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Internationale Revue 32

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160 Jahre nach der Veröffentlichung des Aufsatzes Zur Judenfrage

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Marx und die Judenfrage

In der Ausgabe unserer Revue International Nr. 113 (franz./engl./span. Ausgabe) veröffentlichten wir einen Artikel über Polanskis Film Der Pianist, dessen Thema der Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 und der Genozid der europäischen Juden durch die Nazis war. 60 Jahre nach dem unbeschreiblichen Horror dieses Vernichtungsfeldzuges könnte man der Ansicht sein, dass der Antisemitismus eine Sache der Vergangenheit ist – die Konsequenzen des antijüdischen Rassismus sind so klar, dass er eigentlich ein für allemal diskreditiert sein müsste. Und dennoch ist dies überhaupt nicht der Fall. Tatsächlich sind die alten antisemitischen Ideologien so schädlich und weit verbreitet wie ehedem, selbst wenn sich ihr Hauptschwerpunkt von Europa in die „muslimische“ Welt und insbesondere zum „islamischen Fundamentalismus“ verschoben hat, der von Osama bin Laden personifiziert wird, welcher in all seinen Verkündungen nie vergisst, die „Kreuzzügler und Juden“ als Feinde des Islams und als willkommene Ziele von Terroranschlägen zu attackieren. Ein typisches Beispiel für diese „islamische“ Version des Antisemitismus ist die Website von „Radio Islam“, dessen Motto „Rasse? Nur eine menschliche Rasse“ lautet. Die Website behauptet, gegen alle Formen des Rassismus gerichtet zu sein, doch bei näherer Inaugenscheinnahme wird deutlich, dass sie sich hauptsächlich mit „dem jüdischen Rassismus gegen Nicht-Juden“ beschäftigt; in der Tat ist dies ein Archiv klassischer antisemitischer Traktate, von den Protokollen der Weisen von Zion, einer zaristischen Fälschung aus dem späten 19. Jahrhundert, die vorgeben, die Aufzeichnungen eines Treffens jüdischer Weltverschwörer zu sein, bis hin zu Hitlers Mein Kampf und den aktuelleren Hetzschriften des Führers der ¸Nation of Islam‘ in den USA, Louis Farrakhan.

Solche öffentlichkeitswirksamen Unternehmungen – und sie nehmen heute massive Ausmasse an – demonstrieren, dass die Religion zu einer der Hauptvehikel für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, für das Schüren pogromartiger Verhaltensweisen, für die Spaltung der Arbeiterklasse und der Unterdrückten allgemein geworden ist. Und wir sprechen hier nicht bloss von Ideen, sondern über ideologische Rechtfertigungen wirklicher Massaker, ob sie nun die orthodoxen Serben, die katholischen Kroaten oder die bosnischen Moslems in Ex-Jugoslawien, die Protestanten und Katholiken in Ulster, die Moslems und Christen in Afrika und Indonesien, die Hindus und Moslems in Indien oder die Juden und Moslems in Israel/Palästina betreffen.

In zwei früheren Artikeln in der Internationalen Revue – „Resurgent Islam, a symptom of the decomposition of capitalist social relations“ (International Review Nr. 109, franz./engl./span. Ausgabe) und „Marxism’s fight against religion: economic slavery is the source of the religious mystification“ (International Review Nr. 110, franz./engl./span. Ausgabe) – zeigten wir, dass dieses Phänomen ein realer Ausdruck des fortgeschrittenen Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft ist. In diesem Artikel wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Juden richten. Nicht nur, weil vor 160 Jahren, 1843, Karl Marx seinen berühmten Aufsatz Zur Judenfrage veröffentlicht hat, sondern auch, weil Marx, dessen gesamtes Leben der Sache des proletarischen Internationalismus gewidmet war, heute als Theoretiker des Antisemitismus zitiert wird – normalerweise, aber nicht immer missbilligend. Auch hier ist die Website von Radio Islam sehr anschaulich: Auf ihr erscheint der Aufsatz von Marx auf derselben Seite wie die Protokolle der Weisen von Zion, obwohl die Website auch Stürmer-ähnliche Karikaturen veröffentlicht, in denen Marx beschimpft wird, weil er selbst ein Jude ist.

Diese Beschuldigung gegen Marx ist nicht neu. Der Aufsatz von Marx wurde 1960 von Dagobert Runes unter dem neuen Titel Eine Welt ohne Juden veröffentlicht. Darin wird behauptet, dass Marx ein früher Protagonist der „Endlösung“ des jüdischen Problems gewesen sei. In der jüngeren Geschichte der Juden erhob der rechte britische Intellektuelle Paul Johnson ähnliche Anschuldigungen und zögerte nicht, eine antisemitische Komponente in dem blossen Wunsch nach Abschaffung des Kaufens und Verkaufens als gesellschaftliche Grundlage zu finden. Zumindest sei Marx ein „sich selbst hassender“ Jude (heute öfter denn je ein Attribut, das das jüdische Establishment jedem jüdischen Nachkommen anheftet, der sich kritisch gegenüber dem israelischen Staat verhält).

Gegenüber all diesen grotesken Verzerrungen ist es unser Ziel in diesem Artikel nicht nur Marx gegenüber denjenigen zu verteidigen, die danach trachten, ihn gegen seine eigenen Prinzipien benutzen, sondern auch zu zeigen, dass das Werk von Marx den einzigen Ausgangspunkt bildet, um das Problem des Antisemitismus zu verstehen und zu überwinden.

Der historische Kontext von Marx‘ Aufsatz Zur Judenfrage

Es macht keinen Sinn, Marx’ Aufsatz ausserhalb seines historischen Kontexts zu präsentieren oder zu zitieren. Zur Judenfrage wurde im Rahmen des allgemeinen Kampfes für den politischen Wechsel im halbfeudalen Deutschland geschrieben. Die Debatte darüber, ob Juden dieselben Bürgerrechte wie dem Rest der Bevölkerung Deutschlands eingeräumt werden sollten, war ein Aspekt in diesem Kampf. Als Herausgeber der Rheinischen Zeitung hatte Marx ursprünglich beabsichtigt, eine Antwort auf die offen reaktionären, antisemitischen Schriften eines gewissen Hermes zu verfassen, der die Juden im Ghetto halten und die christliche Basis des Staates bewahren wollte. Doch nachdem der Linkshegelianer Bruno Bauer mit zwei Essays, Die Judenfrage und Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden, in den Ring getreten war, fühlte Marx, dass es wichtiger war, gegen das zu polemisieren, was er als den falschen Radikalismus in Bauers Sichtweise ansah.

Wir sollten dabei in Erinnerung rufen, dass in dieser Phase seines Lebens Marx sich im Übergang vom Radikaldemokraten zum Kommunisten befand. Er war im Pariser Exil und gelangte unter den Einfluss französischer kommunistischer Handwerker (vgl. „How the proletariat won Marx to communism“, International Review Nr. 69, franz./engl./span. Ausgabe); in der zweiten Hälfte von 1843 identifizierte er in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie das Proletariat als Träger einer neuen Gesellschaft. 1844 traf er Engels, der ihm half, die Wichtigkeit des Verständnisses der ökonomischen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens zu sehen; die Ökonomischen und philosophischen Manuskripte, im gleichen Jahr verfasst, waren sein erster Versuch, all diese Entwicklung in ihrem wahren Ausmass zu begreifen. 1845 schrieb er die Thesen über Feuerbach, die seinen definitiven Bruch mit dem einseitigen Materialismus von Letzterem ausdrückten.

Die Polemik mit Bauer über die Frage der Bürgerrechte und der Demokratie, in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht, waren ohne Frage ein Moment in diesem Übergang.

Zu jener Zeit war Bauer ein Sprecher der „Linken“ in Deutschland, obwohl der Keim seiner späteren Entwicklung zu den Rechten bereits in seiner Haltung gegenüber der jüdischen Frage bemerkbar war, als er eine scheinradikale Position einnahm, die letztlich als Entschuldigung dafür endete, nichts zu tun, um den Status quo zu ändern. Laut Bauer war es sinnlos, die politische Emanzipation für die Juden in einem christlichen Staat zu fordern. Es sei sowohl für die Christen als auch für die Juden zunächst notwendig, ihren Glauben und ihre religiöse Identität aufzugeben, um eine wirkliche Emanzipation zu erlangen; in einem wahrhaft demokratischen Staat gebe es kein Bedürfnis nach religiöser Ideologie. In der Tat, wenn überhaupt, dann seien es die Juden, die dabei weitergehen müssen als die Christen: Aus der Sicht der Linkshegelianer war das Christentum die letzte religiöse Hülle, in der sich der Kampf für die Emanzipation des Menschen historisch ausgedrückt hat. Da sie die universalistische Botschaft des Christentums ablehnen, müssten die Juden zwei Schritte tun, während die Christen nur einen machen müssten.

Der Übergang von dieser Sichtweise zu Bauers späterem offenen Antisemitismus ist nicht schwer zu sehen. Marx mag dies gut gespürt haben, doch seine Polemik fängt mit der Verteidigung der Position an, dass das Zugeständnis „normaler“ Bürgerrechte gegenüber den Juden, was er „politische Emanzipation“ nennt, „ein grosser Schritt nach vorn“ sei; in der Tat war sie ein Zug früherer bürgerlicher Revolutionen (Cromwell hatte es den Juden gestattet, nach England zurückzukehren, und der napoleonische Code civile gestand den Juden Bürgerrechte ein). Sie sei Teil eines allgemeineren Kampfes, um die feudalen Barrieren zu beseitigen und einen modernen demokratischen Staat zu schaffen, der insbesondere in Deutschland mittlerweile lange überfällig sei.

Doch Marx war sich bereits darüber bewusst, dass der Kampf für politische Demokratie nicht das endgültige Ziel war. Zur Judenfrage scheint einen bedeutsamen Fortschritt gegenüber einem Text darzustellen, der kurz zuvor geschrieben worden war, die Kritik der Hegelschen Staatstheorie. In diesem Text treibt Marx den Gedanken der Radikaldemokratie bis ins Äusserste, indem er argumentierte, dass wahrhafte Demokratie – allgemeines Wahlrecht – die Auflösung des Staates und der zivilen Gesellschaft bedeuten würde. Im Gegensatz dazu behauptet Marx in Zur Judenfrage, dass eine rein politische Emanzipation – er benutzt gar den Begriff der „vollendeten Demokratie“ – viel zu wenig sei für eine wirkliche menschliche Emanzipation.

In diesem Text erkennt Marx deutlich an, dass die zivile Gesellschaft eine bürgerliche Gesellschaft ist – eine Gesellschaft von isolierten Egos, die auf dem Markt gegeneinander konkurrieren. Es ist eine Gesellschaft der Entfremdung (Es war der erste Text, in dem Marx diesen Begriff benutzte), in der die Mächte, die vom Menschen selbst in Bewegung gesetzt wurden – nicht nur die Macht des Geldes, sondern auch die Staatsmacht selbst – unvermeidlich zu fremden Mächten werden, die das Leben des Menschen beherrschen. Dieses Problem wird nicht durch die Errichtung der politischen Demokratie und der Menschenrechte gelöst. Diese basieren noch immer mehr auf dem Gedanken des atomisierten Bürgers statt auf dem einer wahrhaftigen Gemeinschaft. „Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist. Weit entfernt, dass der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefasst wurde, erschien vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuen äusserlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbständigkeit. Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person“ (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 366).

Ein weiterer Beweis dafür, dass Entfremdung nicht als Ergebnis der politischen Demokratie verschwindet, war, wie Marx hervorhob, das Beispiel Nordamerikas, wo die Religion formal vom Staat getrennt wurde und dennoch Amerika das Land der religiösen Überwachung und der religiösen Sekten par excellence war.

Also: Während Bauer argumentierte, dass es Zeitverschwendung sei, für die politische Emanzipation der Juden als solche zu kämpfen, verteidigte und unterstützte Marx diese Forderung:

„Wir sagen also nicht mit Bauer den Juden: Ihr könnt nicht politisch emanzipiert werden, ohne euch radikal vom Judentum zu emanzipieren. Wir sagen ihnen vielmehr: Weil ihr politisch emanzipiert werden könnt, ohne euch vollständig und widerspruchslos vom Judentum loszusagen, darum ist die politische Emanzipation selbst nicht die menschliche Emanzipation. Wenn ihr Juden politisch emanzipiert werden wollt, ohne euch selbst menschlich zu emanzipieren, so liegt die Halbheit und der Widerspruch nicht nur in euch, sie liegt in dem Wesen und der Kategorie der politischen Emanzipation“ (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 361). Konkret bedeutet dies für Marx, dass er das Gesuch der lokalen jüdischen Gemeinde, eine Petition zugunsten der Bürgerrechte für Juden zu schreiben, akzeptierte. Diese Vorgehensweise gegenüber politischen Reformen sollte zur charakteristischen Haltung der Arbeiterbewegung während der aufsteigenden Periode des Kapitalismus werden. Doch Marx blickte bereits auf den weiteren Verlauf der Geschichte – auf die zukünftige kommunistische Gesellschaft –, selbst wenn dies nicht ausdrücklich in Zur Judenfrage gesagt worden war. Dies ist die Schlussfolgerung am Ende des ersten Teils seiner Antwort auf Bauer. „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ¸forces propre‘ (eigene Kräfte) als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht“ (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 370).

Marx‘ angeblicher Antisemitismus

Es ist der zweite Teil des Textes, in dem er auf Bauers zweiten Artikel antwortet, der Marx in die Schusslinie der verschiedensten Richtungen geraten liess und der von der neuen Welle des islamischen Antisemitismus dafür missbraucht wird, um dessen obskure Weltsicht zu stützen. „Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 372). „Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein anderer Gott bestehen darf. Das Geld erniedrigt alle Götter des Menschen – und verwandelt sie in eine Ware. Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an. (...) Der Gott des Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden. Der Wechsel ist der wirkliche Gott des Juden. Sein Gott ist nur der illusorische Wechsel“ (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 374/375).

Diese und andere Passagen in Zur Judenfrage sind aufgegriffen worden, um zu beweisen, dass Marx einer der Gründungsväter des modernen Antisemitismus sei, dessen Essay dem rassistischen Mythos des Blut saugenden jüdischen Parasiten Respekt verleiht.

Es ist wahr, dass viele der Formulierungen, die Marx in diesem Abschnitt benutzt, heute nicht mehr auf dieselbe Weise verwendet werden können. Es trifft auch zu, dass weder Marx noch Engels völlig frei von bürgerlichen Vorurteilen waren und dass einige ihrer Verkündungen über besondere Nationalitäten dies widerspiegeln. Aber daraus zu schliessen, dass Marx und der Marxismus unauslöschlich besudelt sind mit dem Rassismus, ist ein Zerrbild seiner Gedanken.

All diese Ausdrücke müssen in ihrem historische Zusammenhange betrachtet werden. Wie Hal Draper im Anhang seines Buches Karl Marx’s Theory of Revolution, Bd. 1 (Monthly Review Press, 1977) erläutert, war die Identifizierung des Judentums mit dem Handel bzw. mit dem Kapitalismus Teil der damaligen Sprache und wurde von einer ganzen Reihe von radikalen und sozialistischen Denkern übernommen, einschliesslich jüdischer Radikaler wie Moses Hess, der zu jener Zeit Einfluss auf Marx (und tatsächlich auf den Aufsatz Zur Judenfrage) hatte.

Trevor Ling, ein Religionshistoriker, kritisierte Marx‘ Aufsatz von einer anderen Seite her: „Marx hatte einen beissenden journalistischen Stil und schmückte seine Seiten mit vielen cleveren und satirischen Redewendungen aus. Seine Schreibweise, von der gerade Beispiele gegeben wurden, ist ein guter, kraftvoller Flugblattstil und beabsichtigte zweifellos, das Blut in Wallung zu bringen, aber hat wenig auf dem Gebiet einer nützlichen soziologischen Analyse zu bieten. Solche groben Oberflächlichkeiten wie ¸Judentum‘ und ¸Christentum‘ entsprechen, wenn sie in dieser Art von Zusammenhang gebracht werden, nicht den historischen Realitäten.; sie sind das Etikett Marx´ eigener, krankhafter Konstrukte“ (T. Ling, Karl Marx and Religion, Macmillan Press, 1980; eigene Übersetzung). Doch ein paar beissende Redewendungen von Marx schaffen üblicherweise schärfere Mittel, um eine Frage tiefgründiger zu untersuchen, als die studierten Abhandlungen der Akademiker. Jedenfalls versucht Marx hier keineswegs, eine Geschichte der jüdischen Religion zu schreiben, die natürlich nicht auf eine blosse Rechtfertigung des Kommerzes reduziert werden kann, nicht zuletzt deshalb, weil ihre antiken Ursprünge in einer gesellschaftlichen Ordnung liegen, in den Geldbeziehungen eine sehr untergeordnete Rolle gespielt hatten und ihr Inhalt auch die Existenz von Klassenteilungen unter den Juden selbst widerspiegelt hatte (zum Beispiel in den Schmähschriften der Propheten gegen die Korruption der herrschenden Klasse im altertümlichen Israel). Wie wir gesehen haben, benutzt Marx, nachdem er das Bedürfnis der jüdischen Bevölkerung nach denselben „Bürgerrechten“ wie alle anderen Bürger verteidigt hat, die verbale Analogie zwischen Judentum und Warenverhältnisse dazu, um eine Gesellschaft zu fordern, die frei von Warenbeziehungen ist. Dies ist die wirkliche Bedeutung seiner abschliessenden Äusserung: „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“ (K. Marx, Zur Judenfrage, 1843, Werke Bd. 1, S. 377). Dies hat nichts mit irgendwelchen Komplotten zur physischen Ausrottung der Juden zu tun trotz Dagobert Runes widerlichen Andeutungen; es bedeutet, dass, solange die Gesellschaft von den Warenbeziehungen beherrscht wird, die menschlichen Wesen nicht ihre eigenen gesellschaftlichen Kräfte erobern können und entfremdet von allen anderen bleiben.

Gleichzeitig schuf Marx das Fundament für eine materialistische Analyse der jüdischen Frage – ein Werk, das von späteren Marxisten wie Kautsky und insbesondere Abraham Leon[1] fortgesetzt wurde. Marx hebt im Gegensatz zur idealistischen Erklärung, die versuchte, das hartnäckige Überleben der Juden als Folge ihrer religiösen Überzeugung zu erklären, hervor, dass das Überleben ihrer abgesonderten Identität nur auf der Basis ihrer wahren Rolle in der Geschichte erklärt werden kann: „Das Judentum hat sich nicht trotz der Geschichte, sondern durch die Geschichte erhalten.“ (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 374). Und dies ist in der Tat verknüpft mit der Verbindung zwischen Juden und Geschäft: „Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden.“ (K. Marx, Zur Judenfrage, Werke Bd. 1, S. 372). Und hier benutzt Marx das Wortspiel des Judentums als Religion und des Judentums als Synonym für Handels- und Finanzmacht, das auf einen realistischen Kern fusste: die besondere sozio-ökonomische Rolle, die die Juden innerhalb des alten feudalen Systems gespielt hatten.

Leon gründet in seinem Buch Die jüdische Frage – eine marxistische Interpretation seine gesamte Untersuchung auf diese wenigen klaren Sätze in Zur Judenfrage und auf eine weitere Stelle im Kapital, in der „… die Juden in den Poren der polnischen Gesellschaft“ (K. Marx, Das Kapital, Werke Bd. 25, S. 342), verglichen werden mit den anderen „Handelsvölkern“ in der Geschichte. Ausgehend von den paar Brocken entwickelt er den Gedanken, dass die Juden in der antiken Gesellschaft und im Feudalismus als eine „Volksklasse“ fungierten, die sich grösstenteils auf Handels- und Geldbeziehungen in Gesellschaften beschränkte, die vornehmlich auf Naturalwirtschaft basierten. Besonders im Feudalismus war dies in religiösen Gesetzen kodifiziert, die es den Christen untersagten, Wucher zu treiben. Aber Leon hat Auch gezeigt, dass das Verhältnis des Juden zum Geld nicht immer nur auf den Wucher begrenzt war. Sowohl in der Antike als auch in der Feudalgesellschaft waren die Juden ein ausgeprägtes Handelsvolk und personifizierten die Warenbeziehungen, die noch nicht über die Wirtschaft herrschten, dafür aber die versprengten Gemeinschaften verbanden, in denen die Produktion grösstenteils für den direkten Verbrauch bestimmt war und die Masse des gesellschaftlichen Mehrwerts von der herrschenden Klasse direkt angeeignet und konsumiert wurde. Diese eigentümliche sozio-ökonomische Funktion (die natürlich eine allgemeine Tendenz war und nicht ein absolutes Gesetz für alle Juden) schuf die materielle Basis für das Überleben der jüdischen Gesellschaft innerhalb der feudalen Gesellschaft. Da, wo Juden andere Tätigkeiten ausübten, neigten sie allerdings schnell dazu, sich zu assimilieren.

Doch dies heisst nicht, dass die Juden die ersten Kapitalisten waren (ein Punkt, der im Aufsatz von Marx noch nicht richtig klar war, weil er die Natur des Kapitals noch nicht völlig begriffen hatte); im Gegenteil, es war der Aufstieg des Kapitalismus, der mit einigen der schlimmsten Phasen der antisemitischen Verfolgungen zusammenfiel. Im Gegensatz zum zionistischen Mythos, dass die Verfolgung der Juden eine Konstante in der gesamten Geschichte gewesen sei – und dass sie sich niemals davon frei machen könnten, solange sie sich nicht in einem eigenen Land sammeln[2] –, zeigt Leon auf, dass die Juden, solange sie eine „nützliche“ Rolle in diesen vorkapitalistischen Gesellschaften spielten, normalerweise toleriert und oft besonders geschützt wurden von den Monarchen, die deren finanzielle Geschicke und Dienste benötigten. Erst das Auftreten einer „einheimischen“ Händlerklasse, die begann, ihre Profite zu nutzen, um sie in die Produktion zu investieren (z.B. der englische Wollhandel, Schlüssel zum Ursprung der englischen Bourgeoisie), brachte das Unheil über die Juden, die nun eine überlebte Form der Warenwirtschaft verkörperten und als ein Hindernis bei der Entwicklung ihrer neuen Formen betrachtet wurden. Dies zwang immer mehr jüdische Händler in die einzige ihnen offen stehende Geschäftsform – den Kreditwucher. Doch brachte diese Praxis die Juden in direkten Konflikt mit den Hauptschuldnern in der Gesellschaft – dem Adel auf der einen Seite und den kleinen Handwerkern und Bauern auf der anderen. Es ist zum Beispiel bedeutsam, dass die schlimmsten Pogrome gegen die Juden in Westeuropa in jener Periode stattfanden, als der Feudalismus zu zerfallen begann und der Kapitalismus sich im Aufstieg befand. In England wurden die Juden Yorks und anderer englischer Städte 1189–1190 niedergemetzelt und die gesamte jüdische Bevölkerung vertrieben. Oft wurden die Pogrome vom Adel provoziert, der den Juden grosse Geldbeträge schuldete und in den Kleinproduzenten willige Anhänger fand, die ebenfalls oft bei jüdischen Geldleihern in der Kreide standen; beide hofften, aus der Auslöschung oder Vertreibung der Kreditwucherer, aus der Schuldenaussetzung sowie aus der Inbesitznahme des Privateigentums derselben einen nutzen zu ziehen. Die jüdische Emigration von West- nach Osteuropa in der Morgendämmerung der kapitalistischen Entwicklung bedeutete einen Rückzug auf traditionellere, noch feudal dominierte Gebiete, wo die Juden zu ihrer eigenen, traditionelleren Rolle zurückkehren konnten; im Gegensatz dazu neigten jene Juden, die in Westeuropa zurückblieben, dazu, sich der sie umgebenden bürgerlichen Gesellschaft anzupassen. Besonders eine jüdische Fraktion der kapitalistischen Klasse (verkörpert durch die Rothschild-Familie) war das Produkt jener Periode; parallel dazu entwickelte sich das jüdische Proletariat, obgleich sich sowohl die östlichen als auch die westlichen jüdischen Arbeiter vornehmlich auf die Handwerksbereiche und nicht die Schwerindustrie konzentrierten und die Mehrheit der Juden weiterhin dem Kleinbürgertum, oft in Gestalt der Kleinhändler, angehörte.

Diese Schichten – kleine Händler, Handwerker, Arbeiter – wurden durch den Zerfall des Feudalismus im Osten und durch das Aufkommen einer kapitalistischen Infrastruktur, die bereits viele Züge ihres Verfalls offenbarte, ins tiefste Elend gestossen. Im späten 19. Jahrhundert gab es neue antisemitische Verfolgungen in Russland, die einen neuerlichen jüdischen Exodus, diesmal in den Westen, auslösten, was erneut das jüdische Problem in den Rest der Welt, besonders nach Deutschland und Österreich „exportierte“. Diese Periode war Zeuge der Entwicklung der zionistischen Bewegung, die von links bis nach rechts dafür stritt, dass sich die Lage des jüdischen Volkes niemals normalisieren werde, solange es keine eigene Heimat habe – ein Argument, dessen Sinnlosigkeit, laut Leon, durch den Holocaust selbst bestätigt wurde, da nichts von dem durch das Auftreten einer kleinen „jüdischen Heimat“ in Palästina verhindert werden konnte.[3]

Abraham Leon, der inmitten des Nazi-Holocausts schrieb, zeigt, wie der Antisemitismus, der sich in Nazieuropa ausbreitete, die Dekadenz des Kapitalismus ausdrückt. Auf der Flucht vor den zaristischen Verfolgungen fanden die jüdischen Immigrantenmassen in Westeuropa keinesfalls eine Oase des Friedens und der Ruhe vor, sondern eine kapitalistische Gesellschaft, die bald von unlösbaren Widersprüchen gepeinigt und vom Weltkrieg und von einer Weltwirtschaftskrise verwüstet werden sollte. Die Niederlage der proletarischen Revolution nach dem Ersten Weltkrieg öffnete nicht nur einer zweiten imperialistischen Schlächterei Tür und Tor, sondern auch einer Form der Konterrevolution, die uralte antisemitische Vorurteile bis zum Exzess ausnutzte, indem sie den antijüdischen Rassismus sowohl praktisch als auch ideologisch als eine Basis dafür nutzte, um die Ausmerzung der proletarischen Gefahr zu vervollständigen und die Gesellschaft auf einen neuen Krieg einzustimmen. Wie die Internationale Kommunistische Partei (IKP) in Auschwitz – Das grosse Alibi, so konzentriert sich Leon insbesondere auf den Nutzen, den die Nazis aus den Erschütterungen des Kleinbürgertums zogen, das von der kapitalistischen Krise ruiniert worden war und leichte Beute für eine Ideologie war, die ihm versprach, es nicht nur von seinen jüdischen Konkurrenten zu befreien, sondern ihm auch offiziell zu gestatten, seine Hände über das jüdische Privateigentum auszubreiten (selbst wenn der Nazistaat in der Praxis dem Kleinbürgertum keinesfalls gestattete, davon zu profitieren, sondern den Löwenanteil sich selbst aneignete, um eine totale Kriegswirtschaft zu entfalten und aufrechtzuerhalten).

