschwerte das soziale Denken des gesamten russischen Marxismus, allen voran Lenins.
Harper betont korrekterweise den statischen Blick auf die Welt, der die Erkenntnistheorie des bürgerlichen Materialismus kennzeichnet, und kontrastiert dies mit der Natur und Orientierung des revolutionären Materialismus.
Die Bourgeoisie betrachtet die Erkenntnis als ein rein empfangendes Phänomen (nach Harper teilt auch Engels diese Sicht). Für sie bedeutet Erkenntnis einfach Vorstellung und Empfindung der externen Welt - als ob wir nicht mehr als ein Spiegel seien, dermehr oder weniger zuverlässig die externe Welt widerspiegeln würde. Darin erkennen wir, warum die Naturwissenschaften das Schlachtross der bürgerlichen Welt waren. In ihren ersten Ausformungen basierten Physik, Chemie und Biologie mehr auf einem Versuch, die Phänomene der externen Welt festzuschreiben, als auf den Versuch, die Realität zu interpretieren und zu analysieren. Die Natur schien ein großes Buch zu sein und das Ziel war es, natürliche Äußerungen in verständliche Zeichen zu übertragen. Alles schien geordnet, rational zu sein; Ausnahmen von dieser Ansicht konnten nicht zugelassen werden, es sei denn, sie würden als Unvollkommenheiten unserer Wahrnehmungsmittel erklärt werden. Zusammengefasst wurde Wissenschaft zu einem Abbild der Welt, deren Gesetze unabhängig von Zeit und Raum immer die gleichen waren – jedoch abhängig von dem jeweiligen separaten Gesetz.
Das natürliche Objekt der ersten Bemühungen dieser Wissenschaft war dem Menschen äußerlich: Diese Wahl ist Ausdruck dafür, dass es einfacher war, die externe sinnliche Welt zu erfassen als die weit konfusere menschliche Welt, deren Gesetze sich den einfachen Gleichungen der Naturwissenschaft entziehen. Wir müssen auch an die Bedürfnisse der aufstrebenden Bourgeoisie denken, die schnell und empirisch Zugriff auf alles außerhalb ihrer selbst benötigte, um dies für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zu benutzen. Schnell, da die Grundlagen ihres sozial-ökonomischen Systems noch nicht so sicher waren. Empirisch, da der Kapitalismus mehr an Ergebnissen und Schlussfolgerungen als an dem Weg, diese zu erreichen, interessiert war.
Die Naturwissenschaften, die sich im Rahmen des bürgerlichen Materialismus entwickelten, beeinflussten das Studium anderer Bereiche und bewirkten den Aufstieg der Geisteswissenschaften wie Geschichte, Psychologie und Soziologie, die die gleichenMethoden der Erkenntnis anwandten.
Der erste Gegenstand der menschlichen Erkenntnis, der den menschlichen Geist beschäftigte, war die Religion. Diese wurde zum ersten Mal als historisches und nicht als philosophisches Problem behandelt. Dahinter stand auch die Notwendigkeit einer jungen Bourgeoisie, sich vor religiösen Festschreibungen zu hüten, die die natürliche Rationalität des kapitalistischen Systems in Frage stellten. Dies drückte sich in dem Aufkommen einer ganzen Reihe von bürgerlichen Denkern wie Renan, Strauss, Feuerbach usw. aus. Aber was versucht wurde, war stets eine methodische Zergliederung: Sie kritisierten die ideologische Figur Religion nicht auf ihrer gesellschaftlichen Grundlage, sondern verfolgten das Ziel, ihre menschlichen Grundlagen zu entdecken. Dadurch reduzierten sie die Untersuchungen auf ein naturwissenschaftliches Niveau, als ginge es darum, historische Dokumente und ihre Veränderung über die Jahrhunderte fotografisch genau nachzuzeichnen. Letztendlich normalisierte der bürgerliche Materialismus den gegenwärtigen Stand der Dinge und schrieb diesen auf ewig und unveränderbar fest. Er behandelte die Natur als unbestimmte Wiederholung rationaler Ursachen. Der bürgerliche Mensch reduzierte die Natur auf das Verlangen nach einer konservativen Unbeweglichkeit. Er spürte, dass er die Natur bis zu einem gewissen Punkt beherrschen würde, doch er begriff nicht, dass die Instrumente seiner Beherrschung dabei waren, sich vom Menschen zu befreien und sich gegen diesen zu wenden. Bürgerlicher Materialismus war ein Fortschritt in der Entwicklung des menschlichen Wissens. Er wurde konservativ – was so weit ging, dass er von der Bourgeoisie selbst abgelehnt wurde –, als das kapitalistische System seinen Höhepunkt erreicht hatte und sein Untergang eingeläutet wurde.
Diese Denkweise begegnet uns auch in Marx‘ frühen Werken. Doch Harper sah den Weg, der Marx zum revolutionären Materialismus führte, erst durch die Bewusstwerdung der Arbeiterklasse als Reaktion auf die ersten schweren Widersprüche des kapitalistischen Systems eröffnet.
Harper beharrt darauf, dass der revolutionäre Marxismus nicht einfach das Produkt reiner Vernunft sei. Der bürgerliche Materialismus wuchs in einem bestimmten sozio-ökonomischen Umfeld auf; entsprechend war auch für den revolutionären Materialismus ein bestimmtes sozio-ökonomisches Milieu erforderlich. Marx wurde bewusst, dass die Existenz ein Prozess permanenter Veränderung war. Und wo die Bourgeoisie nur Rationalismus, die Wiederholung von Ursache und Wirkung sah, entdeckte Marx das sich entwickelnde sozio-ökonomische Milieu als neues Element, das in die Sphäre der Erkenntnis integriert werden müsse. Für ihn war das Bewusstsein nicht ein Abbild der äußeren Welt. Sein Materialismus wurde durch all die natürlichen Faktoren angeregt – zuallererst durch den Menschen selbst.
Die Bourgeoisie konnte den menschlichen Anteil an der Erkenntnis vernachlässigen, da zu Beginn ihr System mit einer präzisen Regelmäßigkeit – wie die Gesetze der Astronomie – zu funktionieren schienen. Ihr Wirtschaftssystem hatte keinen Platz für den Menschen.
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts machte sich die Nachlässigkeit des Systems gegenüber dem Menschen in den gesellschaftlichen Beziehungen langsam bemerkbar: Revolutionäres Bewusstsein begann zu reifen und mit diesem wurde deutlich, dass die Erkenntnis nicht ein Spiegel der äußeren Welt war, wie der bürgerliche Materialismus behauptete: Die menschliche Erkenntnis ist nicht nur ein empfangender, sondern auch ein aktiver und verändernder Faktor.
Für Marx war demnach die Erkenntnis sowohl das Produkt der Empfindung der äußeren Welt als auch das der Ideen und Handlungen des Menschen, der Mensch war also selbst ein Faktor und Motor der Erkenntnis.
Die Wissenschaft der Gesellschaftsentwicklung war damit geboren; diese eliminierte die alten Geisteswissenschaften und war Ausdruck eines deutlichen Fortschritts. Auch die Naturwissenschaften durchbrachen ihre engen Grenzen. Die bürgerliche Wissenschaft des 19. Jahrhunderts kollabierte aufgrund ihrer eigenen Blindheit.
Dieses falsche Verständnis der Rolle der menschlichen Handlung für die Erkenntnis gibt Lenins philosophischer Arbeit einen ideologischen Charakter. Wie bereits angedeutet, untersucht Harper Lenins philosophische Quellen und misst diesen einen entscheidenden Einfluss auf Lenins politische Tätigkeit zu.
Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein. Lenin kam aus einem rückschrittlichen Gesellschaftsmilieu. Hier herrschte noch der Feudalismus, die Bourgeoisie war schwach und ließ jede revolutionäre Energie missen. In Russland entwickelte sich der Kapitalismus zu einer Zeit, als die reife Bourgeoisie des Westens bereits in ihren Niedergang trat. Russland wurde ein kapitalistisches Land, ohne dass die eigene nationale Bourgeoisie gegen den feudalen Absolutismus des Zaren aufbegehrte. Diese Leistung fiel dem ausländischen Kapital zu, das die gesamte kapitalistische Struktur in Russland dominierte. Da der bürgerliche Materialismus durch die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie und ihrer Widersprüche immer unbedeutender wurde, musste die russische Intelligentsia in ihrem Kampf gegen den Absolutismus ihr Heil im revolutionären Materialismus suchen. Für diesen revolutionären Materialismus galt der Kampf dem Feudalismus, nicht dem Kapitalismus, der keine wirkungsvolle Kraft darstellte. Lenin war Teil dieser Intelligentsia – deren Grundlage die revolutionäre Klasse des Proletariats war –, deren Aufgabe die verspätete kapitalistische Umwandlung des feudalen Russlands war.
Harper sieht die Russische Revolution als Ausdruck der objektiven Reife der Arbeiterklasse, jedoch hat diese für ihn einen bürgerlichen politischen Inhalt. Nach Harper wird dieser bürgerliche politische Inhalt von Lenin ausgedrückt. Lenins Bewusstsein sei geprägt von den unmittelbaren Aufgaben Russlands, ein Land, das mit seiner sozio-ökonomischen Struktur wie eine Kolonie ohne nationale Bourgeoisie erschien. Die einzig entscheidenden Kräfte seien die Arbeiterklasse und der Absolutismus.
Das Proletariat könne sich also nur unter diesen rückständigen Bedingungen ausdrücken, daher sei Lenins materialistische Ideologie bürgerlich. So sagt Harper über Lenin und die Russische Revolution:
„Diese materialistische Philosophie war gerade die richtige Lehre für die Masse der neuen russischen Intelligenz, die voll Begeisterung in Naturwissenschaft und Technik die Basis einer von ihnen geleiteten Produktion erkannte – mit den noch religiösen Bauern als einzigen Widerstand – und die als neue herrschende Klasse eines Riesenreichs die Zukunft vor sich offen sah.“ (Pannekoek, Lenin als Philosoph, in: Pannekoek, Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution, S. 362)
Harpers Methode in „Lenin als Philosoph“ gehört, wie auch seine Darstellung des Problems der Erkenntnis, zu den besten Arbeiten des Marxismus. Jedoch führen seine politischen Schlussfolgerungen zu solchen Konfusionen, dass er uns zwingt, seine politischen Schlussfolgerungen, die uns fehlerhaft erscheinen und unter dem Niveau der übrigen Arbeit liegen, deutlich von der Formulierung des Problem zu trennen.
Harper schreibt:
„Der Materialismus hat nur kurze Zeit die Weltanschauung der bürgerlichen Klasse beherrscht…“ (ebenda, S. 311).
Dies führt ihn nach seiner Feststellung, dass Lenins Philosophie in „Materialismus und Empiriokritizismus“ in ihren Grundzügen bürgerlicher Materialismus sei, dazu, dass die bolschewistische Revolution vom Oktober 1917 :
„…eine bürgerliche Revolution, die auf dem Proletariat fußt.“
Hier verfängt sich Harper in seiner eigenen Dialektik und versäumt es, eine wichtige Frage zu beantworten: Wie kann es zu einer Zeit, in der der Kapitalismus in die tiefste Krise seiner Geschichte stürzt, eine bürgerliche Revolution geben? Die dazu noch ihre eigene Ideologie – entsprechend der revolutionären Periode der Bourgeoisie eine materialistische – produziert? Die Krise von 1914-20 scheint Harper überhaupt nicht zu berühren.
Noch einmal, wie konnte diese Revolution bürgerlich sein, und dies zumal in dieser Situation? Vorangetrieben von den fortschrittlichsten und bewusstesten Arbeitern und Soldaten Russlands, solidarisch begrüßt von den Arbeitern und Soldaten der ganzen Welt, insbesondere in jenem Land, in dem der Kapitalismus am meisten fortgeschritten war, d.h. Deutschland? Wie konnte es sein, dass genau in diesem Moment die Marxisten, die gründlichsten Dialektiker, die besten Theoretiker des Sozialismus, die materialistische Geschichtsauffassung wie Lenin selbst – wenn nicht gar besser – verteidigten? Wie konnte es sein, dass ausgerechnet Leute wie Plechanow und Kautsky sich auf der Seite der Bourgeoisie gegen die revolutionären Arbeiter und Soldaten der gesamten Welt und insbesondere gegen Lenin und die Bolschewiki wiederfanden?
Harper stellte sich nicht einmal diese Fragen, wie sollte er also Antworten finden? Umso überraschender ist es, dass er diese Fragen nicht stellt.
Weiterhin fällt auf, dass Harpers grundsätzlich richtige philosophische Studie einige Behauptungen enthält, die Erstere wiederum in ein anderes Licht stellt. Nach Harper gibt es unter den marxistischen Theoretikern zum Problem der Erkenntnis zwei fundamental entgegengesetzte Tendenzen. Diese Trennung, die er bereits im Leben und Werk von Marx selbst sieht, ist etwas vereinfachend und schematisch. Harper sieht in Marx‘ Werk zwei Perioden:
1. Vor 1848 Marx, der fortschrittliche bürgerliche Materialist: „Religion ist das Opium des Volkes“, eine Aussage, die später von Lenin aufgegriffen wurde; weder Stalin noch die russische Bourgeoisie haben es für notwendig gehalten, die Parole von den Denkmälern der offiziellen Parteipropaganda zu verbannen.
2. Dann Marx, der revolutionäre Materialist und Dialektiker: der Angriff auf Feuerbach, das Kommunistische Manifest usw., „das Sein bestimmt das Bewusstsein“.
Für Harper ist es kein Zufall, dass Lenins Werk („Materialismus und Empiriokritizismus“) im Grunde genommen ein Beispiel für die erste Periode des Marxismus darstellt. Ausgehend von der Vorstellung, dass Lenins Ideologie durch die historische Bewegung, an der er teilnahm, bestimmt ist, behauptet Harper, dass sich der grundlegende Charakter dieser Bewegung als eine Variation des bürgerlichen Materialismus in Lenins Ideologie ausdrückt (Harper berücksichtigt hier allein „Materialismus und Empiriokritizismus“).
