Am 3. September 2004 wurde furchtbare Gewissheit, dass es in Beslan, einer kleinen Stadt im Kaukasus, bei dem Geiseldrama in einer Schule zur brutalen Ermordung von über 340 Menschen gekommen ist. Dass darunter über 150 Kinder waren, beweist, dass dieser Terrorakt von unglaublichem Menschenhass getragen, eine Zuspitzung der allgemeinen Gewaltspirale bedeutet. Nach der unmittelbaren Lähmung nach diesem schrecklichem Drama --solche Dramen werden leider zusehends eine Alltagserscheinung des Kapitalismus - drängen sich die ersten Fragen auf. Dieser Terrorakt der tschetschenischen Geiselnehmer ist eindeutig im Zusammenhang mit dem jahrelangen Tschetschenienkrieg zu sehen.
Der Krieg Russlands ist aufs Schärfste zu verurteilen. Doch auch die Seite der tschetschenischen Terroristen. Sie sind keine Freiheitskämpfer. Wer gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpft, wählt nicht die Methoden der Ausbeuter und Unterdrücker. Man wird selbst das, was man bekämpft. Es gibt zu zahlreiche Beispiele aus der jüngeren Geschichte, die aufzeigen, dass eine siegreiche nationale Befreiungsbewegung den Menschen nicht die ersehnte "Freiheit" und den Wohlstand gebracht hat. Vielmehr ist die Zerstörung und die Armut durch die Jahre des Krieges noch größer geworden, wie z.B. in Vietnam. In Tschetschenien sieht es nicht anders aus.
Beslan veranschaulicht aber auch etwas anderes: die westlichen Demokratien zeigen ihre heuchlerische Lügenfratze. Stets wird in großen Reden die Bedeutung der Moral und der Menschenwürde beschworen. Die ganze Doppelmoral der herrschenden Klasse brachte Kanzler Schröder glanzvoll zur Geltung, als er einerseits das Geiseldrama als unmoralisch in Bausch und Bogen verurteilte, sich andererseits aber demonstrativ hinter Putin stellte, als er an den offensichtlich irregulären Wahlen in Tschetschenien nichts auszusetzen fand. Was verdeutlicht dies?
Dass es nur und ausschließlich die politischen Interessen der jeweils herrschenden Klasse sind, die bestimmen, ob etwas unmoralisch und verurteilbar ist, oder, ob "nichts Ungewöhnliches feststellbar" sei, wie Schröder sich gegenüber der russischen Handhabung des "tschetschenischen Problems" äußerte. Sprich, dass Deutschland, wie in diesem Fall, Russland geradezu ermuntert, seinen menschenverachtenden "Krieg gegen den Terrorismus" fortzusetzen. Beispielsweise deswegen, um die Opposition gegen den Irakkrieg der USA zu stärken; oder, weil Berlin eine russische Beherrschung des Kaukasus lieber ist als eine amerikanische; oder, weil Deutschland wie die USA auch kein Interesse an dem Zerfall des russischen Zentralstaates haben können, der dann ein noch größeres Chaos auslösen würde. Während zur Zeit des Irakkrieges die sog. Friedensbewegung Deutschland im Vergleich zu den USA als geradezu als Friedensengel und Hüter der Menschlichkeit darstellte, zeigt hier auch die demokratische Bundesrepublik ihr wahres Gesicht. Die Heuchelei der herrschenden Klasse hat nichts mit der wahren Trauer und Empörung der arbeitenden Bevölkerung zu tun. Und nur die Arbeiterklasse kann eine Welt ohne Terror, Krieg und Ausbeutung errichten.
17.09.04 Ariane
Wir veröffentlichen nachfolgend einen Brief der IKS zur Arbeit der bestehenden linkskommunistischen Gruppen gegenüber einem neuen Milieu von Sympathisanten des revolutionären Proletariats in Deutschland. Dieser Brief ist zuallererst an das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP) gerichtet, das neben unserer eigenen Organisation die wichtigste international bestehende Gruppe ist, die das Erbe der Kommunistischen Linken vertritt. Aber der Brief richtet sich ebenso an eine Reihe von Gruppen und Diskussionszirkel in Deutschland selbst sowie an die Überreste der GIK in Österreich, denen wir eine Kopie des Briefes geschickt haben. Neben und über die oben erwähnten Gruppen hinaus möchte dieser Brief all diejenigen im deutschsprachigen Raum erreichen, die sich die Aufgabe stellen, die programmatischen und organisatorischen Errungenschaften der internationalistischen marxistischen Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert anzueignen. Deshalb veröffentlichen wir diesen Brief in unserer Presse, um eine möglichst große Zahl von Genossen mit unserem Vorschlag zu erreichen.
Mit dem Brief wollen wir die Tatsache unterstreichen, dass die bestehenden linkskommunistischen Gruppen eine gemeinsame Verantwortung gegenüber einer neuen Generation von Revolutionären haben, die heute in Deutschland auftauchen. Diese Generation ist in erster Linie nicht das Ergebnis des Wirkens des linkskommunistischen Milieus, sondern sie ist der weitestgehende Ausdruck einer breiten unterirdischen Bewusstseinsreifung, die in der Arbeiterklasse insgesamt stattfindet. In den letzten Jahren hat sich im deutschsprachigen Raum dieses politische Nachdenken insbesondere durch die Bildung von politischen Gruppierungen und Diskussionszirkeln konkretisiert, die sich damit befassen, sowohl authentische proletarische Positionen (über die bürgerliche Linke hinaus und gegen diese) als auch eine Intervention gegenüber der Arbeiterklasse zu entwickeln. Nichtsdestotrotz ist das Entstehen, die Entwicklung und vor allem die Zukunft dieser politischen Erscheinungen aus unserer Sicht untrennbar verbunden mit dem Wirken der bestehenden Organisationen der kommunistischen Linken wie der IKS und dem IBRP.
Erstens weil all diese Zirkel, Interventionsinitiativen und Diskussionsgruppen sich zu irgendeinem Zeitpunkt bei ihrer Suche nach proletarischen Klassenpositionen sich der Tradition der kommunistischen Linken als der einzig historischen Strömung zugewandt haben, die Schlussfolgenderungn aus den Klassenkämpfen des letzten Jahrhunderts gezogen hat, die sowohl konsequent internationalistisch als auch theoretisch kohärent sind. Auch wenn letzten Endes nicht alle diese Genossen notwendigerweise die Positionen der kommunistischen Linken übernehmen, haben sie alle erkannt, dass bei der Suche nach einer autonomen Antwort der Klasse gegenüber der Krise des kapitalistischen Systems dieses politische Erbe nicht ignoriert werden kann. In Wirklichkeit nämlich konnten in vielen Fällen viele dieser Genossen erst unter dem Einfluss der linkskommunistischen Gruppen - zuallererst dem der IKS, die als einziger Repräsentanten dieser Tradition in Deutschland lange etabliert ist - sich internationalistischen Positionen annähern.
Zweitens obwohl diese verschiedenen Gruppierungen und Initiativen ein Ausdruck und notwendiges Moment in dem Bewusstwerdungsprozess einer neuen Generation von Revolutionären sind, haben viele dieser neuen Genossen selbst schon erkannt, dass neben Klarheit Einheit eine Vorbedingung für einen erfolgreichen proletarischen Klassenkampf ist. Das heißt, dass das langfristige Ziel nicht die Verewigung und Multiplikation kleiner Gruppen und Kreise sein kann, sondern die Umgruppierung kommunistischer Kräfte. Für diese Genossen ist die Orientierung hin zu einer militanten Aktivität untrennbar verbunden mit einem Prozess, wo sie herausfinden müssen, welche der schon bestehenden historischen Gruppen die klarste Abgrenzung von der bürgerlichen Ideologie darstellt.
Deshalb meinen wir, dass die schon bestehenden revolutionären Organisationen die Verantwortung haben, den neu entstehenden Ausdrücken der Klasse bei dieser Aufgabe zu helfen, die gegenwärtig bestehenden internationalistischen Gruppen kennenzulernen, um besser zu begreifen, was sie gemeinsam haben und was sie unterscheidet. Wie sind der Auffassung, dass öffentliche Debatten das beste Mittel sind, um es diesen Genossen zu ermöglichen, eigenständig einzuschätzen, welche der bestehenden historischen Strömungen auf programmatischer und organisatorischer Ebene und hinsichtlich der Auffassungen von der Intervention gegenüber der Arbeiterklasse den kohärentesten, konsequentesten und entschlossensten Pol darstellt. Wir meinen, dass diese Aufgabe öffentlicher Klärung die gemeinsame Verantwortung der bestehenden proletarischen Organisationen und der neu entstehenden Gruppen und Elemente ist.
Dies ist übrigens keine ‚Entdeckung' der IKS: Alle großen Revolutionäre der Geschichte (Marx, Rosa Luxemburg, Lenin usw.), alle am meisten fortgeschrittenen und radikalsten Strömungen der Arbeiterbewegung, haben auf der Wichtigkeit öffentlicher Debatte und der öffentlichen Auseinandersetzung der Positionen bestanden. Gegenüber diesen Revolutionären und Strömungen war die Tendenz zur Flucht vor der offenen Debatte, der Praxis der ‚Geheimdiplomatie' und der ‚Einigungen im kleinen Kreis' das Kennzeichen der Strömungen, die von der Kleinbourgeoisie oder der Bourgeoisie geprägt waren wie die Anarchisten der geheimen Allianz Bakunins oder der Opportunisten à la Kautsky.
In der Geschichte der Arbeiterbewegung war es immer der Opportunismus, der aufgrund der Tendenz, proletarische Positionen mit denen anderer Klasse zu versöhnen, vor der öffentlichen Debatte geflüchtet ist. Der wahre Marxismus wiederum zeichnete sich nicht nur durch seinen radikalen Bruch mit dem Klassenfeind aus, sondern auch durch die tief verwurzelte Kohärenz seiner Positionen und der Konsequenz seiner Methode. Deshalb hat er nie öffentliche Debatten gefürchtet. Im Gegenteil, als der klarste Ausdruck der Klasse, die die Zukunft der Menschheit verkörpert, ist die marxistische Linke in ihrem Element, wenn immer es um Debatten geht. Der politische Kampf ist der Wesenskern seiner Existenz. Einer der grundlegenden Aspekte beim Kampf zwischen der marxistischen revolutionären Bewegung und dem Opportunismus ist der Gegensatz zwischen einer festen und leidenschaftlichen Überzeugung und einer lauen oder gar nicht vorhandenen Überzeugung. Weil sie zutiefst von ihren Positionen überzeugt sind, fürchten die revolutionären Marxixten nicht die Auseinandersetzung mit den Positionen anderer. Sie sind überzeugt, dass ihre Argumente am stärksten, entscheidendsten und .... überzeugendsten sind. Gerade weil es den opportunistischen Strömungen an Überzeugung mangelt, da ihre Positionen sich nicht auf feste Prinzipien stützen sondern auf ‚Gelegenheiten', die ihnen die Lage bietet, fürchten sie, ihre Positionen der Kritik der anderen Strömungen auszusetzen, und ziehen Ausweichmanöver und die ‚Geheimdiplomatie' vor.