Gleichzeitig betrachtet Leon die wiederholte Verwendung des Antisemitismus als einen Sozialismus für Narren, als eine falsche Kritik des Kapitalismus, die die herrschende Klasse in die Lage versetzte, gewisse Bereiche der Arbeiterklasse, besonders ihre Randschichten oder jene in die Arbeitslosigkeit Gestossenen, einzubeziehen. In der Tat war der Begriff des ¸National‘-Sozialismus eine der direkten Reaktionen der herrschenden Klasse auf die enge Verknüpfung zwischen der authentischen revolutionären Bewegung und einer Schicht von jüdischen Arbeitern und Intellektuellen, die, wie Lenin hervorgehoben hatte, als heimatlose und verfolgte Elemente der bürgerlichen Gesellschaft sich ganz natürlich zum internationalen Sozialismus hingezogen fühlten. Der internationale Sozialismus wurde als ein Trick der jüdischen Weltverschwörung gebrandmarkt und den Proletariern wurde auferlegt, ihren Sozialismus mit Patriotismus zu kombinieren. Es sollte auch erwähnt werden, dass diese Ideologie ihr Spiegelbild in der UdSSR hatte, wo die Kampagne der Andeutungen gegen den „entwurzelten Kosmopolitismus“ als Mantel für antisemitische Verleumdungen gegen die internationalistische Opposition gegen die Ideologie und Praxis des „Sozialismus in einem Land“ diente.

Dies unterstreicht, dass die Verfolgung der Juden auch auf ideologischer Ebene wirkt und eine rechtfertigende Ideologie benötigt; im Mittelalter war es der christliche Mythos vom Christusmörder, Brunnenvergifter, Ritualmörder christlicher Kinder: Shylock und das Pfund Fleisch.[4] In der Dekadenz des Kapitalismus ist es der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung, die sowohl den Kapitalismus als auch den Kommunismus ausgeheckt habe, um den arischen Völkern ihre Herrschaft aufzuzwingen.

In den 1930er Jahren bemerkte Trotzki, dass der Niedergang des Kapitalismus einen fürchterlichen Rückgang auf ideologischer Ebene ausgebrütet hat:

„Der Faschismus entdeckte den Bodensatz der Gesellschaft für die Politik. Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in den Wolkenkratzern der Städte lebt neben dem zwanzigsten Jahrhundert heute noch das zehnte oder dreizehnte. Hunderte Millionen Menschen benutzen den elektrischen Strom, ohne aufzuhören, an die magische Kraft von Gesten und Beschwörungen zu glauben. Der römische Papst predigt durchs Radio vom Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein. Kinostars laufen zur Wahrsagerin. Flugzeugführer, die wunderbare, vom Genie des Menschen erschaffene Mechanismen lenken, tragen unter dem Sweater Amulette. Was für unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit, Wildheit! Die Verzweiflung hat sie auf die Beine gebracht, der Faschismus wies ihnen die Richtung. All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden musste, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei. Das ist die Physiologie des Nationalsozialismus.“

Diese Elemente kommen alle in den Nazifantastereien über die Juden zusammen. Der Nationalsozialismus machte kein Hehl aus seiner ideologischen Rückentwicklung – er griff offen auf die vorchristlichen Gottheiten zurück. Der Nationalsozialismus war in der Tat eine okkultistische Bewegung, die die direkte Kontrolle über die Regierungsmittel ergriffen hatte; und wie andere Okkultismen betrachtete er sich in einer Schlacht mit einer anderen verborgenen und satanischen Macht – in diesem Fall mit den Juden. Und diese Mythologien, die sicherlich für sich genommen in all ihren psychologischen Aspekten betrachtet werden können, nahmen eine eigene Logik an und speisten den Moloch, der zu den Vernichtungslagern führte.

Jedoch ist diese ideologische Irrationalität niemals getrennt von den materiellen Widersprüchen des kapitalistischen Systems zu sehen – sie ist nicht, wie zahllose bürgerliche Denker zu argumentieren versuchen, der Ausdruck irgendeines metaphysischen Prinzips des Übels, irgendeines unergründlichen Mysteriums. Im Artikel über Polanskis Film Der Pianist in der Internationalen Revuer Nr. 113 zitierten wir die IKP über die kühl-kalkulierende „Vernunft“ hinter dem Holocaust – die Industrialisierung des Mordens, in der ein Maximum an Profit aus jeder Leiche ausgepresst wurde. Doch gibt es noch eine andere Dimension, auf die die IKP nicht eingeht: die Irrationalität des kapitalistischen Krieges selbst. Denn die „Endlösung“ – in der Metapher des Weltkriegs, der erst ihre Voraussetzung schuf – wird durch die ökonomischen Widersprüche provoziert und gibt nicht die Jagd nach Profiten auf, sondern wird zu einem zusätzlichen Faktor in der Verschlimmerung des wirtschaftlichen Ruins. Und auch wenn der Gebrauch von Zwangsarbeit durch die Kriegswirtschaft erforderlich wurde, so war andererseits die ganze Maschinerie der Konzentrationslager eine immense Belastung der deutschen Kriegsanstrengungen.

Die Lösung des jüdischen Problems

160 Jahre später bleibt die Essenz dessen, was Marx als Lösung für das jüdische Problem vorschlug, immer noch gültig: Die Abschaffung der kapitalistischen Verhältnisse und die Bildung einer wirklichen menschlichen Gemeinschaft. Natürlich ist dies auch für alle verbleibenden nationalen Probleme die einzig mögliche Lösung: Der Kapitalismus hat sich als unfähig erwiesen, sie zu lösen. Die jüngste Manifestation des jüdischen Problems, die auf besondere Weise mit dem imperialistischen Konflikt im Nahen Osten verknüpft ist, ist der beste Beweis dafür.

Die „Lösung“, die von der „jüdischen Befreiungsbewegung“, dem Zionismus, vorgeschlagen wird, ist zum Kern des Problems geworden. Die grösste Quelle der jüngsten Wiederbelebung des Antisemitismus ist weder direkt mit einer besonderen ökonomischen Funktion der Juden in den entwickelten Ländern verknüpft noch ein Problem der jüdischen Einwanderung in diese Regionen. Hier hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg der Rassismus auf die Einwanderungswellen aus den früheren Kolonien verschoben; mit der erst jüngst artikulierten Wut über die „Asylsuchenden“ richtet er sich zuallererst gegen die Opfer der ökonomischen, ökologischen und militärischen Verwüstung, die ein zerfallender Kapitalismus auf dem Planeten bewirkt. Der „moderne“ Antisemitismus ist in erster Linie mit dem Konflikt in Nahost verbunden. Israels unverhüllte imperialistische Politik in der Region und die unerschütterliche Unterstützung, die die USA dieser Politik gewähren, haben die alten Mythen von einer jüdischen Weltverschwörung neu entfacht. Millionen von Moslems sind von dem landläufigen Mythos überzeugt, dass „40.000 Juden am 11. September den Twin Towers fernblieben, weil sie im Voraus über den bevorstehenden Angriff gewarnt wurden“ – dass „die Juden es taten“. Ganz zu schweigen davon, dass diese Behauptung von Leuten begeistert aufgestellt wurde, die gleichzeitig Bin Laden verteidigen und zu den terroristischen Angriffen Beifall klatschen![5] Die Tatsache, dass etliche führende Mitglieder der Bush-Clique, die „Neokonservativen“, die heute die tatkräftigsten und ausdrücklichsten Advokaten des „neuen amerikanischen Jahrhunderts“ sind, Juden sind (Wolfowitz, Perle, etc.), ist Wasser auf diesen Mühlen, manchmal mit einem linken Touch versehen. In Grossbritannien gab es erst jüngst eine Kontroverse über die Tatsache, das Tam Dalyell, eine „Antikriegs-“Figur auf der Linken Labours, offen über den Einfluss der „jüdischen Lobby“ auf die US-Aussenpolitik und selbst auf Blair sprach; und er wurde gegen die Vorwürfe des Antisemitismus von Paul Foot von der Socialist Workers Party verteidigt, der lediglich bemängelte, dass er von Juden und nicht von Zionisten sprach. In der gegenwärtigen Praxis wird die Unterscheidung zwischen beiden in wachsendem Masse von den Abhandlungen der Nationalisten und Dschihadisten verwischt, die den bewaffneten Kampf gegen Israel anführen. In den 60er und 70er-Jahren behaupteten die PLO und ihre linksbürgerlichen Anhänger, dass sie in Frieden mit den Juden in einem demokratischen, säkularen Palästina zusammenleben wollen; doch heute ist die Ideologie der Intifada, nämlich der islamische Fundamentalismus, dominierend und macht keinen Hehl aus seinem Wunsch, die Juden aus der Region zu vertreiben oder sie geradewegs auszulöschen. Was den Trotzkismus anbelangt, stand er lange in den Reihen des nationalistischen Pogroms. Wir haben bereits Abraham Leons Warnung erwähnt, dass der Zionismus nichts tun konnte, um die Juden im kriegsumtobten Europa zu retten; heute können wir hinzufügen, dass die Juden, die am meisten von der physischen Zerstörung bedroht sind, just im Heiligen Land des Zionismus leben. Der Zionismus hat nicht nur ein riesiges Gefängnis für die palästinensischen Araber errichtet, die unter seinem erniedrigenden Regime der militärischen Besetzung und der brutalen Gewalt leben; er hat auch die israelischen Juden selbst in eine grauenhafte Spirale des Terrorismus und des Gegenterrors gesperrt, die kein imperialistischer „Friedensprozess“ aufzuhalten vermag.

Der Kapitalismus hat in seiner Dekadenz all die Dämonen des Hasses und der Zerstörung heraufbeschworen, die die Menschheit quälen, und sie mit den verheerendsten Waffen aller Zeiten ausgerüstet. Er hat dem Völkermord in einer nie dagewesenen Weise Vorschub geleistet und zeigt keinerlei Anzeichen, damit aufzuhören; trotz des Holocausts an den Juden, trotz der Rufe des „Nie-wieder!“ haben wir nicht nur die Wiederkehr eines virulenten Antisemitismus gesehen, sondern auch ethnische Massaker, die vergleichbar mit dem Holocaust sind wie das Gemetzel an Hunderttausenden von Tutsis in Ruanda innerhalb weniger Wochen sowie die endlosen Runden ethnischer Säuberungen auf dem Balkan, die in den 90er Jahren Jugoslawien verwüsteten. Die Wiederkehr des Genozids ist charakteristisch für den dekadenten Kapitalismus in seiner finalen Phase – jener des Zerfalls. Diese fürchterlichen Ereignisse verschaffen uns eine Ahnung von der Zukunft, die das Endspiel des Zerfalls in petto hält: die Selbstzerstörung der Menschheit. Und wie bei den Nazis in den 30er Jahren erblicken wir zusammen mit diesen Massakern die Rückkehr der reaktionärsten und apokalyptischsten Ideologien überall auf dem Planeten – der islamische Fundamentalismus, der sich auf Rassenhass und dem Mystizismus des Freitods gründet, ist der deutlichste Beleg hierfür, aber nicht der einzige: Wir können gleichermassen den christlichen Fundamentalismus anführen, der beginnt, Einfluss auf die höchsten Ränge der Macht in der mächtigsten Nation der Erde auszuüben, den wachsenden Griff der jüdischen Orthodoxie auf den israelischen Staat, den Hindufundamentalismus in Indien, welcher, wie sein muslimisches Spiegelbild in Pakistan, mit Nuklearwaffen ausgerüstet ist, die „faschistische“ Wiedergeburt in Europa. Auch sollten wir nicht die Religion der Demokratie ausser acht lassen; so wie bereits während der Periode des Holocausts hat sich die Demokratie, mit den auf US- und britischen Panzern flatternden Fahnen in Afghanistan und im Irak, als die andere Seite der Medaille gezeigt, als Feigenblatt für totalitäre Repression und imperialistischen Krieg. All diese Ideologien sind Ausdrücke eines Gesellschaftssystems, das in einer totalen Sackgasse steckt und der Menschheit nichts als Zerstörung anbieten kann.

Der Kapitalismus in seinem Niedergang hat eine Unzahl von nationalen Antagonismen geschaffen, welche er sich als unfähig zu lösen erwiesen hat; er hat sie vielmehr dazu genutzt, um seinen Kurs zum imperialistischen Krieg zu verfolgen. Der Zionismus, der nur in der Lage war, seine Ziele in Palästina zu erreichen, indem er sich selbst den Erfordernissen zunächst des britischen, schliesslich des amerikanischen Imperialismus unterordnete, ist ein klarer Beleg für diese Regel. Doch im Gegensatz zur antizionistischen Ideologie ist er keineswegs ein Sonderfall. Alle nationalistischen Bewegungen haben in genau derselben Weise gehandelt, einschliesslich des palästinensischen Nationalismus, der als Agent etlicher, kleiner oder grosser imperialistischer Mächte fungiert hat, von Nazideutschland zur UdSSR und zum Irak, nicht zu vergessen einige heutige Mächte in Europa. Rassismus und nationale Unterdrückung sind Realitäten in der kapitalistischen Gesellschaft, doch die Antwort darauf liegt nicht in irgendeinem Schema für nationale Selbstbestimmung oder in der Fragmentierung der Unterdrückten in einer Unmenge von Teilbewegungen (Schwarze, Schwule, Frauen, Juden, Moslems, etc.). Alle diese Bewegungen haben sich als Hilfsmittel für den Kapitalismus erwiesen, die Arbeiterklasse zu spalten und sie daran zu hindern, ihre eigene Identität zu erkennen. Nur durch die Entwicklung dieser Identität, durch ihre praktischen und theoretischen Auseinandersetzungen kann die Arbeiterklasse all die Spaltungen innerhalb ihrer Reihen überwinden und sich selbst zu einer Macht zusammenschweissen, die imstande ist, dem Kapital die Macht zu entreissen.

Dies bedeutet nicht, dass alle nationalen, religiösen und kulturellen Fragen automatisch verschwinden werden, sobald der Klassenkampf eine gewisse Höhe erreicht hat. Die Arbeiterklasse wird die Revolution machen, lange bevor sie sich all der Bürden der Vergangenheit entledigt hat bzw. lange vor dem eigentlichen Prozess der Entledigung; und in der Übergangsperiode zum Kommunismus wird sie mit einer Unmenge an Problemen hinsichtlich des religiösen Glaubens und kultureller oder ethnischer Identitäten konfrontiert werden, wenn sie versucht, die Gesamtheit der Menschen in einer globalen Gemeinschaft zu vereinen. Es ist selbstverständlich, dass das siegreiche Proletariat niemals besondere kulturelle Ausdrücke gewaltsam unterdrücken und noch weniger die Religion ausser Gesetz stellen wird; die Erfahrung der Russischen Revolution hat demonstriert, dass solche Versuche dazu dienen, die Herrschaft solcher überholter Ideologien wieder zu verstärken. Die Mission der proletarischen Revolution besteht, wie Trotzki energisch vertrat, darin, die materiellen Fundamente für die Synthese des Besten aus den vielen verschiedenen kulturellen Traditionen in der Geschichte des Menschen zu legen – für die erste wahrhaft menschliche Kultur. Und somit kehren wir zum Marx von 1843 zurück: Die Lösung der jüdischen Frage ist wirkliche menschliche Emanzipation, die es dem Menschen letztendlich erlauben wird, die Religion abzuschaffen, indem die sozialen Wurzeln der religiösen Entfremdung ausgemerzt werden.

Amos

Fußnoten:

1. Abraham Leon war ein Jude polnischer Herkunft, der in den 20er und 30er Jahren in Belgien aufwuchs. Er begann sein politisches Leben als Mitglied der „Sozialistischen Zionisten“, der Pioniergruppe Haschomair Hatsair, doch er brach mit dem Zionismus, nachdem die Moskauer Prozesse ihn in die trotzkistische Opposition getrieben hatten. Die Tiefe und Klarheit seines Buches zeigt, dass in dieser Periode der Trotzkismus noch eine Strömung der Arbeiterbewegung war; und obwohl es just in jener Zeit geschrieben wurde, als sich dies zu ändern begann (in den frühen 40er Jahren, während der deutschen Okkupation Belgiens), schien der marxistische Unterbau noch durch. Leon wurde 1944 verhaftet und kam in Auschwitz um.

2. Es ist nicht weniger ein Mythos, wie Leon hervorhebt, dass die Probleme der Juden alle auf die Zerstörung des Tempels durch die Römer und die sich „anschliessende“ Diaspora zurückgeführt werden könnten; tatsächlich aber gab es bereits eine grosse jüdische Diaspora in der antiken Welt vor den Ereignissen, die das endgültige Verschwinden der antiken jüdischen „Heimat“ bewirkten.

3. In der Tat war der Zionismus einer von vielen bürgerlichen Kräften, die sich der „Befreiung“ der Juden in Europa widersetzten und ihnen die Erlaubnis verweigerten, nach Amerika oder sonstwohin... ausser nach Palästina, zu fliehen. Der zionistische Held David Ben-Gurion drückte dies in einem Brief an die jüdische Exekutive vom 17.Dezember 1938 sehr deutlich aus: „Das Schicksal der Juden in Deutschland ist kein Ende, sondern ein Anfang. Andere antisemitische Staaten werden von Hitler lernen. Millionen von Juden sehen sich der Vernichtung gegenüber, das Flüchtlingsproblem hat weltweite Ausmasse und Dringlichkeit angenommen. Grossbritannien versucht, die Flüchtlingsfrage von der Palästinafrage zu trennen (...) Wenn die Juden die Wahl hätten zwischen den Flüchtlingen, ihrer Rettung vor den Konzentrationslagern und der Unterstützung eines Nationalmuseums in Palästina, würde das Mitleid die Oberhand behalten und die ganze Energie des Volkes wird sich auf die Rettung von Juden aus etlichen Ländern konzentrieren. Der Zionismus würde nicht nur in der Weltöffentlichkeit, sondern auch in der jüdischen Öffentlichkeit von der Bildfläche verschwinden. Wenn wir einer Trennung zwischen dem Flüchtlingsproblem und dem Palästinaproblem zustimmten, riskierten wir die Existenz des Zionismus.“ (eigene Übersetzung) 1943, als der Holocaust voll im Gange war, schrieb Itzhak Greenbaum, Kopf des Jewish Agency Rescue Comittee, an die zionistische Exekutive, dass, „wenn ich gefragt würde, ob ich Geld von der United Jewish Appeal geben würde, um Juden zu retten, würde ich ¸Nein und noch einmal: Nein‘ sagen. Meiner Ansicht nach müssen wir uns allem entgegenstellen, was die zionistischen Aktivitäten ins zweite Glied stellt.“ (eigene Übersetzung) Solch eine Haltung – welche bis hin zu offener Zusammenarbeit zwischen Nationalsozialismus und Zionismus ging – demonstrierte eine „theoretische“ Annäherung zwischen Zionismus und Antisemitismus, da beide die Ansicht teilen, dass der Judenhass eine ewige Wahrheit ist.

4. Shylock ist ein Charakter in Shakespeares Bühnenstück Der Kaufmann von Venedig. Er wird dargestellt als Archetyp eines jüdischen Wucherers, der der Hauptfigur des Stücks Geld leiht, aber vom Kaufmann „ein Pfund seines eigenen Fleisches“ als Garantie für das Geliehene fordert.

5. Dies bedeutet nicht, dass es keine Verschwörung im Zusammenhang mit dem 11. September gegeben hat; doch sie der fiktiven Kategorie „Juden“ zuzuschreiben dient dazu, die Schuld einer wirklichen Kategorie, der Bourgeoisie nämlich und insbesondere der Staatsmaschinerie der amerikanischen Bourgeoisie, zu verdecken. Siehe unseren Artikel über diese Frage in Internationale Revue, Nr. 29, „Pearl Harbor, Twin Towers – Der Machiavellismus der herrschenden Klasse“.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Antifaschismus/-rassismus [1]

Theoretische Fragen: 

  • Religion [2]

Bericht über die Wirtschaftskrise (Auszüge)

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Die Festtage der „Wirtschaftsblüte“ brutal beendet

Alle Diskurse über eine angeblich neue Weltordnung nach dem Fall der Berliner Mauer sind schnell durch die Vervielfachung von Kriegen und Genoziden entkräftet worden. Dennoch muss man feststellen, dass all die ideologischen Kampagnen über die „Demokratie“ und die kapitalistische „Prosperität“ ein gewisses Echo gefunden haben und schwer auf dem Bewusstsein der Ausgebeuteten lasten.

Der Zusammenbruch des Ostblocks sollte gigantische „neue Märkte“ eröffnen und eine wirtschaftliche Entwicklung in eine neue Weltordnung des Friedens und der Demokratie einleiten. Im Lauf der 90er Jahre sind diese Vorhersagen über die angebliche Wirtschaftsentwicklung durch eine Medienschlacht über die „aufstrebenden“ Länder wie Brasilien oder diejenigen Südostasiens begleitet worden. Die New Economy trat Ende der 90er Jahre in diese Fussstapfen: Sie sollte nun eine neue Expansionsphase auf der Grundlage einer technologischen Revolution herbeiführen. Wie sieht es mit der Realität aus? Alles lügenhafte Vorhersagen! Nach den ärmsten Ländern der Dritten Welt, die seit zwei bis drei Jahrzehnten einen Rückgang des Bruttoinlandprodukts (BIP) pro Kopf einstecken, brach nun die „zweite Welt“ mit dem ökonomischen Desaster der Ostblockländer zusammen. Es folgte der Bankrott Russlands und Brasiliens 1998. Japan befindet sich seit Beginn der 90er-Jahre in einer Krise und acht Jahre später befand sich die gesamte Zone Südostasiens in einem ernsthaften Krankheitszustand. Die Ideologen des Kapitalismus haben die Länder Südostasiens lange als den neuen Entwicklungspol des 21. Jahrhunderts betrachtet. Sie sind bald eines Besseren belehrt worden, denn sie sind zwischenzeitlich alle eines nach dem anderen mehr oder weniger zusammengebrochen. Während sich die E-Economy (Emergent-Economy) in den entwickelten Ländern in den Jahren 2000 und 2001 in einen E-Crash verwandelte, sind die „aufstrebenden“ Länder schon abgestürzt. Die Zerbrechlichkeit dieser Ökonomien ist kaum in der Lage, einige Zehntelprozentpunkte am BIP zusätzlich an Verschuldung zu verkraften. So mussten sich nach der Verschuldungskrise Mexikos zu Beginn der 80er Jahre bald auch andere Länder auf die Liste setzen lassen: Brasilien und Mexiko noch einmal 1994, die Länder Südostasiens, Russland, die Türkei, Argentinien usw. Die Rezession, die die am weitesten entwickelten Länder erfasst hat, wirkt sich nun nicht mehr nur auf die alten technologischen Sektoren (Kohleabbau, Verhüttung usw.) oder die bereits zur Reife gelangten (Schiffbau, Automobilbranche usw.), sondern auch auf diejenigen aus, die eigentlich die Blüte, den Schmelztiegel der „neuen industriellen Revolution“ der New Economy bilden sollten: die Informatik, das Internet, die Telekommunikation, die Raumschifffahrt usw. Hier gehen die Firmenzusammenbrüche in die Hunderte; es folgen Restrukturierungen, Fusionen und Akquisitionen und Hunderttausende von Entlassungen, Lohnkürzungen mit der einhergehenden Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.

Mit dem Zusammenbruch der Aktienkurse derjenigen Unternehmen, die am Ursprung der neuen Blütephase des Kapitalismus stehen sollten, und mit der Rezession, die bereits ihre zerstörerische Wirkung entfaltet, beginnen heute die ideologischen Mystifikationen der Bourgeoisie bezüglich der Krise zu erodieren. Deshalb vervielfacht die Bourgeoisie die falschen Erklärungen über die gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Für sie handelt es sich darum, die Ernsthaftigkeit der Krankheit ihres Wirtschaftssystems zu verheimlichen, um die Bewusstseinsentwicklung des Proletariats über die Sackgasse des Kapitalismus zu verhindern.

Der Kapitalismus versinkt unerbittlich in der Krise

Entgegen den Erklärungen der herrschenden Klasse ist die wirtschaftliche Verschlechterung keineswegs das Produkt des Einsturzes der Twin Towers in den USA, selbst wenn er tatsächlich für gewisse Sektoren wie die Luftfahrt oder den Tourismus noch verschärfende Auswirkungen hatte. Die brutale Verlangsamung des amerikanischen Wachstums beginnt mit dem Platzen der Internet-Blase im März 2000, und das Niveau der wirtschaftlichen Aktivitäten war zu Beginn des Sommers 2001 (siehe Grafik unten) schon schwach. Die Experten der OECD haben dies unterstrichen: „Die wirtschaftliche Verlangsamung hat in den USA im Jahr 2000 begonnen und auch andere Länder erfasst. Sie hat sich in einen weltweiten Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität verwandelt, dem sich nur wenige Länder oder Regionen entziehen konnten.“ (Le Monde, 21.1.2001). Die gegenwärtige Krise ist also nichts spezifisch Amerikanisches.