Dies führt Harper zu der Schlussfolgerung, dass “Materialismus und Empiriokritizismus“ nun die Bibel der russischen Intellektuellen, Techniker usw. – der Repräsentanten der neuen staatskapitalistischen Klasse – sei. Aus seiner Sicht sind die Russische Revolution im Allgemeinen und die Bolschewiki im Besonderen die Vorwegnahme einer allgemeineren revolutionären Entwicklung: die Evolution des Kapitalismus zum Staatskapitalismus, die revolutionäre Mutation der liberalen Bourgeoisie zu einer bürokratischen Staats-Bourgeoisie, von der der Stalinismus der vollkommenste Ausdruck sei.
Harpers Vorstellung ist, dass diese Klasse, die überall „Materialismus und Empiriokritizismus“ als ihre Bibel ansieht (Stalin und seine Freunde verteidigen weiterhin das Buch), das Proletariat als Basis für ihre staatskapitalistische Revolution benutzt. Deshalb ist die neue Klasse auf die marxistische Theorie angewiesen.
Daher ist es Ziel dieser Ausführungen, nachzuweisen, dass diese erste Ausformung des Marxismus über Lenin direkt zu Stalin führt. Ähnliches haben wir bereits von bestimmten Anarchisten gehört, wobei diese dies gleich auf den gesamten Marxismus beziehen. Stalin ist danach das logische Ergebnis des Marxismus – nach anarchistischer „Logik“ ist es das tatsächlich!
Dieser Ansatz versucht ebenfalls zu zeigen, dass eine neue – sich auf das Proletariat stützende – revolutionäre Klasse genau in dem Moment auf der Bühne der Geschichte erscheint, wo der Kapitalismus selbst, aufgrund der Hyperentwicklung der Produktivkräfte innerhalb einer Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der menschlichen Arbeit (Mehrwertabpressung) basiert, in seine permanente Krise eingetreten ist.
Diese zwei Ideen, die Harper in „Lenin als Philosoph“ vor dem Krieg von 1939 – 45 entwickelt, wurden bereits von Anderen mit unterschiedlichstem sozialem und politischem Hintergrund vorgetragen. Die erste Vorstellung wird von den meisten Anarchisten vertreten, die zweite von vielen reaktionären bürgerlichen Schreiberlingen, wie James Burnham.
Es ist nicht überraschend, dass Anarchisten solch mechanistische und schematische Konzepte vorbringen, die behaupten, dass der Marxismus die Quelle des Stalinismus und der staatskapitalistischen Ideologie oder der neuen herrschenden Management-/Bürokraten-Klasse sei. Sie sind das Problem der Philosophie nie in der Form angegangen, wie Revolutionäre es getan haben: Für sie stammen Marx und Lenin von Auguste Comte ab und alle marxistischen Strömungen werden ausnahmslos mit der „bolschewistisch-stalinistischen Ideologie“ in einen Topf geworfen. Zwischenzeitlich orientiert sich die anarchistische Version des philosophischen Denkens an der letzten Mode des Idealismus, von Nietzsche zum Existenzialismus, von Tolstoi zu Sartre.
Harpers These ist, dass Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“ als philosophische Untersuchung des Problems der Erkenntnis nicht weiter geht als die Interpretationsmethoden, die typisch für den mechanistischen, bürgerlichen Materialismus sind. Doch von hier zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass weder die Bolschewiki noch der Bolschewismus oder die russische Revolution über das Stadium der bürgerlichen Revolution hinaus kommen konnten, lässt Harper in derselben Position wie die Anarchisten oder Vertreter der Bourgeoisie, wie Burnham, enden. Darüber hinaus widerspricht diese Schlussfolgerung einer anderen korrekten Aussage von Harper:
„Der Materialismus hat nur kurze Zeit die Weltanschauung der bürgerlichen Klasse beherrscht. Nur solange diese glauben konnte, dass die bürgerliche Gesellschaftsordnung, mit ihrem Privateigentum, ihrer persönlichen Freiheit und ihrem freien Wettbewerb, durch die Entwicklung der Produktion unter dem endlosen Fortschritt der Wissenschaft und der Technik die praktischen Probleme des Lebens für jeden lösen würde, nur solange konnte sie glauben, dass mittels der Naturwissenschaft die theoretischen Probleme gelöst wurden, und brauchte sie keine übernatürlichen geistigen Mächte mehr. Als die Tatsache, dass der Kapitalismus die Frage der Existenz für die Massen nicht lösen konnte, hervortrat in dem emporkommenden Klassenkampf des Proletariats, verschwand die zuversichtliche materialistische Betrachtung der Welt. Die Welt erschien nun voll der Unsicherheit und der unlösbaren Widersprüche, voll unheimlich drohender Mächte.“ (ebenda, S. 311)
Wir werden im weiteren Verlauf dieses Problem vertiefen, hier sehen wir uns – in der Hoffnung, nicht in eine sterile Polemik hineingezogen zu werden – jedoch veranlasst, auf diesen unlösbaren Widerspruch, in den Harper sich selbst bringt, hinzuweisen – auf der einen Seite ein solch komplexes Problem so simpel anzugehen und auf der anderen Seite unter Berücksichtigung der Schlussfolgerungen, die er über Bolschewismus und Stalinismus zieht.
Noch einmal fragen wir: Wie erklärt man die Tatsache, dass genau zu dem Zeitpunkt, als der Klassenkampf beispiellose Höhen erklomm, innerhalb der Bourgeoisie eine materialistische Strömung geboren wurde, die eine neue bürgerlich-kapitalistische Klasse hervorbrachte – wenn wir gleichzeitig Harpers These folgen, dass die Bourgeoisie idealistisch wurde, als der proletarische Klassenkampf auf der Bühne erschien? Harper erkennt in Lenins Philosophie den Aufstieg einer bürgerlichen materialistischen Strömung genau zu dem Zeitpunkt, als die Bourgeoisie eigentlich vollständig idealistisch sein sollte. Und falls, nach Harper, Lenin „gezwungen war, materialistisch zu sein, um die Arbeitern hinter sich zu sammeln“, müssen wir folgende Frage stellen: Nahmen die Arbeiter die Ideologie Lenins an, oder passte sich Lenin den Bedürfnissen des Klassenkampfes an? Harper präsentiert uns diesen erstaunlichen Widerspruch: Entweder folgte das Proletariat einer bürgerlichen Strömung, oder eine Bewegung der Arbeiterklasse scheidet eine bürgerliche Ideologie aus.
In beiden Fällen würde das Proletariat nicht mit einem eigenen Blick auf die Welt auf der Bühne erscheinen. Es ist eine merkwürdige Version des marxistischen Materialismus, die uns zu solchen Schlussfolgerungen verleiten kann: Das Proletariat lässt sich auf unabhängige Aktionen ein, aber produziert dabei eine bürgerliche Ideologie. Das ist exakt das Ergebnis von Harpers These.
Des Weiteren ist es nicht ganz richtig zu behaupten, dass die Bourgeoisie in einer bestimmten Phase rein materialistisch und in einer anderen rein idealistisch war. In der bürgerlichen Revolution von 1789 ersetzte der Kult der Vernunft in Frankreich den Gotteskult. Dies ist typisch für den dualen Charakter der Konzepte – materialistisch und idealistisch zugleich –, die die gegen Feudalismus, Religion und die Macht der Kirche kämpfende Bourgeoisie benötigte (ein Kampf im Übrigen, der sehr heftige Formen annahm, wie die Verfolgung von Priestern und das Niederbrennen von Kirchen zeigt). Wir werden später auf diesen permanenten dualen Aspekt der bürgerlichen Ideologie zurückkommen, der selbst in seinen höchsten Ausschlägen der „Großen Revolution“ nie über das Stadium von „Religion ist das Opium des Volkes“ hinauskam.
Wir haben jedoch noch längst nicht alle Schlussfolgerungen gezogen, zu denen uns Harpers Arbeit bringt. Dazu müssen wir all jenen einige historische Tatsachen in Erinnerungen zurückrufen, die die Oktoberrevolution dem bürgerlichen Lager zuschreiben wollen. Die erste Untersuchung von Harpers philosophischen Schlussfolgerungen und Theorien hat uns dazu gebracht, bestimmte Fragen, die wir später entwickeln werden, zu reflektieren. Darüber hinaus gibt es andere Fakten, die Harper wohl nicht übergehen wollte. Seitenlang spricht er über bürgerliche Philosophie und Lenins Philosophie und kommt zu Schlussfolgerungen, die, gelinde gesagt, gewagt sind und die eine ernsthafte und tiefere Untersuchung verlangen. Welcher marxistische Materialist kann eine Person, eine politische Gruppe oder Partei in dieser Weise anklagen, wie Harper Lenin und die bolschewistische Partei dafür anklagt, dass sie eine bürgerliche Strömung und Ideologie - „…auf dem Proletariat basierend“ (Harper) – repräsentieren würden, ohne zuerst die historische Bewegung, der sie angehörten, zu untersuchen?
Es war die Bewegung der internationalen und russischen Sozialdemokratie, die die bolschewistische Fraktion und alle anderen links-sozialistischen Fraktionen hervorgebracht hat. Wie wurde diese Fraktion gebildet? Welche ideologischen Kämpfe hatte diese zu führen, um sich als separate Gruppe, dann als Partei, schließlich als Avantgarde einer internationalen Bewegung herauszuschälen?
Der Kampf gegen den Menschewismus, Lenins ISKRA und Was tun?, die Revolution von 1905 und die Rolle Trotzkis; Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, die ihm dazu brachte, zwischen dem Februar und dem Oktober 1917 mit den Bolschewiki zu fusionieren; der revolutionäre Prozess zwischen Februar und Oktober; die rechten Sozialdemokraten und die Sozialrevolutionäre; Lenins Aprilthesen; die Konstitution der Sowjets und der Arbeitermacht; Lenins Position zum imperialistischen Krieg – Harper verliert hierzu nicht ein Wort. Dies ist keineswegs zufällig.
Mousso und Phillipe
Es gibt ein Phänomen im Erkenntnisprozess der bürgerlichen Gesellschaft, das Harper nicht behandelt hat: den Einfluss der kapitalistischen Arbeitsteilung erstens auf die Erkenntnisentwicklung der Naturwissenschaften, zweitens auf die Entwicklung des Wissens in der Arbeiterbewegung.
An einer Stelle sagt Harper, dass die Bourgeoisie sowohl in jeder ihrer Revolutionen anders auftreten müsse als in den vorherigen als auch in der Form, die sie in diesem aktuellen Moment angenommen hatte. Sie muss ihre wahren Ziele verheimlichen.
Das ist wahr. Da Harper jedoch versäumt, über den Erkenntnisprozess in der Geschichte zu sprechen und das Problem seines Zustandekommens nicht explizit nennt, endet er dabei, es stillschweigend genauso mechanistisch zu formulieren, wie er es Lenin vorwirft.
Der Prozess, in dem die Erkenntnis geformt wird, ist abhängig von den Bedingungen, die bei der Erzeugung wissenschaftlicher Konzeptionen und Ideen im Allgemeinen vorherrschen. Diese Bedingungen wiederum sind mit den generellen Produktionsbedingungen, d. h. mit der praktischen Anwendung der Ideen verknüpft.
Mit der bürgerlichen Gesellschaft – der Entwicklung ihrer Produktionsbedingungen, ihrer ökonomische Existenzweise – entwickelt sich auch ihre eigene Ideologie: ihre wissenschaftlichen Auffassungen ebenso wie ihre Konzepte von der Welt und über die Welt.
Die Wissenschaft ist ein ganz besonderer Teil bei der Erzeugung von Ideen, die notwendig für das Leben der kapitalistischen Gesellschaft, für die Kontinuität und Evolution ihrer Produktionsweise sind.
Die ökonomische Produktionsweise wendet nicht nur praktisch an, was die Wissenschaft theoretisch ausarbeitet, sie hat ebenfalls großen Einfluss auf die Art und Weise, in der Ideen und Wissenschaften erarbeitet werden. So wie die kapitalistische Arbeitsteilung eine extreme Spezialisierung in allen Bereichen der praktischen Realisierung der Produktion durchsetzt, provoziert sie auch – als weitere Arbeitsteilung – eine extreme Spezialisierung im Bereich der Entstehung und Formulierung von Ideen, insbesondere in der Wissenschaft.
Die Spezialisierung der Wissenschaft und der Wissenschaftler ist Ausdruck der universellen Arbeitsteilung im Kapitalismus. Der Kapitalismus braucht wissenschaftliche Spezialisten genauso wie Generäle, Experten für Militärtechnik, Verwalter und Direktoren.
Die Bourgeoisie ist durchaus in der Lage, Zusammenhänge im Bereich der Wissenschaft herzustellen, solange diese nicht ihre Ausbeutungsweise berühren. Sobald dies aber droht, verzerrt die Bourgeoise unbewusst die Wirklichkeit. Die Bourgeoisie ist zu keiner umfassenden wissenschaftlichen Darstellung in der Lage, weder im Bereich der Geschichte noch in dem der Ökonomie, der Soziologie oder der Philosophie.
Wenn die Bourgeoisie sich auf die praktische Anwendung, die wissenschaftliche Untersuchung konzentriert, ist sie zutiefst materialistisch. Da sie jedoch zu einer völligen Synthese nicht in der Lage ist, da sie unbewusst dazu gezwungen ist, ihre eigene Existenz zu verbergen, und die wissenschaftlichen Entwicklungsgesetze der Gesellschaft (von den Sozialisten entdeckt) ablehnt, kann sie mit dieser psychologischen Sperre vor ihrer eigenen gesellschaftlich-historischen Realität nur umgehen, indem sie Zuflucht im philosophischen Idealismus sucht, und dieser Idealismus durchtränkt ihre ganze Ideologie. Diese Entstellung der Realität – ein notwendiger Aspekt der bürgerlichen Gesellschaft – wird sehr effektiv durch die verschiedenen philosophischen Systeme der Bourgeoisie bewerkstelligt. Doch die Bourgeoisie greift auch auf Philosophien und Ideologien früherer Ausbeutungsformen zurück.
Dies macht sie, da diese Ideologien die bürgerliche Existenz nicht beeinträchtigen – im Gegenteil, diese Ideologien können benutzt werden, um sie zu verbergen. Sie tut dies aber auch, weil alle herrschenden Klassen in der Geschichte – als konservative Klassen – die Notwendigkeit deutlich gemacht haben, alte Methoden zu ihrer Konservierung zu verwenden, die dann natürlich für ihre eigenen Bedürfnisse benutzt werden, indem sie so weit entstellt werden, dass sie mit ihren eigenen Konturen reinpassen.