Bis dato hat die IKS noch nicht auf unseren Vorschlag geantwortet, aber wenn es so tief von der Richtigkeit seiner Herangehensweise und Positionen überzeugt ist wie wir es sind, wird es keine Angst haben, sich diesem Test zu stellen, den solch eine Debatte bedeutet, und es wird auf unseren Vorschlag positiv antworten. Solch eine positive Antwort würde der Sache des Proletariats in einem der entscheidendsten Länder jeder zukünftigen Weltrevolution einen großen Dienst erweisen. IKS 17.09.04
Brief der IKS
An das Internationale Büro für die revolutionäre Partei (IBRP)
Kopie an: - Freunde der Klassenlosen Gesellschaft , - GIS, - Unabhängige Rätekommunisten, - Zirkel Bielefeld
- Zirkel Frankfurt, - Diskussionszirkel Rheinland , - R/Österreich
Werte Genossen!
Neulich hat das IBRP mehrere öffentliche Diskussionsveranstaltungen in Berlin abgehalten. Wie wir schon in unserer Presse gesagt haben, begrüßt die IKS die Durchführung solcher öffentlicher Diskussionsveranstaltungen, da damit in der größten deutschen Stadt die Positionen anderer internationaler Organisationen der Kommunistischen Linken Gehör finden können.
Wie alle Teilnehmer bemerkt haben, waren diese Treffen geprägt gewesen von einer Auseinandersetzung der Teilnehmer mit euren Positionen und denen der IKS. Ob man solch einen Zustand bedauert oder nicht, wir finden dies völlig normal, da es sich bei unseren beiden Organisationen um die größten Organisationen der Kommunistischen Linken handelt, und da diejenigen, die nach kommunistischer Klarheit suchen, sich irgendwann notwendigerweise gegenüber unseren jeweiligen Positionen positionieren müssen. Was die IKS angeht, bedauern wir diesen Zustand nicht. Im Gegenteil. Nur durch solch eine Auseinandersetzung mit den jeweiligen Argumenten können die neuen, suchenden Leute sich eigenständig mit Klarheit und Überzeugung entscheiden.
Bislang waren diese Auseinandersetzungen über unsere jeweiligen Positionen darauf zurückzuführen, dass die IKS Delegationen zu euren öffentlichen Veranstaltungen geschickt hat. Das große Interesse und die lebendige Beteiligung aller anderen Teilnehmer an der Debatte zwischen unseren beiden Organisationen bestätigen die politische Notwendigkeit einer solchen Auseinandersetzung. Natürlich ermuntern wir euch so stark wie möglich, auch zu unseren öffentlichen Diskussionsveranstaltungen in Deutschland, insbesondere in Köln, zu kommen, um damit die Möglichkeit einer Auseinandersetzung zwischen unseren jeweiligen Positionen zu vergrößern. Falls ihr zu unseren Treffen nach Köln kommt, werden unsere Genossen vor Ort euch selbstverständlich mit großem Vergnügen bei sich unterbringen und euch unsere Gastfreundschaft erweisen (bitte sagt uns einfach ein paar Wochen vorher Bescheid).
Dennoch erscheint uns solch ein Vorschlag immer noch als etwas, was hinter den Erfordernissen zurückbleibt, die sich durch das Auftauchen einer neuen Generation von Leuten in solch einem wichtigen Land wie Deutschland ergeben, und die auf sich auf die Kommunistische Linke orientieren. Deshalb schlagen wir euch die Organisierung von öffentlichen Debatten in Berlin und Köln vor (und gegebenenfalls später in anderen deutschen Städten). Bei diesen Diskussionsveranstaltungen können unsere beiden Organisationen ihre jeweiligen Positionen bezüglich einer vorher gemeinsam festgelegten Frage oder Thema darstellen. Wir denken, dass solch ein Rahmen (der keinesfalls die Möglichkeit ausschließt, dass unsere Organisationen jeweils weiterhin ihre eigenen Diskussionsveranstaltungen abhalten) der notwendigen Auseinandersetzung mit unseren Positionen nicht nur eine organisierte Form geben würde. In Anbetracht der suchenden Leute in Deutschland würde dies auch einen größeren Interessentenkreis ansprechen als die einfache Summe der Teilnehmer, die jeweils zu euren und unseren öffentlichen Diskussionsveranstaltungen kommen.
Schließlich meinen wir, dass selbst wenn es zur Gründung einer Sektion des IBRP in Deutschland kommen sollte - die eurer Presse zufolge scheinbar wahrscheinlich ist -, würden solche öffentlichen Debatten weiterhin notwendig sein, da die Anwesenheit von Mitgliedern des IBRP in Deutschland (genauso wie die Anwesenheit von IKS-Mitgliedern während der letzten Jahrzehnte) nicht die Fragen aus der Welt schaffen wird, die von einer Reihe von Leuten gestellt werden, die sich in Deutschland auf eine kommunistische Perspektive zubewegen.
In Erwartung euer Antwort schicken wir euch brüderliche kommunistische Grüße Die IKS 20.08.04
In letzter Zeit haben uns mehrere Sympathisanten angesprochen, um unsere Meinung zu Cajo Brendels Buch über Anton Pannekoek zu erfahren. Die deutsche Ausgabe dieses vor ca. 30 Jahren auf niederländisch geschriebenen Buches von Brendel ist 2001 im ¸a ira Verlag erschienen. Die Genossen, die uns darauf ansprachen, haben das Buch durchweg begrüßt und gelobt. Zum einen waren sie erfreut darüber, weil dadurch Pannekoeks Beitrag zum Marxismus einem breiteren deutschsprachigen Publikum wieder bekannt gemacht wird. Zum anderen waren sie daran interessiert, durch dieses Buch die Gedankenwelt Cajo Brendels näher kennenzulernen. Brendel gilt als der letzte Vertreter des sog. Rätekommunismus der Nachkriegsjahre in den Niederlanden. Diese politische Strömung, welche sich vornehmlich durch die Ablehnung einer spezifischen politischen Organisation der Revolutionäre auszeichnet, beruft sich gern auf Pannekoek als eine Art theoretischer Ziehvater.
Eine nützliche Einführung in das Werk Pannekoeks
Auch wir begrüßen das Erscheinen dieses Buches. Denn es bietet eine wertvolle Anregung, sich mit dem Lebenswerk eines der größten marxistischen Theoretiker des 20. Jahrhunderts zu befassen. Zwar gab es vor und nach dem 1. Weltkrieg eine besonders enge Zusammenarbeit und gegenseitige Beeinflussung der Revolutionäre in Deutschland und den Niederlanden. Pannekoek selbst lebte und wirkte einige Jahre lang in Deutschland. Er verfasste einige seiner wichtigsten Schriften ursprünglich auf Deutsch. Auch die meisten seiner anderen wichtigeren Schriften, mit Ausnahme seines Buches über die Arbeiterräte, sind ins Deutsche übersetzt worden. Doch die meisten dieser Ausgaben (von denen mehrere unter der Mitarbeit von Cajo Brendel erschienen) sind längst vergriffen und leider auch in Vergessenheit geraten. Brendels jetzt erschienenes Buch enthält eine nützliche Bibliographie der Bücher, Broschüren und Artikel Pannekoeks, von denen ein Teil durch öffentliche Bibliotheken angefordert oder auch im Internet abgerufen werden kann. Darüber hinaus fasst Brendel auch einige der Hauptideen in den Schriften Pannekoeks zusammen, welche dem Leser sonst unzugänglich geblieben wären, die des Holländischen nicht mächtig sind. So sind etwa die Kapitel Brendels "Betrachtungen über die Entstehung des Menschen und der Einfluß Josef Dietzgens", "Der Beitrag Pannekoeks zur Imperialismusdebatte" oder seine Beiträge zum Verständnis der Gewerkschaftsfrage unbedingt lesenswert. Auch die Ausführungen über die von Pannekoek angewandte wissenschaftliche Methode enthalten viel Wertvolles.