Der Kapitalismus ist in seine sechste Phase der offenen Rezession seit dem Wiederauftauchen der Krise auf der historischen Bühne Ende der 60er Jahre eingetreten: 1967, 1970–71, 1974–75, 1980–82, 1991–93, 2001–?, ohne den Zusammenbruch der Länder Südostasiens, Brasiliens usw. in den Jahren 1997–98 zu zählen. Seither liegt das Wirtschaftswachstum jedes Jahrzehnt tiefer als im Vorhergehenden(siehe Grafik oben):

1962–69: 5,2%

1970–79: 3,5%

1980–89: 2,8%

1990–99: 2,6%

2000–02: 2,2%

Im Jahr 2002 betrug das Wachstum in der Eurozone kaum 0,7%, während es in den USA immerhin noch auf 2,4% zu liegen kam. Aber auch diese Zahl steht kaum höher als in den 90er Jahren. Wenn man sich im Übrigen auf die wirtschaftlichen Grundlagen beschränkt, hätte die US-Wirtschaft seit 1997 auf der Stelle treten sollen, denn die Profitrate wuchs bereits nicht mehr weiter (siehe Grafik auf Seite 12).

Gemäss den bürgerlichen Kommentatoren charakterisiert die gegenwärtige Rezession die Geschwindigkeit und die Intensität ihrer Entwicklung. Die USA, die bedeutendste Wirtschaft der Welt, sind sehr schnell in die Rezession eingetaucht. Der Rückgang des amerikanischen BIP ist viel stärker als in der vorhergehenden Rezession und die Verschärfung der Arbeitslosigkeit erreicht ein seit der Krise von 1974 nicht mehr gesehenes Niveau. Japan, der zweitstärksten Weltwirtschaftsmacht, geht es nicht besser. Selbst mit negativen realen Zinsen (die Haushalte und Unternehmen Japans verdienen mit der Verschuldung Geld!) rühren sich der Konsum und die Investitionen nicht vom Fleck. Und auch trotz massiven Ankurbelungsmassnahmen taucht die japanische Wirtschaft gerade in die dritte Rezession. Gemäss dem IWF handelt es sich um die stärkste Krise seit 20 Jahren, und Japan könnte das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg zwei Jahre hintereinander eine Kontraktion der wirtschaftlichen Aktivitäten erleben. Mit einer Reihe von Wiederankurbelungsplänen fügt Japan der astronomischen Verschuldung der Banken die öffentliche Verschuldung hinzu, die bereits den grössten Umfang aller Industrieländer aufweist. Sie beträgt 2002 130% des BIP und wird 2003 153% erreichen.

Die Verschärfung der Widersprüche des dekadenten Kapitalismus

Im 19. Jahrhundert, in der Periode des aufsteigenden Kapitalismus, befand sich die Bilanz der öffentlichen Finanzen (Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben) von sechs grossen Staaten (USA, Japan, Kanada, Frankreich, Grossbritannien und Italien) nur ausnahmsweise im negativen Bereich und dies hauptsächlich in Kriegszeiten. Sie ist meist stabil bis 1870 und verbessert sich ständig bis 1910. Der Kontrast zur Periode der Dekadenz ist scharf, denn es gibt fast immer ein Defizit mit Ausnahme von vier Jahren am Ende der 20er Jahre und den zwanzig Jahren zwischen 1950 und 1970. Es vergrössert sich sowohl in Kriegs- als auch in Krisenzeiten (siehe Grafik unten).

Das Gewicht der öffentlichen Verschuldung in Prozent am BIP nimmt in der gesamten aufsteigenden Phase ab. Der Anteil übersteigt im Allgemeinen niemals die 50%-Marke. Er explodiert mit dem Eintritt in die Dekadenz und nimmt nur in den Jahren 1950 bis 1980 ab, jedoch ohne jemals unter die 50%-Marke zu fallen. Er steigt danach in den Jahren 1980 bis 1990 (siehe Grafik auf Seite 14).

Dieser Schuldenberg stellt nicht nur in Japan, sondern auch in den anderen entwickelten Ländern ein potenziell destabilisierendes Pulverfass dar. Eine grobe Schätzung der weltweiten Verschuldung der Gesamtheit aller Wirtschaftsakteure (Staaten, Unternehmen, Haushalte, Banken) schwankt zwischen 200 und 300% des Weltsozialprodukts. Das bedeutet konkret zweierlei Dinge: Einerseits hat das System ein monetäres Äquivalent im Umfang des zwei- bis dreifachen Wertes der gesamten globalen Produktion vorgeschossen, um der drückenden Überproduktion entgegenzutreten; anderseits müsste man zwei bis drei Jahre gratis arbeiten, um diese Schulden zu begleichen. Eine solch massive Verschuldung können die entwickelten Ökonomien heute noch ertragen, die „aufstrebenden“ Länder hingegen drohen eines nach dem anderen daran zu ersticken. Diese auf Weltebene phänomenale Verschuldung ist historisch beispiellos und drückt gleichzeitig sowohl die Tiefe der Ausweglosigkeit aus, in der sich der Kapitalismus befindet, als auch seine Fähigkeit zur Manipulation des Wertgesetzes, um die Zahlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. In der vergangenen Periode „haben sich die USA als herrschende Macht das Recht herausnehmen können, ihre Investi-

tionsanstrengungen und das starke Wachstum des Konsums finanzieren zu lassen“ (vgl. Revue Internationale, Nr. 111 „Apres l’euphorie, la gueule de bois“ /„Nach der Euphorie, der Kater“). Kein anderes Land als die USA hätten sich ein dermassen grosses Handelsbilanzdefizit zur Finanzierung des Wachstums leisten können. „Daraus ging eine klassische Überproduktionskrise hervor, die sich in einem Rückgang der Profitkurve und in einer Verlangsamung der Aktivitäten einige Monate vor dem 11. September 2001 manifestierten“ (ebd.). Man kann also in keiner Art und Weise über eine erneute Rückkehr des Wachstums basierend auf einer sog. neuen technologischen Revolution spekulieren. Die theoretischen Diskurse um die New Economy, der Betrug um letztere sowie die kürzlichen beträchtlichen Betrugsfälle führen zu einer ernsthaften Infragestellung der Richtigkeit der nationalen Buchführung auf der Basis der Berechnung des BIP. Das ist insbesondere in den USA der Fall. Seit dem Ausbruch der Enron-Affäre hat man gesehen, dass ein guter Teil der New Economy bloss fiktiv ist. Hunderte von Milliarden Dollars in den Unternehmensbuchführungen haben sich in Nichts aufgelöst. Dieser Zyklus ist übrigens mit einem Börsenkrach beendet worden, der besonders stark die Sektoren betraf, die eben gerade am Anfang dieses neuen Kapitalismus stehen sollten.

Die Fabel vom „schlanken Staat“

“Die direkten Ursachen der Verstärkung des kapitalistischen Staates sind ein Ausdruck der Schwierigkeiten, die von dem Widerspruch zwischen den Produktionsverhältnissen und der Entwicklung der Produktivkräfte herrühren.“ (siehe IKS-Broschüre „Die Dekadenz des Kapitalismus“)

Man versucht uns glauben zu machen, im Zuge von Liberalisierung und „Globalisierung“ hätten die Staaten praktisch keinen Einfluss mehr, dass sie gegenüber den Märkten und den supranationalen Organisationen wie dem IWF, der WTO etc. ihre Eigenständigkeit verloren hätten. Konsultiert man aber die Statistiken, so muss man feststellen, dass trotz den zwanzig Jahren „Neoliberalismus“ das globale ökonomische Gewicht des Staates (genauer gesagt des sogenannten nicht kommerziellen Bereichs: Ausgaben der ganzen öffentlichen Verwaltung und einschliesslich der staatlichen Sozial- und Krankenversicherung) kaum abgenommen hat. Das globale ökonomische Gewicht des Staates nimmt zu, auch wenn dies in einem weniger stetigen Rhythmus geschieht, und erreicht einen Anteil von 45 bis 50% bei den 32 Ländern der OECD, wobei er bei den Vereinigten Staaten einen relativ niedrigen Anteil von etwa 35%, bei den nordischen Ländern einen relativ hohen Anteil von 60% bis 70% ausmacht (siehe Grafik).

Während der ganzen aufsteigenden Phase des Kapitalismus schwankte der Anteil des Staates (des nicht kommerziellen Bereichs) an der Mehrwertproduktion im Bereich von 10%. Im Laufe der dekadenten Phase des Kapitalismus klettert ebendieser Anteil progressiv in die Höhe und nähert sich in den OECD-Ländern im Jahr 1995 einem Wert von 50%. (Quelle: Weltbank, Bericht über die weltweite Entwicklung, 1997).

Diese Statistik enthüllt die künstliche Aufblähung der Wachstumsraten in der Epoche der kapitalistischen Dekadenz, insoweit als die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung zum Teil dasselbe zwei Mal in Rechung stellt. Tatsächlich umfasst der Verkaufspreis der Waren die Steuern, deren Betrag der Deckung der Staatsausgaben dient, nämlich die Kosten der Dienste ausserhalb des kommerziellen Bereich (Schulwesen, staatliche Sozial- und Krankenversicherung, Angestellte der öffentlichen Dienste). Die bürgerliche Ökonomie spricht diesen Dienstleistungen denselben Wert zu wie der Summe der Löhne, die den Angestellten bezahlt werden, welche diese Dienste leisten müssen. Nun wird diese Summe in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung dem im kommerziellen Bereich (dem einzigen produktiven Sektor) produzierten Mehrwert hinzugefügt, obwohl sie schon im Verkaufspreis der kommerziellen Güter inbegriffen ist (Berücksichtigung der Steuern und der Sozialversicherungsbeiträge im Preis der Waren). Infolgedessen erhöhen sich in der Periode der Dekadenz das BIP und die Wachstumsrate des BIP künstlich. Sie wachsen insoweit als der Anteil der öffentlichen Ausgaben mit der Zeit zunimmt (von einem 10%igen Anteil um 1913 zu einem 50%igen Anteil um 1995). Dieser Anteil war in der aufsteigenden Phase beinahe konstant geblieben (etwa 10%). Für diese Zeit wird zwar das BIP um 10% zu hoch geschätzt, aber die dieser Phase eigenen Wachstumsraten widerspiegeln die tatsächliche Entwicklung des Produktivsektors. In der Dekadenz hingegen wird die Leistungsfähigkeit des Kapitalismus durch das immense Anwachsen des unproduktiven Sektors – v. a. zwischen 1960 und 1980 – künstlich erhöht. Um das reelle Wachstum in der Dekadenz richtig zu bewerten, muss man vom BIP den seit 1913 wachsenden Anteil des unproduktiven Sektors abziehen. Das sind nahezu 40% des aktuellen BIP!

Betrachtet man das politische Gewicht des Staates, so stellt man auch hier eine deutliche Zunahme fest. Der Staatskapitalismus kann heute und konnte während dem ganzen 20. Jahrhundert keiner bestimmten politischen Schattierung zugeordnet werden. In den Vereinigten Staaten sind es die Republikaner (die „Rechten“), welche die Initiative einer staatlichen Unterstützung zwecks eines Wideraufschwungs ergreifen und die Fluggesellschaften und Versicherungsträger subventionieren. Im übrigen fördert die Regierung unmittelbar deren Erhaltung mithilfe des Gesetzes des „Kapitel 11“, welches den Gesellschaften ermöglicht, sich auf einfache Weise vor ihren Gläubigern zu schützen. Die von Bush angesetzte Wiederbelebung im budgetären Bereich hat gemäss Schätzungen des IWF den Bundesausgleich von einem 2,5%igen Überschuss des BIP im Jahr 2000 zu einem 1,5%igen Defizit des BIP im Jahr 2002 gebracht. Dieses Ausmass ist vergleichbar mit dem der kostspieligsten europäischen Staaten. Die mit der Regierung eng verbundene Zentralbank (die Federal Reserve) hat ihrerseits ihre Zinsen im Zusammenhang mit der immer deutlicher werdenden Rezession nach und nach gesenkt, um zur Ankurbelung des Wirtschaftsapparates beizutragen:

von 6,5% zu Beginn auf 2% zu Ende des Jahres 2001. Dies erlaubt unter anderem den überverschuldeten Haushalten, mehr Kredite abzu-

schliessen oder sie zu einem günstigeren Preis zu erhalten. Schliesslich erfordert der Zusammenhang dieser neuen Orientierung eine Abwertung des Dollars, um die Konkurrenzfähigkeit der amerikanischen Produkte wiederherzustellen und um Teile des Marktes wiederzugewinnen. In Japan wurden die Banken zweimal vom Staat unterstützt und einige wurden sogar verstaatlicht. In der Schweiz war es der Staat, der die gigantische Operation zur finanziellen Unterstützung der nationalen Fluggesellschaft Swissair organisierte. Auch in Argentinien setzt die Regierung mit dem Segen des IWF und der Weltbank ein breites staatliches Arbeitsprogramm ein und versucht damit, Arbeitsplätze wieder entstehen zu lassen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts instrumentalisierten die politischen Parteien den Staat, um ihren eigenen Interessen Vorrang zu verschaffen. In der dekadenten Periode hingegen sind es die globalen ökonomischen und imperialistischen Notwendigkeiten, welche die angemessene Politik diktieren, unabhängig von der politischen Richtung der aktuellen Regierungen. Diese von der Kommunistischen Linken entwickelte grundsätzliche Analyse wurde während dem ganzen 20. Jahrhundert reichlich bestätigt und ist heute mit den noch höheren Einsätzen aktueller denn je.

Die Entwicklung der Militärausgaben

Engels drückte Ende des 19. Jahrhunderts als erster die historische Alternative der dekadenten Phase des Kapitalismus aus: „Sozialismus oder Barbarei“. Rosa Luxemburg entwickelte daraus eine Vielzahl politischer und theoretischer Implikationen und die Kommunistische Internationale baute darauf ihre für die neue Periode charakteristische Formel auf: „Das Zeitalter der Kriege und Revolutionen“. Schliesslich waren es die Linkskommunisten, unter ihnen vor allem die Französische Kommunistische Linke, welche Art und Bedeutung des Krieges sowohl in der aufsteigenden als auch in der dekadenten Phase des Kapitalismus systematisierten und vertieften.

Man kann zweifelsohne bestätigen, dass – im Gegensatz zur aufsteigenden Phase – das Merkmal der kapitalistischen Dekadenz der Krieg in seinen unterschiedlichsten Formen ist: Weltkriege, lokale Kriege usw. Dazu wollen wir, als nützliche knappe historische Ergänzung, Auszüge aus dem Werk Das Zeitalter der Extreme (1994) des Historikers Eric Hobsbawm zitieren. Er beschreibt darin in Form jeweiliger Bilanzen die grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem „langen 19. Jahrhundert“ und dem „kurzen 20. Jahrhundert“:

“Wie sollen wir dem kurzen 20. Jahrhundert einen Sinn abgewinnen – vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion – diese Jahre, die, wie wir im Nachhinein sehen, eine kohärente und nunmehr abgeschlossene geschichtliche Periode darstellen? (...) Während des kurzen 20. Jahrhunderts wurden mehr Menschen auf Weisung und mit Erlaubnis ermordet als jemals zuvor in der Geschichte. (...) Es war ohne Zweifel das mörderischste Jahrhundert von allen, über das wir Aufzeichnungen besitzen: mit Kriegszügen von nie gekannten Ausmassen, sowohl was das Niveau, die Häufigkeit und die Dauer dieser Kriege betrifft (und welche seit den 20er Jahren kaum einen Unterbruch hatten), als auch bezüglich dem Ausmass der grössten Hungersnöte der Geschichte und den systematischen Genoziden. Im Unterschied zum langen 19. Jahrhundert, welches eine Periode des nahezu ununterbrochenen materiellen, intellektuellen und moralischen Fortschritts zu sein schien und auch wirklich war (...), sind wir seit 1914 Zeugen eines markanten Rückgangs dieser bis anhin für die entwickelten Länder als selbstverständlich angenommenen Werte. (...) Im Laufe des 20. Jahrhunderts zielten die Kriege zunehmend auf die Wirtschaft und die Infrastruktur der Staaten sowie auf deren zivilen Bevölkerungen. Seit dem Ersten Weltkrieg nahm in allen kriegerischen Ländern mit Ausnahme der Vereinigten Staaten die Zahl der zivilen Opfer im Vergleich zur Zahl der militärischen Opfer immer zu. (...) Um 1914 lag der letzte grosse Krieg ein Jahrhundert zurück (...). Die Mehrzahl der Kriege, welche die Grossmächte betrafen, waren von relativ kurzer Dauer. (...) Die Dauer der Kriege war eine Frage von Monaten oder sogar (wie beim Krieg von 1886 zwischen Preussen und Österreich) von Wochen. Zwischen 1871 und 1914 gab es in Europa keinen Konflikt, der die Armeen der Grossmächte in feindliches Gebiet getrieben hätte. (...) Es gab keinen Weltkrieg. (...) dies alles änderte um 1914 (...) 1914 leitete die „Epoche der Massaker“ ein (...). Im modernen Krieg werden alle Bürger hineingezogen und die Mehrheit von ihnen wird mobilisiert (...), der moderne Krieg wird mit Rüstung geführt, deren Produktion eine Umleitung der ganzen Wirtschaft erfordert und die in unvorstellbarem Umfang eingesetzt wird; der moderne Krieg erzeugt unglaubliche Zerstörungen, dominiert und verändert aber auch in jeder Hinsicht die Existenz der darin verwickelten Länder. Alle diese Phänomene sind also dem Krieg des 20. Jahrhunderts eigen. (...) Diente der Krieg dem Wirtschaftswachstum? Es ist klar, dass dem nicht so ist (...) über diese zunehmende Barbarei nach 1914 gibt es leider keinerlei Zweifel“.

Diese „Epoche der Massaker“, eingeleitet durch den Ersten Weltkrieg und im Gegensatz zum langen, deutlich weniger mörderischen 19. Jahrhundert, wird belegt durch die unterschiedliche Bedeutung der Militärausgaben in der aufsteigenden bzw. dekadenten Phase. Die Bedeutung des Anteils der Militärausgaben am Weltprodukt war während der ganzen aufsteigenden Phase des Kapitalismus relativ gering und quasi beständig, wohingegen sie in der Dekadenz kräftig zugenommen hat. Von 2% des Weltprodukts im Jahr 1860 steigt ihr Anteil auf 2,5% im Jahr 1913, während er 1938 7,2% und in den 1960er Jahren ungefähr 8,4% erreicht. Im Moment des Höhepunktes des Kalten Krieges Ende der 1980er Jahre erreicht der Anteil der Militärausgaben etwa 10% (Quellen: Paul Bairoch für das Weltprodukt und das SIPRI für die Militärausgaben). An den Rüstungsprodukten ist demnach speziell, dass sie im Gegensatz zu einer Maschine oder einem Konsumgut nicht auf produktive Weise verbraucht werden können (sie können die Produktivkräfte nur hemmen oder zerstören). Das bedeutet also eine Sterilisierung des Kapitals. Den 40%, die dem wachsenden Anteil der unproduktiven Ausgaben in der Dekadenzperiode entsprechen, müssen demnach noch 6%-Punkte hinzugefügt werden, welche der relativen Zunahme der Militärausgaben entsprechen, wodurch wir auf ein Weltprodukt schliessen müssen, welches um nahezu die Hälfte zu hoch veranschlagt ist. Dies gibt uns ein wahrheitsgetreueres Bild über die angebliche Leistungsfähigkeit des Kapitalismus im 20. Jahrhundert und der Kontrast zu der Epoche des langen 19. Jahrhunderts mit seinem „nahezu ununterbrochenen materiellen, intellektuellen und moralischen Fortschritt“ wird deutlich.

Die Zukunft bleibt in den Händen der Arbeiterklasse

Zweifelsohne wird mit der Entwicklung der Rezession auf internationalem Niveau die Bourgeoisie eine erneute und gewaltige Verschlechterung des Lebensstandards der Arbeiterklasse durchsetzen. Hinter dem Schleier des Kriegszustandes und im Namen der höheren Interessen der Nation profitiert dabei die herrschende Klasse der Vereinigten Staaten, um Sparmassnahmen durchzusetzen, die aufgrund der Erfordernisse im Zusammenhang einer fortschreitenden Rezession von langer Hand geplant wurden: massive Entlassungen, verschärfte Produktionszwänge, Ausnahmegesetze im Namen des Antiterrorismus, die in Wirklichkeit vor allem als Experimentierfeld zur Erhaltung der herrschenden sozialen Ordnung dienen. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hatte sich der Rüstungskurs während einiger Jahre verlangsamt, beschleunigte sich aber Mitte der 90er Jahre wieder sehr schnell. Der 11. September 2001 diente der Rechtfertigung einer noch stärkeren Rüstungsentwicklung. Die Militärausgaben der USA machen 37% der weltweiten Militärausgaben aus, welche in allen Ländern spürbar steigen. Überall auf der Welt befinden sich die Arbeitslosenquoten erneut im Ansteigen, mag es auch der Bourgeoisie gelungen sein, einen Teil des realen Ausmasses dieses Phänomens durch die Politik der sozialen Frage – Schaffung unsicherer Jobs und grobe Manipulationen der Statistiken – zu verbergen. Überall in Europa wurden die Budgets nach unten korrigiert und sind erneute Sparmassnahmen programmiert. Im Namen der Budgetstabilität, welche mit den Interessen der Arbeiterklasse nichts gemein hat, ist die herrschende Klasse Europas dabei, die Rentenfrage zu revidieren (Verringerung der Renten und Verlängerung des Berufstätigkeit). Und schon sind neue Massnahmen vorgesehen, um die „Schranken der Wachstumsentwicklung“ zu sprengen, wie es die Experten der OECD verhüllend ausdrücken. Sie sprechen von „einer Schwächung der Rigiditäten“ und „einer Begünstigung des Arbeitskräfteangebots“, währendem sie die Unsicherheit verschärfen und alle Sozialleistungen kürzen (Arbeitslosengeld, Gesundheitsvorsorge, verschiedene Beihilfen, etc.). Mit dem Börsenkrach entblössen die Rentensysteme heute ihr wahres Wesen: Sie sind ein Schwindel, um die Arbeiterklasse noch stärker ihrer Einkommen zu berauben. In Japan hat der Staat eine Restrukturierung für 40% der öffentlichen Institutionen geplant:

17 davon werden geschlossen und 45 weitere sollen privatisiert werden. Nachdem nun die erneuten Attacken auf das Proletariat in Zentren des Kapitalismus erfolgen, nimmt auch die Armut in der Peripherie des Kapitalismus schwindelerregende Ausmasse an. Die Situation der sogenannten „Schwellenländer“ ist in dieser Hinsicht bezeichnend, besonders in Ländern wie Argentinien, Venezuela oder Brasilien. In Argentinien ist das mittlere Einkommen pro Einwohner in den letzten drei Jahren um 2/3 gesunken. Dieses Debakel übertrifft das Ausmass des Zusammenbruchs der Vereinigten Staaten in den 30er Jahren. Die Türkei und Russland stehen dem kaum nach.

Für die Arbeiterklasse ergibt sich aufgrund der ökonomischen Sackgasse, des sozialen Chaos und der wachsenden Misere nur eine mögliche Antwort: Sie muss ihre Kämpfe auf ihrem eigenen Klassenterrain und in allen Ländern massiv steigern. Kein „demokratischer Machtwechsel“, kein Regierungswechsel, keine alternative Politik kann dem Kapitalismus im Todeskampf irgend ein Heilmittel bringen. Die Generalisierung und Vereinigung der weltweiten proletarischen Kämpfe, die einzig auf den Umsturz des Kapitalismus zielen können, sind die einzige Alternative, um die Gesellschaft aus dieser Sackgasse zu befreien. Selten in der Geschichte war die objektive Realität deutlicher, dass man nicht länger die Folgen des Kapitalismus bekämpfen kann, ohne Letzteren selbst zu zerstören. Die erreichte Stufenleiter der Zersetzung des Systems und die ernsthaften Konsequenzen sind derart, dass die Frage der Überwindung des Kapitalismus durch einen revolutionären Umsturz immer deutlicher als der für die Ausgebeuteten einzige „realistische“ Ausgang erscheint und weiterhin erscheinen wird. Die Zukunft bleibt in den Händen der Arbeiterklasse.

(Auszüge des Berichts über die Wirtschaftskrise, vom Dezember 2002; angenommen 15. Kongress der IKS)

Quellen:

– Wachstum de BIP (1962–2001): OECD

– Verschuldungsquote: Paul Masson und Michael Muss: "Long term tendencies in budget deficits and debst", Dokument über die Arbeit des IWF, 95/128 (Dezember 1995)

– Alternatives Economiques (Hors série): Der Zustand der Wirtschaft 2003.

– Maddison: Die Weltwirtschaft 1820–1992, OECD und zwei Jahrhunderte industrielle Entwicklung

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [3]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [4]

Die Verantwortung der Revolutionäre angesichts des Krieges

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Krieg war immer eine Prüfung für die Arbeiterklasse und die revolutionären Minderheiten.

Die Arbeiter sind die Ersten, die unter den Konsequenzen des Krieges leiden, entweder bezahlen sie den Preis durch eine verschärfte Ausbeutung oder mit ihrem eigenen Leben. Gleichzeitig stellt das vom Kapitalismus erzeugte Proletariat die einzige gesellschaftliche Kraft dar, die fähig ist, der Barbarei des Kapitalismus ein Ende zu setzen, indem sie ihn stürzt.

Dieser neue Golfkrieg, der auf die massive Verschärfung der imperialistischen Spannungen hinweist, zeigt der Welt die Bedrohung für die ganze Menschheit, die vom Weiterbestehen eines Systems ausgeht, das von der Geschichte verurteilt ist und dessen einzige Antwort auf die Krise seiner Wirtschaft die Flucht nach vorne in Krieg und Militarismus ist.