Daher konnten in der Frühphase der Bourgeoisie auch bürgerliche Philosophen bis zu einem gewissen Grad Materialisten sein (insoweit, dass sie die Notwendigkeit der Entwicklung der Naturwissenschaften unterstrichen). Jedoch waren sie vollkommen idealistisch, sobald es darum ging, die Existenz der Bourgeoisie selbst vernünftig zu begründen und zu rechtfertigen. Die, die mehr Gewicht auf den ersten Aspekt des bürgerlichen Denkens legten, konnten materialistischer erscheinen; jene, die mehr damit beschäftigt waren, die Existenz der Bourgeoisie zu rechtfertigen, mussten deutlich idealistischer auftreten.
Nur die wissenschaftlichen Sozialisten, beginnend mit Marx, waren in der Lage, eine Synthese der Wissenschaften in Beziehung zur gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen herzustellen. Diese Synthese war im Grunde der notwendige Ausgangspunkt ihrer revolutionären Kritik.
In dem Maße, in dem sie mit neuen wissenschaftlichen Problemen konfrontiert waren, waren die Materialisten in der revolutionären Epoche der Bourgeoisie gezwungen, eine Synthese ihres Wissens und ihrer Vorstellungen über die gesellschaftliche Entwicklung anzustreben. Doch waren sie nie in der Lage, die gesellschaftliche Existenz der Bourgeoisie zu hinterfragen; im Gegenteil, sie mussten diese rechtfertigen. Einzelne – von Descartes bis Hegel – waren um eine Synthese bemüht. Sie waren, geleitet von einem dialektischen Standpunkt mit Blick auf die gesamte Evolution der Welt und der Ideen, so damit beschäftigt, eine umfassende Synthese herzustellen, dass sie es nicht vermeiden konnten, diesen dualistischen und widersprüchlichen Aspekt der bürgerlichen Ideologie am komplexesten auszudrücken. Doch sie waren Ausnahmen.
Was diese Individuen zu ihrer Aktivität trieb, bleibt ungeklärt. Die geschichtlichen, gesellschaftlichen, ökonomischen und psychologischen Erkenntnisse befanden sich noch in ihrer Frühphase. Wir können nur die banale Wirklichkeit wiederholen, dass sie von der Voreingenommenheit der sie umgebenden Gesellschaft bestimmt wurden. Auch wenn sie beabsichtigen, eine neue Gesellschaft aufzubauen, leben und entwickeln sich sowohl das Proletariat wie auch die Sozialisten im Kapitalismus; entsprechend wird das Feld der Erkenntnis von den Gesetzen des Kapitalismus beeinflusst.
Kommunistische Militante sind spezialisiert auf Politik, auch wenn universellere Erkenntnisse und Synthesen hilfreich für sie sind.
So gibt es in der Arbeiterbewegung eine Spaltung zwischen den politischen Strömungen und der Klasse im Allgemeinen. Selbst die politischen Strömungen können in Theoretiker der Geschichte, der Ökonomie und der Philosophie aufgeteilt sein. Der Prozess, an dessen Ende die Theoretiker des Sozialismus standen, ist vergleichbar mit jenem Prozess, der zu den Denkern und Philosophen in der revolutionären Epoche der Bourgeoisie führte.
Der Einfluss der bürgerlichen Erziehung, des bürgerlichen Milieus im Allgemeinen lastete schon immer schwer auf der Entstehung von Ideen in der Arbeiterbewegung. Die Entwicklung sowohl der Gesellschaft als auch der Wissenschaft ist ein maßgeblicher Faktor in der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Dies mag wie eine Tautologie klingen, doch es kann nicht oft genug wiederholt werden. Die konstante Parallele zwischen der Gesellschaftsentwicklung und der Entwicklung des Proletariats und der Sozialisten ist eine schwere Last für Letztere.
Die Überbleibsel der Religionen, d.h. aus vorkapitalistischen Epochen, werden allerdings zu einem atavistischen Element der reaktionären Bourgeoisie, besonders in der Bourgeoisie als letzte ausbeutende Klasse in der Geschichte. Doch ist nicht die Religion der gefährlichste Teil der Ideologie dieser ausbeutenden Klasse, sondern die Ideologie insgesamt ist gefährlich. In der bürgerlichen Ideologie steckt neben der Religion, dem Chauvinismus und all dem verbalen Idealismus ein verengter, trockener, statischer Materialismus. Ebenso wie der idealistische Aspekt des bürgerlichen Denkens existiert auch der Materialismus der Naturwissenschaften als integraler Bestandteil ihrer Ideologie. Für die Bourgeoisie, die versucht, die Einheit ihrer Existenz hinter der Pluralität ihrer Mythen zu verstecken, sind diese unterschiedlichen Ideologien nicht Teil eines Ganzen. Sozialisten sollten diese jedoch als Ganzes behandeln.
Auf diese Weise können wir ermessen, wie schwer es für die Arbeiterbewegung war, sich von der bürgerlichen Ideologie als Ganzes – von ihrem unvollständigen Materialismus – loszureißen. Hatte nicht Bergson auf die Bildung einiger Strömungen der Arbeiterbewegung in Frankreich großen Einfluss gehabt? Das wirkliche Problem ist, wie man eine neue Ideologie, eine neue Idee zum Objekt einer kritischen Untersuchung macht, ohne in das Dilemma zu geraten, sie anzunehmen oder abzulehnen. Es geht auch darum, den ganzen wissenschaftlichen Fortschritt nicht als wirklichen Fortschritt zu betrachten, sondern als etwas, das nur potenziell ein Fortschritt bzw. eine Bereicherung der Erkenntnis ist, als etwas, dessen Leistungsfähigkeit von den Schwankungen im Wirtschaftsleben des Kapitalismus abhängt.
Für Sozialisten ist dies die einzige Möglichkeit, eine permanent kritische Haltung zu bewahren, die eine wirkliche Untersuchung der Ideen erlaubt. Im Hinblick auf die Wissenschaften ist es die Aufgabe der Sozialisten, ihre Ergebnisse theoretisch zu assimilieren und gleichzeitig zu begreifen, dass ihre praktische Anwendung im Dienste der menschlichen Bedürfnisse erst in einer Gesellschaft möglich ist, die sich zum Sozialismus entwickelt.
Die Entwicklung des Wissens in der Arbeiterbewegung beinhaltet die theoretische Entwicklung der Wissenschaften als eigenen Beitrag. Jedoch muss diese Entwicklung in einem umfassenderen Verständnis eingebettet werden, das sich um die praktische Durchführung der sozialen Revolution – der Basis jeglichen wirklichen Fortschritts in der Gesellschaft – dreht.
Die Arbeiterbewegung ist also durch ihre eigene revolutionäre gesellschaftliche Existenz spezialisiert, durch die Tatsache, dass sie innerhalb des Kapitalismus, gegen die Bourgeoisie und in der rein politischen Sphäre kämpft, die – bis zum Aufstand – den Schwerpunkt im Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat bildet.
Dies gewährleistet, dass – abhängig von dem Fortschritt, den die wirkliche Befreiung des Proletariats macht – die Entwicklung des Wissens innerhalb der Arbeiterbewegung einen dualistischen Aspekt beinhaltet. Auf der einen Seite ist sie politisch, beeinflusst von unmittelbaren und dringenden Fragen. Auf der anderen Seite ist sie theoretisch und wissenschaftlich, entwickelt sich langsamer und (bis jetzt) meist in den Perioden des Rückflusses der Arbeiterbewegung. Dieser Aspekt behandelt Fragen, die gleichermaßen wichtig wie die politischen Probleme sind und sicherlich in einer Wechselbeziehung zu ihnen stehen, aber weniger direkt und drängend sind.
Auch die unmittelbaren Klassengrenzen entwickeln sich analog zur Entwicklung der Gesellschaft durch den Kampf der Klasse in der politischen Sphäre. Der politische Kampf des Proletariats, die Entstehung der revolutionären Arbeiterbewegung als Opposition zur Bourgeoisie verläuft in Verbindung zur fortwährenden Weiterentwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Klassenpolitik des Proletariats ändert sich von Tag zu Tag und in gewissem Maße lokal (später schauen wir uns an, in welchem Maße). In diesen Tageskämpfen, in diesen Divergenzen zwischen politischen Parteien und Gruppen, in den Taktiken über Ort und Zeitpunkt entwickeln sich die Klassengrenzen. Später zeigt sich dies auf einer grundsätzlicheren, weniger unmittelbaren Weise: Die entfernteren Ziele des revolutionären Kampfes des Proletariats werden in den großen Leitprinzipien der politischen Parteien und Gruppen formuliert.
Differenzen in der politischen Arbeit werden somit zuerst im Programm, dann erst in der praktischen Anwendung des tagtäglichen Kampfes thematisiert. Die Entwicklung dieser Differenzen reflektiert die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft, die Entwicklung der Klassen, ihre Methoden im Kampf, ihre Ideologien, Theorien und ihre politische Praxis.
Im Gegensatz dazu entwickelt sich die Synthese der wissenschaftlichen Dialektik in der rein philosophischen Erkenntniswelt nicht auf dem dialektisch unmittelbaren Weg des praktischen, politischen Klassenkampfs. Diese Dialektik ist weit abstrakter, sporadischer, ohne offenkundige Verbindungen zum lokalen oder gesellschaftlichen Umfeld, ein bisschen wie die Entwicklung der angewandten Wissenschaften, der Naturwissenschaften gegen Ende des Feudalismus und zu Beginn des Kapitalismus.
Harper macht diese Unterschiede nicht. Er versäumt es, darauf hinzuweisen, dass die Erkenntnis im menschlichen Denken verschiedene Manifestationen hat, dass sie in Abhängigkeit von der Periode, dem gesellschaftlichen Kontext usw. stark in verschiedene Spezialisierungen aufgeteilt ist.
Um es etwas ungeschliffen und vereinfacht darzustellen, entwickelt sich die menschliche Erkenntnis als Antwort auf die Bedürfnisse, denen sich die unterschiedlichen Gesellschaftsformationen gegenübersehen, und die unterschiedlichen Zweige der Erkenntnis entwickeln sich im Verhältnis zu den vorgesehenen praktischen Anwendungen. Je unmittelbarer die Sphäre der Erkenntnis mit der praktischen Anwendung verbunden ist, desto einfacher ist es, den Fortschritt zu beobachten. Je mehr dagegen die Erkenntnis zur Synthese strebt, desto schwieriger ist es, den Fortschritt festzustellen. Die Synthese beruht auf Gesetzen, die so kompliziert sind und von solch komplexen und unterschiedlichen Faktoren abgeleitet sind, dass es für uns heute praktisch unmöglich ist, in solche Studien einzutauchen.
Darüber hinaus umfasst die Praxis weite Teile der gesellschaftlichen Massen, während die Synthese häufig nur von Einzelnen geleistet wird. Gesellschaftliche Prozesse sind von grundsätzlichen Gesetzen determiniert, die einfacher und direkter zu kontrollieren sind. Das Individuum ist weitaus mehr das Subjekt von Besonderheiten, die für eine Geschichtswissenschaft – welche sich immer noch in einem sehr frühen Stadium befindet – kaum wahrnehmbar sind.
Deshalb denken wir, dass Harper einem schwerwiegenden Irrtum aufgesessen war, als er sich auf eine Untersuchung des Problems der Erkenntnis einließ, die sich darauf beschränkte, den Unterschied zwischen dem bürgerlichen und dem sozialistischen, revolutionären Ansatz herauszuarbeiten, und die sich nicht mit dem historischen Prozess befasste, in dem die Ideen gebildet werden. Dadurch bleibt Harpers Dialektik kraftlos und vulgär. Nach seinem sehr interessanten Essay, in dem er Lenins Angriff auf den Empiriokritizismus richtigerweise kritisiert (d. h. aufzeigt, dass Lenins Text eine vulgäre Polemik in der wissenschaftlichen Sphäre ist, ein wüster Mischmasch von bürgerlichem Materialismus und Marxismus), belässt es Harper in seinen Schlussfolgerungen bei Plattitüden, die eklatanter sind als Lenins Dialektik in Materialismus und Empiriokritizismus.
Das Proletariat löst sich durch einen kontinuierlichen Kampf vom bürgerlichen Gesellschaftsmilieu. Es kann jedoch nicht vollständig eine – im umfassenden Sinne des Wortes – unabhängige Ideologie erlangen, solange es noch nicht den allgemeinen Aufstand durchgeführt und die sozialistische Revolution zu einer lebendigen Realität gestaltet hat. Genau in dem Moment, wenn das Proletariat eine vollständige ideologische und politische Unabhängigkeit erreicht hat, wenn es sich über die einzige Lösung des sozio-ökonomischen Morasts des Kapitalismus – den Aufbau der klassenlosen Gesellschaft – bewusst ist, existiert es bereits nicht mehr als Klasse für den Kapitalismus. Durch die Doppelherrschaft, die es zu seinen Gunsten etabliert, schafft es die gesellschaftlich-historischen Umstände, die das vollständige Verschwinden als Klasse ermöglichen. Die sozialistische Revolution besteht daher aus zwei entscheidenden Momenten: vor und nach dem Aufstand.
Erst wenn das Proletariat ein Umfeld geschaffen hat, das sein Verschwinden begünstigt, d.h. nach dem Aufstand, kann es eine vollständig unabhängige Ideologie entwickeln. Vor dem Aufstand ist das Hauptziel seiner Ideologie die praktische Realisierung des Aufstands. Dies erfordert ein Bewusstsein über die Notwendigkeit des Aufstandes und die Möglichkeiten und Mittel, ihn durchzuführen. Nach dem Aufstand wird die entscheidende praktische Frage auf der einen Seite die Verwaltung der Gesellschaft und auf der anderen Seite die Abschaffung der vom Kapitalismus hinterlassenen Widersprüche sein. Die Hauptsorge wird dann sein: Wie kommen wir zum Kommunismus, wie können die Probleme der „Übergangsperiode“ gelöst werden? Gesellschaftliches Bewusstsein, selbst das des Proletariats, kann solange nicht vollständig von der bürgerlichen Ideologie befreit werden, solange der generalisierte Aufstand nicht begonnen hat. Bis dahin, bis zur Befreiung durch Gewalt werden alle bürgerlichen Ideologien, die gesamte bürgerliche Kultur, ihre Kunst und Wissenschaft Einfluss auf das Denken der Sozialisten ausüben. Eine sozialistische Synthese erwächst nur sehr langsam aus der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Häufig werden dabei die reichhaltigsten Beiträge zur Analyse des Klassenkampfs und der Entwicklung des Kapitalismus außerhalb der Bewegung geleistet – mehr von Beobachtern als von Teilnehmern. Im Vergleich zu Lenin ist dies bei Harper der Fall.