Pannekoek: Produkt und Vorkämpfer der organisierten Arbeiterbewegung
Keine Frage: Brendel kennt die Schriften sowie den Werdegang Pannekoeks wie kaum ein zweiter. Außerdem arbeitet er sehr gewissenhaft mit den vorhandenen Quellen. Und dennoch liefert Brendel teilweise ein sehr verzerrtes Bild des jahrzehntelangen Wirkens Anton Pannekoeks in der organisierten Arbeiterbewegung. Dies hängt mit der ahistorischen, unmarxistischen Sichtweise des "Rätekommunismus" zusammen. Die Folge: Pannekoek bleibt als Vorkämpfer der marxistischen Linken in einer Zeit des historischen Umbruchs im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts außen vor. Pannekoek als Produkt der organisierten Arbeiterbewegung wird überhaupt nicht sichtbar. Statt dessen präsentiert uns Brendel einen Pannekoek, der angeblich jahrelang Mitarbeiter einer bürgerlichen Reformbewegung war. Schon im zweiten Absatz der Einleitung zu seinem Buch (S. 9) behauptet Brendel, dass die Sozialdemokratie, welcher sich Pannekoek Ende des 19. Jahrhunderts anschloss, von Anfang an kein Ausdruck der Arbeiterklasse war. "In Wahrheit aber war sie doch nur der radikalste Flügel der sich konsolidierenden Bourgeoisie", behauptet Brendel. Er erweckt den Eindruck, als ob Pannekoek schon immer der einsame, nicht organisiert arbeitende Theoretiker gewesen sei, der er gegen Ende seines Lebens unter dem Eindruck der historischen Niederlage der Arbeiterbewegung tatsächlich wurde. Er zeichnet ein Bild des großen Theoretikers, das ihn als isoliertes Individuum darstellt, welches allein, im stillen Kämmerlein, seinen Beitrag zum Marxismus geleistet hätte. Und zwar so gut, dass seine angebliche Mitarbeit in einer bürgerlichen Organisation diesem Beitrag offensichtlich nichts anhaben konnte. Es entsteht der Eindruck, als ob Pannekoek mit seiner theoretischen Weiterentwicklung sich immer mehr aus der organisierten Arbeiterbewegung zurückgezogen habe, als ob er erkannt habe, dass sie per se bürgerlich und die theoretische Arbeit das Werk von Einzelnen ist. Dies scheint offenbar die Meinung Brendels zu sein. Die Auffassung Pannekoeks war es jedenfalls nicht. In seinen in Amsterdam während der deutschen Besatzungszeit bei Kerzenschein niedergeschriebenen Erinnerungen ("Herinneringen uit de arbeidersbeweging") schildert er sein Mitwirken an der damaligen Arbeiterbewegung keineswegs als eine Irrfahrt ins Klassenlager der Bourgeoisie. Vielmehr vertrat er die Ansicht, welche er bereits im Verlauf des 1. Weltkriegs - angesichts des Überlaufens der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften auf die Seite des Kapitals - dargelegt hat, dass die Massenorganisationen aus der Zeit der II. Internationale zunächst durchaus den Bedürfnissen eines bestimmten Zeitabschnitts des Arbeiterkampfes entsprachen. Die naive, ahistorische Annahme des späteren "Rätismus", die Kapitulation von Arbeiterorganisationen vor den Interessen des Kapitals sei Beweis genug dafür, dass diese Organisationen "schon immer" bürgerlich gewesen seien, teilte Pannekoek nicht. Kein Wunder, denn gerade Pannekoek lieferte eine der ersten und fundiertesten marxistischen Analysen des Opportunismus: das Phänomen der Anpassung proletarischer Organisationen an die Ideologie und an die Realität der bürgerlichen Gesellschaft, welche ihren späteren Verrat vorbereitet. In "Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung" (1), einem Standardwerk zu diesem Thema, führt Pannekoek den Opportunismus auf die Auflösung der dialektischen Einheit zwischen dem Endziel und der Bewegung der Arbeiterklasse zurück. Dabei zeigt er die fundamentalen Gemeinsamkeiten zwischen dem offen reformistischen und dem anarchistischen Opportunismus innerhalb der damaligen Arbeiterbewegung auf. Beide wollen den Klassenkampf ohne die wissenschaftliche Waffe des Marxismus führen. Beide verherrlichen die individuelle Freiheit und fühlen sich abgestoßen durch das kollektive Wesen des Arbeiterkampfes. Beide bringen die Ungeduld und die schwankende Haltung des Kleinbürgertums zum Ausdruck. Somit hat Pannekoek bereits 1909 die tieferen Wurzeln des späteren Verrats sowohl der Sozialdemokratie im 1. Weltkrieg als auch der CNT im Spanischen Bürgerkrieg aufgedeckt. Der spätere Rätekommunismus hingegen hat zwar die gesamte Sozialdemokratie vor 1914 (und damit auch ihren linken revolutionären Flügel) in Bausch und Bogen verurteilt, andererseits aber den Anarchismus als legitimen, wenn auch theoretisch schwachen Ausdruck des revolutionären Proletariats angesehen. Das kommt daher, dass dieser Rätismus vom Schlage eines Cajo Brendels selbst eine Spielart des Opportunismus innerhalb der Arbeiterbewegung darstellt - und zwar eine Art "Zentrismus", d.h. eine schwankende Haltung zwischen Marxismus und Anarchismus.
Weit entfernt davon, abgeschieden von der Arbeiterbewegung seine Weltsicht auszuarbeiten, bildete sich der große Theoretiker Pannekoek in und durch die politischen Kämpfe der Arbeiterklasse heraus. Neben Rosa Luxemburg war er der leidenschaftlichste und tiefsinnigste Vertreter der Position der revolutionären Linken in der sog. Massenstreikdebatte, gegen das "Zentrum" um Kautsky, innerhalb der deutschen Arbeiterpartei. Zusammen mit Lenin, Trotzki und anderen Vertretern der internationalen Linken bezog Pannekoek Stellung gegen den um sich greifenden Opportunismus, welcher bestritt, dass die revolutionären Lehren aus dem Massenstreik von 1905 in Rußland allgemeine, weltweite Gültigkeit besaßen. Im Verlauf dieser Debatte war Pannekoek - wie Lenin später in "Staat und Revolution" anmerkte - der erste, der die von Marx und Engels aus der Erfahrung der Pariser Kommune gezogenen Lehren von der Notwendigkeit der vollständigen Zertrümmerung des bürgerlichen Staates wiederherstellte. Wenn Pannekoek in seiner 1912 in der "Neuen Zeit" erschienenen Polemik gegen Kautsky - "Massenaktion und Revolution" - gegen die Auffassung Stellung bezog, dass die Arbeiterpartei und ihre Kriegskasse bzw. die Gewerkschaftskasse reiner Selbstzweck seien, der sogar das Ausweichen vor dem Kampf rechtfertigen würde, tat er dies keineswegs aus Geringschätzung gegenüber dem Kampf um die Organisation und ihrer Finanzierung, sondern als ein Parteigenosse, welcher bereits in den Niederlanden die besonders verantwortliche Stellung des Schatzmeisters bekleidet hatte. "Die Organisation des Proletariats", schrieb er, "die wir als sein wichtigstes Machtmittel bezeichnen, ist nicht zu verwechseln mit der Form der heutigen Organisationen und Verbände, worin sie sich unter den Verhältnissen einer noch festen bürgerlichen Ordnung äußert. Das Wesen dieser Organisation ist etwas Geistiges, ist die völlige Umwälzung des Charakters der Proletarier."(2)
Dieser Kampf gegen den Opportunismus vor 1914 gehört zu den größten Leistungen Pannekoeks. Er führte diesen Kampf als aktiver Bestandteil der organisierten Arbeiterbewegung in Holland, in Bremen, als Mitarbeiter der Parteischule in Deutschland, als Vordenker der linken Opposition innerhalb der 2. Internationale. Und im Rahmen dieses Kampfes entwickelte er seine Grundüberzeugungen über die marxistische Methode, vertiefte er sein Verständnis der proletarisch-materialistischen Auffassung, wobei er auf den großen Beitrag Dietzgens hinwies, und entwickelte Fragen der Philosophie sowie der Ethik weiter.
Der zweite große Kampf, welchen Pannekoek führte, war die Verteidigung des proletarischen Internationalismus im 1. Weltkrieg. In enger Zusammenarbeit mit den deutschen Spartakisten, den russischen Bolschewiki und anderen Internationalisten gehörte Pannekoek, wie sein nicht weniger berühmter niederländischer Mitstreiter Herman Gorter, zu den Wegbereitern der Oktoberrevolution in Russland, des Kampfes um die Rätemacht in Europa und der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationalen.
Doch der vielleicht wichtigste Beitrag Pannekoeks zum Marxismus war sein Mitwirken bei der Ausarbeitung der Konsequenzen des Eintritts des Kapitalismus in seine Niedergangsphase für die Kampfbedingungen des Proletariats. Indem er besonders klar erkannte, dass der Parlamentarismus sowie die Gewerkschaften keine Bühne des Klassenkampfes mehr sein konnten, wurde er einer der bedeutendsten Vordenker der Kommunistischen Linken. Aber auch diesen Beitrag leistete er nicht allein, sondern als Mitstreiter im Kampf der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) sowie der sich formierenden Tradition der "deutsch-holländischen Linken" gegen den wachsenden Opportunismus innerhalb der Kommunistischen Internationalen, vor allem innerhalb der russischen und der deutschen Partei.
Pannekoeks Regression zu einem sterilen Anti-Leninismus als Folge der Konterrevolution
Im Gegensatz hierzu gehören die späteren politischen Werke Pannekoeks wie "Lenin als Philosoph" (1938) oder "Die Arbeiterräte" (1946) trotz mancher Vorzüge theoretisch zu seinen schwächeren Leistungen. In den Augen von Cajo Brendel und anderer "Rätisten" hingegen stellen diese Werke die Krönung des Pannekoekschen Lebenswerks dar. Brendels Schilderung eines sich stets fortentwickelnden Pannekoeks, der sein Weltbild ununterbrochen perfektionierte und dessen Sicht gegen Ende seines Lebens immer klarer wird, bleibt nicht ohne Reiz. Brendel führt diese angebliche Vervollkommnung außerdem auf die stete Fortentwicklung des Arbeiterkampfes sowie des Kapitalismus zurück. "Dass die Ergebnisse seiner Analyse verschieden ausgefallen sind, je nach dem Zeitpunkt, zu dem er sie vornahm, liegt nicht an dieser Methode, auch nicht an ihm, der sich ihrer bediente, sondern an der Tatsache, dass der Kampf der Arbeiter so wie das kapitalistische System nun einmal durch eine große Dynamik gekennzeichnet sind." (S. 14) Hier erblickt man erneut die große Schwäche von Brendels Analyse. Erstens verläuft der Prozess der Höherentwicklung selten geradlinig. Zweitens zeichnete sich die Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert nicht so sehr durch eine vorwärts gerichtete "Dynamik" als vielmehr durch einen Rückfall in die Barbarei aus. Drittens wurde die "Dynamik" des Klassenkampfes nach der Niederlage der proletarischen Revolution Anfang der 20er Jahre jahrzehntelang durch die längste Konterrevolution der Geschichte unterbrochen. All das hatte schwerwiegende Konsequenzen für die politische Entwicklung Pannekoeks. Zum einem ist es besonders schwer, in einer Zeit der allgemeinen Niederlage der Arbeiterklasse dem Druck der bürgerlichen Ideologie standzuhalten. Zum anderen löste Pannekoek in dieser Zeit der Niederlage tatsächlich allmählich seine Verbindung zur organisierten revolutionären Bewegung auf. Da aber die proletarische theoretische Arbeit, wie der Arbeiterkampf insgesamt, einen zutiefst kollektiven Charakter aufweisen, führte seine wachsende Isolierung zwangsläufig zu einem gewissen theoretischen Rückschritt Pannekoeks gegenüber bestimmten Fragen. Hier gibt es einige Parallelen zwischen Pannekoek und Amadeo Bordiga, dem Begründer der Tradition des "italienischen Linkskommunismus". Beide sind der Sache des Proletariats bis zu ihrem Lebensende treu geblieben. Beide betrieben ihre theoretische Arbeit im Verlauf der 30er und 40er Jahre in zunehmender Isolation. Beide vollzogen dabei in gewissen Fragen eine theoretische Regression, welche bei Bordiga mit einem sterilen Rückgriff auf eine Leninsche "Orthodoxie", bei Pannekoek mit einem ebenso sterilen "Anti-Leninismus" einhergingen.
Während Pannekoek zurecht in seiner Schrift "Lenin als Philosoph" darauf hinwies, dass Lenin in seinem 1908 verfassten Werk "Materialismus und Empiriokritizismus" den Unterschied zwischen bürgerlichem und proletarischem Materialismus ungenügend begriffen hatte, war es mehr als an den Haaren herbeigezogen, daraus schlusszufolgern, dass Lenin ein bürgerlicher Politiker gewesen sei, und dass die damals bevorstehende Revolution in Russland notwendigerweise eine bürgerliche Revolution werden müsse.
Cajo Brendel übernimmt natürlich dieses Argument. Schließlich handelt es sich bei der Ablehnung des proletarischen Charakters der Oktoberrevolution um die Frage, wo die "Rätekommunisten" sich am meisten berechtigt sehen, sich zumindest auf den späteren Pannekoek berufen zu können.