Die bürgerlichen Täuschungen entlarven

Obwohl die Arbeiterklasse zurzeit nicht imstande ist, die Aufgabe, die ihr die Geschichte stellt, durch einen revolutionären Kampf zu lösen, ist es wichtig, diesen neuen Ausbruch der Barbarei als einen möglichen Faktor der Bewusstseinsreifung in ihren Reihen zu sehen. Allerdings unternimmt die Bourgeoisie ihr Möglichstes, damit dieser Konflikt, dessen imperialistischen Charakter sie nicht mehr hinter humanitären Vorwänden oder der Verteidigung des internationalen Rechts verstecken kann, nicht der Entwicklung des Klassenbewusstseins zugute kommt. Zu diesem Zweck verfügt sie in allen Ländern über Medien-Arsenale und Ideologien zur Einpaukerei und Verdummung der Massen.

Welches auch immer die imperialistischen Interessen sind, die die verschiedenen nationalen Fraktionen der Bourgeoisie in Konflikt bringen, ihre Propaganda hat mindestens folgende zwei Themen gemeinsam: Es ist nicht der Kapitalismus, der insgesamt für die kriegerische Barbarei verantwortlich ist, sondern dieser oder jener einzelne Staat, dieses oder jenes Regime; der Krieg ist nicht der unausweichliche Ausdruck des Kapitalismus, sondern es bestehen Möglichkeiten, die Beziehungen zwischen den Nationen zu befrieden.

Gleich wie die Revolution bedeutet der Krieg einen Augenblick der Wahrheit für die Organisationen des Proletariats, der sie zwingt, sich klar zum einen oder andern Lager zu bekennen.

Entschlossen in der Arbeiterklasse intervenieren

Angesichts dieses Krieges, seiner Vorbereitung und seiner Begleitung durch die Bourgeoisie mittels einer Flut von pazifistischer Propaganda, ist es an den revolutionären Organisationen, die alleine einen klaren Klassenstandpunkt verteidigen, sich für eine entschlossene Intervention in ihrer Klasse zu mobilisieren. So war es ihre Verantwortung, lautstark den imperialistischen Charakter dieses Krieges und aller anderen seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts zu brandmarken, den proletarischen Internationalismus zu verteidigen, die allgemeinen Interessen des Proletariats jenen aller Fraktionen der Bourgeoisie entgegenzustellen, jegliche Unterstützung einer jeden nationalen Vereinigung zu verwerfen, die einzig mögliche proletarische Perspektive – die Entwicklung des Klassenkampfes in allen Ländern bis zur Revolution – voranzutreiben.

Die IKS hat ihre Kräfte mobilisiert, um mit allen ihren Möglichkeiten diese Verantwortung wahrzunehmen.

Sie hat durch den Verkauf ihrer Publikationen bei den pazifistischen Demonstrationen, die sich seit Januar in allen Ländern häuften, interveniert, und der Umfang der dabei getätigten Verkäufe zeugt von ihrer Entschlossenheit, mit ihren Positionen zu überzeugen. In einigen Ländern gab es Beilagen zu der territorialen Presse oder es wurden Aufrufe zu ausserordentlichen öffentlichen Veranstaltungen verbreitet. Diese haben in einigen Städten Kontakte und Diskussionen mit Menschen, die die IKS vorher nicht kannten, ermöglicht.

Am Tag nach den ersten Bombardierungen des Irak hat die IKS in grossem Umfang (gemessen an ihren bescheidenen Kräften) ihr Flugblatt in der Arbeiterklasse verbreitet. Dies geschah in den 14 Ländern, in denen die IKS organisatorisch präsent ist (siehe Liste auf der Rückseite unserer Veröffentlichungen), d. h. in 50 Städten auf allen Erdteilen ausser Afrika. In einigen Ländern wie zum Beispiel in Indien setzte die Verteilung des Flugblattes in zwei der wichtigsten Industriezentren die Übersetzung in weitere Sprachen wie Hindi oder Bengali voraus. Zahlreiche Sympathisanten haben uns beim Verteilen geholfen und haben damit die Verbreitung des Flugblattes begünstigt. Das Flugblatt wurde auch – selektiver – an pazifistischen Demonstrationen verteilt. Es wurde auf Russisch übersetzt, um es in Russland, wo die IKS nicht präsent ist, in Umlauf zu bringen. Bereits vom ersten Tag der Bombardierungen an war es in Englisch und Französisch auf der Internetsite der IKS abrufbar. Es wird auf dieser Internetsite nach und nach in allen Sprachen, in die es übersetzt wurde, erscheinen, darunter auch solche wie zum Beispiel Koreanisch, Farsi oder Portugiesisch, die in Ländern gesprochen werden, in denen die IKS nicht präsent ist.

Das revolutionäre Milieu zu seiner Verantwortung aufrufen

Es gibt andere revolutionäre Organisationen der kommunistischen Linken, die ebenfalls mit Flugblättern bei den pazifistischen Demonstrationen interveniert haben. Durch die Verteidigung eines unnachgiebigen Internationalismus gegenüber dem Krieg ohne die geringste Konzession an ein bürgerliches Lager unterscheiden sie sich vom ganzen links angehauchten Wust.

Gemäss ihrer Auffassung über das Vorhandensein eines revolutionären Milieus, das sich genau aus diesen Organisationen zusammensetzt, und auch gemäss der Praxis, die sie seit ihrem Anfang betreibt, hat sich die IKS im Hinblick auf eine gemeinsame Intervention gegenüber dem Krieg an diese Organisationen gewandt. Sie hat in einem an diese Gruppen gerichteten Schreiben erläutert, woraus eine solche Intervention bestehen könnte: „Das Verfassen und die Verbreitung eines gemeinsamen Textes, der den imperialistischen Krieg und die bourgeoisen Begleitkampagnen angreift“ oder „gemeinsame öffentliche Zusammenkünfte, an denen jede Gruppe neben den gemeinsamen Positionen, die uns einen, auch die spezifischen Punkte, die uns unterscheiden, vorstellen könnte“.

Wir veröffentlichen nachstehend den Inhalt unseres Aufrufs und eine erste Analyse der eingegangenen Antworten, die alle negativ sind. Diese Situation zeigt, dass das revolutionäre Milieu insgesamt sich der Tragweite seiner Verantwortung angesichts der aktuellen kriegerischen Situation, aber – schwerwiegender – in Bezug auf die notwendige Umgruppierung der Revolutionäre im Hinblick auf die Gründung der zukünftigen Partei des internationalen Proletariats nicht bewusst ist.

 

Vorschläge der IKS an die revolutionären Gruppen für eine gemeinsame Intervention gegenüber dem Krieg und Antworten auf unseren Aufruf

Nachstehend veröffentlichen wir zwei Schreiben mit Vorschlägen für eine gemeinsame Intervention gegenüber dem Krieg, die wir den Organisationen der kommunistischen Linken zukommen liessen. Nachdem wir von diesen Organisationen keine Antwort auf unser erstes Schreiben erhalten hatten, haben wir uns entschlossen, einen zweiten Brief mit – wie wir dachten – neuen, bescheideneren und leichter annehmbaren Vorschlägen zu versenden. Von den Organisationen, an die wir unseren Aufruf richteten,

– Bureau Interantional pour le Parti Revolutionnaire (BIPR)

– Partito Comunista Internazionale (Il Comunista, Le Prolétaire)

– Partito Comunista Internazionale (Il Partito Comunista)

– Partito Comunista Internazionale (Il Programma Comunista).

hatten nur das BIPR und der PCI (Le Prolétaire) zu antworten geruht. Dies sagt genug über die Selbstgenügsamkeit der zwei anderen Organisationen.

Unser Brief vom 11. Februar 2003

Genossen,

Die Welt ist auf dem Weg zu einem neuen Krieg mit tragischen Konsequenzen: Abschlachten der Zivilbevölkerung und der Proletarier in irakischen Uniformen, verschärfte Ausbeutung der Proletarier in den „demokratischen“ Ländern, auf die vorwiegend das enorme Wachstum der Militärausgaben ihrer Regierungen zurückfallen wird ... Dieser neue Golfkrieg, dessen Ziele viel weitreichender sind als im Krieg von 1991, könnte effektiv diesen weit hinter sich lassen sowohl bezüglich der Opfer und Leiden, als auch bezüglich der Zunahme der Instabilität, die er im ganzen Gebiet des Nahen Ostens, der bereits besonders stark von den imperialistischen Konflikten ergriffen ist, bringen wird.

Wie immer wenn sich ein Krieg nähert, sind wir auch heute Zeugen einer massiven Entfesselung von Lügenkampagnen mit dem Ziel, dass die Ausgebeuteten die neuen zukünftigen Verbrechen des Kapitalismus hinnehmen. Einerseits wird der vorbereitete Krieg als „Notwendigkeit, einen blutigen Diktator daran zu hindern, die Sicherheit der Welt mit seinen Massenvernichtungswaffen zu bedrohen“ betrachtet. Anderseits wird vorgegeben, dass „der Krieg nicht unvermeidbar sei und dass man sich auf die Tätigkeit der UNO stützen müsse“. Die Kommunisten wissen ganz genau, was diese Reden wert sind: Die Hauptinhaber von Massenvernichtungswaffen sind die Länder, die heute vorgeben, die Sicherheit des Planeten zu gewährleisten, und ihre Anführer haben nie gezögert, sie einzusetzen, wenn sie es für nötig hielten, ihre imperialistischen Interessen zu verteidigen. In Bezug auf die Staaten, die heute zum „Frieden“ aufrufen, wissen wir genau, dass sie dies tun, um ihre imperialistischen Interessen, die durch die Ansprüche der Vereinigten Staaten bedroht werden, besser zu verteidigen, und dass sie morgen nicht zögern werden, ihrerseits Massaker zu entfesseln, wenn ihre Interessen es befehlen. Die Kommunisten wissen auch, dass es nichts zu erwarten gibt von diesem „Räubernest“, wie sich Lenin bezüglich der Vorläuferorganisation der UNO ausdrückte.

Parallel zu den von den Regierungen und ihren Medien organisierten Kampagnen sehen wir auch beispiellose pazifistische Kampagnen – vor allem unter der Führung der Anti-Globalisierungs-Bewegungen – entstehen, die viel lautstärker und massiver sind als diejenigen von 1990–91 anlässlich des Ersten Golfkrieges oder 1999 anlässlich der Nato-Bombardierungen Jugoslawiens.

Der Krieg war immer eine zentrale Frage für das Proletariat und für die Organisationen, die seine Klasseninteressen und seine historische Perspektive, den Kapitalismus umzustürzen, verteidigen. Die Bewegungen, die in den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal eine klare, wahrhaft internationalistische Haltung gegen den Krieg einnahmen, waren die, die sich darauf an die Spitze der Oktoberrevolution 1917, der darauf folgenden revolutionären Welle und die Gründung der Kommunistischen Internationalen stellten. Unter Anderem hat die Geschichte während dieser Periode ebenfalls gezeigt, dass das Proletariat die einzige gesellschaftliche Kraft ist, die sich dem imperialistischen Krieg wirklich widersetzen kann, und zwar nicht durch das Verfolgen kleinbürgerlicher pazifistischer und demokratischer Illusionen, sondern durch das Führen des Kampfes gegen den gesamten Kapitalismus und gegen die pazifistischen Lügen auf dem eigenen Klassenterrain. In diesem Sinne hat uns die Geschichte ebenfalls gelehrt, dass die Anklage der imperialistischen Schlachterei und aller Erscheinungsformen des Chauvinismus durch die Kommunisten unbedingt von einer Anklage des Pazifismus begleitet sein muss.

Es kam der Linken der Zweiten Internationale (besonders den Bolschewiken) zu, mit grösster Klarheit die wirkliche internationalistische Haltung während der ersten imperialistischen Schlachterei zu verteidigen. Und es kam der kommunistischen Linken der Kommunistischen Internationalen (vor allem der italienischen Linken) zu, die internationalistische Position gegenüber dem Verrat der Parteien der Kommunistischen Internationalen und gegenüber dem Zweiten Weltkrieg zu vertreten.

Angesichts des Krieges, der vorbereitet wurde und der Lügenkampagnen, die heute entfesselt werden, ist es klar, dass nur die Organisationen, die an den historischen Kurs der kommunistischen Linken anknüpfen, wirklich in der Lage sind, eine wahrhaft internationalistische Haltung zu verteidigen:

1. Der imperialistische Krieg ist nicht das Resultat einer „schlechten“ oder „kriminellen“ Politik von dieser oder jener besonderen Regierung oder von diesem oder jenem Sektor der herrschenden Klasse: Es ist der Kapitalismus als Ganzes der für den imperialistischen Krieg verantwortlich ist.

2. In diesem Sinne kann die Haltung des Proletariats und der Kommunisten gegenüber dem Krieg keinesfalls sein, sich dem einen oder anderen Lager anzuschliessen – auch nicht auf „kritische“ Art und Weise: Die amerikanische Offensive gegen den Irak anzuklagen bedeutet konkret überhaupt nicht, diesem Land und seiner Bourgeoisie auch nur die geringste Unterstützung zu bringen.

3. Die einzige Position, die den Interessen des Proletariats entspricht, ist der Kampf gegen den Kapitalismus als Ganzes, also gegen alle Sektoren der Bourgeoisie weltweit, nicht mit der Perspektive eines „friedlichen Kapitalismus“, sondern für den Umsturz dieses Systems und die Errichtung der Herrschaft des Proletariats.

4. Der Pazifismus ist bestenfalls eine kleinbürgerliche Illusion mit der Neigung, das Proletariat von seinem Klassenterrain abzubringen; meistens ist er nur ein von der Bourgeoisie zynisch benutztes Instrument, um die Proletarier zur Verteidigung von „friedlichen“ und „demokratischen“ Sektoren der herrschenden Klasse in den imperialistischen Krieg einzubeziehen. Darum ist die Verteidigung der internationalistischen proletarischen Position nicht von der konzessionslosen Anklage des Pazifismus zu trennen.

Die aktuellen Gruppen der kommunistischen Linken teilen alle diese grundsätzlichen Positionen, trotz der Meinungsverschiedenheiten, die zwischen ihnen bestehen. Die IKS ist sich dieser Unterschiede sehr bewusst und hat nie versucht, sie zu vertuschen. Im Gegenteil, sie hat sich immer bemüht, die Meinungsverschiedenheiten mit den anderen Gruppen in ihrer Presse aufzuzeigen und die Punkte, die sie für verfehlt hält, zu bekämpfen. Vor diesem Hintergrund ist die IKS entsprechend der Haltung der Bolschewiken 1915 in Zimmerwald und der italienischen Fraktion in den 30er Jahren der Meinung, dass es die Verantwortung der wirklichen Kommunisten ist, der ganzen Arbeiterklasse auf breitestmögliche Art und Weise gegenüber dem imperialistischen Krieg und den bürgerlichen Kampagnen die grundlegenden Positionen des Internationalismus aufzuzeigen. Das bedeutet unserer Ansicht nach, dass die Gruppen der kommunistischen Linken sich nicht mit ihren je eigenen Interventionen in ihrer eigenen Ecke zufrieden geben dürfen, sondern dass sie sich zusammenschliessen müssen, um gemeinsam auszudrücken, was ihre gemeinsame Position ausmacht. Für die IKS hätte eine gemeinsame Intervention der unterschiedlichen Gruppen der kommunistischen Linken eine politische Wirkung in der Arbeiterklasse, die weit über die Summe ihrer Kräfte hinausginge, die – wie wir alle wissen – zurzeit ziemlich eingeschränkt sind.

Darum schlägt die IKS den angeschriebenen Gruppen vor, sich zu treffen, um gemeinsam alle möglichen Mittel zu diskutieren, die es der kommunistischen Linke erlauben, geeint für die Verteidigung des Internationalismus zu sprechen, ohne die je eigenen Interventionen der einzelnen Gruppen zu verurteilen oder in Frage zu stellen. Die IKS macht konkret folgende Vorschläge:

– Verfassung und Verbreitung eines gemeinsamen Dokumentes, das den imperialistischen Krieg und die bürgerlichen Begleitkampagnen brandmarkt.

– Gemeinsame öffentliche Versammlungen, in denen jede der Gruppen neben den gemeinsamen Positionen, die uns einen, ihre eigenen Analysen, die uns unterscheiden, vorstellen kann.

Selbstverständlich ist die IKS für jede andere Initiative offen, die es erlaubt, den internationalistischen Positionen ein möglichst breites Gehör zu verschaffen.

Im März 1999 hat die IKS bereits einen ähnlichen Aufruf an die gleichen Gruppen versandt. Leider hat keine von ihnen positiv darauf geantwortet und darum hielt es unsere Organisation für unnötig, einen neuerlichen derartigen Aufruf zum Krieg in Afghanistan Ende 2001 zu lancieren. Wir erneuern heute unseren Aufruf, weil wir denken, dass alle Gruppen der kommunistischen Linken sich über die ausserordentliche Tragweite der heutigen Situation und den extremen Umfang der pazifistischen Lügenkampagnen bewusst sind, und es ihnen am Herzen liegt, alles zu tun, um der internationalistischen Position breitestmögliches Gehör zu verschaffen.

Wir bitten Euch, uns Eure Antwort auf das vorliegende Schreiben so schnell wie möglich an die Postfach-Adresse im Briefkopf zuzustellen. Damit uns diese Antwort so schnell wie möglich erreicht, schlagen wir Euch vor, eine Kopie davon unserer nächstgelegenen Sektion zuzuschicken oder einem Vertreter der IKS zu geben.

Mit kommunistischen Grüssen.

Unser Brief vom 24. März 2003

Genossen,

(...) Offensichtlich müsst Ihr annehmen, dass die Verabschiedung eines gemeinsamen Dokumentes der unterschiedlichen Gruppen der kommunistischen Linken gegen den imperialistischen Krieg und die pazifistischen Kampagnen Verwirrung stiften und die Unterschiede zwischen unseren Organisationen verdecken könnte. Ihr wisst, dass dies nicht unsere Ansicht ist, aber wir versuchen hier nicht, Euch davon zu überzeugen. Das Hauptziel des vorliegenden Briefes ist es, Euch folgenden Vorschlag zu machen: Gemeinsam öffentliche Versammlungen organisieren, in denen jede der teilnehmenden Organisationen der kommunistischen Linken auf vollständig eigene Verantwortung ihre eigene Präsentation machen könnte und die eigenen Argumente in die Diskussion einbringen würde. Es scheint uns, dass ein solches Vorgehen Euer Anliegen berücksichtigt, dass unsere Positionen sich nicht vermischen und dass es zwischen unseren Organisationen keine Vermengung gibt. Gleichzeitig erlaubt es dieses Vorgehen, mit einer maximalen Wirkung (wenn sie auch noch so bescheiden ist) aufzuzeigen, dass es neben den unterschiedlichen bürgerlichen Positionen, die sich zurzeit zeigen (ob sie die Unterstützung des einen oder des anderen militärischen Lagers im Namen der „Demokratie“ oder des „Anti-Imperialismus“ befürworten, oder ob sie sich „pazifistisch“ im Namen „der Einhaltung der internationalen Gesetze“ verstehen oder anderes dummes Zeug), eine internationalistische, proletarische und revolutionäre Haltung besteht, die ausschliesslich von den Gruppen, die an der kommunistischen Linken anknüpfen, verteidigt werden können. Schliesslich muss ein solches Vorgehen es erlauben, dass ein Maximum der Menschen, die sich für die Haltung der kommunistischen Linken und ihre internationalistischen Positionen interessieren, zusammenfinden, um gemeinsam und mit den Organisationen, die diese Haltungen vertreten, zu diskutieren. Gleichzeitig werden sie in der Lage sein, die politischen Meinungsverschiedenheiten, die zwischen ihnen bestehen, so klar wie möglich kennenzulernen.

Damit die Sache klar ist: Dieser Vorschlag zielt nicht darauf ab, es der IKS zu erlauben, ihre Zuhörerschaft dadurch zu vergrössern, dass sie das Wort vor den Menschen ergreift, die üblicherweise die öffentlichen Veranstaltungen Eurer Organisation besuchen. Um das zu belegen, machen wir Euch folgenden Vorschlag: Die öffentlichen Veranstaltungen, die die IKS für die nächste Zeit geplant hat und die selbstverständlich der Frage des Krieges und der diesbezüglichen Haltung des Proletariats gewidmet sind, könnten, wenn Ihr damit einverstanden seid, in öffentliche Versammlungen wie wir sie Euch vorschlagen, umgewandelt werden. Dieses Vorgehen ist besonders in den Städten oder Ländern, in denen Eure eigene Organisation vertreten ist, umsetzbar. Aber unser Vorschlag umfasst auch andere Länder oder Städte: Konkret würden wir mit grosser Befriedigung an der Durchführung einer gemeinsamen öffentlichen Veranstaltung mit Vertretern der kommunistischen Linken aus England, Frankreich oder Italien in Köln oder in Zürich teilnehmen. Selbstverständlich halten wir uns bereit, die Vertreter Eurer Organisation, die an diesen öffentlichen Versammlungen teilnehmen, unterzubringen und falls nötig ihre Präsentationen und Interventionen in die Landessprache zu übersetzen.

Wenn dieser Vorschlag Euch zusagt, bitten wir Euch, uns so schnell wie möglich zu informieren (z. B. an die unten aufgeführte Internet-Adresse), damit wir alle nötigen Vorkehrungen treffen können. Auf jeden Fall sind Eure Organisation und deren Vertreter herzlich eingeladen, an unseren öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, um dort Eure Positionen zu vertreten, auch wenn Ihr unseren Vorschlag zurückweist (was wir selbstverständlich bedauern würden).

In Erwartung Eurer Antwort und mit den besten kommunistischen und internationalistischen Grüssen.

 

Die Antwort des BIPR vom 28. März 2003

Werte Genossen,

Wir haben via Eure Genossen Euren „Aufruf“ für die Einheit der Aktion gegen den Krieg erhalten. Wir sind verpflichtet, ihn aus den Gründen, die Ihr bereits kennt und die wir im Folgenden zusammenfassen, zurückzuweisen.

Beinahe dreissig Jahre nach der ersten Internationalen Konferenz der kommunistischen Linken sind die Meinungsverschiedenheiten zwischen uns und der IKS nicht kleiner, sondern grösser geworden, und gleichzeitig hat die IKS – wie wir wissen – Spaltungen erlebt. Das heisst, – und das ist klar für jeden, der dem Phänomen auf den Grund geht – dass die IKS von uns nicht als gültige Gesprächspartnerin zur Festlegung einer Einheitsaktion angesehen werden kann.

Einerseits ist es unmöglich, diejenigen „zusammenzunehmen“, welche vertreten, dass die Arbeiterklasse extrem bedroht wird, die, nachdem sie ohne zu reagieren ausserordentlich heftige Angriffe auf die Löhne, die Beschäftigung und die Arbeitsbedingungen erduldet hat, nun Gefahr läuft, in die Kriegsmaschinerie einverleibt zu werden, und diejenigen, welche – wie die IKS – vertreten, dass der imperialistische Krieg zwischen den Blöcken noch nicht ausgebrochen ist, weil ... die Arbeiterklasse nicht geschlagen ist und also den Krieg selber verhindere. Was hätten wir also gemeinsam zu sagen? Es ist offensichtlich, dass angesichts der herausragenden Tragweite dieses Problems die im Aufruf angesprochenen allgemeinen Grundsätze nicht genügen.

Anderseits kann die Richtigkeit einer Einheitsaktion – gegen den Krieg wie für jedes andere Problem – von politisch genau bestimmten und nicht zweideutigen Gesprächspartnern, die die politischen Positionen teilen, die sie gemeinsam als grundlegend ansehen, dargelegt werden. Wir haben bereits gesehen, dass wir in einem Punkt, den wir für grundsätzlich halten, gegensätzliche Auffassungen haben, aber unabhängig von der Möglichkeit einer späteren politischen Übereinstimmung ist es vorrangig, dass eine hypothetische Einheitsaktion von politisch unterschiedlichen Richtungen die Übereinstimmung aller Bestandteile sieht, hinsichtlich derer sich diese Richtungen verstehen oder unterscheiden. Das heisst, dass eine Einheitsaktion zwischen Teilen unterschiedlicher politischer Strömungen sinnlos ist, wenn die anderen ... Teile mit einer selbstverständlich kritischen und entgegengesetzten Haltung draussen bleiben.

Also, Ihr (die IKS) seid ein Teil einer politischen Richtung, die sich von nun an in mehrere Gruppen teilt, die jede die Strenggläubigkeit der ursprünglichen IKS in Anspruch nimmt, wie es alle bordigistischen Gruppen tun, an die Ihr Euch ausser an uns noch wendet.

Alles was Ihr in Eurem „Aufruf“ bezüglich des engeren Zusammenrückens der Revolutionäre angesichts des Krieges schreibt, sollte vor allem im Kreis Eurer Richtung gelten, wie es auch im Kreis der bordigistischen Richtungen sein sollte.

Offen gesagt, es wäre ernster zu nehmen, wenn ein solcher Aufruf sich eben genau an die FICCI und an die Ex-FECCI richten würde, genau wie es seriöser wäre, wenn Programme Communiste oder Il Comunista–Le Prolétaire einen vergleichbaren Aufruf an die zahlreichen anderen bordigistischen Gruppen der Welt richteten. Warum wäre dies seriöser? Weil dies ein Versuch wäre, die lächerliche – wenn sie nicht dramatisch wäre – Tendenz umzukehren, sich immer mehr aufzuteilen, je mehr die Widersprüche des Kapitalismus sich zuspitzen und die Probleme zunehmen, die sich der Arbeiterklasse stellen.

Es ist nun aber offensichtlich, dass diese dramatische/lächerliche Tendenz auf beide Strömungen zutrifft.

Das ist kein Zufall, und wir kommen auf die andere grundlegende Frage zurück. Die theoretische Haltung und die Methode, die politischen Positionen, die Organisationsauffassung der IKS (wie vom anfänglichen Kommunistischen Programm) haben offensichtlich Mängel, wenn auf ihrer Grundlage jedes Mal Brüche und Spaltungen auftreten, wenn die Probleme des Kapitalismus und die Belange der Klasse sich erschweren.

Wenn 60 Jahre nach der Gründung der Internationalistischen Kommunistischen Partei in Italien und 58 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwei der drei in der kommunistischen Linken zwischen den Kriegen vorhandene Richtungen sich aufgeteilt haben, muss es dafür einen Grund geben.