Entsprechend kann es eine Kluft zwischen Theorie und Praxis der sozialistischen Bewegung geben. So können theoretische Studien wertvoll bleiben, auch wenn die Menschen, die sie formuliert haben, eine dem Kampf des Proletariats nicht angemessene politische Praxis ausüben. Aber auch das Gegenteil ist möglich.
Die Bewegung, die die russische Gesellschaft innerhalb von zwölf Jahren in drei Revolutionen stürzte, hatte hauptsächlich mit den praktischen Aufgaben des Klassenkampfs zu tun. Die Bedürfnisse, die der Kampf generierte, die Ergreifung und Ausübung der Macht begünstigten eher Politiker des Proletariats wie Lenin und Trotzki – Männer der Tat, der Tribüne, Polemiker – als Philosophen und Ökonomen. Die Philosophen und Ökonomen aus der Zeit der II. und III. Internationale standen häufig außerhalb der praktischen revolutionären Bewegung oder leisteten ihre Hauptarbeit in Zeiten des Rückflusses der revolutionären Flut.
Zwischen 1900 und 1924 wurde Lenin von dem Strom der aufkommenden Revolution angetrieben. All seine Arbeit war verwoben mit diesem Kampf, mit seinen Höhen und Tiefen, mit seiner historischen und vor allem menschlichen Tragödie. Seine Arbeit war hauptsächlich politisch und polemisch, eine kämpferische Arbeit. Sein wesentlicher Beitrag zur Arbeiterbewegung besteht im politischen Teil seiner Arbeit und nicht in seinen philosophischen und ökonomischen Studien, deren Qualität aufgrund der mangelnden analytischen Tiefe, wissenschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeit zur theoretischen Synthese zweifelhaft ist. Im Gegensatz zur turbulenten historischen Situation in Russland erlaubte die Ruhe, die in Holland am Rande des Klassenkampfs in Deutschland herrschte, die Zeit des Rückzugs des Klassenkampfes einer Gestalt wie Harper eine ideologische Weiterentwicklung.
Harper greift Lenin massiv an seinem schwächsten Punkt an, wobei er den weitaus wichtigsten und lebendigsten Teil seiner Arbeit ignoriert und so einen großen Fehler begeht, als er versucht, Schlussfolgerungen aus Lenins Gedanken und über die Bedeutung seiner Arbeit abzuleiten. Da Harpers Schlussfolgerungen unvollständig bzw. falsch sind, verkommen sie zu journalistischen Plattitüden, wenn sie sich mit der Russischen Revolution insgesamt beschäftigen. Indem er sich auf Materialismus und Empiriokritizismus beschränkt, zeigt er, dass er nichts von Lenins Hauptwerk verstanden hat. Seine Fehler über die russische Revolution sind weitaus ernster, so dass wir zu ihnen zurückkehren müssen
Philippe
Nach unserer diversen Kritik an Harpers Philosophie wollen wir nun zeigen, wie der politische Standpunkt, den er aus seiner Philosophie ableitet, ihn in der Praxis von revolutionären Positionen abbrachte. (Ursprünglich hatten wir nicht vor, dies zu vertiefen, sondern wollten einfach aufzeigen, dass, während sich die ganze Kritik Harpers am so genannten mechanistischen Materialismus auf eine korrekte, wenngleich ziemlich schematische Erläuterung des Problems menschlicher Theorie und Praxis stützt, ihre praktische politische Anwendung ihn ebenfalls zu einem vulgär-mechanistischen Standpunkt führte.)
Für Harper:
1) war die Russische Revolution in ihren philosophischen Manifestationen (die Kritik des Idealismus) einzig und allein eine Manifestation bürgerlich-materialistischen Denkens – ein typischer Ausdruck des russischen Milieus und seiner Bedürfnisse;
2) verspürte Russland wirtschaftlich gesehen, da von ausländischem Kapital kolonisiert, das Bedürfnis, sich mit der Revolution des Proletariats zu verbünden, „und selbst“, wie er sagt, “Lenin musste sich auf die Arbeiterklasse stützen, und weil sein Kampf rücksichtslos radikal sein musste, übernahm er die radikalste Ideologie des gegen das Weltkapital kämpfenden westlichen Proletariats[1], den Marxismus.“
Jedoch fügt er hinzu:
„So wie aber in der russischen Revolution zwei Charaktere der westlichen Entwicklung sich mischten, die bürgerliche Revolution in ihren Aufgaben, die proletarische in ihrer aktiven Kraft, so musste auch die dazu gehörende bolschewistische Theorie eine Mischung von bürgerlichem Materialismus in den Grundanschauungen und proletarischem Materialismus in der Klassenkampflehre sein.“ (Lenin als Philosoph; aus: Anton Pannekoek, Die Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution, Germinal, S. 359)
Und hier bezeichnet Harper die Auffassungen Lenins und seiner Freunde als typisch russische Form des Marxismus; für ihn war Plechanow der westlichste Marxist, wenngleich auch dieser noch nicht völlig frei von bürgerlichem Materialismus gewesen sei.
Wenn es einer bürgerlichen Bewegung wirklich möglich ist, sich auf “eine revolutionäre Bewegung des Proletariats im Kampf gegen den Weltkapitalismus“ (Harper) zu stützen, und wenn das Resultat dieses Kampfes die Etablierung einer Bürokratie als herrschende Klasse ist, die die internationale proletarische Revolution um ihre Früchte bringt, dann ist die Tür offen für die Schlussfolgerung, die James Burnham gezogen hatte, eine Schlussfolgerung, derzufolge die Techno-Bürokratie im Kampf gegen die alte kapitalistische Gesellschaftsform die Macht übernommen habe, indem sie sich auf eine Arbeiterbewegung gestützt habe. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist der Sozialismus eine Utopie.
Es ist kein Zufall, dass Harpers Schlussfolgerungen mit den Ansichten Burnhams übereinstimmen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Harper an den Sozialismus „glaubt“, während Burnham „glaubt“, dass der Sozialismus eine Utopie ist.[2] Doch beide teilen dieselbe kritische Methode, die der revolutionären und gleichzeitig objektiven Methode fremd ist.
Harper, der der III. Internationalen angehört hat, der die holländische kommunistische Partei gegründet hatte, der sich in den entscheidenden Revolutionsjahren in der KI (Kommunistische Internationale) engagiert hatte, der sich daran beteiligt hatte, das Proletariat Europas zur Beteiligung an diesem „konterrevolutionären russischen Staat“ zu verleiten – dieser Harper gibt selbst die Erklärung:
„... hätte man es damals gekannt“ (nämlich Lenins Buch Materialismus und Empiriokritizismus), “man hätte (es) voraussagen können“, nämlich die Degeneration der Russischen Revolution und des Bolschewismus zu einem Staatskapitalismus, der die Arbeiter_innen mit Füßen tritt.
Man könnte Harper antworten, dass „aufgeklärte“ Marxisten dies vorausgesagt haben und zu denselben Schlussfolgerungen wie Harper über die Russische Revolution gekommen sind und dies lange vor ihm; wir können z.B. Karl Kautsky zitieren.
Karl Kautskys Position zur Russischen Revolution wurde durch die ausführliche Debatte zwischen ihm sowie Lenin und Rosa Luxemburg der Öffentlichkeit ausreichend dargelegt (Lenin, Gegen den Strom; Kautsky, Die Diktatur des Proletariats; Rosa Luxemburg, Die russische Revolution; Kautsky, Rosa Luxemburg und der Bolschewismus).
Aus den Kautskys Rosa Luxemburg und der Bolschewismus folgenden Artikeln[3], die 1922 in der Form einer Broschüre in Frankreich und Belgien veröffentlicht wurden, wird größtenteils ersichtlich, wie sehr in mehr als einem Punkt Harpers Schlussfolgerung seinen Positionen ähnelt.
„Und so kommen wir [Kautsky] in die paradoxe Situation, hie und da die Bolschewiki gegen manche Luxemburgische Anklage verteidigen zu müssen.“ (Kautsky, Rosa Luxemburg und der Bolschewismus in Der Kampf, 1922, S. 34).
Was Kautsky hier tut, ist, die „Irrtümer“ der Bolschewiki (die Luxemburg in ihrem Pamphlet kritisiert) zu verteidigen, indem er sie als logische Konsequenzen der bürgerlichen Revolution in Russland darstellt, indem er aufzeigt, dass die Bolschewiki nur ausführen konnten, wozu das russische Milieu sie bestimmt hatte, nämlich die bürgerliche Revolution.
Um ein paar Beispiele zu geben: Rosa kritisierte die bolschewistischen Losungen und ihre Praxis der individuellen Landbesitznahme durch die Aufteilung des Landes unter den Kleinbauern, was, wie sie meinte, zu allen möglichen Schwierigkeiten führen würde, und befürwortete die sofortige Kollektivierung des Landes. Lenin hat bereits auf diese Argumente geantwortet, die Kautsky aus einer anderen Sicht anführte (siehe das Kapitel Liebedienerei vor der Bourgeoisie unter dem Schein einer ‘ökonomischen Analyse’ in: Die sozialistische Revolution und der Renegat Kautsky, Lenin-Werke, Bd. 28).
„Kein Zweifel, damit [die Aufteilung des Landes] ist ein gewaltiges Hindernis für den Fortschritt des Sozialismus in Russland entstanden. Aber dieser Vorgang ließ sich nicht verhindern, er hätte bloß rationeller vonstatten gehen können, als es durch die Bolschewiki geschah. Er bezeugt eben, dass Russland sich im wesentlichen im Stadium der bürgerlichen Revolution befindet. Darum wird die bürgerliche Agrarreform des Bolschewismus ihn überdauern, während seine sozialistischen Maßnahmen bereits von ihm selbst als unhaltbar anerkannt worden sind.“ (Kautsky, Rosa Luxemburg und der Bolschewismus in Der Kampf, 1922, S. 35).
Man weiß, dass der „Scharfsinn“ Kautskys durch diesen anderen „Sozialisten“ Stalin völlig widerlegt worden war, der den Boden kollektivierte und die Industrie „sozialisierte“, während die Revolution bereits völlig erstickt worden war.
Und hier eine längere Kostprobe von Kautsky über die Entwicklung des Marxismus in Russland, die der Dialektik Harpers ziemlich nahe kommt (siehe Lenin als Philosoph – Die russische Revolution):
„Wie bei den Franzosen, übernahmen auch bei den Russen die Revolutionäre von den Reaktionären diesen Glauben an die vorbildliche Bedeutung der eigenen Nation für die anderen Nationen. […]“
„Als der Marxismus aus dem faulen Westen nach Russland kam, musste er diese Illusion aufs schärfste bekämpfen und zeigen, dass die soziale Revolution nur aus einem hoch entwickelten Kapitalismus hervorgehen könne. Dass die Revolution, der Russland entgegengehe, zunächst eine bürgerliche nach dem Muster der vorhergegangenen des Westens sein müsste.
Aber diese Auffassung erschien den ungeduldigsten der marxistischen Elemente auf die Dauer doch zu beengend und lähmend. Namentlich seit 1905, seit der ersten Revolution, in der das russische Proletariat sich so sieghaft geschlagen und das Proletariat ganz Europas begeistert hatte.
Bei den radikaleren Elementen der russischen Marxisten vollzog sich nun eine besondere Färbung ihres Marxismus. Derjenige Teil seiner Lehren, der den Sozialismus abhängig macht von den ökonomischen Bedingungen, von der Hochentwicklung des industriellen Kapitalismus, verblasste jetzt für sie immer mehr. Dafür bekam immer kräftigere Farben die Lehre vom Klassenkampf. Er wurde immer mehr als bloßer Kampf mit allen Gewaltmitteln um politische Macht, losgelöst von seiner materiellen Basis, betrachtet. Bei dieser Auffassung der Dinge kam man schließlich dahin, im russischen Proletariat eine außerordentliche Erscheinung zu sehen, das Vorbild für das Proletariat der Welt. Und die Proletarier der anderen Länder fingen an, das zu glauben, und im russischen Proletariat den Führer des gesamten internationalen Proletariats zum Sozialismus zu begrüßen.
Das ist nicht unschwer zu erklären. Der Westen hatte seine bürgerlichen Revolutionen hinter sich. Vor sich die proletarischen Revolutionen. Aber diese erheischten eine Kraft des Proletariats, die es noch nirgends erreicht hatte. So standen wir im Westen im Zwischenstadium zwischen zwei revolutionären Epochen, was die Geduld der radikalen Elemente dort auf eine harte Probe stellte.
Russland dagegen war so rückständig, dass es die bürgerliche Revolution, den Sturz des Absolutismus, noch vor sich hatte. Diese Aufgabe erheischte kein so starkes Proletariat wie die Eroberung der Alleinherrschaft durch die Arbeiterklasse im Westen. Die russische Revolution trat daher früher ein als die des Westens. Sie war dem Wesen nach eine bürgerliche; das konnte aber eine Zeitlang verborgen bleiben dadurch, dass die bürgerlichen Klassen in Russland heute noch weit schwächer sind, als sie in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts waren. Übersah man die ökonomische Grundlage, betrachtete man nur den Klassenkampf und die relative Kraft des Proletariats, dann konnte eine Zeitlang wirklich scheinen, als sei das russische Proletariat dem westeuropäischen überlegen.“ (Kautsky, Rosa Luxemburg und der Bolschewismus in Der Kampf, 1922, S. 40 und 41).
Eines nach dem anderen übernahm Harper, wenn auch etwas philosophischer, die Argumente Kautskys.