Doch gerade hier springt die Armseligkeit der Argumentationslinie sowohl von Brendel wie von Pannekoek von 1938 förmlich ins Auge. Denn das ungenügende Verständnis des proletarischen Materialismus war vor 1914 kein ausschließlich russisches Phänomen, sondern weit verbreitet innerhalb der damaligen II. Internationalen. Pannekoek selbst hat stets und zu Recht eine der Ursachen dieses Unvermögen in einer ungenügenden Würdigung der Bedeutung Hegels durch die damalige Arbeiterbewegung erblickt. Doch gerade Lenin hat sich am Vorabend der russischen Revolution vertieft mit Hegel befasst. Genau so wie Marx, bevor er den ersten Band des Kapitals schrieb, besann sich Lenin auf die Methode Hegels, bevor er Staat und Revolution verfasste. Sowohl "Das Kapital" wie "Staat und Revolution" stellen daher Musterbeispiele der Anwendung der dialektisch-materialistischen Methode des Proletariats dar.
Das andere Hauptargument von "Lenin als Philosoph" war, dass es im Russland von 1917 noch bedeutende Überreste des Feudalismus bzw. der zersplitterten Kleinproduktion gab. Doch dies traf auch auf Deutschland zu, wo die Bourgeoisie bis November 1918 die Macht mit dem preußischen Militäradel teilen musste. Ja, im Grunde wurde die Macht der Krautjunker innerhalb des deutschen Militärs erst unter den Nationalsozialisten gebrochen.
Tatsächlich stellte die Annahme, dass man zuerst in jedem einzelnen Land die Aufgaben der bürgerlichen Revolution gewissermaßen zu Ende führen müsste, bevor man zur proletarischen Revolution übergehen könne, eine alte Konfusion innerhalb der Arbeiterbewegung vor 1917 dar. So stand es auch im alten Programm der Bolschewiki geschrieben, worauf sich die Mehrheit des Zentralkomitees der Partei nach dem Sturz des Zarenregimes im Februar 1917 berief, um die "Duldung" der linksbürgerlichen, "provisorischen" Regierung und die "kritische Unterstützung" der Fortsetzung des imperialistischen Krieges zu rechtfertigen.
Es waren Lenins berühmte "Aprilthesen" von 1917, die diese letztendlich nationale Sichtweise verwarfen. In ihnen wies Lenin nach, dass die proletarische Revolution nicht erst dann zur Notwendigkeit wird, wenn alle Aufgaben der bürgerlichen, "demokratischen" Revolution erledigt sind, sondern dann auf die geschichtliche Tagesordnung kommt, wenn die weltweiten Widersprüche des Kapitalismus einen bestimmten Reifegrad erreicht haben.
Dass Pannekoek diese Lehre später vergaß, kann nur im Zusammenhang mit der Enttäuschung und Konfusion auf Grund der Niederlage der Weltrevolution und des Absterbens der Revolution in der isolierten russischen Bastion verstanden werden. Schließlich war Pannekoek (wie auch Rosa Luxemburg bis zu ihrer Ermordung 1919) noch Anfang der 1920er Jahre ein zwar kritischer, aber stets leidenschaftlicher Befürworter der russischen Oktoberrevolution.
Dennoch muss man feststellen, dass Pannekoek sich selbst weniger klar als beispielsweise Lenin darüber war, dass die Oktoberrevolution in Russland nur als Auftakt, als Anstoß zur proletarischen Revolution in Europa verstanden werden konnte. Durch das Ausbleiben der Revolution in Westeuropa enttäuscht und entmutigt, überschätzte er maßlos die Rolle Russlands nicht nur in der Durchführung der Revolution, sondern noch mehr beim Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft. Während Lenin und Trotzki im proletarischen Russland v.a. eine ausgehungerte, ohne die Rettung durch eine baldige Weltrevolution hoffnungslos ausgelieferte Bastion sahen, setzte Pannekoek Anfang der 20er Jahre seine Hoffnungen umgekehrt auf die illusorische Perspektive, dass der Ausbau einer kommunistischen Wirtschaftsordnung im Osten die Klassenherrschaft der Bourgeoisie im Westen untergraben würde. In seiner ansonsten großartigen Schrift "Weltrevolution und kommunistische Taktik", welche eine erste bedeutende Kritik des wachsenden Opportunismus der Bolschewiki enthält, schreibt hierzu Pannekoek:
"Zur selben Zeit, als Westeuropa mühsam sich aus seiner bürgerlichen Vergangenheit emporringt, wirtschaftlich stagniert, blüht im Osten, in Russland, die Wirtschaft in der kommunistischen Ordnung empor. (...)
Inzwischen erhebt sich im Osten die Wirtschaft unbehindert im kräftigen Aufschwung, eröffnet neue Wege, sich stützend auf die höchste Naturwissenschaft - die der Westen nicht zu gebrauchen weiß - vereint mit der neuen Sozialwissenschaft, der neu gewonnenen Herrschaft der Menschheit über ihre eigenen gesellschaftlichen Kräfte. Und diese Kräfte, hundertfach gesteigert durch die neuen Energien, die aus der Freiheit und Gleichheit entsprießen, werden Russland zum Zentrum der neuen kommunistischen Weltordnung machen." (Hervorhebung durch die IKS).
Um diese völlig irreale, Russland-fixierte Sichtweise zu untermauern, welche die marxistischen Lehren über den internationalen Charakter der Revolution vergisst, unternimmt der Pannekoek von 1920 sogar einen Ausflug in die Natur. "Es besteht sogar ein dementsprechendes Gesetz in der organischen Natur, das als Gegenstück zu Darwins ‚das Überleben der Passendsten' mitunter als ‚survival of the unfitted', das ‚Überleben der Nichtangepassten' bezeichnet wird." (4)
Die Tatsache, dass Pannekoek seine ursprüngliche Unterstützung der russischen Revolution später revidierte und den Oktober 1917 im Nachhinein als bürgerliche Revolution bezeichnete, muss sicherlich als Reaktion auf die stalinistische Konterrevolution verstanden werden. Doch gewisse Wurzeln dieser Fehler waren bereits 1920 in der marxistisch unhaltbaren Erwartung angelegt, dass in der belagerten Festung Russland auf Dauer etwas anderes blühen könnte als Not und Niedergang. Die theoretischen Rückschritte, welche diese falsche Analyse mit sich brachte, waren gravierend. Zum einem wurde das Verständnis getrübt, welche alle echten Revolutionäre 1917 teilten, dass der Kapitalismus nunmehr ein niedergehendes Gesellschaftssystem geworden war, so dass allein die proletarische Revolution auf der Tagesordnung stand. Zum anderen öffnete die Infragestellung der proletarischen Oktoberrevolution Tür und Tor für die Idee, dass die gesamte Arbeiterbewegung, welche in den Jahrzehnten zuvor die Oktoberrevolution vorbereitet hatte, ebenfalls bürgerlich war. Diesen Weg, welchen Bilan, das Organ der italienischen Linken Anfang der 30er Jahre, als eine Art "proletarischen Nihilismus" bezeichnete, ging Pannekoek zwar nicht, aber seine späteren rätistischen Epigonen beschritten ihn ohne Bedenken.
Doch diese Schwächen schmälern die Bedeutung Pannekoeks und seine Relevanz für heute nicht grundlegend. Im zweiten, abschließenden Teil dieses Artikels werden wir nachweisen, welch tiefer Gegensatz zwischen Pannekoeks marxistischer Sicht der aktiven Rolle der Theorie und der revolutionären Begeisterung im Klassenkampf sowie dem platten, ökonomistischen Vulgärmaterialismus eines Cajo Brendels besteht. Urs
(1) Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung. Reprint Verlag. 1973.
(2) Massenaktion und Revolution. In "Die Massenstreikdebatte." Europäische Verlagsanstalt. 1970. S. 274.
(3) Lenin als Philosoph. Europäische Verlagsanstalt. 1969.
(4) Weltrevolution und kommunistische Taktik. 1920. Wiederveröffentlicht in Pannekoek, Gorter: Organisation und Taktik der proletarischen Revolution. Verlag Neue Kritik. 1969. S. 157f
Arbeitslose und Beschäftigte aller Länder:
Kämpft gegen die Logik des Kapitals!
Als 1989 die stalinistischen Regime Osteuropas fielen, brach damit einer der schlimmsten Feinde der Arbeiterklasse zusammen. Der Stalinismus: Das war die Konterrevolution in Russland und weltweit, welche die Arbeiterklasse im Namen des Sozialismus ausbeutete und massakrierte, welche im Namen des proletarischen Internationalismus den Einflussbereich des "sowjetischen" Imperialismus ausdehnte. Mehr als jede andere Lüge, welche die Kapitalistenklasse je verbreitet hat, trug die Behauptung, dass der Stalinismus irgend etwas mit Sozialismus oder mit der Sache der Arbeiterklasse zu tun habe, entscheidend dazu bei, das Prinzip des Klassenkampfes und die Perspektive einer klassenlosen, wirklich menschlichen Gesellschaft zu diskreditieren.
Trotzdem war 1989 kein Sieg der Arbeiterklasse, sondern eine Sternstunde der Ideologie der herrschenden Klasse. Zwar hatten die Arbeiter Osteuropas sich Jahrzehnte lang immer wieder gegen den Stalinismus erhoben. Bereits in den Arbeitslagern Stalins gab es riesige Erhebungen der Strafgefangenen. 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1970 und 1980 in Polen usw. fanden Massenstreiks der Arbeiter statt. Doch 1989 spielte die arbeitende Bevölkerung als Klasse, als eigenständige gesellschaftliche Kraft, überhaupt keine Rolle. Leider war es nicht das Proletariat, welches seinem Todfeind den Todesstoß gab. Der Stalinismus brach zusammen, u.a. weil seine besonders starre, bürokratische, ineffiziente Form des Staatskapitalismus im internationalen Konkurrenzkampf unterlegen war.