Wir beharren darauf: Es handelt sich nicht um ein Fehlen von Wachstum oder mangelnde Verwurzelung in der Arbeiterklasse; diese lassen sich mit der extremen Schwierigkeit die historische Niederlage der stalinistischen Konterrevolution hinter sich zu lassen, begründen.

Im Gegenteil, wir sprechen hier vom Problem der Aufsplitterung dieser politischen Richtungen in eine Konstellation von Gruppen, von denen jede Strenggläubigkeit verlangt. Der Grund dafür findet sich – wie wir es bei mehreren Gelegenheiten vertreten haben – in der Schwäche der Strenggläubigkeit, in ihrer Unfähigkeit also, die Dynamik des Kapitalismus zu verstehen, zu erklären und daraus die politischen Orientierungen herzuleiten, die sich daraus ergeben. Zusammenfassend scheint es uns, dass das Ziel, die Italienische Linke wieder in einem geeinten politischen Rahmen zu vereinen, nun unerreichbar ist, weil zwei ihrer Bestandteile eine hartnäckige Unfähigkeit zeigen, die Geschehnisse in Begriffen, die der Wirklichkeit entsprechen, zu erklären, und es aufgrund dieser Unfähigkeit nur schaffen, sich noch mehr aufzusplittern.

Selbstverständlich bedeutet das für uns keinen Rückzug auf uns selber, und – gleich wie wir in den fernen 76er Jahren die angemessenen Initiativen ergriffen hatten, um das Eis zu brechen und eine neue Dynamik der Debatte im Kreis des proletarischen politischen Lagers auszulösen – werden wir heute versuchen, die geeigneten Initiativen zu ergreifen, um den alten politischen Rahmen, der nun blockiert ist, zu überwinden, und um die revolutionäre und internationalistische Tradition in einem neuen Prozess der Verwurzelung in der Klasse zu erneuern.

Die Antwort der PCI vom 29. März 2003

Genossen,

Wir haben Euren Brief vom 24. März, der auch Euer vorhergehendes Schreiben vom 11. Februar enthielt, erhalten. Wir haben bereits anlässlich einer Versammlung von Lesern die Gelegenheit gehabt, mündlich auf den darin enthaltenen Vorschlag zu antworten und werden darauf öffentlich in den Spalten des Prolétaire zurückkommen. Obwohl es scheint, dass Ihr von der Idee eines gemeinsamen Textes abgekommen seid, enthüllt Euer neuer Vorschlag denselben politischen Frontismus und kann von unserer Seite also nur dieselbe ablehnende Antwort erhalten.

Mit kommunistischen Grüssen.

Stellungnahme zu den Antworten

Dies ist nicht erste Mal, dass die IKS einen Appell an die Gruppen des politischen Milieus des Proletariats zu einer gemeinsamen Intervention angesichts einer sich verschärfenden Weltlage gerichtet hat. Wie unser Brief aussagt, machten wir genau solch einen Aufruf im März 1999 gegen die militärische Barbarei, die im Kosovo ausgelöst wurde. Die Artikel, die wir als Antwort auf die erhaltenen Weigerungen damals schrieben, passen im Wesentlichen auch auf die heutige Situation.[1] Wir sehen es dennoch als notwendig an, kurz Stellung zu beziehen zu den abschlägigen Antworten, die wir wieder einmal erhielten, um klarzustellen, dass sie einer politischen Herangehensweise entspringen, die wir als nachteilig für die Interessen des Proletariats betrachten. Wir werden auf dieses Thema ausführlicher in zukünftigen Artikeln zurückkommen. Der PCI–Le Prolétaire hat gesagt, dass er das Gleiche in seiner Presse tun wird.

Wir werden uns also hier darauf beschränken, auf die Argumente beider Gruppen für die Ablehnung unserer zwei Vorschläge zu antworten: die Verteilung eines Dokuments gegen den Krieg auf der Basis unserer gemeinsamen internationalistischen Positionen sowie die Organisierung von Veranstaltungen, die sowohl die gemeinsame Denunzierung des Krieges als auch die Konfrontation der Meinungsverschiedenheiten zwischen unseren Organisationen zum Ziel haben.

 

Der PCI und sein kleinster gemeinsamer Nenner

Der sehr kurze Brief des PCI behauptet, dass unser Appell reiner „Frontismus“ sei. Diese Antwort steht in einer Linie mit dem, was auf einem PCI-Lesertreffen in Aix-en-Provence (Frankreich) am 1. März auch mündlich geäussert worden war, wo uns mitgeteilt wurde, dass es die Vision der IKS sei, nach dem „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zwischen den Organisation zu suchen. Darüber hinaus stehen diese sehr oberflächlichen Argumente in einem Zusammenhang mit denjenigen, die – etwas ausführlich, aber nicht überzeugender – in einer Polemik gegen uns vorgebracht wurden, die in Le Prolétaire Nr. 465 veröffentlicht wurden. Dies erlaubt uns, einen kurzen Blick auf die organisatorischen Auffassungen des PCI zu werfen.

Um es vorweg zu sagen: Dieser Artikel stellt gegenüber der Haltung des PCI in den 70er und 80er Jahren einen Schritt nach vorn dar. Damals hatten wir es mit einer Organisation zu tun, die sich selbst bereits als die „kompakte und mächtige Partei“, als den einzigen Führer der proletarischen Revolution betrachtete, deren alleiniges Programm nur das „invariante Programm“ von 1848 sein konnte. Heute teilt uns der PCI mit: „Weit davon entfernt zu denken, dass wir ¸allein auf der Welt‘ seien, vertreten wir dennoch die Notwendigkeit einer unnachgiebigen programmatischen Kritik und des politischen Kampfes gegen Positionen, die wir als falsch und gegen die Organisationen, die sie vertreten, erachten.“

Le Prolétaire scheint anzunehmen, dass wir Elemente an uns ziehen wollen, um auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners die Partei zu formen. Dagegen setzen sie eine Methode, die meint, alle anderen Organisationen und ihre Positionen gleichermassen bekämpfen zu müssen; mit anderen Worten: sie machen keinen Unterschied zwischen Organisationen, die eine internationalistische Position vertreten, und trotzkistischen oder stalinistischen Organisationen, die schon vor langem durch ihre mehr oder weniger ausdrückliche Unterstützung des einen oder anderen Lagers im imperialistischen Krieg das Terrain der Arbeiterklasse verlassen haben. Solch eine Methode führt unweigerlich zur Idee, dass sie die einzige Organisation seien, die das Programm der Arbeiterklasse vertrete und konsequenterweise die einzige Basis für den Aufbau der Partei sei – und letztendlich so zu handeln, als seien sie allein auf der Welt, um die Klassenpositionen zu verteidigen.

Der PCI bemerkt ebenfalls, dass die gegenwärtige Situation nichts mit jener von Zimmerwald und Kienthal zu tun habe, und betrachtet somit unsere Bezugnahme auf die Prinzipien von Zimmerwald als untauglich, da sie auf einem unzutreffenden Vergleich beruhe. Sie sind entweder unfähig oder unwillig zu begreifen, was wir sagen.

Man muss nicht einmal Marxist sein, um zu sehen, dass die Situation heute nicht mit jener von 1917 oder gar 1915 – dem Jahr der Zimmerwalder Konferenz – identisch ist. Dennoch haben beide Perioden dieses wichtige Merkmal gemeinsam: Beide Phasen der Geschichte werden vom imperialistischen Krieg dominiert, und für die fortgeschrittenen Elemente der Arbeiterklasse bedeutet dies, dass eine Frage Vorrang vor allen anderen hat – der Internationalismus gegen diesen Krieg. Es liegt in der Verantwortung dieser Elemente, ihre Stimmen gegen die Flutwelle der bürgerlichen Ideologie und Propaganda zu Gehör zu bringen. Über „Frontismus“ und den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu reden trägt nicht nur nicht dazu bei, die Meinungsverschiedenheiten unter den Internationalisten zu klären, es ist auch insoweit ein Faktor der Konfusion, als es die realen Divergenzen, die Klassengrenze, die die Internationalisten von der gesamten Bourgeoisie, von den Rechtsradikalen bis hin zu den Linksextremisten, trennt, auf eine Stufe mit den Meinungsverschiedenheiten unter Internationalisten stellt.

Der Vorwurf des „Frontismus“ beruht in der Tat auf einem schweren Irrtum im Hinblick auf die Natur des Frontismus, wie ihn unsere Vorgänger der Kommunistischen Linken verstanden und entlarvt hatten. Dieser Begriff bezog sich auf die Taktiken, die von der Dritten Internationalen angewendet worden waren, als sie versuchte – allerdings mit einer unrichtigen und opportunistischen Methode –, die Isolation der Russischen Revolution zu durch brechen. Später, als sie degenerierte, wurde die Kommunistische Internationale immer mehr zu einem blossen Instrument der Aussenpolitik des russischen Staates und nutzte die frontistische Taktik als ein Instrument dieser Politik. Der Frontismus – zum Beispiel die „Arbeitereinheitsfront von unten“ der KI – war also ein Versuch, eine praktische Einheit zwischen den Parteien der Internationalen, die dem proletarischen Internationalismus treu geblieben waren, und insbesondere den sozialdemokratischen Parteien herzustellen, die 1914 die Kriegsanstrengungen des bürgerlichen Staates unterstützt hatten. Mit anderen Worten: Der Frontismus versuchte, eine Einheitsfront zwischen zwei verfeindeten Klassen, zwischen den Organisationen des Proletariats und jenen zu schaffen, die unwiderruflich in den Händen der Bourgeoisie gelandet sind.

Der PCI schiebt die unterschiedliche historische Periode und die Ablehnung des Frontismus vor, um die wirklichen Fragen und die Verantwortung zu umgehen, die den Internationalisten heute obliegt. Wenn wir an den Geist Lenins in Zimmerwald appellieren, geht es um die Frage von Prinzipien. Was immer der PCI denken mag, wir stimmen ihm über die Notwendigkeit der programmatischen Kritik und des politischen Kampfes zu. Auch wir bekämpfen Ideen, die wir für falsch halten, obgleich wir, da wir die unterschiedliche Natur von bürgerlichen und proletarischen Organisationen begreifen, die Positionen Letzterer bekämpfen, und nicht ihre Organisationen.

„Die eine Partei, die morgen das Proletariat zur Revolution und zur Diktatur führen wird, kann nicht aus der Verschmelzung von heterogenen Organisationen und folglich ihrer Programme geboren werden, sondern aus dem klaren Sieg des einen Programms über die anderen (...) sie muss ein Programm haben, das gleichermassen einmalig und unmissverständlich ist, das authentische kommunistische Programm, welches alle Lehren aus den Schlachten der Vergangenheit synthetisiert.“[2]

Auch wir denken, dass das Proletariat unfähig sein wird, die Revolution zu machen, wenn es nicht imstande ist, eine weltweite kommunistische Partei zur Welt zu bringen, die auf einem einzigen Programm beruht[3], welches die Lehren aus der Vergangenheit synthetisiert. Doch das Problem ist, wie diese Partei entstehen wird. Wir denken nicht, dass sie im Augenblick der Revolution fix und fertig hervorspringen wird wie die Athene aus dem Kopf des

Zeus: Sie muss lange zuvor vorbereitet werden, womit schon jetzt angefangen werden muss. Es war exakt dieser Mangel an Vorbereitung, der bei der Gründung der Dritten Internationalen so schmerzlich vermisst wurde. Zwei Dinge sind notwendig für diese Vorbereitung: erstens, eine klare Linie zwischen den internationalistischen Positionen und all dem Müll der Linksextremisten zu ziehen, die so tief gesunken sind, dass sie diese oder jene Fraktion der Bourgeoisie im imperialistischen Krieg vertreten; und zweitens, Meinungsverschiedenheiten, die innerhalb des internationalistischen Lagers existieren, zuzulassen und sie der Feuerprobe einer offenen Debatte auszusetzen. Die Bildung der Weltpartei auf dieselbe Ebene zu stellen wie die Verteidigung des Internationalismus gegen den imperialistischen Krieg heute ist purer Idealismus, da es ignoriert, was dringend notwendig ist in der gegenwärtigen Lage und im Namen einer historischen Perspektive, welche sich nur auf der Basis einer massiven Entwicklung des Klassenkampfes und einer Vorarbeit bei der Klärung und Reifung in den revolutionären Minderheiten verwirklichen kann.

Was die Ablehnung von „organisatorischen Verschmelzungen“ durch Le Prolétaire anbelangt, zeigt sie, dass diese Organisation ihre Geschichte vergessen hat: Müssen wir die Genossen daran erinnern, dass der Ruf nach der Gründung der Dritten Internationalen nicht allein an die Bolschewiki adressiert war, nicht einmal allein an jene Sozialdemokraten, die dem Internationalismus treu geblieben waren, wie der Spartakusbund von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Er richtete sich auch an Anarchosyndikalisten wie die spanische CNT, an revolutionäre Syndikalisten wie Rosmer und Monatte in Frankreich, an die Anhänger der Industrieunionen wie die britische Bewegung der Shop Stewards und an die DeLeonisten wie John Macleans schottische SLP. Nur wenige Monate vor der Oktoberrevolution integrierte die bolschewistische Partei noch Trotzkis Zwischenbezirksorganisation, welche einstige menschewistische Internationalisten mit einschloss. Natürlich war dies keine „ökumenische“ Verschmelzung, sondern eine Umgruppierung von proletarischen Organisationen, die während des Krieges dem Internationalismus rund um die Konzeptionen der Bolschewiki treu geblieben waren, deren Gültigkeit sowohl durch die Entwicklung der historischen Ereignisse als auch und vor allem durch die Tat der Arbeiterklasse demonstriert wurden. Diese historische Erfahrung zeigt, dass der PCI Unrecht hat, wenn er sagt, dass eine Verschmelzung von Organisationen gleichbedeutend mit der Verschmelzung von Programmen sei.

Heute würde das Hochhalten des internationalistischen Banners und die Schaffung einer Zone der Debatte innerhalb des internationalistischen Lagers es jenen Elementen, die auf der Suche nach revolutionärer Klarheit sind, erlauben, die irreführende Propaganda der demokratischen, pazifistischen und linksextremistischen Bourgeoisie zu durchschauen und sich selbst im politischen Kampf zu stählen. Der PCI sagt, dass er die IKS, ihr Programm, ihre Analysen und ihre Politik bekämpfen und „einen kompromisslosen politischen Kampf gegen all die Verwirrung Stiftenden (einschliesslich der IKS)“ führen will. Sehr gut, wir nehmen die Herausforderung an. Das Problem ist nur: Damit eine solche Auseinandersetzung (wir meinen natürlich eine politische Auseinandersetzung innerhalb des proletarischen Lagers) auch stattfinden kann, müssen die sich gegenüber stehenden Kräfte fähig sein, sich innerhalb eines bestimmten Rahmens zu treffen – und es kann uns nur Leid tun, dass der PCI es vorzieht, vom bequemen Doktorstuhl aus zu „kämpfen“, statt sich den Unannehmlichkeiten und Realitäten einer offenen Debatte zu stellen – unter dem Vorwand, dass dies eine „ökumenische, demokratische Einheit“[4] sei. Seine Verweigerung gegenüber unserem Vorschlag ist keine „Auseinandersetzung“. Im Gegenteil, sie bedeutet, die wahre und notwendige Auseinandersetzung zugunsten einer idealen und irrealen abzulehnen.

Die Antwort des IBRP

Das IBRP hat vier Gründe für seine Weigerung angeführt, die wir wie folgt zusammenfassen können:

1. Weil die IKS meint, dass es die Arbeiterklasse ist, die den Ausbruch eines imperialistischen Weltkrieges verhindert, kann sie nicht als „ebenbürtiger Partner“ betrachtet werden.

2. Die Kommunistische Linke ist in drei Tendenzen zerbrochen (die Bordigisten, das IBRP und die IKS), von denen zwei (die Bordigisten und die IKS) in verschiedene Gruppen aufgesplittert sind, von denen alle meinen, die einzig „wahre“ zu sein. Für das IBRP ist es unmöglich, auch nur eine einzige gemeinsame Aktion mit diesen „Tendenzen“ anzuvisieren, bis Letztere ihre verschiedenen Komponenten wiedervereinigt haben (die alte „externe Fraktion“ und die aktuelle „interne Fraktion“ der IKS sind laut dem IBRP Teil „unserer Tendenz“): „... es ist wesentlich, dass jegliche hypothetische organisierte Aktionseinheit unter verschiedenen politischen Tendenzen die Konvergenz all der Komponenten beachten sollte, in die derartige Tendenzen aufgespalten sind.“ In diesem Sinne „wäre es seriöser, wenn ein Appell wie dieser genau an die IFIKS und die IKS adressiert würde“.

3. Die Tatsache, dass die IKS Spaltungen erlebt hat, ist angeblich das Resultat ihrer theoretischen Schwächen und folglich „ihrer Unfähigkeit, die Dynamik des Kapitalismus zu begreifen und zu erklären sowie die notwendige politische Orientierung, die daraus resultiert, zu erarbeiten“. Infolgedessen (und in Anbetracht, dass das IBRP uns mit den bordigistischen Gruppen über einen Kamm schert) sieht sich das IBRP selbst heute als den einzigen gesunden Überlebenden der Italienischen Linken.

4. Das Ergebnis aus all dem ist, dass heute allein das IBRP in der Lage ist, „die Initiativen zu ergreifen, die imstande sind, über den alten politischen Rahmen – der nun blockiert ist – hinauszugehen und die revolutionäre sowie internationalistische Tradition in einem neuen Prozess der Verwurzelung in der Klasse zu erneuern.“

Wie man keine „seriöse“ Arbeit verrichtet

Ehe wir uns mit den fundamentalen Fragen befassen, müssen wir den Grund dieser „Fraktionen“ klären, die – laut des IBRP – doch die ersten Adressen unseres Anliegens sein müssten. Soweit es die einstige „externe Fraktion“ der IKS angeht, denken wir, dass es „seriöser“ wäre, wenn das IBRP den Positionen dieser Gruppe (heute bekannt unter dem Namen Internationalist Perspectives) etwas mehr Aufmerksamkeit schenkt: Wenn es dies getan hätte, dann müsste es zur Kenntnis nehmen, dass IP das eigentliche Fundament der IKS-Positionen – die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus – völlig abgeschafft hat, dass diese Gruppe nicht mehr behauptet, unsere Plattform zu vertreten, und sich selbst nicht mehr „Fraktion“ der IKS nennt. Doch einerlei ob diese Gruppe politisch Teil unserer „Tendenz“ ist, wie das IBRP behauptet, oder nicht, es geht an der Sache vorbei. Die Gründe, warum wir unseren Appell nicht auch an diese Gruppe gerichtet haben, haben nichts mit ihren politischen Analysen zu tun, und das IBRP weiss dies nur allzu gut. Diese Gruppe wurde auf der Basis einer parasitären Vorgehensweise, der Verunglimpfungen und Verleumdungen der IKS gegründet, und aufgrund dieser politischen Beurteilung[5] anerkennt die IKS diese Gruppe nicht als Teil der Kommunistischen Linken. Was die Gruppe anbelangt, die heute behauptet, eine „interne Fraktion“ der IKS zu sein, ist die Situation noch schlimmer. Wenn das IBRP das IFIKS-Bulletin Nr. 14 und unsere territoriale Presse (s. unseren Artikel „Die polizeiähnlichen Methoden der IFIKS“, Weltrevolution Nr. 117) gelesen hat, dann weiss es, dass revolutionäre Organisationen nicht gemeinsam mit Elementen zusammenarbeiten können, die sich wie Polizeispitzel zum Nutzen der Repressionskräfte des bürgerlichen Staates benehmen. Es sei denn, das IBRP meint, dass an dieser Verhaltensweise nichts Falsches sei!

Was sind die Bedingungen für eine gemeinsame Arbeit?

Wenden wir uns nun jenen Argumenten zu, die eine ausführlichere Antwort verdienen: die Idee, dass unsere politischen Positionen zu weit voneinander entfernt seien, um in der Lage zu sein, zusammenzuarbeiten. Wir haben bereits hervorgehoben, dass diese Haltung meilenweit von jener Lenins und der Bolschewiki auf der Zimmerwalder Konferenz entfernt ist, wo Letztgenannte ein gemeinsames Manifest mit anderen internationalistischen Kräften unterschrieben trotz der Tatsache, dass die Unterschiede zwischen den Teilnehmern in Zimmerwald sicherlich grösser waren als die Trennlinien zwischen den Internationalisten von heute. Um nur ein Beispiel zu nennen: Auch die Sozialrevolutionäre, die nicht einmal Marxisten waren und 1917 grösstenteils in einer konterrevolutionären Position endeten, nahmen an der Zimmerwalder Konferenz teil.

Es ist schwerlich einzusehen, warum unsere Analyse des Kräfteverhältnisses auf globaler Ebene ein diskriminierendes Kriterium sein soll, das jegliche gemeinsame Intervention gegen den Krieg und, innerhalb dieses Rahmens, eine offene Debatte über diese und andere Fragen verhindert. Wir haben bereits oft genug und in aller Ausführlichkeit auf den Seiten der Revue die Grundlage unserer Position zum historischen Kurs erklärt. Die Methode, die unsere Analyse untermauert, ist dieselbe wie zur Zeit der internationalen Konferenzen der Kommunistischen Linken, die von Battaglia Comunista initiiert und von der IKS Ende der 70er-Jahre unterstützt wurden. Unsere Position ist also nichts Neues für das IBRP. Tatsächlich bezog sich BC zur Zeit der Konferenzen ausdrücklich auf Zimmerwald und Kienthal. „Es ist unmöglich, zu Klassenpositionen oder zur Bildung der Weltpartei zu gelangen, ganz zu schweigen von einer revolutionären Strategie, ohne zuvor die Notwendigkeit zu erfüllen, ein dauerhaftes internationales Informations- und Verbindungszentrum in Gang zu setzen, das die Vorwegnahme und Synthese dessen sein wird, was die künftige Internationale ist, so wie Zimmerwald und Kienthal ein Vorgriff auf die III. Internationale waren.“ (BC-„Letter of Appeal“ an die erste Konferenz 1976; eigene Übersetzung)

Was hat sich seitdem verändert, das eine schwächere Einheit unter den Internationalisten und die Abweisung unseres Vorschlags rechtfertigt, der nicht einmal die Ambition hat, ein „Verbindungszentrum“ zu errichten?

Das IBRP sollte die gegenwärtige Lage etwas genauer wahrnehmen und die Bedeutung jenes Kräfteverhältnisses anerkennen, dessen Analyse durch uns sie als unrichtig erachten. Denn wenn es etwas gibt, was sich seit der Periode der Konferenzen nicht nur einmal verändert hat, dann ist es die Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und anderer Faktoren durch das IBRP, die den Ausbruch eines neuen Weltkrieges vor 1989 verhinderten. Es hat alle möglichen Erklärungen zu diesem Thema geliefert: An einer Stelle bildet es sich ein, dass der Weltkrieg nicht ausgebrochen war, weil die imperialistischen Blöcke noch nicht ausreichend konsolidiert waren – wo in Wahrheit es niemals in der bisherigen Geschichte zu solch einem konkreten Ausdruck von Blöcken gekommen war wie in Gestalt des amerikanischen und russischen Blocks. An einer anderen Stelle wird der Bourgeoisie unterstellt, dass sie zu erschrocken über die Aussichten eines nuklearen Holocausts gewesen sei, um einen Krieg auszulösen. Und die letzte Entdeckung des IBRP, die es bis zur Desintegration des russischen Blocks unter den Schlägen der Wirtschaftskrise aufrechterhalten hatte, war die Idee, dass der Dritte Weltkrieg wegen der unzureichenden Wirtschaftskrise nicht ausgebrochen sei!

Es lohnt sich, in Erinnerung zu rufen, dass zwei Monate vor dem Fall der Berliner Mauer die IKS erklärte, dass die neue Periode, die sich eröffnete, von der Auflösung der Blöcke gekennzeichnet sein wird. Zwei Monate später schrieben wir, dass diese Situation zu wachsendem Chaos führen wird, das von der Opposition der zweit- und drittrangigen imperialistischen Mächte gegenüber den Versuchen der Vereinigten Staaten genährt wird, seine Rolle als Weltpolizist aufrechtzuerhalten und zu stärken (s. Nr. 60 und 61 der International Review). Das IBRP dagegen begann, nachdem es eine Weile von einer möglichen Expansion der Weltwirtschaft dank des „Wiederaufbaus“ der Ostblockländer[6] gesprochen hatte, die Idee eines neuen Blocks zu vertreten, der auf der Europäischen Union basiert und mit den Vereinigten Staaten rivalisiert. Heute ist klar, dass der „Wiederaufbau“ der Länder des ehemaligen Ostblocks schon lange kein Thema mehr ist, während der Ausbruch des neuen Kriegs im Irak offenbart hat, dass die Europäische Union nie so gespalten, so unfähig zu einer vereinten Aktion auf der aussenpolitischen Ebene, so weit entfernt von der Bildung auch nur des Hauchs eines imperialistischen Blocks wie jetzt war. Dieser Unterschied zwischen der ökonomischen Ebene (die Ausweitung und Vereinheitlichung Europas auf der wirtschaftlichen Ebene mit der Einführung des Euro und dem Eintritt neuer Mitgliedsländer) und der imperialistischen Ebene (die völlige und unübersehbare Unfähigkeit Europas in diesem Bereich) verdeutlicht nur diesen fundamentalen Aspekt in der Dynamik des Kapitalismus in seiner Dekadenzperiode, die sich das IBRP noch immer anzuerkennen weigert: Imperialistische Konflikt sind nicht die direkten Folgen der ökonomischen Konkurrenz, sondern die Konsequenz einer ökonomischen Blockierung auf einer weit globaleren Stufe der kapitalistischen Gesellschaft. Unabhängig von den Meinungsverschiedenheiten zwischen unseren Organisationen haben wir ein Recht zu fragen, worauf das IBRP seine Einschätzung stützt, dass nur es selbst, anders als die IKS, in der Lage sei, „die Dynamik des Kapitalismus“ zu begreifen.