Kautsky stellte zwei Auffassungen des Sozialismus gegenüber:
In der ersten kann der Sozialismus nur auf der Grundlage eine fortgeschrittenen Kapitalismus verwirklicht werden (Kautskys Position und die der Menschewiki; diese Position wurde auch von den deutschen Sozialdemokraten, einschließlich Noske, benutzt, um die Russische Revolution zu kritisieren. Es ist eine Auffassung, die im Grunde zur Ergreifung staatskapitalistischer Maßnahmen, unterstützt von einer „Massenpartei“, gegen das revolutionäre Proletariat führte).
In der zweiten Auffassung, im „Kampf um die politische Macht, getrennt von seiner wirtschaftlichen Basis“, wäre es möglich, dass der Sozialismus sogar in Russland errichtet wird (dies Kautskys Lesart der bolschewistischen Position).
In Wirklichkeit sagten Lenin und Trotzki: Die bürgerliche Revolution in Russland kann nur durch die Erhebung des Proletariats gemacht werden. Da die Erhebung des Proletariats die objektive Tendenz hat, sich auf internationaler Ebene zu entwickeln, können wir angesichts des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte auf weltweiter Ebene hoffen, dass diese russische Erhebung eine allgemeine Bewegung auslöst.
Allein vom Standpunkt der Produktivkraftentwicklung in Russland aus betrachtet, drängte die Russische Revolution zu einer bürgerlichen Revolution; doch die Verwirklichung des Sozialismus ist sehr wohl möglich unter der Bedingung eines weltweiten Ausbruchs der Revolution. Lenin und Trotzki nahmen genauso wie Rosa Luxemburg an, dass das Entwicklungsniveau der Produktivkräfte auf der ganzen Welt den Sozialismus nicht nur möglich, sondern auch notwendig macht; dieses Niveau hatte eine Stufe erreicht, die sie übereinstimmend als die „Ära der (Welt-)Kriege und der Revolutionen“ qualifizierten; allein über die ökonomischen Faktoren in dieser Situation waren sie uneins. Damit der Sozialismus wahr wird, durfte die Russische Revolution nicht isoliert bleiben.
Wie die Menschewiki antwortete Kautsky, dass Lenin und Trotzki in der Revolution nur den „voluntaristischen“ Faktor der Machtergreifung durch einen bolschewistischen „Putsch“ erblickten, und ging so weit, den Bolschewismus mit dem Blanquismus zu vergleichen.
All diese „aufgeklärten“ Marxisten und Sozialisten sind exakt jene, die Harper als Beispiel zu zitieren scheint, als jene, die “... die Warnungen wiederholt“ haben, die gegen “die Führung der internationalen Arbeiterbewegung durch die Russen“ waren wie Kautsky:
„Dass Lenin den Marxismus als die Theorie der proletarischen Revolution nicht verstand, dass er das Wesen des Kapitalismus, der Bourgeoisie, des Proletariats in ihrer höchsten Entwicklung nicht verstand, zeigte sich, sobald nach 1917 von Russland aus, durch die III. Internationale, das westeuropäische Proletariat zur ‘Weltrevolution’ geführt werden sollte, und auf die Warnungen der Marxisten des Westens nicht geachtet wurde.“ (Lenin als Philosoph, in: Die Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution, S. 361)
Betrachtet man all die gelehrten Unterscheidungen Kautskys zwischen dem rückständigen Russland und dem Westen, zwischen „russischen“ und westlichen Marxisten, findet man hier all die Kritik der Kautsky nahestehenden „zentristischen“ Marxisten wieder.
Sie alle, mit Kautsky an der Spitze, warfen den Bolschewiki vor, den rückständigen Zustand der russischen Wirtschaft nicht berücksichtigt zu haben, obwohl Trotzki seit langem, das erste Mal 1905, auf all diese „ehrenwerten Familienoberhäupter“ (Lenin) meisterhaft geantwortet hatte, indem er zeigte, wie einerseits das fortgeschrittene Niveau der Industriekonzentrationen in Russland und andererseits das rückständige Gesellschaftsleben (die verspätete bürgerliche Revolution) dafür sorgten, dass Russland sich in einem konstant revolutionären Zustand befinde; und diese Revolution sei proletarisch oder gar nichts.
Harper, der seine Theorie und seine philosophische Kritik auf Kautskys Theorie und geschichts-ökonomischer Kritik errichtet hat, sagt, dass aufgrund der rückständigen ökonomischen Lage Russlands und aufgrund der Unvermeidlichkeit der bürgerlichen Revolution in Russland die Philosophie der Russischen Revolution vom ökonomischen Standpunkt aus das ökonomische Denken Marx’ in der ersten Phase fortführen musste, d.h. die Feuerbachsche, revolutionär-bürgerliche, demokratische Phase: „Religion ist Opium des Volkes“ (die Kritik der Religion). Es sei also normal, dass Lenin und seine Freunde die zweite Phase der marxistischen Philosophie, die revolutionäre, proletarische, dialektische Phase: „das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“, nicht erreichten. (Harper vergisst darauf hinzuweisen – auch wenn es unmöglich für ihn war, davon nicht gewusst zu haben -, dass der Hauptkampf der Bolschewiki vor 1918 sich gegen all die Strömungen rechts von ihnen in der Sozialdemokratie richtete, gegen Regierungs- und die zentristischen Fraktionen, und dies in einem sehr breiten Umfang, in allen europäischen Presseerzeugnissen und Broschüren in allen Sprachen, wohingegen Materialismus und Empiriokritizismus erst viel später einer breiteren russischen Öffentlichkeit bekannt wurde, noch später ins Deutsche und noch viel später ins Französische übersetzt und kaum außerhalb Russlands gelesen wurde. Man fühlt sich berechtigt zu fragen, ob der Geist von Materialismus und Empiriokritizismus in den Artikeln und Broschüren enthalten war, was Harper nicht einmal versucht zu beweisen, und dies aus gutem Grund.) Einerlei, Harper schließt wie Kautsky daraus, dass „trotz“ der voluntaristischen Auffassung über den Klassenkampf von Lenin und Trotzki, die “das russische Proletariat zum Dirigenten der Weltrevolution“ machen wollten, die Revolution, philosophisch betrachtet, dazu verdammt war, bürgerlich zu sein, da Lenin und seine Freunde eine Feuerbachsche, bürgerlich-materialistische Philosophie rezipiert haben (Marx erste Phase).
Diese Ideen bringen Harper und Kautsky zusammen, sowohl in ihrer Annäherung an die Grundlagen des Problems als auch in der Form, die sie ihrer Denkweise und ihrer Kritik an den Bolschewiki verleihen, die sie beschuldigen, die Weltrevolution vom Kreml aus dirigieren zu wollen.
Doch da ist mehr. Harper beweist in seinem philosophischen Exposé, dass Engels kein dialektischer Materialist war, sondern, was seine Auffassungen auf dem Gebiet des Wissens angeht, tief verhaftet war mit den Naturwissenschaften und dem bürgerlichen Materialismus. Um diese Theorie zu verifizieren, erfordert es eine Exegese von Engels’ Schriften, die Harper nicht geliefert hat, während Mondolfo in einem wichtigen Werk über den dialektischen Materialismus allem Anschein nach das Gegenteil beweisen will, was zeigt, dass dieser Streit nicht neu ist. Wie dem auch sei, ich glaube, dass die jungen Generationen in den ihnen vorausgehenden Generationen etwas sehen können, was wir auch bei Lenin oder bei Engels feststellen können, die die Philosophie ihrer Zeit auf der Grundlage desselben Niveaus der wissenschaftlichen Kenntnisse und mitunter zu schematisch kritisierten. Man sollte jedoch vor allem ihre allgemeine Haltung und nicht sie als Philosophen beurteilen, also zuerst sehen, ob sie sich in ihrer allgemeinen Haltung auf dem Feld der Praxis positionieren, der Thesen von Marx über Feuerbach.
In diesem Sinn muss man einräumen, dass das, was Sydney Hook über das Werk Lenins in „Understanding Marx“ sagt, der Realität weitaus näherkommt:
„Es ist merkwürdig, dass Lenin allem Anschein nach nicht die Unvereinbarkeit zwischen einerseits seinem politischen Aktivismus sowie der wechselseitigen, dynamischen Philosophie der Aktion von Was tun? und andererseits der absolut mechanischen Erkenntnistheorie bemerkte, die er in Materialismus und Empiriokritizismus so heftig verteidigte. Hier folgt er Wort für Wort Engels’ Behauptung, dass ‘Empfindungen die Kopien sind, die Fotos, das Spiegelbild der Dinge’ und dass der Geist kein aktiver Faktor in der Erkenntnis sei. Er scheint zu glauben, dass, argumentiert man für die Beteiligung des Geistes als ein aktiver Faktor in der Erkenntnis, bedingt durch das Nervensystem und der gesamten Geschichte der Vergangenheit, daraus folgen muss, dass der Geist alles erschafft, was existiert, einschließlich seines eigenen Gehirns. Das wäre Idealismus in seiner charakteristischsten Gestalt, und Idealismus heißt Religion und Gottglaube.
Doch der Übergang von der ersten zur zweiten Aussage ist der unlogischste, den man sich vorstellen kann. In Wirklichkeit musste Lenin im Interesse seiner Auffassung vom Marxismus als Theorie und Praxis der sozialen Revolution einräumen, dass Bewusstsein eine aktive Sache ist, ein Prozess, in dem Materie, Kultur und Geist wechselseitig miteinander reagieren, und dass die Wahrnehmungen nicht die Erkenntnis bilden, sondern ein Bestandteil des Materials sind, aufgearbeitet von der Erkenntnis.
Dies ist die Position, die Marx in seinen Thesen über Feuerbach und in Die deutsche Ideologie einnimmt. Wer immer die Empfindungen als exakte Kopien der äußeren Welt betrachtet, die von sich aus zur Erkenntnis führen, kann nicht Fatalismus und Mechanismus vermeiden. In Lenins politischen Schriften findet man keine Spur dieser Locke’schen, dualistischen Erkenntnislehre. Sein Was tun? enthält, wie wir gesehen haben, eine aufrichtige Zustimmung zur aktiven Rolle der Klassenerkenntnis im gesellschaftlichen Prozess. Es sind seine praktischen Schriften, die sich mit den konkreten Problemen der Agitation, Revolution und Rekonstruktion befassen, in denen man die wirkliche Philosophie Lenins findet...“ (Understanding Marx, Sydney Hook, eigene Übersetzung)[4]
Ein beredtes Zeugnis und der wahrste Ausdruck für das, was Sydney Hook sagt, der Harper in dieselbe Ecke wie Plechanow und Kautsky stellt, ist dieses anschauliche Zitat aus Trotzkis Mein Leben.
Auf Plechanow zu sprechen kommend, sagt er: “Ihn untergrub gerade das, was Lenin stark machte: das Nahen der Revolution (...) Er war Propagandist und Polemiker des Marxismus, aber nicht revolutionärer Politiker des Proletariats. Je unmittelbarer die Revolution herannahte, um so ersichtlicher verlor Plechanow den Boden unter den Füßen.“ (Trotzki, Mein Leben, Der Parteikongreß und die Spaltung)
Man sieht also, dass es weniger die philosophische These Harpers ist, die originell ist (sie ist im Gegenteil eine Auffassung, die vor ihm schon andere hatten), sondern vielmehr die Schlussfolgerung, die er zieht.
Diese Schlussfolgerung ist eine fatalistische Schlussfolgerung von der Art Kautskys. Kautsky zitiert in seiner Broschüre Rosa Luxemburg und der Bolschewismus einen Satz, den Engels ihm in einem persönlichen Brief geschrieben hatte:
„... die wirklichen, nicht illusorischen Aufgaben einer Revolution werden immer infolge dieser Revolution gelöst...“ (Engels an Kautsky, 7.2.1882, MEW, Bd. 35, S. 269)
Dies ist es, was uns Kautsky in seiner Broschüre beweisen möchte, dies ist es, womit Harper in Lenin als Philosoph argumentiert (für jene, die ihm in seinen Schlüssen folgen wollen). Und nachdem er den bürgerlichen Materialismus bei Lenin und bei Engels bekämpft hat, gelangt er zu einer noch vulgäreren mechanischen Schlussfolgerung über die Russische Revolution: „zwangsläufiges Produkt“, „wirkliche, nicht illusorische Aufgaben“. Die Russische Revolution habe erzeugt, was sie erzeugen musste – es stehe alles geschrieben in Materialismus und Empiriokritizismus und in den ökonomischen Bedingungen; das Weltproletariat sei schlicht als ideologischer Deckmantel für all dies benutzt worden. Mehr noch, Pannekoek argumentiert, dass die neue Klasse an der Macht in Russland ganz natürlich die Denkweise des Leninismus, seinen bürgerlichen Materialismus in ihrem Kampf gegen die etablierten bürgerlichen Schichten verinnerlicht habe, die auf philosophischer Ebene in den religiösen Kretinismus, den Mystizismus und Idealismus zurückgefallen sowie konservativ und reaktionär geworden seien. Dieser frische Wind, diese neue Philosophie der staatskapitalistischen Klasse, der Intelligenz und der Techniker, finde ihren Daseinsgrund im Empiriokritizismus und im Stalinismus und erlebe in allen Ländern einen „Aufstieg“, etc., etc.
So haben wir folgende Gleichung:
Marx’ erste Phase = Lenins Empiriokritizismus = Stalin!!!
Ohne Harper zu kennen, hat Burnham dies sehr gut begriffen, so wie zahllose Anarchisten diese Gleichung gerne endlos wiederholen, ohne sie verstanden zu haben. Es ist offensichtlich, dass Harper dies nicht ganz so brutal sagt, doch die Tatsache, dass er all den Schlussfolgerungen der bürgerlichen Apologeten und der Burnham’schen Anarchisten Tür und Tor öffnet, reicht aus, um den konstitutiven Makel seines Lenin als Philosoph aufzuzeigen.