Als im Herbst 1989 die Bevölkerung Leipzigs auf die Straße ging, waren natürlich viele Arbeiter darunter. Doch der Ruf, welcher auf diesen ersten "Montagsdemos erklang, lautete: "Wir sind das Volk". Das bedeutet, dass man sich nicht als Lohnabhängige wehrte, indem man die eigenen wirtschaftlichen, materiellen Interessen mit politischen Forderungen wie der Befreiung der politischen Gefangenen oder dem Sturz des Regimes verband - wie dies 1953 in der DDR zumindest anfangs der Fall gewesen war. Statt dessen demonstrierte man als Bürger der bestehenden Gesellschaft, die Dinge einfordern, die in der bürgerlichen Gesellschaft eigentlich selbstverständlich sind, und im "Westen" längst jedem Bettler, der auch Staatsbürger ist, zugestanden werden: Reisefreiheit, "freie Wahlen" und dergleichen mehr. Das waren Forderungen, womit auch die Bundesregierung in Bonn oder die Bildzeitung sich anfreunden konnten. Sie reagierten darauf mit dem Versprechen von Wohlstand für alle Staatsbürger: "Deutschland einig Vaterland". So war es nur folgerichtig, dass auf den darauf folgenden "Montagsdemos" aus dem "Wir sind das Volk" die Parole: "Wir sind ein Volk" erwuchs. Der Nationalismus ist einer der Grundideologien der kapitalistische Gesellschaft. Es lässt glauben, dass alle Staatsbürger eines Landes, egal welcher Klasse sie angehören, gemeinsame Interessen haben und zusammen eben "das Volk" bilden. Damals, 1989, gaukelte man der Bevölkerung der DDR vor, sie könnten dem Abwärtssog der kapitalistischen Krise entrinnen, welche damals bereits nicht nur die sog. Dritte Welt, sondern auch Osteuropa auf furchtbare Weise mit sich riss, indem sie sich nicht als Arbeiter, sondern als Deutsche wehren.
1989, mit dem Bankrott des Stalinismus, erhielt die Idee, dass der Kommunismus und der Gedanke des Klassenkampfes "tot" seien, enormen Auftrieb. Die Arbeiterklasse existierte zwar weiterhin. Die Ausbeutung der Lohnarbeit blieb die Grundlage der Gesellschaft. Und die Arbeiter sahen sich weiterhin mit Lohnabbau und sozialer Unsicherheit konfrontiert. Aber man fühlte sich subjektiv nicht mehr als Arbeiter. So wehrte man sich in den Jahren nach 1989 nur wenig gegen die Angriffe des Kapitals. Und wenn man es tat, dann mit dem Gefühl, sich nicht als Teil einer Klasse, sondern als Krankenschwester oder Bergarbeiter, als "Wessi" oder als "Ossi" zu wehren. Sozusagen als eine berufsmäßige und regionale "Lobby", wie andere Lobbys in der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft auch. Neben dem Nationalismus ist die Demokratie die zweite Grundideologie des Kapitalismus. Soll heißen: wenn die Mehrheit der Einzelinteressen und Gruppenlobbys das Gefühl haben, sich nicht genügend Geltung verschaffen zu können, dürfen sie die Medienaufmerksamkeit auf sich ziehen und die Regierung abwählen. "Wir sind das Volk!"
Die Kapitalistenklasse hat mit Leibeskräften mitgewirkt bei dieser Auflösung der Arbeiterklasse ins Volk. Und sie hat sich riesig darüber gefreut. Denn das Proletariat ist nur so lange machtlos, wie es die eigene Identität vergisst oder verliert. Wehrt sich das Proletariat aber als Ganzes, realisiert es die Gemeinsamkeit der Interessen aller Lohnabhängigen, entwickelt es seine Solidarität im Kampf als Vorbote einer künftigen Gesellschaft, die nicht mehr auf Konkurrenz, sondern auf menschlicher Gemeinschaft ruht, dann kann es eine gewaltige Kraft werden.
Doch seit 1989 haben sich die Zeiten geändert. Die kapitalistische Wirtschaftskrise hat sich derart verschärft, dass sich selbst in den hochentwickelten westlichen Industriestaaten eine wirkliche Massenarmut ausbreitet. Der Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise beginnt sichtbar zu werden. Zur Zeit stehen zwei massive Angriffe im Mittelpunkt, welche sich gegen alle Lohnabhängigen richten. Der eine Angriff ist "Hartz", welcher die Erwerbslosen zum Paupers reduziert, und die Erpressbarkeit der Beschäftigten enorm erhöht. Der andere Angriff ist die Erpressung der Beschäftigten in den Großbetrieben der Metallindustrie, zunächst bei Siemens und Daimler, jetzt auch bei Opel und VW, um auf breitester Front immer längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich durchzusetzen und ähnliches durchzusetzen.
Diese Zuspitzung der Krise und die Massivität der Angriffe, welche sich gleichzeitig gegen alle Lohnabhängige richten, werden - über kurz oder lang -unweigerlich das Bewusstsein der Betroffenen wieder zum Leben erwecken, einer eigenen Klasse anzugehören, die mit dem Kapital in Feindschaft lebt, deren Lebensinteressen mit denen des Kapitals letztendlich unvereinbar sind. Der Kampf bei Daimler in diesem Sommer, wo die Arbeiter im Werk Bremen gegen ihre Kollegen in Stuttgart ausgespielt werden sollten, sich statt dessen aber mit diesen Kollegen solidarisierten, zeigt bereits das erste Aufkeimen eines solchen Klassenbewusstseins.
Um dies zu verhindern, versucht man jetzt, den Geist der Montagsdemos von 1989 wieder zu beleben. Wieder geistert die Parole "Wir sind das Volk" durch die Medien. Wieder soll sich das Prinzip des Klassenkampfes - Lohnarbeit gegen Kapital - in einen dumpfen, populistischen, nationalen und demokratischen Zusammenschluss der Ausbeuter mit den Ausgebeuteten auflösen.
Wir wissen: Die Forderungen der Montagsdemos von 2004 sind nicht mehr die von 1989. Die Forderung "Weg mit Hartz" ist eine wirkliche Klassenforderung, so fern sie jede Verschlechterung der Lebenslage der Lohnabhängigen ablehnt. Heute können die Herrschenden es nicht mehr verhindern, dass die Betroffenen sich gegen die Angriffe zu empören beginnen. Aber weitaus mehr als vor dieser Empörung fürchten sich die Herrschenden vor dem Klassenbewusstsein der Betroffenen. Empörung ohne Bewusstsein, ohne Verstand, lässt sich ohne weiteres missbrauchen. Die Arbeiter bei Daimler-Chrysler kämpften noch mit dem Bewusstsein, einen "Dammbruch" in der Frage der verlängerten Arbeitszeiten verhindern zu wollen und somit nicht nur für ihre eigenen Belange, sondern für die aller Arbeiter zu streiten. Mittels der Montagsdemos wird die berechtigte Empörung gegenüber der Hartz-Gesetzgebung missbraucht, und die gegenwärtigen, großen Schwierigkeiten der Erwerbslosen sich zu wehren, ausgenutzt, um Ressentiments zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen, v.a. aber zwischen Ost und West zu schüren sowie um einen dumpfen Nationalismus zu verbreiten. Statt Klassenkampf rückt der Wahlkampf in den Vordergrund. "Das Volk" darf durch "Protestwahlverhalten" seinen Unmut artikulieren. Für wen es stimmt, spielt dabei keine Rolle. Denn darin sind sich alle Staatsparteien einig: Der Standort Deutschland muss fit gemacht werden für den sinnlosen, zerstörerischen kapitalistischen Konkurrenzkampf. Und das kann immer nur geschehen auf Kosten der Lohnsklaven.
Durch eine letzte, "nationale" Demo in Berlin - die auch noch am 2. Oktober, also am Vorabend des "Tages der deutschen Einheit" stattfinden soll - sollen die Proteste gegen Hartz wahrscheinlich zu Grabe getragen werden. Es wäre wünschenswert, wenn damit auch die Illusionen absterben würden, dass man als Teil "des Volkes", im Schulterschluss mit den Lokalpolitikern etwa, oder mit dem Wahlzettel in der Hand etwas für die Arbeiter erreichen werden.
Am selben Tag wie in Berlin findet in den Niederlanden ebenfalls eine Großdemo gegen die brutale Streichung der Arbeitslosenunterstützung statt. Zur selben Zeit werden die Beschäftigten von VW und Opel ebenso brutal erpresst. Die Probleme, aber auch die Interessen der Arbeiter, sind überall die gleichen. Diese Interessen lassen sich tatsächlich längst nicht mehr mit denen des Kapitals vereinbaren. Die Solidarität der Arbeiterklasse muss alle Lohnabhängigen, ob beschäftigt oder erwerbslos, erfassen. Die Solidarität der Arbeiterklasse ist international. Sie muss die ganze Menschheit erfassen, indem sie für die Zukunft der Menschheit einsteht. Nur der gemeinsame Kampf aller Arbeiter kann die herrschende Klasse das Fürchten lehren sowie eine neue, solidarische Perspektive für die Gesellschaft eröffnen. 17.09.04
"Nicht Einheit, sondern Klarheit über alles. Durch unerbittliche Aufdeckung und Austragung der Differenzen zur prinzipiellen und taktischen Einmütigkeit und damit zur Aktionsfähigkeit und damit zur Einheit, so geht der Weg..." (Liebknecht, Febr. 1916, Spartakusbrief, S. 112).
Vor einiger Zeit sind in Deutschland Gruppen aufgetaucht, die allesamt aus der kapitalistischen Linken stammen. Wir haben in unserer Presse regelmäßig über deren Positionen und Entwicklungen berichtet.
Ob die aus dem Trotzkismus hervorgegangenen Gruppen wie ‚Gruppe Internationale Sozialisten' (GIS), die ‚Initiative Linkskommunismus' (IniLK), die ‚Unabhängigen Rätekommunisten' (UK) oder die Leute um die Zeitung ‚Aufbrechen' (zuvor Proletarisches Komitee, mittlerweile sind einige ihrer Mitglieder in ‚Freunde der klassenlosen Gesellschaft' aktiv), die z.T. dem Maoismus entstammen. Sie alle haben schon vom Zeitpunkt ihrer Gründung an einige Positionen der Kommunistischen Linken übernommen.
Gegenüber dem Balkankrieg Ende der 90er Jahre oder gegenüber dem Afghanistan- und Irakkrieg bezogen diese Gruppen eine unzweideutige internationalistische Stellung und lehnten eine Unterstützung der jeweiligen Kriegsparteien ab. Während bis in die späten 1980er Jahre hinein in Deutschland nur ganz wenige Internationalisten zu vernehmen waren, da nahezu alle Gruppen nationale Befreiungsbewegungen und vor allem den bürgerlichen Antifaschismus unterstützten, und diese Leute oft internationalistische Gruppen wie die IKS an der Verteidigung des Internationalismus durch Androhung von Gewalt hindern wollten, spiegelt die Verwerfung des Antifaschismus und die Ablehnung der nationalen Befreiungsbewegungen eine wichtige Bewusstseinsentwicklung wider, wie überhaupt das Entstehen dieser Gruppen ein Zeichen einer unterirdischen Reifung in der Klasse darstellt. Zudem berufen sich all diese Gruppen auf den Kommunismus und widersetzen sich somit der Propaganda der herrschenden Klasse, die uns besonders seit 1989 einzutrichtern versucht, der Kommunismus sei tot. Wenn diese Gruppierungen, ungeachtet all der Differenzen untereinander, diese Positionen einnehmen, dann ist dies auch eine deutliche Bestätigung der Analyse und der Politik der Kommunistischen Linken.