Die Dinge werden nicht klarer, wenn wir zur Analyse des Klassenkampfes kommen. Das IBRP denkt, dass die IKS die Stärke des Proletariats überschätzt, und stimmt nicht mit unserer Analyse des historischen Kurses überein. Und dennoch ist es das IBRP, das eine beträchtliche Neigung hat, von jäher Begeisterung immer dann hinweggerissen zu werden, wenn es glaubt, etwas zu sehen, was wie eine „antikapitalistische“ Bewegung aussieht. Erinnern wir uns, ohne ins Detail zu gehen, einfach daran, wie Battaglia Comunista die Bewegung in Rumänien in einem Artikel mit dem Titel „Ceaucescu ist tot, doch der Kapitalismus lebt immer noch“ begrüsst hatte: „Rumänien ist das erste Land in den Industriegebieten, wo die Weltwirtschaftskrise einen realen und authentischen Volksaufstand zum Leben erweckt hat, dessen Resultat der Sturz der Regierung gewesen war (...) in Rumänien waren alle objektiven Bedingungen und fast alle subjektiven Bedingungen zur Umwandlung des Aufstandes in eine reale und authentische soziale Revolution vorhanden.“ Auch während der Ereignisse in Argentinien 2002 verwechselte das IBRP eine Klassen übergreifende Revolte mit der proletarischen Klassenerhebung: „(Das Proletariat) erschien spontan auf den Strassen und zog die Jugend, die Studenten und grosse Bereiche des pauperisierten und proletarisierten Kleinbürgertums hinter sich. Gemeinsam liessen sie ihren Ärger an den Heiligtümern des Kapitalismus aus: Banken, Büros und vor allem Supermärkte sowie andere Geschäfte, die wie die Brotöfen im Mittelalter gestürmt wurden (...) Die Revolte legte sich nicht, sondern verbreitete sich überall im Land und nahm wachsende Klassenmerkmale an. Der Sitz der Regierung, das symbolische Denkmal der Ausbeutung und der Finanzgier, wurde im Sturm genommen.“[7]

Im Gegensatz dazu hat die IKS trotz ihrer „idealistischen Überschätzung“ der Stärke des Proletariats ständig gewarnt, dass besonders seit 1989 die allgemeine historische Situation die Fähigkeit des Proletariats in Frage stellt, seine eigene Perspektive durchzusetzen, und hat sich stets gegen die immediatistische und kurzzeitige Begeisterung für alles, was wie eine Revolte aussieht, gewandt. Während das IBRP von der Lage in Rumänien aufgewühlt war, schrieben wir: „Angesichts dieser Angriffe wird das Proletariat (in Osteuropa) kämpfen und versuchen, sich zu widersetzen (...) Doch die Frage ist: In welchem Zusammenhang werden diese Streiks erscheinen? Es kann keinen Zweifel an der Antwort geben: in einem Zusammenhang äusserster Konfusion, entsprechend der politischen Schwächen und Unerfahrenheit der osteuropäischen Arbeiterklasse, was die Arbeiter besonders verwundbar macht für die Mystifikationen der Demokratie und der Gewerkschaften sowie für das Gift des Nationalismus (...) Wir können nicht die Möglichkeit ausschliessen, dass grosse Fraktionen der Arbeiterklasse sich für Interessen anwerben und massakrieren lassen, die ihnen völlig fremd sind, nämlich in den Kämpfen zwischen nationalistischen Banden oder zwischen ¸demokratischen‘ und stalinistischen Cliquen (gar nicht zu denken an Grosny, den Krieg zwischen Armenien und Aserbeidschan...)“. Was die Lage im Westen anbetraf, schrieben wir: „Zunächst wird die Öffnung des ¸Eisernen Vorhangs‘, der das Weltproletariat in zwei teilte, den Arbeitern im Westen nicht erlauben, ihren Klassenbrüdern im Osten Anteil an ihrer Erfahrung zu verschaffen (....) im Gegenteil, kurzfristig und für die nächste Zeit werden die starken demokratischen Illusionen der Arbeiter im Osten auf den Westen überschwappen...“[8] Man kann schwerlich behaupten, dass diese Perspektiven seither widerlegt worden seien.

Wir beabsichtigen hier nicht, in eine Debatte über diese Frage zu treten – dies würde eine Menge mehr Ausführungen von uns[9] erfordern – und schon gar nicht behaupten wir, dass das IBRP sich systematisch irrt und dass die IKS ein Monopol auf die Fähigkeit hat, die Lage zu analysieren: Wir wollen lediglich demonstrieren, dass die IBRP-Karikatur einer hoffnungslos „idealistischen“ IKS („idealistisch“, weil unsere Analysen nicht auf einem strikt ökonomischen Materialismus basieren, wie ihn das IBRP favorisiert) und eines IBRP, das allein imstande ist, „die Dynamik des Kapitalismus zu verstehen und zu erklären“, einfach nicht der Wirklichkeit entspricht. Die Genossen des IBRP denken, dass die IKS idealistisch ist. Sei es drum. Was uns angeht, so denken wir, dass das IBRP zu häufig dem banalsten Vulgärmaterialismus anheimfällt. Doch verglichen mit dem, was die Internationalisten gegen den imperialistischen Krieg verbindet, verglichen mit der Verantwortung, die sie übernehmen können, und mit dem Einfluss, den eine gemeinsame Intervention haben könnte, ist dies freilich zweitrangig und sollte sie in keiner Weise daran hindern, die theoretischen Meinungsverschiedenheiten, die sie trennen, zu debattieren, zu vertiefen und zu klären. Wir sind überzeugt davon, dass „die Synthese aller Lehren aus den Schlachten der Vergangenheit“ und die Verifizierung der Lehren ihrer politischen Organisationen nicht nur in der Theorie lebenswichtig für das Proletariat sein werden. Wir sind gleichermassen davon überzeugt, dass es, um dies zu erreichen, notwendig ist, das internationalistische Lager abzugrenzen und innerhalb dieses Lagers die theoretische Konfrontation zu ermöglichen. Le Prolétaire verweigert sich gegenüber dieser Konfrontation aus prinzipiellen Gründen, so zweitrangig sie auch heute sein mögen. Das IBRP verweigert diese Konfrontation wegen der Stimmungslage und der Analyse. Ist dies „seriös“?

Sind Spaltungen ein Kriterium der Diskriminierung?

Der dritte Grund, den das IBRP für seine Verweigerung jeglicher Kooperation mit uns nennt, ist die Tatsache, dass wir Spaltungen erlebt haben: „... zwei der drei Tendenzen in der Kommunistischen Linken zwischen den beiden Kriegen gingen in die Brüche“. Das IBRP hat wohl kaum eine objektive Sicht dessen, was es die Zerrüttung der „IKS-Tendenz“ nennt, nicht nur was die völlig unverantwortliche politische und militante Herangehensweise der parasitären Gruppen, die sich im Orbit der IKS befinden, betrifft, sondern auch bezüglich der Bedeutung einer organisierten politischen Präsenz auf Weltebene. Im Gegensatz dazu ist es völlig klar, dass es eine Fragmentierung unter den Organisationen gibt, die legitimerweise für sich beanspruchen, das Vermächtnis der Italienischen Linken geerbt zu haben. Und was das Verhalten in dieser Situation betrifft, so hat Battaglia Comunista eine 180°-Wende vollzogen, verglichen mit ihrem eigenen Verhalten vor der ersten Konferenz der Gruppen der Kommunistischen Linken: „Die Konferenz sollte auch anzeigen, wie und wann eine Debatte über Probleme eröffnet wird (...), die heute die internationale Kommunistische Linke spalten, wenn wir wollen, dass die Konferenz zu einem positiven Schluss kommt und ein Schritt vorwärts zu einem grösseren Ziel wird, zur Bildung einer internationalen Front von Gruppen der Kommunistischen Linken, die so homogen wie möglich sein wird, so dass wir schliesslich den politischen und ideologischen Turm von Babel verlassen und eine Ausblutung der existierenden Gruppen verhindern können.“[10] (2. Brief von BC in Sitzungsberichte der 1. Internationalen Konferenz) Battaglia erkannte zu jener Zeit auch an, dass „der Ernst der Lage (...) die Formulierung präziser und verantwortlicher Positionen erfordert, die auf einer einheitlichen Sicht der mannigfaltigen Strömungen der internationalen kommunistischen Linken beruhen“ (BC’s 1. Brief). Die 180°-Kehrtwende fand bereits auf den Konferenzen statt: Battaglia weigerte sich, Stellung zu beziehen, selbst zu den Divergenzen zwischen unseren Organisationen.[11] Das IBRP weigert sich auch heute. Und die Lage ist keinesfalls weniger ernst geworden.

Darüber hinaus sollte das IBRP erklären, warum die Spaltungen, die die IKS erlebt hatte, eine Disqualifizierung für eine gemeinsame Arbeit mit den anderen Gruppen der Kommunistischen Linken darstellen. Ohne unpassende Vergleiche zu ziehen, lohnt es sich festzustellen, dass zur Zeit der Zweiten Internationalen besonders eine der Mitgliedsparteien bekannt war für ihre „internen Auseinandersetzungen“, ihre „Ideenkonfrontationen“ (oft undurchsichtig für Militante aus anderen Ländern), ihre Spaltungen, für die äusserste Vehemenz in ihren Debatten von Seiten einiger ihrer Fraktionen und für ihre endlosen Debatten über die Statuten. Es war weitverbreitete Ansicht, dass „diese Russen unverbesserlich“ seien und dass Lenin – zu „autoritär“ und „disziplinarisch“ – grösstenteils verantwortlich für die Zersplitterung der SDAP 1903 gewesen sei. In der deutschen Partei lagen die Dinge anders; diese schien mit traumwandlerischer Sicherheit von einem Erfolg zum nächsten zu schreiten, dank der Weisheit ihrer Führer, unter denen ihr erster kein anderer als der „Papst des Marxismus“, Karl Kaultsky, war. Wir wissen, was aus ihnen geworden ist.

Welche Initiativen erfordert die Situation?

Das IBRP meint, dass es die einzige Organisation der Kommunistischen Linken sei, die imstande ist, die „Initiative zu ergreifen“ und „über den alten politischen Rahmen – der nun blockiert ist – hinauszugehen“.

Wir können an dieser Stelle unsere Meinungsverschiedenheit mit dem IBRP nicht in aller Ausführlichkeit darlegen. Auf alle Fälle können wir in Anbetracht, dass Battaglia Comunista die Verantwortung für den Ausschluss der IKS aus den internationalen Konferenzen und für das Ende Letzterer trug, und in Anbetracht, dass es das IBRP ist, das sich heute systematisch jeglichen gemeinsamen Bemühungen durch das internationalistische proletarische Milieu verweigert, lediglich sagen, dass es eine ausserordentliche Frechheit ist, heute zu erklären, dass „der alte Rahmen blockiert ist“.

Soweit wir betroffen sind, bleibt unsere Haltung trotz des Verschwindens eines formalen und international organisierten Rahmens für die Konferenzen unverändert:

– danach zu trachten, auf der Basis internationalistischer Positionen gemeinsam mit den Gruppen der Kommunistischen Linken zu arbeiten (unser Aufruf zu einer gemeinsamen Aktion während der Kriege am Golf 1991, im Kosovo 1999, zu einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Communist Workers Organisation anlässlich des Jahrestages der Oktoberrevolution 1997, etc.);

– die Verteidigung des proletarischen Milieus (soweit es unsere bescheidenen Mittel erlauben) gegen Angriffe von aussen und gegen die Infiltrierung bürgerlicher Ideologie. Erwähnt sei nur unsere Verteidigung des PCI-Artikels Auschwitz und das grosse Alibi gegen die Attacken der bürgerlichen Presse und die Entlarvung der arabischen Nationalisten in der späten El Oumami, die die PCI sprengten und deren Vermögen stahlen, die Öffentlichkeit, mit denen wir den Ausschluss von Elementen aus unseren Reihen betrieben, die wir als gefährlich für die Arbeiterbewegung beurteilten, unsere Ablehnung der Versuche der Gruppe Los Angeles Workers Voice (die bis kürzlich das IBRP in den USA repräsentierte), Elemente unserer Plattform zu kopieren und zu verfälschen.

Im Gegensatz dazu ist die Geschichte des IBRP mit einer ganzen Reihe von Versuchen gepflastert, „einen neuen Prozess der Verwurzelung in der Klasse“ zu entdecken. Die grosse Mehrheit dieser Versuche scheiterte letzendlich. Diese nicht enden wollende Liste umfasst:

– die so genannte „Vierte Konferenz“ der Kommunistischen Linken, wo die Kräfte, die vom IBRP „seriös ausgewählt“ wurden, faktisch auf die iranischen Kryptostalinisten des UCM begrenzt waren;

– während der 1980er Jahre schuf das IBRP ein neues Rezept für die „Verwurzelung“: die „kommunistischen Betriebsgruppen“, die ein reines Phantasieprodukt blieben;

– das IBRP war von Begeisterung ergriffen über die grandiosen Möglichkeiten, Massenparteien in den Ländern der Peripherie des Kapitalismus zu gründen; dabei kam nichts anderes raus als die kurzlebige und „entwurzelte“ Lal Pataka;

– mit dem Fall der Berliner Mauer ging das IBRP in den alten stalinistischen Parteien des Ostblocks fischen. Auch dabei kam nichts raus.12

Das IBRP sollte nicht beleidigt sein, wenn wir ihm an diese Liste von enttäuschten Illusionen erinnern: Es macht uns keinen Spass, ganz im Gegenteil. Denn wir denken, dass die extreme Schwäche der kommunistischen Kräfte in der Welt noch ein weiterer Grund dafür ist, unsere Reihen durch Taten und brüderliche Auseinandersetzungen über unsere Divergenzen zu schliessen, statt uns selbst als die einzigen Erben der Kommunistischen Linken zu dünken.

Wir werden da sein

Einmal mehr sind wir gezwungen, die beklagenswerte Unfähigkeit der Gruppen der Kommunistischen Linken festzustellen, zusammen einen internationalistischen Bezugspunkt zu schaffen, den das Proletariat und seine fortgeschrittenen oder suchenden Elemente dringend benötigen, da der Planet immer mehr im militärischen Chaos eines verrotteten Kapitalismus versinkt.

Dies verleitet uns nicht dazu, unseren Überzeugungen abzuschwören, und an dem Tag, an dem die anderen Organisationen der Kommunistischen Linken die Notwendigkeit gemeinsamer Aktionen begreifen, werden wir antworten: anwesend!

 

1. Siehe unsere Artikel über den Appell der IKS gegen den Krieg in Serbien in International Review Nr. 98 und „The marxist method and the ICC‘s appeal over the war in ex-Yugoslavia“ in International Review Nr. 99.

 

2. Le Prolétaire, s.o.

3. Wir wollen hier nicht auf die Debatte über die bordigistische Vision der „ausschliesslichen“ Partei eingehen; obgleich die Tendenz zur Vereinigung des Proletariats, wie die Geschichte gezeigt hat, zur Bildung einer einzigen Partei führt, bedeutet der Versuch, dies als vages Prinzip und als Vorbedingung für jegliche gemeinsame Aktivitäten von internationalistischen Strömungen zu „dekretieren“, allerdings, der Geschichte den Rücken zu kehren und mit Worten zu spielen. Siehe unsere Artikel über den Appell der IKS gegen den Krieg in Serbien in International Review Nr. 98 und „The marxist method and the ICC‘s appeal over the war in ex-Yugoslavia“ in International Review Nr. 99.

4. Wir gehen hier nicht näher auf die Frage unserer sog. „administrativen Methoden“ ein, die der PCI im gleichen Artikel denunziert; völlig unverantwortlich im übrigen, nimmt er doch das Wort unserer Verunglimpfer für bare Münze. Die wirkliche Frage ist: Gibt es bestimmte Verhaltensweisen, die für eine kommunistische Organisation inakzeptabel sind – ja oder nein? Können Organisationen dazu veranlasst werden, Militante auszuschliessen, die ihre eigenen Funktionsregeln verletzen – ja oder nein? Die Genossen des PCI täten gut daran, sich die Methoden unserer Vorgänger über diese Art von Frage wieder anzueignen.

5. „Thesen über den politischen Parasitismus“ in: Internationale Revue Nr. 22.

6. Im Dezember 1989 publizierte Battaglia Communista den Artikel „Zerstörung der Illusionen über den Realsozialismus“, in dem man Lesen kann: „Die UdSSR muss sich gegenüber den westlichen Technologien öffnen und der COMECON ebenso, nicht – wie es sich gewisse vorstellen [ist sie IKS gemeint?] - in einem Prozess der Desintegration des Ostblocks und des totalen Desengagements der UdSSR gegenüber Europa, sondern durch die Wiederbelebung der Wirtschaft des COMECON, durch den Wiederaufschwung der Sowjetwirtschaft“.

7. dem Artikel „Ou le parti révolutionanire et le socialisme, ou la misère généralisée et la guerre!“ entnommen, der auf www.ibrp.org [5] veröffentlicht worden war (eigene Übersetzung).

8. in International Review Nr. 60, „Collapse of the Eastern bloc, definitive bankruptcy of Stalinism“ und „New difficulties for the proletariat“.

9. in International Review Nr. 18 „The course of history“ und „The concept of the historic course in the revolutionary movement“, in: International Review Nr. 107.

10 Juni 1976, unsere Heraushebung. Battaglias anfängliche Entschlossenheit war nur von kurzer Dauer, und wir haben ihre Inkohärenz bereits in der International Review Nr. 76 entlarvt.

10. Während der 2. Konferenz weigerte sich Battaglia systematisch, auch nur die kleinste gemeinsame Position anzunehmen: „Wir sind prinzipiell gegen gemeinsame Erklärungen, da es keine politische Übereinstimmung gibt“ (Intervention auf der 2. Konferenz in: Sitzungsberichte...).10 Juni 1976, unsere Heraushebung. Battaglias anfängliche Entschlossenheit war nur von kurzer Dauer, und wir haben ihre Inkohärenz bereits in der International Review Nr. 76 entlarvt.

11. Während der 2. Konferenz weigerte sich Battaglia systematisch, auch nur die kleinste gemeinsame Position anzunehmen: „Wir sind prinzipiell gegen gemeinsame Erklärungen, da es keine politische Übereinstimmung gibt“ (Intervention auf der 2. Konferenz in: Sitzungsberichte...).

 

 

Aktuelles und Laufendes: 

  • Irak [6]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [7]

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [8]

Editorial: Das Proletariat angesichts der dramatischen Verschlimmerung aller Widersprüche des Kapitalismus

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Die Hitzeperiode des Sommers 2003 hat der ganzen Welt auf tragische Weise offenbart, wie auch in Europa die Entwicklung der Armut und der Unsicherheit die Bevölkerung den Zerstörungen der bisher in diesen Regionen unbekannten so genannten Naturkatastrophen aussetzt. In zahlreichen Ländern Europas ist die Sterberate im August in die Höhe gesprungen und hat in Frankreich eine Rekord erreicht, wo um die 15'000 Tote in direktem Zusammenhang mit der Hitzewelle stehen. Die Opfer sind mehrheitlich alte Menschen, aber auch Behinderte und Obdachlose, die auf der Strasse verdurstet sind. Der Kapitalismus hat sie zu einem Randdasein und zu einer ständig ansteigenden Misere verurteilt. Für die Bourgeoisie handelt es sich um überflüssige Esser, die in ihren Augen unnütz und eine zu grosse Last geworden sind. Sie trachtet ständig danach, die Ausgaben zu ihrer Unterhaltung zu kürzen.

Dieses Drama illustriert – weit davon entfernt ein Unfall der Geschichte zu sein – schonungslos die Situation des Kapitalismus, in dem sich die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse ebenso wie die klimatischen Bedingungen nur verschlechtern können.

Es handelt sich hier lediglich um einen Teil der sozialen Landschaft, in der all die Manifestationen der Verwesung des Kapitalismus das Leben auf Erden für die meisten Menschen in eine Hölle verwandeln: Gewalt, Verbrechen, Drogen, Zunahme des Mystizismus, der Irrationalität, der Intoleranz und des Nationalismus. Abgesehen von den zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert war der Krieg noch niemals so präsent. Die Intensivierung der Spannungen zwischen den Grossmächten, die seit zwei Jahren auch kaum mehr zu verbergen sind, bilden den Hauptfaktor des ständig blutiger werdenden Chaos auf der Welt.

All das Unheil, das heute auf der Menschheit lastet, drückt den Zusammenbruch des Systems aus, das das Leben in der Gesellschaft beherrscht: des Kapitalismus. Aber die zunehmende Gleichzeitigkeit, mit der die erwähnten Elemente auftreten, zeigen die Geschwindigkeit, mit der der Kapitalismus in seiner letzten Phase der Dekadenz, nämlich dem Zerfall, die Menschheit in die Zerstörung treibt.

Die Wirtschaftskrise im Zentrum der Widersprüche des Kapitalismus

Die Bourgeoisie versucht mit allen Mitteln, die Bewusstwerdung über den Bankrott ihres Systems zu behindern. Sie spielt das ganze Unheil herunter. Sie gewöhnt die Bevölkerung daran, das Unannehmbare anzunehmen. Sie treibt jeden dazu, sich angesichts der oft unerträglichen Bilder in den zu Essenszeiten ausgestrahlten Nachrichtensendungen von den Problemen abzuwenden. Das Drama dieses Sommers hat in Frankreich zu einer grossen Anzahl von in den Medien verbreiteten Meinungen geführt, die oft sehr kritisch gegenüber der Regierung ausgefallen sind, aber alle entweder nur Teile des Problems beleuchtet haben oder schlicht falsch gewesen sind, um so die Enthüllung der Hauptursache zu verhindern. Diese liegt nämlich im Umstand, dass die Bourgeoisien aller industrialisierten Länder, die Linke wie die Rechte, von der Wirtschaftskrise an der Gurgel gepackt worden sind und zur Verteidigung der Wettbewerbsfähigkeit des nationalen Kapitals in der internationalen Arena in immer kürzeren Abständen immer heftigere Schnitte in den Sozialbudgets vorgenommen haben, insbesondere im Bereich der Gesundheit. Daraus sind eine Verarmung und eine allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen hervorgegangen, deren Ausmasse sich in brutaler Weise durch die Hitzewelle dieses Sommers offenbart haben. In der gleichen Art, aber in viel grösserem Ausmass, zeigte die Spanische Grippe nach dem Ersten Weltkrieg mit der Auslöschung von 20 Millionen Menschenleben die Tiefe eines gesellschaftlichen Übels auf, das in den schrecklichen Bedingungen und der extremen Schwächung der Bevölkerung in der Folge der Zerstörung des Krieges lag. Auch diese Toten gingen auf Kosten des tödlichen Wahnsinns des Kapitalismus ebenso wie die 10 Millionen, die auf den Schlachtfeldern zurück geblieben waren.

Die Bourgeoisie stellt all diese Übel so dar, als würde zwischen ihnen keinerlei Verbindung bestehen und vor allem, als würden sie in keinerlei Beziehung zum kapitalistischen System stehen, das das Leben der Menschen auf diesem Planeten beherrscht. Für die herrschende Klasse und die Verteidiger ihres Systems sind all diese historischen Ereignisse die Frucht des puren Zufalls: entweder Ausdruck des göttlichen Willens oder schlicht das Resultat der menschlichen Leidenschaften oder Gedanken, kurz der „menschlichen Natur“.

Für den Marxismus ist es im Gegenteil die Wirtschaft, die in letzter Instanz alle anderen Bereiche der Gesellschaft bestimmt: die juristischen Verhältnisse, die Regierungsformen, die Art des Denkens. Diese materialistische Sichtweise hat sich mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenz zu Beginn des 20. Jahrhunderts wegen der Auswirkungen der unüberwindbaren wirtschaftlichen Widersprüche auf eklatante Art bestätigt. Seither hat er mit Ausnahme der auf die beiden Weltkriege folgenden Wiederaufbauphasen eine permanente Krise durchgemacht.

In der Periode der Dekadenz haben die Staaten unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Sackgasse in einem übersättigten Weltmarkt die Flucht in Krieg und Militarismus angetreten. Diese sind nun zur Lebensweise des Kapitalismus geworden, wie es die beiden Weltkriege und die ununterbrochene Kette von lokalen, stets destruktiveren Konflikten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs deutlich veranschaulichen. Die beiden Weltkriege und die gegenwärtige Zerfallsphase der Gesellschaft illustrieren, bis zu welchem Grad dieses überholt gewordene System bereits die Menschheit als ganzes bedroht. In seiner Flucht nach vorn drückt der Kapitalismus allen Bereichen des menschlichen Lebens, darin eingeschlossen auch dem Verhältnis des Menschen zur Natur, seinen Stempel auf. Um seine Profite aufrecht zu erhalten plündert der Kapitalismus seit mehr als hundert Jahren in grossem Ausmass die Umwelt. Er hat es so weit getrieben, dass der Umfang der gesamten Verschmutzung, ja das ganze ökologische Desaster eine wirkliche Bedrohung für das gesamte Ökosystem dieses Planeten darstellen.

Der Kapitalismus ist ein Konkurrenzsystem, das den Wettstreit zwischen den Nationen auf die höchste Ebene schraubt. Die Vertiefung der Wirtschaftskrise bedeutet also auch eine Intensivierung ihres Wirtschaftskrieges. Nach dem Verschwinden der beiden nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen imperialistischen Blöcke hat die Aufrechterhaltung einer Koordination der Wirtschaftspolitik zwischen den verschiedenen Staaten zur Verhinderung eines Handelskrieges eine noch umfassendere Verschlechterung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, insbesondere der Wechselkurse, verhindert. Die Fraktionen der Weltbourgeoisie der am meisten entwickelten Länder haben mit dieser Handlungsweise ihr Bewusstsein darüber zum Ausdruck gebracht, dass eine Wiederholung des Szenarios der 30er-Jahre verhindert werden muss. Damals versuchte sich die Bourgeoisie gegen die Depression mit einer Erhöhung der Zollmauern zu schützen. Mit diesem Vorgehen ist aber der Welthandel massiv reduziert und die Krise verschlimmert worden. Im Lauf der gesamten 90er-Jahre haben die Entscheidungen der Welthandelsorganisation (WTO) Zollhindernisse und protektionistische Massnahmen eliminiert, jedoch hauptsächlich diejenigen der schwächsten zugunsten derjenigen der stärksten Länder.