Wenn er sich schließlich dazu veranlasst sieht, die „rein proletarischen“ Lehren aus der Russischen Revolution zu ziehen (ich möchte darauf hinweisen, dass Harper und Kautsky stets von der „russischen“ Revolution und selten von der „Oktoberrevolution“ sprechen, was ein bedeutsamer Unterschied ist), und wenn er diese „rein proletarische“ Lehre zieht, indem er die Handlungen der russischen Arbeiterklasse vom „bürgerlichen Einfluss der Bolschewiki“ trennt, dann sagt er letztendlich, dass die Generalstreiks und Sowjets „per se“ die russische Revolution erzeugten und dass sie uns folgende positive Lehren bringen:
1) Das Proletariat muss sich ideologisch „Mensch für Mensch“ vom bürgerlichen Einfluss losmachen.
2) Es muss nach und nach lernen, die Fabriken zu leiten und die Produktion zu organisieren.
3) Die Generalstreiks und die Räte sind die ausschließlichen Waffen des Proletariats.
Und es stellt sich heraus, dass diese Schlussfolgerung eine raffinierte Art von Reformismus und darüber hinaus völlig anti-“dialektisch“ ist.
Das „Mensch für Mensch“-Losmachen von der bürgerlichen Ideologie würde, selbst wenn es realisierbar wäre, den Sozialismus letztendlich um Jahrhunderte hinauszögern und die marxistische Doktrin wie eine schöne Legende erscheinen lassen, die man den Kindern der Proletarier erzählt, um ihnen Mut zu machen, sich dem Leben zu stellen. Wenn jeder Mensch sich individuell von der herrschenden Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft befreien muss, dann ist der Marxismus nichts anderes als eine Idee – eine ewig gültige Idee, aber nicht mehr. In Wirklichkeit kann es nur der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit unter bestimmten historischen Bedingungen gelingen, sich davon zu befreien und leidenschaftlicher als sonst in eine Auseinandersetzung mit dem alten System zu treten. Der Sozialismus kann nicht „Mensch für Mensch“ verwirklicht werden, nach Art der alten Reformisten, die glaubten, sie könnten „erst den Menschen reformieren, ehe sie die Gesellschaft reformieren“, sind doch beide nicht voneinander zu trennen. Die Gesellschaft verändert sich, wenn die Menschheit in Bewegung gerät, um diese Veränderung zu bewirken; und das Proletariat gerät in Bewegung nicht „Mensch für Mensch“, sondern „wie ein einziger Mensch“, wenn es sich unter den entsprechenden historischen Bedingungen befindet.
Die Tatsache, dass Harper in einer scheinbar neuen Form das alte, dumme Zeug der Reformisten wiederholt, erlaubt ihm, mit philosophisch-dialektischer Phrasendrescherei die Probleme, die Hauptachsen der Russischen Revolution wegzuzaubern und sie in die Versenkung der „Gründe des russischen Staates“ verschwinden zu lassen, um die wirklichen Probleme der Russischen Revolution zu vertuschen, um ihre fundamentalen Beiträge als nichts anderes als Gründe für den russischen Staat abzulehnen. Es handelt sich um die Position Lenins gegen den Krieg und um Trotzkis Theorie der permanenten Revolution.
Oh ja, meine Herren Kautsky und Harper, man mag mit einer rein negativen Kritik der philosophischen und ökonomischen Theorien Lenins und Trotzkis zuweilen ins Schwarze treffen, aber dies heißt nicht, dass man dadurch eine revolutionäre Position erlangt. Mit ihren politischen Positionen in der entscheidenden Aufstandsphase der Russischen Revolution waren Lenin und Trotzki wahrhaftige marxistische Revolutionäre.
Es reicht nicht aus, zwanzig Jahre nach der Schlacht, an der man sich selbst in vorderster Front beteiligt hatte, die philosophische Schlussfolgerung zu ziehen, dass all dies im stalinistischen Staat enden musste, und zu sagen, dass das Eine das Produkt des Anderen sei. Man muss sich auch fragen, wie und warum Lenin und Trotzki sich auf die internationale Arbeiterbewegung stützen konnten, und uns offen sagen, ob der Stalinismus das unweigerliche Produkt dieser Bewegung ist.
Harper wie auch Kautsky sind nicht in der Lage, uns darauf zu antworten, weil ihre politischen Positionen gegenüber der Bourgeoisie im imperialistischen Krieg oder in einer sich im Aufwind befindlichen revolutionären Periode keine Konzepte haben, die allein es ihnen gestatten würden, sich diesen Problemen anzunähern. Sie mögen Lenin als „Philosoph“ oder als „Staatschef“ kennen, doch sie nehmen Lenin nicht als marxistischen Revolutionär wahr, als das wahre Gesicht Lenins angesichts des imperialistischen Krieges und das wahre Gesicht Trotzkis angesichts einer mechanischen Auffassung der „unvermeidlich“ kapitalistischen Entwicklung Russlands. Sie kennen nicht das wahre Gesicht des Oktobers, der nicht nur aus den Massenstreiks, auch nicht allein aus den Sowjets bestand; Sowjets, denen Lenin nicht bedingungslos anhing (wie Harper), weil er der Meinung war, dass die Formen der Macht des Proletariats spontan aus seinem Kampf hervorgehen. Und hierin, glaube ich, war Lenin ebenfalls marxistischer, weil er sich weder an die Sowjets noch an die Gewerkschaften noch an den Parlamentarismus (selbst wenn er sich täuschte) auf definitive Weise band, sondern auf eine Weise, die sich dem Momentum des Klassenkampfes anpasste.
Wohingegen die quasi theologische Anhänglichkeit Harpers an seinen Räten in dieser Hinsicht gleichsam die Form der Mitbestimmung der Arbeiter im kapitalistischen Regime annimmt, als eine Ausbildung in Sozialismus. Es ist nicht die Rolle der Revolutionäre, eine Ausbildung dieser Art zu machen. Mit dieser Ausbildung „Mensch für Mensch“ in der Theorie des Sozialismus ist die Menschheit dazu verdammt, auf ewig versklavt und entfremdet zu sein, mit oder ohne Räte, mit oder ohne „Rätekommunisten“ und ihren Ausbildungsmethoden im Fach Sozialismus unter kapitalistischem Regime, dem gewöhnlichen Reformismus, der Kehrseite der Kautskyanischen Münze.
Was den „eigentlichen“ Klassenkampf mit seinen „geeigneten Mitteln“ wie den Streik etc. betrifft, so hat man das Ergebnis gesehen. Es kommt der Theorie der Streikkultur der heutigen Trotzkisten und der Anarchisten sehr nahe, die gegenwärtig die alte Tradition der „Gewerkschafter“ und der „Wirtschaftsexperten“ aufrechterhalten und die von Lenin in Was tun? so scharf kritisiert worden waren. Dies bedeutet, dass die antigewerkschaftliche Position der „Rätekommunisten“, vom rein negativen Standpunkt aus betrachtet korrekt, nicht weniger falsch „an sich“ ist, weil die Gewerkschaften durch ihre Brüderchen, die Sowjets, ersetzt werden, die dieselbe Rolle spielen. Man glaubt, dass man nur den Namen wechseln muss, um den Inhalt zu verändern. Man nennt die Partei nicht mehr Partei, die Gewerkschaften nicht mehr Gewerkschaften, sondern ersetzt sie durch gleichartige Organisationen, die dieselbe Funktion ausüben, aber einen anderen Namen tragen. Auch wenn man eine Katze „Tiger“ nennt, so wird sie für uns immer noch dieselbe Anatomie und denselben Platz in der Welt besitzen, abgesehen von den wenigen, für die sie zu einem Mythos geworden ist; es ist merkwürdig, dass „dialektische“ Philosophen und Materialisten den gleichermaßen verbohrten Geist und die gleichermaßen engstirnigen Ansichten haben, um uns dazu zu verleiten, ihre Welt der mythologischen Konstruktionen, eine Welt von „Tigern“ im Verhältnis zur Welt der Katzen, als neue Welt hinzunehmen.
Also: in der alten Welt war ein Kautsky ein gewöhnlicher Reformist, in der neuen Welt sind Trotzkisten, Anarchisten und Rätekommunisten „authentische Revolutionäre“; dabei sind sie viel oberflächlichere Reformisten als der scharfsinnige Theoretiker des Reformismus, Kautsky.
Die Tatsache, dass Harper auf die klassischen Argumente des bürgerlichen Reformismus, menschewistische und Kautsky’sche, zurückgreift (und unlängst das Aufeinandertreffen dieses Standpunktes mit dem Burnhams), kann nicht groß erstaunen. Statt zu versuchen, als Marxisten Lehren aus dieser revolutionären Epoche zu ziehen (wie Marx und Engels z.B., die die Lehren aus der Pariser Kommune gezogen hatten), möchte Harper die Russische Revolution und den mit ihr verbundenen Bolschewismus (ganz so wie der Blanquismus und Proudhonismus mit der Pariser Kommune verknüpft war) „in Bausch und Bogen“ verurteilen.
Harper kommt der Realität sehr nahe. Wenn er, statt die Bolschewiki zu verurteilen, sich dem „russischen Milieu“ angepasst zu haben, sich gefragt hätte, auf welchem geistigen Niveau sich diese Linke der Sozialdemokratie, von der alle abstammten, befunden hatte, hätte er ganz andere Schlüsse in seinem Buch ziehen müssen, weil er gesehen hätte, dass dieses Niveau (selbst bei den Fortgeschritteneren in Sachen Dialektik) nicht erlaubt hätte, einige Probleme zu lösen, auf die die Russische Revolution gestoßen war (die Probleme der Partei und des Staates), Probleme, von denen am Vorabend der Russischen Revolution kein Marxist eine genaue Vorstellung hatte (und dies aus gutem Grund).
Wir behaupten und versuchen es zu beweisen, dass es die Bolschewiki waren, die 1917 in der Gesamtheit des philosophischen, ökonomischen und politischen Kenntnisstandes die fortgeschrittensten Revolutionäre in der gesamten Welt waren, und dies zu einem großen Teil dank der Präsenz Lenins und Trotzkis.
Wenn die darauffolgenden Ereignisse dem zu widersprechen scheinen, so nicht wegen ihrer intellektuellen Entwicklung, die dem „russischen Milieu“ angepasst ist, sondern wegen des allgemeinen Niveaus der internationalen Arbeiterbewegung, was ebenfalls philosophische Fragen aufwirft, die Harper nicht einmal anschneiden möchte.
Philippe
[1] Siehe weiter unten die Zitate Kautskys über Die Lehre des westlichen Proletariats.
[2] In einer nächsten Ausgabe werden wir sehen, wie einer der Schüler Harpers, Canne Meijer, bedauerlicher- und traurigerweise zum gleichen Befund über den „Sozialismus als Utopie“ gelangt wie Burnham. Im Kern ist dies, mit noch mehr Geschwätz, auch die Schlussfolgerung der Gruppe Socialisme ou Barbarie und ihres Mentors Chaulieu-Castoriadis-Cardan.
[3] Folgende Zitate von Karl Kautsky aus: Der Kampf, Sozialdemokratische Monatsschrift, Wien, Februar 1922.
[4] Und dies zum „spezifisch russischen Milieu“ von Harper-Kautsky: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren. Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.“ (Marx, Thesen über Feuerbach, These 3)
Es gibt drei Wege, die russische Revolution zu betrachten.
a) Der erste ist der Weg der „Sozialisten“ aller Art, Linke, Rechte und das Zentrum, von Revolutionären und Co. (in Russland), von Unabhängigen und Konsorten woanders.
Vor der Revolution war ihre Perspektive: Die russische Revolution werde eine bürgerlich-demokratische Revolution sein, in der die Arbeiterklasse „demokratisch“ für „ihre Rechte und Freiheiten“ kämpfen dürfe.
All diese Herren waren neben ihrem Dasein als „aufrichtige, demokratische Revolutionäre“ glühende Verteidiger des „Volksrechtes, über sich selbst zu verfügen“, und endeten – über den Umweg eines Einbahn-Internationalismus, der im Pazifismus begann und zum Kampf gegen die Aggressoren und die Unterdrücker führte – in der Verteidigung der Nation. Diese Leute waren also „Moralisten“ im reinsten Wortsinn, da es ihnen nachdrücklich um DAS „Recht“ und DIE „Freiheit“ der Armen und Unterdrückten ging.
Als die erste Revolution, die vom Februar, losbrach, löste dies selbstverständlich einen Strom von Freudestränen und einen ausgelassenen Jubel über die Bestätigung der lang ersehnten heiligen Perspektiven, der heiligen Revolution aus.
Sie haben nur vergessen, dass der Anschub durch den allgemeinen Februaraufstand lediglich die Tür zum wahren Kampf zwischen den sich gegenüberstehenden Klassen öffnete.
Nachdem der Zar gestürzt war, bedeutete die sich in der alten Selbstherrschaft vollziehende bürgerliche Revolution die Verfaulung dieses Apparats und die Notwendigkeit, ihn beiseite zu schieben: Der Februar öffnete das Tor zum Kampf um die Macht.
In Russland selbst standen sich auf einmal vier Kräfte gegenüber:
1. die Autokratie, die feudale Bürokratie, die ein Land regierte, in dem das Großkapital erst in der Entstehung begriffen war;
2. die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum, das Großkapital, die Industriebosse und die intellektuelle Elite, mittelgroße Landbesitzer, etc.;
3. die große Masse der verarmten Bauernschaft, die der Leibeigenschaft kaum entronnen war;
4. die Intellektuellen und das Kleinbürgertum, die durch die Krise des Regimes und des Landes proletarisiert wurden, und das große Industrieproletariat.
Die „reaktionären“ Elemente (die Unterstützer des zaristischen Regimes) waren von der Unausweichlichkeit und Notwendigkeit der Einführung des großindustriellen Kapitalismus in Russland überzeugt und strebten nach nichts anderem, als die Verwalter und Gendarmen der ausländischen Großfinanz im Gegenzug für die Erhaltung eines für sie vorteilhaften gesellschaftlichen Status zu sein, für die Aufrechterhaltung eines imperialen bürokratischen Systems, die „Befreiung“ der Leibeigenen, die notwendig war, um die Industrie mit Arbeitskräften zu versorgen und um zu gewährleisten, dass die Bürokratie und der Adel eine strikte Kontrolle über die Mittelbauernschaft, die als eine Klasse von Pachtbauern betrachtet wurde, aufrechthielt.