Wie die Narben der Vergangenheit ablegen?
Nachdem diese Gruppen jedoch Positionen der Kommunistischen Linken entdeckt und teilweise übernommen haben, weil sie spüren, dass ihre althergebrachten linkskapitalistischen Positionen (wie der oben erwähnte bürgerliche Antifaschismus, die nationalen Befreiungsbewegungen, oder auch die parlamentarische Wahlbeteiligung) nichts mehr taugen, stehen sie vor der Frage, welche tiefgreifenden Konsequenzen sich eigentlich aus der Übernahme linkskommunistischer Positionen für sie ergeben. Denn die erste, oft schmerzvolle, manchmal gar widerwillige Berührung; dann Sympathie mit oder Übernahme von linkskommunistischen Positionen heißt für diese Gruppen noch lange nicht, dass sie auch mit den alten linkskapitalistischen Traditionen, Methoden und Verhaltensweisen gebrochen haben.
Das Merkmal linkskapitalistischer Politik ist nämlich nicht nur ein bestimmtes Programm, sondern auch und immer eine bestimmte Denkweise und Form des Herangehens. Mit der linkskapitalistischen Mentalität zu brechen ist oft sogar schwieriger als sich von einzelnen bürgerlichen politischen Positionen zu verabschieden.
Diese Schwierigkeit stellt sich insbesondere gegenüber der Frage der Intervention. Das ist auch naheliegend. Denn eine revolutionäre Organisation des Proletariats ist kein Selbstzweck, sondern existiert, um in der Klasse zu intervenieren. Nur darin findet sie ihre Daseinsberechtigung. Jedoch zeichnete sich die Kommunistische Linke von Anfang an durch das Verständnis aus, dass es in der "Epoche der Kriege und der Revolutionen" Organisationen gibt, welche im Namen der Arbeiterklasse, des Sozialismus, ja sogar des Marxismus sprechen, obwohl sie inzwischen Bestandteil des bürgerlichen Staates geworden sind. Das bedeutet, dass es nicht mehr ausreicht, wie in der Anfangszeit der Arbeiterbewegung, mit einem vagen Bekenntnis zum Sozialismus und Arbeiterwiderstand zu intervenieren, um tatsächlich auch der Sache des Proletariats dienen zu können. Seitdem die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften mit dem 1. Weltkrieg ins Lager des Kapitals übergewechselt sind, werden - durch die Geschichte selbst - viel höhere Anforderungen gegenüber dem politischen Inhalt der Intervention der Revolutionäre gestellt. Eine der ersten großen Abwehrschlachten der Linkskommunisten Anfang der 20er Jahre gegen den wachsenden Opportunismus der Kommunistischen Internationale war dann auch ihr Widerstand gegen eine sich abzeichnende Neubewertung der Sozialdemokratie, welche nicht mehr als linker Flügel der Bourgeoisie, sondern als rechter Flügel der Arbeiterbewegung eingestuft werden sollte.
Bei den linksbürgerlichen Organisationen stellt sich die Frage der Intervention qualitativ anders dar. Da sie von ihrem Klassenwesen her die bestehende Gesellschaft nicht in Frage stellen, sehen sie ihre Aufgabe darin, die Arbeiter und ihre Kämpfe unter Kontrolle zu bringen, sie in bestimmte, mit der Staatsräson und der Lohnarbeit verträgliche Bahnen zu drängen. Darüber hinaus konkurrieren diese Gruppen untereinander um Einfluss gegenüber der Klasse. Denn je größer die Kontrollfunktion ist, die sie gegenüber der Arbeiterklasse ausüben können, desto interessanter werden sie als Mitarbeiter des Staates, sei es in den Gewerkschaften, sei es auf lokaler oder gar nationaler Ebene in den Parlamenten oder anderen Gremien.
Typisch für die neuformierten Gruppen, welche dem linksbürgerlichen Lager entstammen, und nunmehr Anschluss an die proletarische Bewegung suchen, ist, dass sie die Notwendigkeit der größtmöglichen politischen Klarheit in der Intervention stark unterschätzen. Anstatt ausreichend und kollektiv dafür zu sorgen, dass der Bruch mit dem Lager des Kapitals wirklich vollzogen wird, verwenden sie ihre Energie vor allem darauf, möglichst schnell "Einfluss" zu gewinnen.
So neigten die oben genannten Gruppen - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - dazu, sich zwar einige Positionen der Kommunistischen Linken zu eigen zu machen, aber in der Frage der Intervention die Suche nach "Einfluss" so zu stellen, wie sie es bisher von den Trotzkisten oder Maoisten gelernt haben. Denn bei den Linkskapitalisten wird Klärung, Debatte, politische und theoretische Bildung entweder als Mittel des Machtkampfes und der bürgerlichen Kontrolle missbraucht, oder aber als ein akademischer Zeitvertreib verachtet. Es hat den Anschein, als ob sich die obengenannten Gruppen nach dem Motto richten: Jetzt haben wir doch bessere, ja die richtigen Positionen, dann können unsere Hauptziele: die Intervention effizienter und unser Einfluss rasch größer werden.
So hat z.B. die Gruppe ‚Aufbrechen' kurz nach dem 11. September 2001, als die USA schon den Afghanistankrieg vorbereiteten und als es darum ging, eine in die Tiefe gehende Analyse der Ereignisse zu erstellen, ihre ganze Energie darauf verwendet, zusammen mit anderen (oft linkskapitalistisch angehauchten Leuten) einen Aufruf zum Wahlboykott gegenüber den lokalen Senatswahlen in Berlin herauszubringen. Anstatt zunächst die Weltlage gründlich zu analysieren, stürzte man sich in ein wildes Flugblattverteilen gegen die Wahlbeteiligung. Oder wie am 1. Mai 2002, wo ‚Aufbrechen' kurz davor war, einen gemeinsamen Aufruf mit stalinistischen Gruppen zu veröffentlichen. Die IKS hat damals den Opportunismus dieser Gruppe kritisiert. Die Genossen haben uns damals versprochen, auf unsere Kritik zu antworten. Dieses Versprechen wurde nie eingelöst. (Siehe Weltrevolution Nr. 112)
Die Frage der Intervention – eine bürgerliche und proletarische Methode prallen aufeinander
Lassen sich aber die Übernahme einzelner linkskommunistischer Positionen und die Fortsetzung einer im wesentlichen unveränderten Praxis vereinbaren? Nein!
Nach der ersten Berührung mit dem Linkskommunismus darf die Losung nicht lauten, "in der Praxis weiter so wie bisher", sondern sie muss lauten: Klärung als erste Bedingung einer wirklich proletarischen Intervention. Aus der Sicht linksbürgerlicher Gruppen wie beispielsweise der Trotzkisten sind sozialdemokratische und stalinistische Parteien und die Gewerkschaften ein Teil der Arbeiterbewegung. So lautet ihr Motto: "Einfluss gewinnen auf diesen Teil der Arbeiterbewegung" (ob durch Unterwanderung, alternative Gewerkschaften, Wahlunterstützung usw.) Sie richten ihre ganze Politik darauf aus, ihre Leute in solchen Organisationen zu plazieren und wirken zu lassen; dabei landen sie in Wirklichkeit im bürgerlichen Staatsapparat.
Es ist eine der dringendsten Aufgaben der Revolutionäre, jeweils zu klären, ob jemand ein Verbündeter, ein Freund oder ein Feind der Arbeiterklasse ist. Zu klären: Was sind proletarische Forderungen? Was ist das Klassenterrain, auf dem die Arbeiterklasse ihre Interessen durchsetzen kann? Was ist bürgerliches Terrain? Was sind bürgerliche Organisationen? An wen wenden wir uns? Was sind proletarische und was bürgerliche Organisationen? Anhand welcher Kriterien erkennt man, ob Organisationen, die sich Arbeiterorganisationen und marxistisch nennen, wirklich etwas mit der Arbeiterklasse zu tun haben? Nach der blutigen Erfahrung der Spartakisten in den revolutionären Kämpfen in Deutschland erkannte in den 20er Jahren auch die Kommunistische Linke in Italien und in Deutschland, dass die Demokratie, linke Parteien und der Antifaschismus nicht nur Gegner der Arbeiterklasse, sondern deren schlimmste Feinde sind. Nicht ohne Grund nannte Bordiga den Antifaschismus das schlimmste Produkt des Faschismus.
Die eigentliche Vorbedingung für eine wirkungsvolle Intervention ist die Schaffung von Klarheit. Während bei den linken Gruppen oft Streit darüber ausbricht, wo man interveniert, ob gegenüber den Studenten oder den Beschäftigten, ob gegenüber der antifaschistischen Bewegung, den Autonomen usw., spielen in diesen Kreisen Erwägungen prinzipieller Art natürlich keine Rolle. Vorkämpfer des Proletariats hingegen müssen wissen, dass eine inhaltlich falsche Intervention dem Klassenfeind in die Hände spielen kann. Eine wirkliche Weiterentwicklung und tatsächliche Loslösung von der bürgerlichen extremen Linken ist erst möglich, wenn die Frage der Intervention nicht mit einer bürgerlichen, sondern mit einer proletarischen Methode angegangen wird. Wir wollen dies anhand eines Beispiels verdeutlichen.
Das Beispiel der GIS: Ausweichen vor der Klärung
Die GIS hat mittlerweile zehn Ausgaben ihrer politischen Zeitschrift "Sozialismus oder Barbarei" herausgebracht. In jeder Nummer wird zu Fragen der Aktualität Stellung bezogen - meist mit einem Schwerpunkt "Anprangerung des Systems und seiner Verteidiger". Vor allem wird der Leser nach der Lektüre der zehn Ausgaben keinen einzigen Grundsatzartikel, keine Polemik, keine Debatte mit irgend einer politischen Richtung finden. Während es in den Reihen der GIS eine Vielzahl von Debatten (mit Spaltungen, Austritten und Ausschlüssen) gibt, vermittelt die GIS-Zeitschrift den Eindruck einer fertigen, homogenen, in ihrer Entwicklung abgeschlossenen Gruppe. Seit Beginn des Erscheinens der Zeitschrift liegt der Akzent auf der ‚Propaganda'. Es ist natürlich richtig, wenn die Genossen sich die Aufgabe stellen, die Zeitung hauptsächlich als Interventionsorgan gegenüber der Klasse zu benutzen. Aber das Ringen der Mitglieder solcher Gruppen um politische Klarheit ist ein Teil des Lebens der Arbeiterklasse. Die Veröffentlichung der Ergebnisse der internen Debatten solcher Gruppen, die Durchführung von schriftlichen Korrespondenzen und politischen Diskussionen mit anderen Gruppen, insbesondere mit den bestehenden Gruppen der Kommunistischen Linken, sowie die schriftliche Veröffentlichung auch dieser Debatten wäre ebenfalls eine wichtige Intervention gegenüber der Klasse. Und zwar eine besonders wichtige und potenziell sehr fruchtbare Intervention, sowohl für die Gruppen selbst, als auch für die politisch denkenden Teile der Klasse insgesamt. Ansonsten droht die Gefahr, dass man die erste Aufgabe, nämlich die programmatische Klärung, vernachlässigt. An einer Berichterstattung über die in den Reihen der GIS stattfindenden Diskussionen, über die Diskussionen mit anderen Gruppen fehlt es bislang. Warum hat die GIS bislang keine Zeile veröffentlicht über den Prozess des Nachdenkens und der Klärung in ihren eigenen Reihen? Nur indem man die Klärung in den Vordergrund stellt, kann man die Grundlage für die Intervention liefern. Aber diese Klärung muss durch und in der Zeitung vorangetrieben werden. Das erfordert, sich den Debatten mit anderen Gruppen zu stellen. Nur indem man sich äußert, kann man selbst mehr Klarheit entwickeln.