Anlässlich der Abschlüsse von Abkommen zwischen den Mitgliedern dieser Organisation wird auch ein Kräfteverhältnis zwischen ihnen festgesetzt. Auf dieser Grundlage werden die Regeln für die Fortsetzung des Wirtschaftskrieges definiert. Ob ein solches Abkommen wie kürzlich an der Ministerkonferenz in Cancun vom 10. bis 14. September scheitert, verändert überhaupt nichts an den Beziehungen und am Kräfteverhältnis zwischen den reichsten und den anderen Ländern. Auch wenn die Globalisierungsgegner mit ihrer lügnerischen Propaganda etwas anderes behaupten. Sie stellen die Tatsache, dass in Cancun kein Abkommen hat erzielt werden können, als einen Sieg für die Drittwelt-Länder dar.[1] Das ist eine mystifizierende Argumentationsweise, gemäss der die Lösung der tragischen Probleme des niedergehenden Kapitalismus nicht in der Überwindung dieses Systems, sondern im Kampf zwischen dem Norden, den entwickelten Ländern, und dem Süden, den unterentwickelten Ländern, liege. Man muss sich jetzt, da diese ekelhafte Propaganda erneut entwickelt wird, daran erinnern, dass sie von 1960 bis 1980 als Rechtfertigung für die Einbeziehung der Bauernmassen in die Konflikte und Guerillabewegungen im allgemeinen zu Gunsten des russischen Blocks gedient hat, der ebenso imperialistisch wie der gegnerische amerikanische Block war. Eine solche Positionierung der Globalisierungsgegner darf uns nicht erstaunen. Seit einigen Jahren treten sie mit ihrem Slogan „Eine andere Welt ist möglich“ auf und prangern mit ihren Thesen den Liberalismus an und fordern einen stärkeren Staat. Die Bourgeoisie unterstützt diese Bewegung mit allen Kräften, um der Entwicklung eines Klassenbewusstseins des Proletariats gegenüber dem Scheitern des Kapitalismus entgegenzutreten. Diese angeblich „andere Welt“ ist weder neu noch sozial, es ist die, in der wir gegenwärtig leben, in der der Staat entgegen allen anderen Auffassungen der Hauptpfeiler zur Verteidigung der Interessen der Bourgeoisie und des Kapitalismus ist und bleiben wird.

Der Staat als Speerspitze der Angriffe

Auch wenn die Bourgeoisie die schreiende Tatsache nicht verleugnen kann, dass die Wirtschaftskrise der Grund für die Angriffe gegen die Arbeiterklasse ist, so versucht sie diese Tatsache doch zu vernebeln, indem sie den „mangelndem Bürgersinn von gewissen unmoralischen Wirtschaftsführern“, die „schlechte Unternehmensführung“ von gewissen anderen an den Pranger stellt ... kurz: Sie unternimmt alles, um einmal mehr zu verhindern, dass die wirklich grundlegende Frage gestellt wird, nämlich diejenige nach der Unausweichlichkeit der Wirtschaftskrise als Folge der unüberwindbaren Widersprüche des Kapitalismus. Heute muss der Staat selbst, ob nun mit einer linken oder einer rechten Regierung, im Namen der gesamten Bourgeoisie schwere und allgemeine Angriffe wie gegen die Altersversicherungen führen. Das kann nur eines bedeuten: Der Kapitalismus ist je länger desto weniger in der Lage, der Klasse, die er ausbeutet, die Lebensgrundlagen zuzugestehen. In unserer letzten Ausgabe von der International Review Nr. 114 (engl./frz./span. Ausgabe) haben wir aufgezeigt, wie der Staat in verschiedenen Ländern solche Angriffe gegen die Altersvorsorge (Frankreich, Österreich, Brasilien) und gegen die Sozialfürsorge oder die Arbeitslosenunterstützung (Deutschland, Holland, Polen) aufgegleist hat. Zurzeit sieht die italienische Regierung ebenfalls Reformen beim Altersvorsorgesystem vor, das immer wieder als eines der „teuersten der Europäischen Union“ angeprangert wird. Seit dem Frühling kommt es auf allen Kontinenten, in allen Ländern und in allen Sektoren unaufhörlich zu neuen Reduktionen der Staatsausgaben und zu Massenentlassungen. Zur Illustration zitieren wir hier die aktuellsten:

– Philips hat in fünf Jahren bereits 120 Produktionsstandorte geschlossen oder verkauft und seit dem Mai 2001 50'000 Stellen gestrichen. Das Unternehmen wird weitere 50 seiner noch 150 Standorte schliessen, was noch einmal 170'000 Arbeiter betrifft.

– Schneider Electric mit 75'000 Lohnabhängigen in 130 Ländern wird nochmals 1'000 Stellen in Frankreich streichen.

– ST Microélectronics kündigt die Schliessung des Standortes in Rennes in Frankreich an, was 600 Stellen betrifft.

– 10% der Angestellten von Cadence Design System (Kalifornien), also 500 Personen, werden entlassen.

– Volkswagen kündigt die Entlassung von 3'933 Arbeitern in Sao Bernardo do Campo in Brasilien an. Angesichts der Gefahr von Arbeitermobilisierungen droht der Chef des Unternehmens mit der Entlassung eines jeden, der sich an einem Streik beteiligen sollte.

– Matra Automobile schliesst eine Fabrik in Frankreich und entlässt 1'000 Arbeiter;

– Giat Industries (Waffenproduktion in Frankreich) kündigt die Entlassung von 3'750 Arbeitern bis 2006 an.

– Das Tabakunternehmen Altadis streicht 1'700 Stellen in Spanien und Frankreich.

– Das in der Metallherstellung tätige Unternehmen Eramet entlässt in Europa 2'000 Arbeiter.

Angesichts des verengten Weltmarktes hat nur die Anhäufung eines Schuldenberges künstlich Abhilfe schaffen können. Jetzt aber sehen sich die öffentlichen und privaten Unternehmen zusätzlich gezwungen, einen Teil ihrer Belegschaft abzubauen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit in der internationalen Arena zu bewahren. Der Staat regelt in letzter Instanz die Entlassungsmodalitäten. Er trifft auch die nötigen Vorkehrungen, damit der Stellenabbau nicht zu zusätzlichen Ausgaben für ihn selbst führen. So werden überall die Arbeitslosenleistungen gesenkt. Nach den Massnahmen des deutschen Staates in diesem Frühjahr hat nun der französische Staat damit begonnen, Tausende von Arbeitern von den Arbeitslosenlisten zu streichen. Ein einige Monate zuvor verabschiedetes Gesetz hat ihn dazu in die Lage versetzt.

Die Aufgabe der linken und linksextremen Fraktionen der Bourgeoisie im Zusammenhang mit der Verschärfung der Krise besteht darin zu verhindern, dass die Arbeiterklasse das System selbst grundlegend in Frage stellt. Sie vergiften das Bewusstsein der Arbeiterklasse mit der Verkündung, dass Lösungen innerhalb des Systems möglich seien. Dem Staat müsse nur wieder eine zentralere Rolle, wie sie ihm der Liberalismus streitig gemacht habe, zurück gegeben werden. Nun kann man aber gut sehen, dass es der Staat selbst ist, ob nun mit einer linken oder einer rechten Regierung, der die massivsten Angriffe seit Ende der 60er-Jahre orchestriert. Ganz entgegen der These einer Abnahme der Rolle des Staates in der Gesellschaft erhält dieser eine immer gewichtigere Stellung im Dienste der Verteidigung der Interessen des nationalen Kapitals. Folgende Beispiele illustrieren dies sehr gut:

– 1998 ist der japanische Staat den Banken zu Hilfe geeilt, um ihren Zusammenbruch zu verhindern.

– Am 23. September desselben Jahres hat die amerikanische Zentralbank gleich gehandelt, indem sie die Fondsgesellschaft „Long Term Capital Management“ kurz vor dem Konkurs rettete.

– Der französische Staat handelt heute mit der Hilfestellung für Alstom (Herstellung der TGV) nicht anders.

In all diesen Fällen sind staatskapitalistische Massnahmen mit dem Ziel ergriffen worden, Unternehmen zu erhalten, die entweder im Industriebereich als strategisch wichtig beurteilt werden oder deren Konkurs noch grössere Finanzkatastrophen nach sich gezogen hätte. Es handelt sich gewiss nicht um soziale Massnahmen, was die Ankündigung von beinahe 5'000 Entlassungen bei Alstom und von 10'500 Entlassungen in 15 Banken in Japan, die öffentlich Unterstützung erhalten, bezeugt. Wenn diese Banken im letztgenannten Fall tatsächlich weitere Unterstützung vom Staat erhalten wollen, haben sie keine andere Wahl, als sich seinen Anweisungen zu beugen: Sie müssen durch eine Abmagerung ihre Bilanzen verbessern, die 50 Milliarden Dollar zweifelhafter Guthaben aufweisen, die höchst wahrscheinlich nie wieder eingetrieben werden können. Und diese Schätzungen, die der Staat veröffentlicht hat, sind gemäss unabhängigen Analysten noch weit von der schlimmeren Realität entfernt (gemäss BBC News vom 19.9.2003).

Zurück zu den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts

Die Bourgeoisie gefällt sich darin, die Arbeiterklasse immer wieder an die Lebensbedingungen des 18. und 19. Jahrhunderts zu erinnern, damit sie die aktuellen Lebensbedingungen akzeptiert: Die Arbeiter seien in ungesunden Elendsquartieren zusammengepfercht gewesen und hätten unerträgliche Arbeitsbedingungen mit Arbeitstagen bis zu 18 Stunden erdulden müssen.

Die daraus resultierende Schwächung der Arbeitskraft drohte eine Fessel für die Ausbeutung und die kapitalistische Akkumulation zu werden. Weiter wurde das sich entwickelnde Elend in den Industriestädten zu einer wachsenden Quelle für tödliche Epidemien in erster Linie für die Arbeiterklasse selbst, aber auch die übrige Bevölkerung – das Kleinbürgertum und das Bürgertum – war davon betroffen. Aus diesem Grund fiel die Entwicklung des Kampfes der Arbeiter für Reformen und eine Verbesserung der Bedingungen mit den allgemeinen Interessen des Kapitalismus zusammen. Der Kapitalismus hatte zu diesem Zeitpunkt seine historischen Grenzen noch nicht erreicht. Diese Situation wird sehr gut in einem Zitat aus Marxens Lohn, Preis und Profit zum Kampf für eine Verkürzung des Arbeitstages veranschaulicht: „(Die offiziellen Ökonomen) drohten (für den Fall einer Einführung des Zehnstunden-Tages) mit Abnahme der Akkumulation, Steigerung der Preise, Verlust der Märkte, Schrumpfung der Produktion, daher entspringendem Rückschlag auf die Löhne und schliesslichem Ruin ... Schön, was war das Resultat? Steigerung des Geldlohns der Fabrikarbeiter trotz der Verkürzung des Arbeitstages, grosse Zunahme der Zahl der beschäftigten Fabrikarbeiter, anhaltendes Fallen der Preise ihrer Produkte, wunderbare Entwicklung der Produktivkraft ihrer Arbeit, unerhört fortschreitende Ausdehnung der Märkte für ihre Waren“ (MEW, Bd. 16, S. 110). Im Gegenzug ist der Kapitalismus mit der Beendigung der progressiven Phase und dem Eintritt in die Niedergangsperiode durch seine eigenen Widersprüche dazu getrieben worden, die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse immer massiver anzugreifen. Alle die Widerstandskämpfe der Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert haben zwar die Heftigkeit der Angriffe mildern können, jedoch waren sie ausser Stande, die allgemeine Tendenz zur Verschlechterung der Lebensbedingungen umzukehren. Einzig die Überwindung des Kapitalismus wird dazu in der Lage sein.

Immer grössere Katastrophen aufgrund der Umweltzerstörung

Schlammfluten, die die Wellblechhütten verschlingen; Wirbelstürme, die sie davontragen; Erdbeben, die die billig gebauten Häuser, die mehr aus Sand als aus Zement bestehen, einstürzen lassen; Tausende von Menschenleben, die diese entfesselten Naturgewalten aufgrund der elenden Bedingungen fordern, unter denen die Leute schutzlos ausgeliefert wohnen – das ist seit Jahrzehnten das gemeinsame Schicksal der von der Armut geprägten Regionen der Dritten Welt. Doch mittlerweile verschonen solche Katastrophen die Zentren der industrialisierten Welt nicht mehr, die ebenfalls immer mehr Verarmte zählen und wo man seit einigen Jahren die Folgen der Klimaveränderung auf der Erde handfest spürt. Auch wenn die Unterschiede beträchtlich sind, so wird je länger je deutlicher, dass die Situation der Dritten Welt das Abbild dessen ist, was die grossen industrialisierten Länder erwartet, und nicht umgekehrt. Obwohl die Menschheit aufgrund des enormen Fortschritts bei der Produktivkraftentwicklung, die der Kapitalismus gebracht hat, noch nie so nah an der Fähigkeit war, die Gewalten der Natur zu bändigen, um mit ihr in Einklang zu leben, so wird doch Europa, die Wiege dieses Systems, immer ohnmächtiger gegenüber der elementaren Natur, wie dies ein kurzer Rückblick über lediglich ein Jahr verdeutlicht:

– Sommer 2003: Die Hitzewelle war auch Ursache der grössten Waldbrände, die je in diesen Regionen beobachtet worden waren und zahlreiche Menschenleben forderten. Fast 20% der Waldfläche Portugals sind dabei abgebrannt.

– Januar 2003: Die Kältewelle, die Europa heimsuchte, tötete ebenfalls viele Menschen, was mittlerweile zur Normalität geworden ist, wenn das Quecksilber im Winter unter Null Grad fällt: etwa tausend Todesopfer in Russland, einige Dutzend in Westeuropa. Diese letzte Zahl mag im Vergleich zu anderen als gering erscheinen, doch darf man dabei nicht vergessen, dass solche Kältetote eine neue Erscheinung sind.

– September 2002: Eine Sintflut ging auf die Cevennen (im Südosten Frankreichs) nieder, die alles zerstörte, was ihr im Weg stand, und eine drei Departemente umfassende Region in Morast verwandelte. Bilanz: rund vierzig Todesopfer, weggespülte Brücken, unterbrochene Eisenbahnlinien, Autobahnen, Telefonleitungen.

– August 2002: Das Gebiet zwischen dem Schwarzen Meer und Ostdeutschland, Bayern, Tschechien und Österreich versank in den Fluten der Elbe, der Donau und ihrer Nebenflüsse, die alle über die Ufer traten. Die Überschwemmungen waren die Folgen von ununterbrochenen Regengüssen, trafen das Land, die Städte, sowohl kleine als auch grosse: 100'000 Personen in Dresden evakuiert, ganze Quartiere von Prag, Wien beschädigt, Eisenbahnbrücken weggerissen, Chemiefabriken in Gefahr, gigantische finanzielle Verluste und vor allem Dutzende von Toten überall.

Ähnlich wie die anderen Aspekte des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft unterstreicht die Bedrohung der Umwelt die Tatsache, dass bei ausbleibender Revolution des Proletariats die Gefahr immer grösser wird, dass der Ausbreitung der Zerstörung und des Chaos einen Punkt erreicht, von dem an es kein Zurück mehr gibt und der Kampf für die Revolution und den Aufbau einer neuen Gesellschaft verunmöglicht wird (in Internationale Revue Nr. 13, siehe: „Ökologie: der Kapitalismus vergiftet die Erde“).

Das Chaos und der Krieg sind die einzige Perspektive, die der Kapitalismus anbietet

Wie wir in diesen Spalten schon verschiedentlich dargelegt haben, ist die einzig übrig gebliebene Supermacht dauernd dazu gezwungen, auf dem militärischen Feld die Initiative zu ergreifen, dort wo sich ihre gewaltige Übermacht gegenüber allen Rivalen offenbart, um ihnen gegenüber die je länger je mehr in Frage gestellte Führung auf der ganzen Welt zu verteidigen. Seit dem ersten Golfkrieg sind die grössten Konflikte immer wieder die Folge einer Flucht nach vorn der Vereinigten Staaten gewesen, die in einem unüberwindbaren Widerspruch gefangen sind: Jede neue Offensive bringt zwar die Rebellion gegen die amerikanische Vorherrschaft für eine Weile zum Schweigen, schafft aber gleichzeitig die Voraussetzungen für das nächste Aufflammen, da neue Frustrationen erzeugt werden und sich antiamerikanische Gefühle entwickeln. Die Eskalation, die seit September 2001 die USA (unter dem Vorwand des Krieges gegen den Terrorismus und die „gefährlichen Diktatoren“) dazu verleitet hat, Afghanistan und den Irak, ohne sich um die UNO und die NATO zu kümmern, militärisch zu besetzen, gehorcht genau dieser Logik. Doch hat keiner der früheren Kriege eine für die USA so schwierige Lage geschaffen wie diejenige in Afghanistan und v.a. im Irak.

Der militärische Sieg über Saddam Husseins Irak fiel der amerikanischen Bourgeoisie zwar sehr leicht, sie rechnete aber nicht mit so schwerwiegenden Problemen, wie sie sich nun bei der Besetzung und der Kontrolle des Landes stellen. Die Einlösung der schönen Versprechen der Bush-Administration über den Wiederaufbau und die Demokratie im Irak wird angesichts der immer tieferen militärischen Verstrickungen ihrer Truppen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Die Folgen, die sich aus dieser Situation ergeben, sind vielschichtig.

Bei ihrem Versuch, die Ordnung aufrecht zu erhalten und die Lage zu kontrollieren, sind die Vereinigten Staaten gezwungen, die Stärke der Besatzungstruppen zu vergrössern. Es sind Zeichen einer schwindenden Zustimmung zu dieser Mission, wenn die freiwilligen Berufssoldaten immer schwieriger zu finden sind und die Truppen vor Ort offen ihren Missmut oder gar Nervosität ausdrücken, wenn sie auf alles, was sich bewegt, gleich schiessen aus Angst davor, sonst selber aufs Korn genommen zu werden.

Bevor Bush die USA in diese neue militärische Offensive warf, verkündete er, dass die Befreiung dieses Landes die geopolitische Landschaft der ganzen Region auf den Kopf stellen werde. Tatsächlich war es ein nicht eingestandenes Ziel dieser Offensive, durch die amerikanische Herrschaft über den Irak den Einfluss in der ganzen Region zu vergrössern und sie insbesondere als Mittel zur Einkreisung Europas zu benützen. Ein solches Szenario beinhaltete aber notwendigerweise die Fähigkeit der USA, in allen Spannungsherden die „Pax americana“ durchzusetzen, und zwar insbesondere im explosivsten, nämlich dem israelisch-palästinensischen. Bush verkündete denn auch eine baldige Regelung desselben. Es war durchaus zutreffend davon auszugehen – wie dies Bush auch tat –, dass die Entwicklung der Lage im Irak Konsequenzen auf die von Jerusalem besetzten Gebiete haben würde. Dies bewahrheitet sich heute auch, aber anders als es Bush erwartet hat, durch die Verschärfung der Zusammenstösse in diesen Gebieten. Der gegenwärtige Misserfolg der amerikanischen Bourgeoisie im Irak stellt in der Tat ein Hindernis dar für ihre Versuche, den ungehorsamen Verbündeten Israel zu zügeln, der eigentlich die „Road Map“ respektieren sollte, die er aber ständig sabotiert. Solche Schwierigkeiten der amerikanischen Bourgeoisie, ihre Ansprüche gegenüber Israel durchzusetzen, sind nicht neu und erklären teilweise den Misserfolg der verschiedenen Friedenspläne in den letzten 10 Jahren. Doch waren die Folgen noch nie so ernsthaft wie heute. Dies wird durch die kurzsichtige Politik veranschaulicht, die Sharon fähig ist, dem Nahen Osten aufzuzwingen, und die einzig auf der Suche nach der Eskalation der Zusammenstösse mit den Palästinensern beruht mit dem Ziel, sie aus den besetzten Gebieten zu vertreiben. Selbst wenn in dieser Region – wie überhaupt auf der Welt – ein Frieden ohnehin nicht möglich ist, wird die von Sharon, dem Schlächter von Sabra und Schatila[2], gespielte Karte nur zu noch mehr Blutbädern führen, die das Palästinenserproblem für Israel keineswegs lösen. Im Gegenteil, dieses Problem wird vielmehr als Bumerang zurückkehren, insbesondere durch einen noch weniger als heute kontrollierbaren Wildwuchs des Terrorismus. Eine solche Entwicklung wird wiederum die USA in ein noch schlechteres Licht rücken, ohne dass sie aber ihren besten Verbündeten in der Region deshalb fallen lassen könnten.

Der Fehlschlag der Vereinigten Staaten im Irak untergräbt ihren Kredit und ihre Autorität in der ganzen Welt, worüber sich ihre Rivalen nur freuen können und was sie auch auszunützen versuchen. Frankreich, der lauteste dieser Rivalen, hat vertreten durch Chirac in der Vollversammlung der UNO unter dem Vorwand, gegenüber seinem „immerwährenden grossen Verbündeten“ die unterschiedlichen Meinungen auszudrücken, die Gunst der Stunde genutzt und sich die Dreistigkeit erlaubt, Bush darauf hinzuweisen, dass dieser mit der Intervention im Irak, die er trotz der Vorbehalte von zahlreichen Ländern, so auch Frankreichs, durchgeführt hat, einen Fehler begangen habe. Mehr Anlass zur Sorge bildet für die USA allerdings der Umstand, dass es ihnen bis heute trotz wiederholten Aufrufen nicht gelungen ist, abgesehen von Grossbritannien, das sich seit Beginn an der Militäroperation beteiligt hat, eine andere Grossmacht zur Verstärkung des Kontingents der Besatzungstruppen im Irak zu verpflichten. Spanien, das keine Grossmacht ist, hat nur gerade eine symbolische Armeeeinheit entsandt. Einzig Polen, das eine noch weniger grosse Macht darstellt, hat positiv auf die amerikanischen Lockrufe reagiert, mit denen es eingeladen worden ist, zusammen mit den Grossen dieser Welt in der Sonne zu defilieren. Es wird für die USA auch schwierig werden, viele Freiwillige zu finden, die mit ihnen zusammen die Stabilisierung und den Wiederaufbau des Irak finanzieren.

Die amerikanische Bourgeoisie befindet sich in einer Sackgasse, die ihrerseits eine Folge der ausweglosen Situation auf der ganzen Welt ist, die aufgrund der gegenwärtigen historischen Bedingungen nicht mit einem Kurs auf einen neuen Weltkrieg gelöst werden kann. Da dieser radikale bürgerliche Ausweg aus der gegenwärtigen Weltkrise, der die sichere Vernichtung der Menschheit bedeuten würde, nicht vorhanden ist, versinkt diese immer mehr im Chaos und der Barbarei, welche Kennzeichen der letzten Phase des Zerfalls des Kapitalismus sind.

Die gegenwärtige relative Schwäche der Vereinigten Staaten hat den Ehrgeiz ihrer Rivalen angestachelt, wieder in die Offensive zu gehen. So fand am 20. September in Berlin ein Treffen zwischen G. Schröder, J. Chirac und T. Blair statt, bei dem sich die drei Chefs auf die Absicht einigten, Europa mit einem selbständigen operationellen Generalstab auszustatten, welchem Ansinnen bisher die britische Bourgeoisie entgegen stand. Diese Schritte hin zu unbestreitbaren Rivalen der USA können nicht erstaunen, da Grossbritannien auch für die Kosten des irakischen Schlamassels aufkommen muss und dringend einen Ausgleich bei seinen Bündnissen suchen muss, um gegenüber dem amerikanischen Einfluss Gegensteuer geben zu können. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Erklärung Blairs zum Abschluss dieses Treffens: „Wir haben bei der europäischen Verteidigung immer mehr eine gemeinsame Position“ (zit. nach der französischen Tageszeitung Le Monde vom 23. September). Zudem haben die 25 Mitglieder des Erweiterten Europas anlässlich der UNO-Vollversammlung im September wahrscheinlich auf Initiative von Deutschland und Frankreich geschlossen für einen Text gestimmt, der die Bedrängnis der USA hinsichtlich der Politik gegenüber ihrem Verbündeten Israel nur zuspitzen kann, da mit diesem Votum der Beschluss Sharons, Arafat des Landes zu verweisen, verurteilt worden ist[3]. Mit dieser symbolischen Abstimmung wurde das Ansehen der USA aufs Korn genommen, um es weiter zu untergraben.

Von den 25 Mitgliedern des Erweiterten Europas, die nun implizit die USA kritisiert haben, hatte eine Mehrheit vor dem Ausbruch des Irakkrieges wohl oder übel die amerikanische Option gegenüber derjenigen des Trios Frankreich, Deutschland, Russland unterstützt. Diese Tatsache wie auch die neuerliche Entwicklung der britischen Position hinsichtlich des europäischen selbständigen operationellen Generalstabs veranschaulichen ein Merkmal der Phase, die durch die Auflösung der imperialistischen Blöcke eröffnet worden ist; die IKS wies nach dem ersten Golfkrieg bereits darauf hin: „In der neuen historischen Epoche, in die wir jetzt eingetreten sind – und die Ereignisse am Persischen Golf liefern eine Bestätigung dafür – gibt es überall auf der Welt immer mehr Konflikte, in denen die Tendenz des ‚Jeder-für-sich‘ dominiert, und in denen die Bündnisse zwischen Staaten keine grössere Stabilität bringen, wie das bei den Blöcken der Fall war, sondern sie werden nur ein Ergebnis der jeweiligen Verhältnisse sein.“ (in: Internationale Revue Nr. 13, siehe: „Militarismus und Zerfall“) Es kommt nicht von ungefähr, dass die Revolutionäre die Sitten der Bourgeoisie mit denjenigen von Ganoven verglichen haben. Doch während in der Vergangenheit sowohl bei den einen als auch bei den anderen gewisse Regeln herrschten, die darauf abzielten, ihre Verbrechen abzusegnen, lösen sich diese Regeln heute auf, und übrig bleiben nur noch Taten ohne Moral und Gesetz. Schröder veranschaulichte dies kürzlich sehr deutlich, als er nach einem Treffen mit G. Bush am Rande der Arbeiten der UNO-Versammlung erklärte, voll und ganz mit ihm einverstanden zu sein, während er bisher zusammen mit Frankreich das antiamerikanische Bollwerk darstellte.