Dies war offensichtlich bereis die „bürgerliche Revolution“. Doch die gesellschaftlichen Kräfte, die die Arena der Geschichte betraten, setzten sich über die Anliegen der Bürokratie hinweg. Das Kapital in Russland einführen bedeutete auf der einen Seite das Proletariat und auf der anderen Seite die kapitalistische Klasse, die sich nicht aus Kapitaleignern zusammensetzte, sondern als Gesellschaftsklasse in ihrer Gesamtheit effektiv die Industrie dirigiert und die Kapitalzirkulation verwaltet.
Der Kapitalimport hatte zur Konsequenz, dass den – im weitesten Wortsinn – führenden russischen Klassen all die enormen Entwicklungsmöglichkeiten vor Augen geführt wurden, die der Kapitalismus Russland bieten könnte.
So bildeten sich in diesen Klassen zwei ambivalente Tendenzen heraus: die erste, die Notwendigkeit, sich des ausländischen Finanzkapitals für die kapitalistische Entwicklung in Russland zu bedienen; die zweite, eine Tendenz zur nationalen Unabhängigkeit und somit dazu, sich vom Einfluss dieses Kapitals zu befreien.
Seit der Eröffnung des revolutionären Kurses verstanden die Länder, die Kapital in Russland investiert hatten wie Frankreich, England und noch zahlreiche weitere, vor allem die Gefahr vom Standpunkt der Interessen „ihres“ Kapitals. Nun wissen wir, dass die Mentalität der Besitzenden im Allgemeinen die Feigheit ist, die Angst und als Reaktion darauf die Entfesselung und Explosion der Gewalt, über die sie verfügt.
Diese Länder wussten sehr gut, dass eine demokratische Regierung ihre Interessen schützen würde, doch wie alle Kapitalisten sahen sie in der Installation irgendeines reaktionären Putsches die Möglichkeit, ihre Politik zu diktieren und Zugriff auf ein äußerst reiches Territorium zu haben. Die ausländischen Staaten spielten jede mögliche Karte aus, unterstützten allesamt Kerenski und Denikin, die reaktionären Banden und die provisorische Regierung, etc. Die Einen erhielten das Geld, die Waffen und die militärtechnischen Berater, die Anderen erhielten den „selbstlosen Rat“ von Botschaftern und anderen Konsuln. Mehr noch, durch dieses große Gezänk um die Macht machen sich mit immer größerer Heftigkeit die Kämpfe um den ausschlaggebenden Einfluss geltend, fallen sich die rivalisierenden Imperialismen, gestern noch einig, heute gegenseitig in den Rücken und schmieden Komplotte gegen den Verbündeten, etc.
Der adäquateste Begriff zur Charakterisierung der politischen Geographie dieser Periode, in der es von der ersten Revolution (Februar) zur zweiten (Oktober) ging, ist der Morast, das Chaos, das die zeitgenössische Geschichtsforschung erst zur Kenntnis zu nehmen beginnt, dank der Veröffentlichungen aller Geheimabkommen durch die bolschewistischen Regierung.
b) Der imperialistische Krieg selbst befand sich in der Sackgasse, die Leichen verwesten im Niemandsland, das die Schützengräben einer Front trennte, die sich durch ganz Ostdeutschland, Österreich-Ungarn und durch den Süden derselben Länder zog, ohne dass der Krieg im Begriff zu sein schien, einen Ausweg zu finden.
In diesem allgemeinen Chaos stand auf den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal eine kleine Gruppe für den revolutionären Internationalismus und beharrte auf der Notwendigkeit einer neuen revolutionären Arbeiterbewegung auf den Ruinen der Zweiten Internationalen.
Das Proletariat müsse vor allem seinen Internationalismus proklamieren, indem es in den Kampf tritt, der unter allen Umständen gegen die eigene Bourgeoisie geht, und im Blick behält, dass diese Bewegung nur eine internationale Bewegung des Proletariats sein kann, die, um die Realisierung des Sozialismus zu ermöglichen, sich auf die bürgerlichen Großmächte ausweiten muss.
Der einzige Unterschied, der zwischen Sozialdemokraten und dem Kern der künftigen Kommunistischen Internationale existierte, war dieser fundamentale Punkt: Die Sozialdemokraten meinten den Sozialismus durch die „fortschreitende Erweiterung der inneren Demokratie“ der Länder zu realisieren, und außerdem dachten sie, dass der Krieg ein „Unfall“ in der historischen Bewegung war und dass während des Krieges der Klassenkampf eingemottet werden müsse, um bis zum Sieg über den bösen Feind zu warten, damit sich dieser „Kampf“ „pazifistisch“ vollziehen könne.
(Es würde zu viel Platz erfordern, um auf die Manifeste der verschiedenen Parteien – Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre, etc. – in der Epoche des Krieges von 1914 bis 1917 und auf die Zeitungsauszüge dieser Parteien einzugehen, die für die russischen Truppen in Frankreich bestimmt waren und in denen der „Sozialismus“ mit wahrhaft revolutionärer Inbrunst verteidigt wurde.)
Die Linke, die sich nach den beiden Konferenzen in der Schweiz zu sammeln begann, hatte ihre solidesten Fundamente rund um die Persönlichkeit Lenins errichtet, der damals nicht von den ehemaligen Anhängern der bolschewistischen Partei, sondern selbst von der Linken fast vollständig isoliert war. Lenin verkündete wörtlich:
„Klassenkollaboration predigen, der sozialen Revolution und den revolutionären Methoden abschwören, sich am bürgerlichen Nationalismus anpassen, den veränderlichen Charakter von nationalen Grenzen und Ländern vergessen, einen Fetisch aus der bürgerlichen Legalität machen, die Vorstellung von Klassen und Klassenkämpfen leugnen aus Furcht, die ‘Volksmassen’ (d.h. das Kleinbürgertum) zu erschrecken – dies ist zweifellos die theoretische Grundlage des Opportunismus.“
„... Die Bourgeoisie missbraucht das Volk, indem sie über den imperialistischen Raubzug den Schleier der alten Ideologie vom „nationalen Krieg“ zieht. Das Proletariat entlarvt diese Lüge, indem es die Umwandlung dieses imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg proklamiert. Dies ist der in den Resolutionen in Stuttgart und Basel angedeutete Schlachtruf, die zwar nicht den Krieg im Allgemeinen, aber diesen gegenwärtigen Krieg antizipierten und die nicht von der ‘Verteidigung des Vaterlandes’ sprachen, sondern von der ‘Beschleunigung des Niedergangs des Kapitalismus’, von der Ausnutzung der vom Krieg verursachten Krise, indem sie auf das Beispiel der Kommune hinwiesen. Die Kommune war die Umwandlung des nationalen Krieges in einen Bürgerkrieg.“
„Solch eine Umwandlung ist nicht einfach und kann nicht von dieser oder jener Partei angeordnet werden. Doch dies entspricht präzise dem objektiven Zustand des Kapitalismus im Allgemeinen und seinem letzten Stadium im Besonderen. In diese Richtung, und nur in diese Richtung, müssen Sozialisten wirken. Nicht indem sie für Kriegskredite stimmen, nicht indem sie den Chauvinismus des eigenen Landes und dessen Verbündeten befürworten, sondern im Gegenteil indem sie vor allem den Chauvinismus der eigenen Bourgeoisie bekämpfen und indem sie sich weigern, sich auf legale Methoden einengen zu lassen, wenn die Krise offen zutage tritt und die Bourgeoisie selbst die von ihr geschaffene Legalität annulliert; dies ist die Marschrichtung, die zum Bürgerkrieg führt, zum Flächenbrand, der sich in ganz Europa ausbreiten wird...“
„… der Krieg ist kein Unfall, eine „Sünde“, wie die Pfaffen meinen (die den Patriotismus, die Menschlichkeit und den Frieden mindestens so gut wie die Opportunisten predigen), sondern eine unausweichliche Phase des Kapitalismus, eine kapitalistische Existenzform, die ebenso legitim ist wie der Krieg. Der gegenwärtige Krieg ist ein Völkerkrieg. Aus dieser Wahrheit folgt nicht, dass man dem „Volksstrom“ folgen müsse, sondern dass während des Krieges, angesichts des Krieges und unter allen Gesichtspunkten des Krieges die gesellschaftlichen Antagonismen, welche die Völker entzweien, weiter existieren und sich weiter ausdrücken …“
„... Nieder mit dem sentimentalen Gefasel, mit den idiotischen Seufzern nach ‘Friede um jeden Preis’! Der Imperialismus spielt mit dem Schicksal der europäischen Zivilisation. Wenn dem Krieg nicht Serien von siegreichen Revolutionen folgen, folgen ihm bald neue Kriege. Die Mär über den ‘Krieg zur Beendigung aller Kriege’ ist ein krudes, leeres Märchen, ein kleinbürgerlicher Mythos (um den sehr angemessenen Ausdruck von Golos zu benutzen).“
„Heute oder morgen, im oder nach dem Krieg wird das proletarische Banner des Bürgerkriegs hinter sich nicht nur Hunderte von Millionen bewusster Arbeiter scharen, sondern auch Millionen von Halb-Proletariern und Kleinbürgern, die gegenwärtig durch den Chauvinismus brutalisiert werden und die möglicherweise über die Schrecken des Krieges entsetzt und deprimiert sein werden, die aber vor allem alle für den Krieg gegen die Bourgeoisie – die Bourgeoisie ‘ihres’ Landes und der ‘ausländischen’ Länder – instruiert, aufgeklärt, aufgeweckt, organisiert, geprüft und vorbereitet werden...“
„... Die II. Internationale ist tot, bezwungen vom Opportunismus. Nieder mit dem Opportunismus, lang lebe die Internationale, die nicht nur von den ‘Abtrünnigen’ (wie Golos es will), sondern auch vom Opportunismus gereinigt ist. Lang lebe die III. Internationale!“
„Die II. Internationale hat ihre nützlichen Funktionen erfüllt (...) Es liegt nun an der III.Internationalen, die proletarischen Kräfte für eine revolutionäre Offensive gegen alle kapitalistischen Regierungen zu organisieren, für einen Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie in allen Ländern, um die Eroberung der Macht, für den Sieg des Sozialismus...“
Vergleicht man dies mit Marx, sieht man, wie viel Lenin im Gegensatz zu dem, was uns Harper glauben machen will, vom Marxismus verstanden hat und dass er gewusst hat, ihn im passenden Moment anzuwenden:
„…Es versteht sich ganz von selbst, dass, um überhaupt kämpfen zu können, die Arbeiterklasse sich bei sich zu Haus organisieren muss als Klasse, und dass das Inland der unmittelbare Schauplatz ihres Kampfs ist. Insofern ist ihr Klassenkampf, nicht dem Inhalt, sondern, wie das Kommunistische Manifest sagt, „der Form nach“ national. Aber der „Rahmen des heutigen nationalen Staats“, z.B. des Deutschen Reichs, steht selbst wieder ökonomisch „im Rahmen des Weltmarkts“, politisch „im Rahmen des Staatensystems“. Der erste beste Kaufmann weiß, dass der deutsche Handel zugleich ausländischer Handel ist, und die Größe des Herrn Bismarck besteht ja eben in seiner Art internationaler Politik.
Und worauf reduziert die deutsche Arbeiterpartei ihren Internationalismus? Auf das Bewusstsein, dass das Ergebnis ihres Strebens „die internationale Völkerverbrüderung sein wird“ – eine dem bürgerlichen Freiheits- und Friedensbund entlehnte Phrase, die als Äquivalent passieren soll für die internationale Verbrüderung der Arbeiterklassen im gemeinschaftlichen Kampf gegen die herrschenden Klassen und ihre Regierungen.“ (Kritik des Gothaer Programms, I. Teil, kurz vor Schluss)
Was diese Linke der Sozialdemokratie also von der gesamten Arbeiterbewegung unterschied, waren ihre politischen Positionen:
1. über den Begriff der Machtergreifung (den Zwist zwischen bürgerlicher Demokratie und Arbeiterdemokratie, wie sie in der Diktatur des Proletariats verwirklicht ist);
2. über den Charakter des Krieges und die Position der Revolutionäre in diesem Krieg.
Was den ganzen Rest, besonders die „ökonomische“ Organisation des Sozialismus betraf, so hielt man noch an der Parole der Verstaatlichung von Grund und Boden und der Industrie fest, so wie Viele politisch noch der Parole des „aufständischen Generalstreiks“ anhingen. Dessen ungeachtet ist es gut, daran zu erinnern, dass die sozialistischen Militanten eine sehr kleine Anzahl ausmachten, selbst in der Linken, die im Verlaufe des Krieges Lenins Positionen begriffen und sich anschließend während der Russischen Revolution, als die Theorie in Taten umgesetzt wurde, ihr angeschlossen hat.
Dies war so sehr der Fall, dass Kautsky in seinem Streit mit Lenin diese Seite des Problems mit keinem Wort erwähnte und dennoch, wie Lenin bemerkte, auf dem Basler Kongress Stellung für ähnliche und sehr fortschrittliche Positionen über die Arbeitermacht und über den Internationalismus bezogen hatte. Doch es reicht nicht aus, Resolutionen zu unterschreiben, wenn man nicht weiß, wie man sie in der Praxis anwendet. Erst an der Umsetzung der Theorie in die Praxis sieht man, wer wirklich ein Marxist ist. Der ganze Wert eines Plechanow oder Kautsky, respektable Männer in der sozialistischen Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts, fiel wie ein Kartenhaus zusammen angesichts dieser kleinen Gruppe von Bolschewiki, die ihre Theorien – zunächst über die Machtergreifung, dann über die Kriegsfrage, im Gegensatz zu den linken Sozialrevolutionären und der bolschewistischen Fraktion, die in der Brest-Litovsk-Frage für den „revolutionären Krieg“ war, und über die deutsche Offensive sowie den darauffolgenden Bürgerkrieg im Innern – in die Praxis übersetzen musste.
Darauf wartend, dass die Revolution sich international ausbreitet, konnte die Wirtschaft in Russland nur auf bürgerliche Weise organisiert werden, jedoch nach dem Modell des fortgeschrittensten Kapitalismus: des Staatskapitalismus.
Erst die ultimative Lösung der internationalen Revolution (die ihren internationalen Ausgang in den Positionen und im Beispiel der Bolschewiki nahm) ermöglichte eine Entwicklung und eine Transformation der Gesellschaft in Richtung Sozialismus. Abgesehen davon könnte man zig Beispiele von falschen Positionen desselben Lenins vor und nach der Revolution zitieren.