Der Schwerpunkt der Klärung ist nicht umzusetzen, wenn man keine wirkliche Debatte nach Innen und Außen anstrebt. Die Gruppen, die aus der bürgerlichen extremen Linken stammen, kannten natürlich keine Debattentradition in ihren Reihen. In einer proletarischen Organisation gehören Debatten und die verantwortungsvolle Wiedergabe solcher Debatten dagegen zu einem wesentlichen Bestandteil der Aktivitäten einer Gruppe. Wir wissen, dass man lernen muss, die Wichtigkeit von Debatten zu erkennen und auch über sie zu berichten. Deshalb ist der Bruch mit der linkskapitalistischen Vergangenheit untrennbar verbunden mit der Fähigkeit, sich der Aufgabe der inhaltlichen Klärung und der öffentlichen Auseinandersetzung damit in der Presse zu stellen. (1)
Erst wenn diese Scheu überwunden, die Fessel linkskapitalistischer Vergangenheit abgelegt werden kann, gelingt der Sprung ins Lager des Linkskommunismus. Die IKS betrachtet es als überlebenswichtig für sich selbst, sich mit allen Kräften der theoretischen Vertiefung und Klärung zu widmen, weil wir wissen, dass dies eine der Vorbedingungen für eine adäquate Intervention ist. "Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muss, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft bewahrt" (Rosa Luxemburg, 1916).
Keine Suche nach politischem Einfluss ohne politische Klarheit
Jedesmal wenn eine der oben genannten Gruppen das Licht der Welt erblickte, haben wir in unserer Presse neben der Begrüßung dieser internationalistischen Stimmen gegenüber den Gruppen direkt auf die Notwendigkeit der Fortsetzung der Klärung, der weiteren inhaltlichen Vertiefung bestanden. Als Reaktion auf diese Betonung der inhaltlich-programmatischen Klärung wurde die IKS häufig von Mitgliedern dieser Gruppen verpönt, die IKS sei eine Gruppe, die sich lieber an den Seitenrand, sozusagen auf den Balkon stelle, und von oben herab kommentiere und kritisiere, anstatt ein Teil der Bewegung zu sein und anstatt mitzumachen. So scheue die IKS vor dem Klassenkampf zurück und wolle nur reden und analysieren, anstatt zu intervenieren.
Wir wollen diesen Vorwurf vom Tisch räumen, dass Intervention und die Priorität der politischen Klärung sich gegenseitig im Wege stünden. Die IKS hat sowohl eine Analyse (von der wir wissen, dass sie auf verschiedenen Ebenen angefochten wird) zu bieten als auch eine Interventionsbilanz. Beispielsweise ist die IKS nach der Auslösung des jüngsten Irak-Krieges mit einem Flugblatt in 14 Ländern interveniert. Wir waren als einzige Organisation dazu in der Lage, in 13 Sprachen, in über 50 Städten, darunter in einigen der wichtigsten Industriemetropolen mit diesem Flugblatt zu intervenieren - neben unserer Presse, die wir auf Demonstrationen und Veranstaltungen verkauft haben. Auch bei den jüngsten Protestaktionen der Daimler-Chrysler-Beschäftigten stand die IKS nicht am Seitenrand, sondern hat - mit den geringen, uns zur Verfügung stehenden Mitteln - unter anderem ein Flugblatt an den wichtigsten deutschen Standorten von Daimler-Chrysler verteilt (Sindelfingen, Bremen, Düsseldorf sowie vor anderen Großbetrieben und vor Arbeitsämtern). Unsere Kritiker, die uns Passivität vorwerfen, mögen selbst über ihre Interventionen berichten und ihre Analyse der Ereignisse vorstellen. Wir jedenfalls berichten so gut es geht über unsere Intervention, ihre politische Ausrichtung und die Reaktionen der Arbeiterklasse. Wir betrachten es als unsere Pflicht, jeweils eine politische Bilanz derselben zu erstellen. Soweit zu dem Vorwurf, Intervention und der Schwerpunkt politische Klarheit behinderten sich gegenseitig.
Tatsächlich hat die Geschichte gezeigt, dass eine Organisation nur dann ihre Schlüsselrolle erfüllen kann, wenn sie in einem Lernprozess die Fähigkeit entwickelt hat, anhand einer korrekten Analyse zum richtigen Zeitpunkt den wesentlichen Anstoß in der Arbeiterklasse zu geben.
Und die Geschichte hat auch bewiesen, dass diejenigen Gruppen, die die programmatische Klärung - innerhalb der Gruppe und nach außen hin gegenüber dem bestehenden politisierten Milieu - als zentrale Achse ihrer Intervention betrachten, einen wertvollen Beitrag leisten können, sowohl zu ihrer eigenen politischen Entwicklung als auch zur Hebung des Klassenbewusstseins in einem größeren Rahmen. Weltrevolution
(1) Beispielsweise veröffentlichte die IKS in Weltrevolution Nr. 121 eine Kritik an der GIS und ihrer Einschätzung der Gewerkschaften und der Linken. Bis dato hat die GIS nicht darauf geantwortet. Die IKS schrieb ca. ein halbes Dutzend Polemiken zur Gruppe Aufbrechen - sie blieben alle unbeantwortet.
Beschuldigungen innerhalb der Schweizer Regierung wegen Uneinigkeiten in der EU-Politik füllen regelmässig die Zeilen der Presse. Bundespräsident Deiss rügt seinen Justizminister Blocher wegen mangelnder Loyalität. Dieser stellt scharfzüngig bei öffentlichen Auftritten die neu geplanten bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU zur Erweiterung des Personenfreizügigkeits-Abkommens und des Schengen/Dublin-Abkommens in Frage. Die Schweizerische Regierung scheint sich in den Haaren zu liegen. Ist dies belangloses bürgerliches "Polittheater" oder stecken hinter den Uneinigkeiten zur EU-Frage tatsächliche Probleme?
Zwischen den verschiedenen Teilen der Schweizerischen Bourgeoisie, von Links bis Rechts, und deren Regierungsvertretern herrscht natürlich allemal eine grundsätzliche Einigkeit über die Wahrnehmung der Interessen des nationalen Kapitals im Konkurrenzkampf gegenüber allen anderen Staaten. Am selben Strick ziehen sowohl die Sozialdemokratie, die rechtsbürgerliche SVP um Justizminister Blocher und alle anderen Parteien gegenüber der Arbeiterklasse - vor allem dann, wenn es darum geht, die Krise auf die Arbeiter abzuwälzen. Erinnert sei hier an die Rentenreform. Dennoch sind die in der Öffentlichkeit ausgetragenen Querelen um die EU zwischen den Ministern nicht wie oftmals in der bürgerlichen Politik simple Ablenkungsmanöver. Mit der strittigen Frage "Europa" bricht regelmässig ein für den Schweizerischen Kapitalismus schon historisch gewordenes Problem auf: die drohende Bestrafung seitens der kapitalistischen Nachbarn und Konkurrenten für eine Politik des Sonderwegs der Schweiz. Die helvetischen Streitereien um die EU-Verträge sind heute mehr denn je Ausdruck dafür, dass der zerfallende Kapitalismus die herrschende Klasse mit neuen Problemen konfrontiert, bei denen sie ans Ende ihres althergebrachten Lateins zu geraten droht. Für die Schweizerische Bourgeoisie wird ihr Verhältnis zur EU vor allem auf wirtschaftlicher Ebene immer mehr zu einer heiklen Überlebensfrage.
Die EU-Verträge: Zweckbündnis aber Notwendigkeit für die Schweizer Wirtschaft
Die EU ist keineswegs von Einheit unter den Mitgliedstaaten gekennzeichnet. Noch viel weniger ist die EU auf dem Wege einen neuen imperialistischen Block zu formieren, wie sie zur Zeit zwischen 1945 bis zum Zusammenbruch des stalinistischen Ostblocks 1989 bestanden.1 Ganz im Gegenteil: die EU selbst wird immer offensichtlicher ein Terrain imperialistischer Spannungen und Manöver, bei dem jedes Land vor allem aus einem Kalkül zur Realisierung seiner eigenen Vorteile und besseren Kontrolle der anderen europäischen Staaten teilnimmt. Angesichts der sich unbarmherzig verschärfenden internationalen Krise der kapitalistischen Wirtschaft jedoch sind die wirtschaftlichen Übereinkünfte unter den EU-Staaten zwar nur zeitweilige aber unabdingbare Zweckbündnisse, um gegenüber dem Druck der amerikanischen oder japanischen Wirtschaft noch einigermassen konkurrenzfähig zu bleiben. Ein anderes gemeinsames Kalkül der EU-Mitgliedsstaaten ist die Errichtung eines Bollwerks, um die Auswirkungen der Krise möglichst lange von Europa fern zu halten und auf Länder der kapitalistischen Peripherie abzuschieben. Ein "gemeinsames Projekt" des europäischen Kapitals, welches aber immer deutlicher zum Scheitern verurteilt ist. In diesem internationalen Rahmen, welcher durch einen verzweifelten Kampf des Kapitals gegen das ökonomische Desaster und das kriegerische Chaos gekennzeichnet ist, sind die zähen Verhandlungen um die bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU alles andere als ein Ringen um endlose Profite in einem kapitalistischen Schlaraffenland, in dem es immerzu aufwärts geht. Zu solchen naiven Analysen greifen lediglich linke Antiglobalisierer, welche sich einen gerechten Kapitalismus des fairen Handels zum Ziel gesetzt haben. Sie sind vielmehr Ausdruck davon, dass die herrschende Klasse aller Länder immer mehr Schwierigkeiten hat, die Widersprüche ihres System unter Kontrolle zu behalten und unter dem Druck der Krise zu einer dauernden Gratwanderung zwischen Verteidigung der nationalen Interessen einerseits und Konzessionen andererseits gezwungen ist. Der Schweizerische Kapitalismus ist davon in einer besonderen Art und Weise betroffen, da er über eine ausgeprägte isolationistische Tradition verfügt, die schon nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem latenten Problem heranwuchs. Vom Kriegsgewinner USA wurde das Schweizerische Kapital für die sogenannte Neutralität, beziehungsweise die Händel mit beiden Kriegsfronten im Zweiten Weltkrieg, mit der Einfrierung Schweizer Gelder in den USA bestraft. Um die Interessen des nationalen Kapitals auf einem von zwei Blöcken kontrollierten Weltmarkt der Nachkriegszeit weiterhin verteidigen zu können, begann die Schweizer Bourgeoisie schon damals mit der althergebrachten Tradition der Isolation schrittweise zu brechen. Dies geschah zur Zeit des Wiederaufbaus der 50er Jahre jedoch vor allem unter dem Druck der imperialistischen Spannungen zwischen den Blöcken und weniger aus rein wirtschaftlichen Überlegungen. Die Schweizer Bourgeoisie musste sich aus der geografischen Lage im Herzen Europas heraus klar als Teil des westlichen Blocks engagieren, nicht auf dem Hintergrund einer sich zuspitzenden Wirtschaftskrise und einem imperialistischen Jeder gegen Jeden wie heute. Darüber kann auch das berühmte Schweizer Bankgeheimnis nicht hinwegtäuschen, welches viel weniger das Produkt einer erfolgreichen trotzigen Abgrenzung gegenüber den anderen Staaten des westlichen Blocks war, sondern von vielen Bourgeoisien anderer Länder unterstützt wurde, um, wie in Luxemburg, Bastionen für Fluchtgelder zu haben. Der Grossangriff auf das Bankgeheimnis begann dementsprechend auch nach dem Zusammenbruch der Blöcke 1989.