1905 erteilte Trotzki ihm in „Unsere Unterschiede“ eine harte Lektion, und es war die Synthese zwischen der Position Trotzkis in „Unsere Unterschiede“ und Lenins Position in „Was tun?“, die als Stellungnahme im Krieg diente. Nach der Machtergreifung wurden eine Menge Fehler auf beiden Seiten im inneren Kreis der Partei, von Lenin, Trotzki, etc. begangen. Es geht hier nicht darum, den Blick von diesen Irrtümern abzuwenden; wir werden in der Folgezeit und an anderer Stelle auf sie zurückkommen, wenn es vor allem um die „reinen Leninisten“ geht. Doch es ist eine Sache, die Lehren 30 Jahre nach dem Niedergang zu ziehen, wenn die ökonomischen Bedingungen sich geändert haben, wenn die Charakteristiken klarer geworden sind, und es ist eine ganz andere Sache, inmitten der Ereignisse, die sich auf anarchische und unvorhergesehene Weise darstellen, zu handeln. Heute kann man sagen, welches die Fehler der Bolschewiki gewesen sind, kann man die Russische Revolution als ein historisches Ereignis studieren, kann man überblicken, welche politischen Gruppen damals involviert gewesen sind, ihre Dokumente, ihre Aktivitäten etc. analysieren und studieren.
Doch waren damals die Bolschewiki, Lenin und Trotzki an der Spitze, mit all ihren rückständigen Positionen in einer Bewegung beteiligt, deren unmittelbarer Zweck es war, eine Bewegung in Richtung des Sozialismus zu sein? Wohin führten die Wege, die die Bolschewiki einschlugen? Oder jene, die von Kautsky oder von X, Y oder Z eingeschlagen wurden?
Wir antworten darauf, dass es nur eine Ausgangsbasis gibt, damit sich die Bewegung für den Weg zur sozialistischen Revolution entscheidet, und diese Basis haben allein die Bolschewiki in Russland (und noch nicht alle, ganz im Gegenteil) in den Vordergrund gestellt und angewendet. Es war diese Basis, die bewirkte, dass sie sich auf einen Klassenkampf einließen, dessen Ziel der Sturz des Kapitalismus auf internationaler Ebene war und in dem die allgemeinen politischen Positionen ganz reell zu diesem Sturz führten.
Abgesehen davon gäbe es viel über diese Grundlagen zu sagen, die den großen Linien des Aufbruchs der bolschewistischen Oktoberbewegung vorstanden, und die Diskussion, weit entfernt davon, beendet zu sein, beginnt im Gegenteil erst, doch sie muss zur Minimalgrundlage das revolutionäre Programm des Oktobers haben, das für eine ganze Epoche Gültigkeit besaß und die gesamte Erfahrung der Arbeiterbewegung der 30er Jahre prägte.
Die revolutionäre Bewegung, die sich 1917 in Russland ausbreitete, bewies durch die Resonanz, die sie in Deutschland ein Jahr danach auslöste, dass sie international war.
Anfang November 1918 erhoben sich die deutschen Matrosen, in ganz Deutschland verbreiteten sich Sowjets.
Doch einige Tage später wurde der Waffenstillstand unterzeichnet, einige Monate später verrichtete Noske sein Repressionswerk, schließlich, 1919 – als der erste Kongress der Kommunistischen Internationale (KI) abgehalten wurde und obwohl die große Bewegung, die durch die russisch-deutsche Revolution ausgelöst wurde, das Proletariat noch Jahre später im Bann hielt -, war der Höhepunkt der Revolution bereits überschritten, hatte sich die Bourgeoisie wieder gefangen, hatte der wiedergefundene Frieden den Klassenkampf Stück für Stück stumpf gemacht und zog sich das Proletariat ideologisch in dem Maße zurück, wie die deutsche Revolution in tausend Stücke zerschlagen wurde. Das Scheitern der deutschen Revolution ließ Russland isoliert zurück, so dass es gezwungen war, mit seiner Wirtschaftsorganisation fortzufahren und auf eine neue revolutionäre Welle zu warten.
Aber die Geschichte zeigt, dass die Revolution nicht scheibchenweise triumphieren kann. Die Russische Revolution war kein Teilsieg; da das finale Resultat der Bewegung, die sie entfesselt hatte, das Scheitern auf internationaler Ebene war, konnte der so genannte „Aufbau des Sozialismus“ in Russland nur ein Abbild dieser Niederlage der internationalen Arbeiterbewegung sein.
Dass die KI ihre Kongresse in Moskau abhielt, deutete bereits an, dass die Revolution zu einem Halt gekommen war; diese Niederlage spiegelte sich mit jedem neuen Kongress wider, der einen weiteren Rückzug der internationalen Arbeiterbewegung markierte, auf theoretischer Ebene in Moskau, physisch in Berlin.
Von neuem befanden sich die Revolutionäre in der am meisten ausgegrenzten Minderheit. Die Kommunistische Internationale nach dem Ersten und Zweiten Kongress und die Kommunistischen Parteien erlebten wie so viele andere „sozialistischen“ Parteien, Arbeiterparteien und andere, wie sich ihre Ideologie Stück für Stück verbürgerlichte.
Doch neben diesem Rückzug der Arbeiterbewegung traten zwei markante Phänomene auf: eine degenerierte Arbeiterpartei hütete die Staatsmacht für sich allein, und der Kapitalismus trat 1914 in eine neue Ära ein und stürzte in der Folgezeit in innere Krisen von bisher ungekannten Ausmaßen.
Das ist, denken wir, die Analyse dieser beiden Phänomene, die allein die Italienische Fraktion der Kommunistischen Linken (die zwischen 1933 bis 1938 BILAN publizierte, deren Titel allein schon Programm ist) auf klare Weise herausgearbeitet hat und die die Erweckung einer neuen revolutionären Arbeiterbewegung hätte ermöglichen sollen.
c) Angesichts dieser Degeneration der Arbeiterbewegung, angesichts der Entwicklung des modernen Kapitalismus, angesichts des stalinistischen russischen Staates und angesichts der Probleme, die sich in den Aufständen der Sowjets stellten, gibt es eine dritte Position, die darin besteht, sich nicht mit zu tiefen Untersuchungen des historischen und politischen Wie und Warum der vergangenen dreißig Jahre anzustrengen und stattdessen alles einem „Sündenbock“ in die Schuhe zu schieben. Die Einen wählten Stalin zum „Sündenbock“ und fabrizierten den Anti-Stalinismus, der sie zur Kriegsteilnahme im amerikanischen „demokratischen“ Lager führte; die Anderen wählten irgendein „Steckenpferd“. Das „Steckenpferd“ variiert je nach Bedürfnis der politischen Mode. 1938-1942 war es Mode, den Faschismus für den Krieg und die Degeneration der Gesellschaft verantwortlich zu machen, die eigentlich der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems insgesamt geschuldet waren. Heute ist es der Stalinismus, der als „Sündenbock“ dient. Und so blühen die Theorien und die Theoretiker auf: Burnham gegen die Bürokratie, Bettelheim dafür, Sartre und die „Freiheit“ und die ganze Clique von bezahlten Schriftstellern der politischen Parteien der Bourgeoisie und des modernen Journalismus verkommener Karrieristen. Harpers Beschuldigungen gegen den „Leninismus“, dessen „unweigerliches Produkt der Stalinismus“ sei, ist nur ein weiteres Beweisstück auf der Liste und ein Versuch, die Anderen zu überbieten.
Zu einer Zeit, als der „Marxismus“ seine größte Krise durchleidet (wir hoffen nur, dass es eine Wachstumskrise ist), fügt Harper nur ein Stück mehr Konfusion hinzu, von der es bereits zuviel gibt.
Wenn Harper behauptet:
„Aber nein; von einer Klassenbestimmtheit der Ideen bemerkt man bei Lenin nichts. Die theoretischen Gegensätze hängen bei ihm in der Luft. Natürlich kann eine theoretische Ansicht nur mit theoretischen Argumenten kritisiert werden. Wo aber die gesellschaftlichen Konsequenzen mit solcher Heftigkeit in den Mittelpunkt gestellt werden, sollte der gesellschaftliche Ursprung der theoretischen Anschauungen nicht außer Acht gelassen werden. Diese wesentlichste Seite des Marxismus besteht offenbar für Lenin nicht.“ (Lenin als Philosoph, aus: Die Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution, Germinal, 2008, S. 354), – geht er über eine bloße Schlussfolgerung, über eine Polemik, einen sprachlichen Exzess hinaus. Harper ist einer dieser zahlreichen Marxisten, die im Marxismus mehr eine philosophische und wissenschaftliche Methode in der Theorie sahen, aber im astronomischen Elfenbeinturm der Theorie verharrten, ohne sie jemals auf die historische Praxis der Arbeiterbewegung anzuwenden. Für diese „Marxisten“ war die „Praxis“ auch nur ein Objekt der Philosophie, aber kein treibender Faktor.
Gibt es keine Philosophie, die man dieser revolutionären Periode entnehmen könnte?
Gewiss doch. Ich sage sogar, dass man als Marxist Philosophie nur aus einer historischen Bewegung beziehen kann, um daraus die Lehren für die Nachwelt der historischen Bewegung zu ziehen. Doch was macht Harper? Er philosophiert über die Philosophie Lenins, indem er sie aus ihrem historischen Zusammenhang reißt. Wenn dies alles wäre, würde dies schlicht dazu führen, eine Halbwahrheit zum Ausdruck zu bringen. Und obwohl er diese Schlussfolgerung, diese Halbwahrheit in einem historischen Kontext anwenden will, unterzieht er sich nicht einmal der Mühe, diesen zu untersuchen. Hier liefert er uns den Beweis, dass er es nicht besser, sondern schlechter macht als Lenin in „Materialismus und Empiriokritizismus“. Er sprach über den Marxismus und führte dies in seiner Position zum Problem der Erkenntnis vor. Es gäbe noch viel darüber zu sagen, was Harper gesagt hatte; es muss vor allem gesagt werden, dass sich der Hauptaspekt in der Position zum Problem der Praxis und der Erkenntnis für den Marxismus nicht außerhalb des unmittelbar politischen Aspektes festmachen lässt, der die „Praxis“, d.h. die Entwicklung des revolutionären Denkens und Handelns, wahrhaft revolutionär macht!!! Harper wiederholt wie eine Litanei: „Lenin war kein Marxist!! Er hat nichts vom Klassenkampf verstanden!!!“, und es stellt sich heraus, dass Lenin Punkt für Punkt den Lehren von Marx in der Entwicklung seines politischen, revolutionären, praktischen Denkens folgte.
Der Beweis, dass Lenin die Lehren des Marxismus verstanden und auf die Russische Revolution angewendet hat, ist im „Vorwort“ von Lenin zu den „Briefen von Marx an Kugelmann“ enthalten, wo er auf die Lehre zurückkommt, die Marx aus der Pariser Kommune gezogen hat; es gibt also noch eine weiter kuriose Analogie zwischen dem Text Lenins, den wir zitiert haben, und der oben stehenden Passage aus Marx’ „Kritik des Gothaer Programms“.
Lenin und Trotzki befinden sich voll auf der Linie des revolutionären Marxismus. Sie sind seinen Lehren Schritt für Schritt gefolgt. Die Theorie der „permanenten Revolution“ von Trotzki ist nichts anderes als die Lehre aus dem Kommunistischen Manifest und dem Marxismus ganz allgemein, aus seiner nicht-degenerierten Seite: Die Russische Revolution gibt im Übrigen die Schemata getreu wieder und hält sich an diesem Marxismus. Harper und all die anderen Marxisten haben eine Sache vergessen: Ist die gültige Perspektive der Revolutionen im 19. Jahrhundert, in der Ära des aufsteigenden Kapitalismus, der gerade endete, als die Russische Revolution abhob, auch in der degenerierenden Phase dieser Gesellschaft hinreichend?
Lenin hat sehr wohl die neue Perspektive verbreitet, indem er über eine Periode der „Kriege und Revolutionen“ sprach; Rosa hat sehr wohl die Idee entwickelt, dass der Kapitalismus in eine neue Epoche, in die Epoche der Degeneration eingetreten ist, was die KI und in ihrem Gefolge die ganze trotzkistische Arbeiterbewegung sowie die andere Linksopposition nicht daran hinderte, an der antiquierten Perspektive festzuhalten oder sie wiederaufzugreifen, wie Lenin dies nach dem Scheitern der deutschen Revolution getan hatte. Harper geht sicher davon aus, dass es eine neue Perspektive gibt, aber er hat mit seiner Analyse Lenins und mit ihm der Russischen Revolution bewiesen, dass er wie viele andere nicht imstande ist, sie weiterzuentwickeln, und hat sich in einem Haufen vager oder falscher Erwägungen wie viele andere vor ihm verloren.
Es ist kein Zufall, dass es die Erben eines Teils des ideologischen Gepäcks von BILAN waren, die ihm antworteten, wie sie im Übrigen anderswo auch den reinen „Leninisten“ antworteten.
Beide Seiten, die Befürworter und die Gegner Lenins, vergessen eins: Auch wenn die Probleme von heute nur im Lichte der Probleme der Vergangenheit verstanden werden können, sind sie dennoch anders.
Philippe
Links
[1] https://de.internationalism.org/files/de/internationale_revue_54.pdf
[2] https://de.internationalism.org/tag/6/1314/internationale-revue-nr-54
[3] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/vereinigte-staaten
[4] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/populismus
[5] https://de.internationalism.org/tag/6/1292/trump
[6] https://de.internationalism.org/tag/6/1296/usa
[7] https://de.internationalism.org/tag/3/54/zerfall
[8] https://de.internationalism.org/tag/2/31/der-parlamentarische-zirkus
[9] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/teil4.htm
[10] https://de.internationalism.org/tag/6/1303/100-jahre-russische-revolution
[11] https://de.internationalism.org/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1917-russische-revolution
[12] https://de.internationalism.org/tag/3/45/kommunismus
[13] https://de.internationalism.org/tag/2/26/proletarische-revolution
[14] https://de.internationalism.org/tag/6/1307/lenin-als-philosoph
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