Der Zerfall vertieft die Widersprüche des Kapitalismus
Seit dem Ende des Wiederaufbaus Ende 60er Jahre ist der Kapitalismus erneut mit einer dauernden ökonomischen Krise konfrontiert. Diese fand ihren heftigsten Ausdruck im Zusammenbruch des Ostblocks, welche unter anderem ein Resultat des die Wirtschaft erdrückenden imperialistischen Wettrüstens war. Der Zusammenbruch des Ostblocks läutete auch definitiv eine neue Phase des Kapitalismus ein: den Zerfall des Kapitalismus. Nur wer die Augen vor der Realität vollkommen verschliesst, kann leugnen, dass die unkontrollierbaren zerstörerischen Kriege wie in Ex-Jugoslawien während der 90er Jahre und heute in Afghanistan und dem Irak die Wirtschaft aller beteiligten Staaten erdrosseln, keineswegs im Ganzen gesehen profitabel sind und einen irrationalen Charakter angenommen haben. Eine Situation, welche grundsätzlich schon seit dem Ersten Weltkrieg existiert, als der Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seine niedergehende Phase eintrat, und sich grundlegend von der Zeit des aufsteigenden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Der Zerfall des Kapitalismus jedoch, von dem wir seit Ende der 80er Jahre sprechen, zeichnet sich dadurch aus, dass das Kapital immer mehr die Kontrolle in einer Welt des Jeder gegen Jeden verliert. Die Bourgeoisien der führenden europäischen Länder versuchen heute darauf ähnlich zu reagieren wie schon der zerfallende Feudalismus ab dem 16. Jahrhundert auf den Zerfall mit der Bildung absolutistischer Staaten antwortete: mit einer verzweifelten Zentralisierung der Macht. Wenn zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Errichtung des Staatskapitalismus die Antwort des Kapitals auf die niedergehende Phase des Kapitalismus war, welche es dem Kapital ermöglichte, Weltkriege zu führen, die das System selbst aber ruinierten, so stossen die Versuche der Koordinierung und Zentralisierung der Wirtschaft auf EU-Ebene auf zunehmende Schwierigkeiten. Das Problem des gesättigten Weltmarktes kann auch mit einer Koordination einzelner Staaten nicht überwunden werden. Die EU mit ihren Wirtschaftsabkommen drückt damit nicht eine neue Perspektive des Wachstums oder der wirklichen Konkurrenzfähigkeit aus, sondern ist ein genauso verzweifelter Versuch, den Kopf noch so lange wie möglich über Wasser zu halten und ein Bollwerk gegen das Chaos zu errichten. Grundsätzlich bleibt im Kapitalismus die Konkurrenz zwischen den einzelnen Nationen als ehernes Gesetz bestehen. Die heutige Krise des Kapitalismus und das zunehmende Chaos in der Peripherie des Systems zwingt jedoch die entwickelten Industriestaaten zu wirtschaftlichen und polizeilichen Übereinkünften, um überhaupt bestehen zu können. All dies bedeutet aber keinesfalls eine "Globalisierung" oder die Entstehung eines "international geeinten Kapitals", sondern verhindert nur, dass die Verschärfung der Konkurrenz zu einem Auseinanderbrechen der Weltwirtschaft wie in den 1930er Jahren führt.
Eine Politik der politischen und wirtschaftlichen Isolation, wie sie noch von rückständigen Teilen der Schweizerischen Bourgeoisie wie der SVP vertreten wird, entspricht den Zwängen des krisengeschüttelten Kapitalismus nicht. Die Schweizerische Exportwirtschaft ist enorm vom deutschen Markt abhängig, der grössten ‚Volkswirtschaft' der EU. Allein schon diese Tatsache zwingt den schweizerischen Staatskapitalismus, mit der EU in Verträge einzutreten, um der nationalen Wirtschaft Leitplanken zu bieten. Zusammenschlüsse mit anderen europäischen Industriekonzernen wie die schwedisch-schweizerische ABB-Fusion waren schon in den 80er Jahren Anzeichen des Zwangs wirtschaftliche Allianzen einzugehen, um noch konkurrenzfähig zu bleiben.
Ein Problem des Zerfalls: Die fehlende Harmonie innerhalb der herrschenden Klasse
Die Schweizer Bourgeoisie hat auch erkannt, dass sie durch die fragilen Bedingungen des kapitalistischen Zerfalls immer mehr gezwungen ist, eine kohärente Aussenpolitik zu führen. Die verstärkte Integration desjenigen Teils der herrschenden Klasse rund um Blocher (den Justizminister), welcher sich noch in der Regierung an der Tradition der "absoluten Eigenständigkeit" festklammert, ist ein deutlicher Versuch einem weiteren Problem des kapitalistischen Zerfalls zu Leibe zu rücken: eine gewisse Tendenz hin zur Schwächung der Wirksamkeit der politischen Kontrolle des Staats. Die schweizerische Bourgeoisie hat vor einigen Monaten durch die Eingliederung Blochers in die Regierung bewusst den Versuch unternommen, einen ‚undisziplinierten Mitspieler' gerade in der Aussenpolitik, besser zu kontrollieren. Auch wenn der Staatskapitalismus die Kontrolle des Staates über alle Bereiche der Gesellschaft zur Zeit des Ersten Weltkrieges notwendig machte, und dieser jahrzehntelang der herrschenden Klasse weltweit in jeder Nation eine Kontrolle über die eigene Nation garantierte, so nagt der Zerfall heute selbst in den Industriestaaten am Zusammenhalt und der Zielgerichtetheit des Staatskapitalismus. Diese Tendenz zeigt sich in der sog. Dritten Welt am deutlichsten, wo in Ländern wie Afghanistan, dem Sudan, Gebieten im Süden des ehemaligen Ostblocks oder afrikanischen Ländern der Staat die Kontrolle komplett verloren hat und Kriegsherren und deren Banden das Feld überlassen muss. Diese Situation ist zwar keineswegs mit derjenigen in den zentralen europäischen Ländern vergleichbar. Dennoch zeigt sich die Perspektivlosigkeit des zerfallenden Kapitalismus immer mehr auch bei der herrschenden Klasse in den zentralen Ländern selbst. Die fast schon berühmten Streitigkeiten innerhalb der französischen Bourgeoisie sowie das Phänomen des ‚politischen Populismus' sind Ausdrücke davon. Der Zerfall des Kapitalismus hat auch den Mythos einer herrschenden Klasse, welche immer alles fest im Griff hat, zu erschüttern begonnen. Wenn heute Uneinigkeiten zwischen Ministern der Schweizer Regierung über die Frage des Verhältnisses zur EU öffentlich mit Beschuldigungen ausgetragen werden, so wiederspiegelt dies die Schwierigkeiten für den Kapitalismus, auf die heutige Krise eine Lösung zu finden und innerhalb der herrschenden Klasse jederzeit die Disziplin zu garantieren. Schlussendlich sind die Widersprüche des eigenen kapitalistischen Systems stärker als der Wunsch der Bourgeoisie, dass auch in ihren Reihen alles reibungslos über die Bühne geht.
Nicht "Für oder Gegen" die EU
Wir haben zu Beginn des Artikels schon darauf hingewiesen, dass diese Streitigkeiten innerhalb der Schweizer Regierung nicht lediglich Scheinwidersprüche oder Ablenkungsmanöver gegenüber der Arbeiterklasse darstellen. Selbstverständlich jedoch versucht die Bourgeoisie aus der Not ihrer Schwierigkeiten eine Tugend zu machen und die Arbeiterklasse in eine politische Logik des "Für oder Gegen" die EU zu lotsen. Bei den Bestrebungen, die Arbeiterklasse ins Gefängnis einer Identifikation mit den Interessen des eigenen Kapitals zu sperren, sind sich Linke, Sozialdemokraten und auch Blochers SVP mehr als einig, auch wenn sie sich öffentlich einer falschen Haltung gegenüber der EU bezichtigen.
Für die Arbeiterklasse stellt sich nicht die Frage, welche Strategie des Schweizer Staates gegenüber der EU die vorteilhafteste sei, sondern wie sie ihre Interessen als Arbeiterklasse verteidigen und den Kapitalismus im gemeinsamen Kampf mit den Arbeitern aller andern Länder überwinden kann. 9. 9. 04
1 Wir möchten den Leser an dieser Stelle die Lektüre unseres Artikels "Europa: Wirtschaftsbündnis und Terrain imperialistischer Manöver" in der Internationale Revue Nr. 31 empfehlen.
Links
[1] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/tschetschenien
[2] https://de.internationalism.org/tag/3/51/terrorismus
[3] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/internationales-buro-fur-die-revolutionare-partei
[4] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/internationale-kommunistische
[5] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/ratismus
[6] https://de.internationalism.org/tag/3/49/politische-konomie
[7] https://de.internationalism.org/tag/2/40/das-klassenbewusstsein
[8] https://de.internationalism.org/tag/nationale-situationen/nationale-lage-der-schweiz
[9] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/europaische-union
[10] https://de.internationalism.org/tag/3/54/zerfall