Die Verantwortung der Arbeiterklasse

Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Auflösung des westlichen Blocks verschwand Anfang der 1990er-Jahre die Gefahr eines weltumspannenden Atomkrieges, der die Menschheit vernichtet und damit den Widersprüchen des Kapitalismus ein brutales Ende bereitet hätte. Die Rahmenbedingungen haben sich verändert, indem zwar die Möglichkeit eines Weltkrieges für eine gewisse Zeit von der Tagesordnung verschwunden ist, aber diese Widersprüche sich weiterhin durch immer weiter zugespitzte Erscheinungen des kapitalistischen Zerfalls ausdrücken, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens prägen. Dies ist keineswegs ein Grund zur Beruhigung, denn „der Zerfall führt, wie sein Name sagt, zum Auseinanderbrechen und zum Verfaulen der Gesellschaft, ins Nichts. Seiner eigenen Logik und seinen letzten Konsequenzen überlassen, führt er die Gesellschaft zum gleichen Ergebnis wie der Weltkrieg. Brutal von einem thermonuklearen Bombenhagel in einem Weltkrieg getötet zu werden oder durch die Verschmutzung, die Radioaktivität der Atomkraftwerke, den Hunger, die Epidemien und die Massaker der verschiedenen kriegerischen Konflikte (bei denen auch Atomwaffen eingesetzt werden können) zerstört zu werden, all das läuft aufs gleiche hinaus“ (in: Internationale Revue Nr. 13, siehe: „Der Zerfall: letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus“).

In der Zeit, als die Zerstörung der Gesellschaft einzig aufgrund des imperialistischen Krieges drohte, genügte der Umstand, dass die Kämpfe des Proletariats das entscheidende Hindernis auf dem Weg zu diesem Ziel darstellten, um eben diese Zerstörung zu verhindern. Im Gegensatz zum verallgemeinerten imperialistischen Krieg, der zu seiner Entfesselung die Unterwerfung des Proletariats unter die Ideale der Bourgeoisie voraussetzt, braucht der Zerfall keineswegs die Unterjochung der Arbeiterklasse, um die Menschheit in den Abgrund zu reissen. So wie die Kämpfe des Proletariats in diesem System den wirtschaftlichen Zusammenbruch nicht verhindern können, sind sie auch nicht in der Lage, den Zerfall zu bremsen. Um der Gefahr, die der Menschheit durch den Zerfall droht, zu begegnen, genügen die Abwehrkämpfe der Arbeiter gegen die Auswirkungen der Krise nicht mehr: Einzig die kommunistische Revolution kann sie beseitigen.

Trotz dem Schlag gegen die Bewusstseinsentwicklung des Proletariats, den der Zusammenbruch des Ostblocks darstellte und dessen Folgen auf der Ebene des Klassenkampfes noch bei weitem nicht überwunden sind, hat die Arbeiterklasse keine grössere Niederlage einstecken müssen; ihre Kampfbereitschaft bleibt im wesentlichen intakt. Einerseits stellt die unausweichliche Verschärfung der kapitalistischen Krise die Ursache für den fortschreitenden Zerfall dar, andererseits und gleichzeitig ist sie der wesentliche Antrieb für den Kampf und die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse, die ihrerseits die Voraussetzung für ihre Fähigkeit darstellen, dem ideologischen Gift der verfaulenden kapitalistischen Gesellschaft etwas entgegenzusetzen. Die Krise entlarvt die eigentlichen Ursachen der ganzen Barbarei, der diese Gesellschaft unterworfen wird, und erlaubt es somit dem Proletariat, sich der Notwendigkeit einer radikalen Änderung des Systems und der Unmöglichkeit, innerhalb desselben gewisse Aspekte zu verbessern, bewusst zu werden. Obwohl aber der Verteidigungskampf erforderlich ist, genügt er allein nicht, um den Weg zur Revolution zu bereiten. Das Proletariat muss die Mittel und die Ziele seines Kampfes begreifen, und dies kann nur das Resultat einer bewussten Anstrengung auf seiner Seite sein. In diesem Prozess haben die revolutionären Organisationen eine massgebliche Rolle zu spielen. Nur so kann es die Tragweite seines Kampfes, die Taktik und die Fallen verstehen, die ihm der Klassenfeind stellt, und eine immer grössere Einheit in seinen Reihen herstellen.

LC (3. Oktober 2003)

Fußnoten:

1. José Bové ist Wortführer der Bauern-Konföderation und einer der bekanntesten französischen Anführer der Antiglobalisierungsbewegung. Die französische Bourgeoisie rückt ihn ständig ins Scheinwerferlicht. Er unterhält gute Beziehungen zur Linken und zur extremen Linken in diesem Land. Am Fest der Humanité (Tageszeitung der kommunistischen Partei Frankreichs) vom 10. September erklärte er, dass man „Cancun köpfen“ müsse.

2. Sharon führte im September 1982 mit einer besonders barbarischen Gründlichkeit die israelische Strafexpedition in den beiden palästinensischen Flüchtlingslagern in West-Beirut durch, bei der Tausende von Männern, Frauen und Kindern getötet und verletzt wurden.

3. Die Hauptrivalen der USA in Europa haben es geschafft, die sehr unbequeme Position der USA in dieser Angelegenheit auszunützen. Obwohl diese den Beschluss Israels öffentlich kritisiert haben, können sie es sich doch nicht erlauben, ihrem Verbündeten in den Rücken zu fallen, so dass sie schliesslich von ihrem Vetorecht in der UNO Gebrauch machen müssen, um zu verhindern, dass Israel durch eine Resolution verurteilt wird.

Theoretische Fragen: 

  • Zerfall [9]

Orientierungstext: Das Vertrauen und die Solidarität im Kampf des Proletariats (2. Teil)

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Das Vertrauen und die Solidarität im Kampf des Proletariats (2. Teil)

Wir veröffentlichen hier den zweiten Teil eines Orientierungstextes, der während des Sommers 2001 in der IKS diskutiert und an der ausserordentlichen Konferenz im März 2002 angenommen wurde.1 Der erste Teil wurde in der Internationalen Revue Nr. 31 publiziert und behandelte die folgenden Themen:

– Die Auswirkungen der Konterrevolution auf das Selbstvertrauen und die Tradition der Solidarität bei den heutigen Generationen des Proletariats.

– Wie die IKS von den Schwächen beim Vertrauen und der Solidarität betroffen ist.

– Die Rolle des Vertrauens und der Solidarität in der Geschichte der Menschheit.

4. Die Dialektik des Selbstvertrauens der Arbeiterklasse:Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Da die Arbeiterklasse die erste Klasse in der Geschichte ist mit einer bewussten, historischen Vision, ist es logisch, dass die Grundlagen ihres Vertrauens in ihre eigene Mission ebenfalls historisch sind und die Gesamtheit ihres Werdegangs verkörpern. Daher basiert vor allem dieses Vertrauen in entscheidendem Masse auf der Zukunft und somit auf einem theoretischen Verständnis. Und daher ist die Stärkung der Theorie das bevorzugte Mittel zur Überwindung der angeborenen Schwächen der IKS auf dieser Ebene. Vertrauen ist per Definition stets Vertrauen in die Zukunft. Die Vergangenheit kann nicht verändert werden, daher richtet sich das Vertrauen nicht direkt an sie.

Jede im Aufstieg befindliche, revolutionäre Klasse stellt ihr Vertrauen in ihre spezifische Mission auf die Grundlage nicht nur ihrer gegenwärtigen Stärke, sondern auch ihrer vergangenen Erfahrungen und Errungenschaften. Dennoch war das Vertrauen der revolutionären Klassen der Vergangenheit und der Bourgeoisie im Besonderen hauptsächlich in der Gegenwart verwurzelt – in der wirtschaftlichen und politischen Macht, die sie in der herrschenden Gesellschaft bereits erlangt hatten. Da das Proletariat niemals eine solche Macht innerhalb des Kapitalismus besitzen kann, kann es nie solch eine Vorherrschaft der Gegenwart geben. Ohne die Fähigkeit, von seiner vergangenen Erfahrung zu lernen, und ohne eine wirkliche Klärung und Überzeugung in Bezug auf sein Klassenziel kann es niemals das Selbstvertrauen erlangen, um die Klassengesellschaft zu überwinden. In diesem Sinn ist die Arbeiterklasse, mehr als jede andere vor ihr, eine historische Klasse im wortwörtlichen Sinne. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind die drei unerlässlichen Komponenten ihres Selbstvertrauens. Es ist daher kein Wunder, dass der Marxismus, die wissenschaftliche Waffe der proletarischen Revolution, von seinen Gründern historischer oder dialektischer Materialismus genannt wurde.

a) Dies eliminiert überhaupt nicht die Rolle der Gegenwart in der Dialektik des Klassenkampfes. Gerade weil das Proletariat eine ausgebeutete Klasse ist, muss es seinen kollektiven Kampf für die Klasse als eine Gesamtheit entwickeln, um sich seiner wahren Stärke und seines zukünftigen Potenzials bewusst zu werden. Diese Notwendigkeit für die gesamte Klasse, Vertrauen zu erlangen, ist ein völlig neues Problem in der Geschichte der Klassengesellschaft. Das Selbstvertrauen der revolutionären Klassen der Vergangenheit, die Ausbeuter waren, beruhte stets auf einer klaren Hierarchie innerhalb jener Klassen in der Gesellschaft insgesamt. Es basierte auf der Fähigkeit, andere zu kommandieren und dem eigenen Willen unterzuordnen und damit auf der Kontrolle über den Produktions- und Staatsapparat. In der Tat ist es charakteristisch für die Bourgeoisie, dass selbst in ihrer revolutionären Phase andere für sie kämpften und dass, einmal an der Macht, sie immer mehr ihre Aufgaben an bezahlte Knechte „delegierte“.

Das Proletariat kann seine historische Aufgabe nicht an irgend jemanden delegieren. Daher muss die gesamte Klasse Selbstvertrauen entwickeln. Und daher ist das Vertrauen in das Proletariat stets auch Vertrauen in die Klasse als Ganzes, niemals nur in einen Teil der Klasse.

Es ist diese Tatsache, eine ausgebeutete Klasse zu sein, die ihrem Vertrauen einen schwankenden und gar ziellosen Charakter verleiht, der mit der Bewegung des Klassenkampfes auf- und abschwillt. Mehr noch, revolutionäre politische Organisationen selbst sind tief von dem Auf und Ab betroffen, bis zu dem Grad, dass die Weise, wie sie sich organisieren, sammeln und wie sie in der Klasse intervenieren, von dieser Bewegung abhängt. Und wie wir wissen, waren in Perioden schwerer Niederlagen nur winzige Minderheiten in der Lage gewesen, ihr Vertrauen in die Klasse aufrechtzuerhalten.

Doch diese Schwankungen im Vertrauen sind nicht nur mit dem Auf und Ab des Klassenkampfes verknüpft. Als eine ausgebeutete Klasse kann das Proletariat jederzeit, auch in der Hitze revolutionärer Kämpfe, einer Krise seines Selbstvertrauens zum Opfer fallen. Die proletarischen Revolutionen „unterbrechen sich ständig in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen“, etc. Insbesondere „schrecken (sie) stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke“E(die im Folgenden mit Buchstabenbezeichneten Fussnoten zu den Quellenangaben befinden sich am Ende des Artikels), wie Marx sagte. Die Russische Revolution von 1917 zeigt deutlich, dass nicht nur die Klasse insgesamt, sondern auch die revolutionäre Partei von solchen Schwankungen betroffen ist. Tatsächlich durchlebten die Bolschewiki zwischen Februar und Oktober etliche Krisen des Vertrauens in die Fähigkeit der Klasse, die anstehenden Aufgaben zu erfüllen. Krisen, die in einer Panik des Zentralkomitees der Bolschewiki angesichts des Aufstandes kulminierte.

Die Russische Revolution ist also die beste Illustration dafür, warum die tiefsten Wurzeln des Vertrauens des Proletariats im Gegensatz zur Bourgeoisie niemals in der Gegenwart liegen können. Während jener dramatischen Monate war es vor allem Lenin, der das unerschütterliche Vertrauen in die Klasse verkörperte, ohne das ein Sieg unmöglich ist. Und er tat dies, weil er nicht einen einzigen Moment lang die theoretische und historische Methode aufgab, die das Kennzeichen des Marxismus ist.

Dennoch ist der Klassenkampf ein unerlässliches Moment in der Entwicklung des revolutionären Vertrauens. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist er der Schlüssel für die gesamte historische Situation. Indem er die Wiedereroberung der Klassenidentität erlaubt, ist er die Vorbedingung für die gesamte Klasse, sich die Lehren der Vergangenheit wieder anzueignen und wieder eine revolutionäre Perspektive zu entwickeln.

Daher müssen wir, wie bei der Frage des Klassenbewusstseins, die eng damit verknüpft ist, zwei Dimensionen dieses Vertrauens unterscheiden: einerseits die historische, theoretische, programmatische und organisatorische Vermehrung des Vertrauens, die von den revolutionären Organisationen repräsentiert wird, und, etwas weiter gefasst, der Prozess der unterirdischen Reifung innerhalb der Klasse sowie andererseits der Grad und die Ausbreitung des Selbstvertrauens in der Klasse insgesamt zu einem gegebenen Moment.

b) Der Beitrag der Vergangenheit zu diesem Vertrauen ist nicht weniger elementar. Erstens, weil die Geschichte unleugbare Beweise für das revolutionäre Potenzial der Klasse enthält. Die Bourgeoisie selbst begreift die Bedeutung der vergangenen Beispiele für ihren Klassenfeind, weswegen sie pausenlos dieses Erbe und vor allem die Oktoberrevolution attackiert. Zweitens gibt es wenige Faktoren, die beruhigender sind als die Fähigkeit, vergangene Irrtümer zu korrigieren und die Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Im Gegensatz zur bürgerlichen Revolution, die von einem Triumph zum nächsten eilte, wird der endgültige Sieg des Proletariats durch eine Reihe von Niederlagen vorbereitet. Das Proletariat ist somit in der Lage, vergangene Niederlagen in Elemente für das Vertrauen in die Zukunft umzuwandeln. Dies war eine der Hauptgrundlagen für das Vertrauen, das Bilan in der tiefsten Konterrevolution aufrechterhielt. In der Tat, je tiefer das Vertrauen in die Klasse ist, desto gnadenloser müssen mutige Revolutionäre ihre eigenen Schwächen und die der Klasse kritisieren; je weniger sie es nötig haben, sich etwas vorzumachen, desto mehr sind sie von nüchterner Klarheit und dem Fehlen von sinnloser Euphorie gekennzeichnet. Wie Rosa Luxemburg immer und immer wieder sagte, ist es die Aufgabe der Revolutionäre zu sagen, was Sache ist.

Drittens war die Kontinuität, insbesondere die Fähigkeit, Lehren von einer Generation zur nächsten weiterzureichen, stets fundamental für die Pflege des Selbstvertrauens der Menschheit gewesen. Die verheerenden Auswirkungen der Konterrevolution des 20. Jahrhunderts auf das Proletariat ist der negative Beweis dafür. Um so wichtiger ist es für uns, die Lehren der Geschichte zu studieren, um unsere eigenen Erfahrungen und jene der gesamten Arbeiterklasse an die Generationen von Revolutionären weiterzureichen, die uns folgen werden.

c) Doch es ist die zukünftige Perspektive, die die grösste Grundlage für unser Vertrauen in das Proletariat bildet. Das mag paradox erscheinen. Wie ist es möglich, sein Vertrauen auf etwas zu fussen, das noch gar nicht existiert? Doch diese Perspektive existiert. Sie existiert als ein bewusstes Ziel, als eine theoretische Konstruktion, genauso wie die Bauten, die errichtet werden, bereits im Kopf des Architekten existieren. Das Proletariat ist der Architekt des Kommunismus.

Wir haben bereits gesehen, dass zusammen mit dem Proletariat als einer unabhängigen Kraft in der Geschichte die Perspektive des Kommunismus auftritt: das kollektive Eigentum nicht der Konsummittel, sondern der Produktionsmittel. Diese Idee war das Produkt der Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln durch die Lohnarbeit und die Vergesellschaftung der Arbeit. Mit anderen Worten, sie war ein Produkt des Proletariats, seiner Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft. Oder wie Engels im Anti-Dühring formulierte: Der Hauptwiderspruch im Herzen des Kapitalismus ist jener zwischen zwei gesellschaftlichen Prinzipien, dem kollektiven auf der Grundlage der modernen Produktion, repräsentiert vom Proletariat, und dem anarchischem, das auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln basiert, repräsentiert von der Bourgeoisie.

Die kommunistische Perspektive entstand bereits, bevor der proletarische Kampf sein revolutionäres Potenzial enthüllte. Was diese Ereignisse daher klären, ist, dass es der Arbeiterkampf ist, der allein zum Kommunismus führen kann. Doch die Perspektive an sich existierte schon zuvor. Sie basierte hauptsächlich weder auf den vergangenen noch auf den gegenwärtigen Lehren der proletarischen Schlacht. Und selbst in den 1840er-Jahren, als Marx und Engels begannen, den Sozialismus von einer Utopie in eine Wissenschaft umzuwandeln, hatte die Klasse noch keinen Beweis für ihre revolutionäre Macht abgegeben.

Dies bedeutet, dass von Anbeginn die Theorie selbst eine Waffe des Klassenkampfes war. Und bis zur Niederlage der revolutionären Welle war, wie wir gesagt haben, diese Vision ihrer revolutionären Rolle elementar, um der Klasse das Vertrauen zu verleihen, damit es das Kapital konfrontiert.

Somit ist die revolutionäre Theorie neben dem unmittelbaren Kampf und den Lehren der Vergangenheit ein unerlässlicher Faktor des Vertrauens, besonders seiner Entwicklung in die Tiefe, aber langfristig auch in die Breite. Da die Revolution nur ein bewusster Akt sein kann, kann sie nur siegreich sein, wenn die revolutionäre Theorie die Massen erobert.

In der bürgerlichen Revolution war die Perspektive nicht viel mehr als eine Projektion des Geistes vergangener und gegenwärtiger Entwicklungen: die allmähliche Eroberung der Macht innerhalb der alten Gesellschaft. Sofern die Bourgeoisie Theorien über die Zukunft entwickelte, kehrten sich diese in krude Mystifikationen um, die hauptsächlich die Aufgabe hatten, die revolutionäre Leidenschaft zu entflammen. Der unrealistische Charakter dieser Visionen schadete nicht der Sache, der sie dienen sollten. Für das Proletariat dagegen ist die Zukunft der Ausgangspunkt. Weil es nicht allmählich seine Klassenmacht innerhalb des Kapitalismus aufbauen kann, ist die theoretische Klarheit seine unentbehrlichste Waffe.

“Die klassische, idealistische Philosophie postulierte stets, dass die Menschheit in zwei verschiedenen Welten lebt: in der materiellen Welt, in der die Notwendigkeit herrscht, und in der Welt des Kopfes oder des Geistes, in der Freiheit herrscht. (...)Ungeachtet der Notwendigkeit, die Existenz zweier Welten zurückzuweisen, zu der die Menschheit gemäss Plato und Kant gehört, ist es dennoch korrekt, dass die menschlichen Wesen gleichzeitig in zwei Welten leben (...) Die beiden Welten, in denen die Menschheit lebt, sind die Vergangenheit und die Zukunft. Die Gegenwart ist die Grenze zwischen ihnen. Ihre ganze Erfahrung liegt in der Vergangenheit. (...) Sie kann nichts daran ändern, alles, was sie tun kann, ist, ihre Notwendigkeit zu akzeptieren. Somit ist die Welt der Erfahrung, die Welt der Erkenntnis auch eine Welt der Notwendigkeit. Sie unterscheidet sich von der Zukunft. Ich habe keine endgültige Gewissheit über sie. Sie liegt offensichtlich vor mir, als eine Welt, die ich nicht auf der Basis des Wissens erforschen kann, aber in der ich mich durch die Tat behaupten muss. (...) Handeln bedeutet stets, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen, und auch wenn ich mich zwischen Handeln und Nicht-Handeln befinde, bedeutet dies Akzeptieren oder Nicht-Akzeptieren, Verteidigen oder Angreifen. (...) Doch nicht nur das Gefühl von Freiheit ist eine Vorbedingung der Tat, sondern auch die gegebenen Ziele. Wenn die Welt der Vergangenheit von dem Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung (Kausalität) regiert wird, so die Welt der Tat, der Zukunft von der Zweckhaftigkeit (Teleologie).“F

Noch vor Marx löste Hegel theoretisch das Problem des Verhältnisses zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Freiheit ist, das zu tun, was notwendig ist. Hegel sagte: Mit anderen Worten, nicht durch die Auflehnung gegen die Bewegungsgesetze der Welt, sondern durch ihr Verständnis und ihre Ausnutzung für die eigenen Zwecke vergrössert der Mensch seine Freiheit. „Blind ist die Notwendigkeit nur in dem Masse, wie sie nicht verstanden wird.“G Die Bewegungsgesetze der Geschichte zu verstehen ist deshalb für das Proletariat notwendig, um seine Klassenmission zu erfüllen. Es ist die marxistische Theorie, die Wissenschaft von der Revolution, die der Klasse die Mittel und damit das Vertrauen verleiht, um diese Mission zu verstehen und zu erfüllen. Wenn die Wissenschaft und mit ihr das Vertrauen der Bourgeoisie zu einem grossen Teil auf dem wachsenden Verständnis der Naturgesetze beruhte, so basiert die Wissenschaft und das Vertrauen der Arbeiterklasse auf dem Verständnis von Gesellschaft und Geschichte.

Wie MC in einem der klassischen Texte des Marxismus über diese Frage aufzeigte2, muss die Zukunft in einer revolutionären Bewegung die Vorherrschaft über Vergangenheit und Zukunft ausüben, weil sie ihre Richtung bestimmt. Die Vorherrschaft der Gegenwart führt unweigerlich zu Schwankungen, die eine enorme Verwundbarkeit gegenüber dem Einfluss des Kleinbürgertums schaffen, zur Personifizierung dieser Schwankungen führen. Die Vorherrschaft der Vergangenheit führt zum Opportunismus und somit zum Einfluss der Bourgeoisie als Bastion der modernen Reaktion. In beiden Fällen ist es der Verlust der langfristigen Sichtweise, die zum Verlust der revolutionären Richtung führt.

Wie Marx sagte: „Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft.“H

Daraus müssen wir den Schluss ziehen, dass der Immediatismus der Hauptfeind des Vertrauens in das Proletariat ist, nicht nur, weil der Weg zum Kommunismus quälend lang ist, sondern auch, weil dieses Vertrauen in der Theorie und der Zukunft verwurzelt ist, während der Immediatismus die Kapitulation vor der Gegenwart, die Anbetung der unmittelbaren Tatsachen bedeutet. Die ganze Geschichte hindurch war der Immediatismus ein führender Faktor bei der Desorientierung der Arbeiterbewegung gewesen. Er war die Wurzel für all die Tendenzen gewesen, „die Bewegung vor das Ziel“ zu stellen, wie Bernstein es formuliert hat, und so die Klassenprinzipien abzuschaffen. Ob er die Gestalt des Opportunismus annimmt, so wie die Revisionisten zur Jahrhundertwende oder wie die Trotzkisten in den 30er-Jahren, oder die Form des Abenteurertums, wie die Unabhängigen 1919 und die KPD 1921 in Deutschland, diese kleinbürgerliche politische Ungeduld steigerte sich stets bis zum biblischen Verrat an der Zukunft für ein Linsengericht. Die Wurzel dieser Narreteien ist stets ein Verlust an Vertrauen in die Klasse.

Im historischen Aufstieg des Proletariats formen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine Einheit. Gleichzeitig warnt uns jede dieser „Welten“ vor einer spezifischen Gefahr. Die Gefahr, die die Vergangenheit betrifft, ist, dass ihre Lehren vergessen werden können. Die Gefahr der Gegenwart besteht darin, unmittelbaren, oberflächlichen Erscheinungen zum Opfer zu fallen. Die Gefahr bezüglich der Zukunft ist, dass die theoretische Arbeit vernachlässigt und geschwächt wird.

Dies mahnt uns daran, dass die Verteidigung und Weiterentwicklung der theoretischen Waffen der Klasse die spezifische Aufgabe revolutionärer Organisationen ist und dass Letztere eine besondere Verantwortung dafür haben, das historische Vertrauen in die Klasse zu schützen.

5. Vertrauen, Solidarität und Parteigeist sind niemals endgültige Errungenschaften

Wie wir gesagt haben, sind die Klarheit und die Einheit die wesentlichen Grundlagen der selbstbewussten, gesellschaftlichen Tat. Im Falle des internationalen proletarischen Klassenkampfes ist diese Einheit natürlich nur eine Tendenz, die eines Tages durch einen weltweiten Arbeiterrat möglicherweise verwirklicht wird. Doch politisch sind die Einheitsorganisationen, die im Kampf entstehen, bereits Ausdrücke dieser Tendenz. Ausserhalb dieser organisierten Ausdrücke manifestiert auch die Arbeitersolidarität – auch wenn sie auf individueller Ebene ausgedrückt wird – diese Einheit. Das Proletariat ist die erste Klasse, in der es keine konkurrierenden wirtschaftlichen Interessen gibt, und in diesem Sinn deutet seine Solidarität die Natur der Gesellschaft an, für die es kämpft.

Der wichtigste und dauerhafteste Ausdruck seiner Klasseneinheit ist jedoch die revolutionäre Organisation und das Programm, das sie vertritt. Als solche ist sie die ausgereifteste Verkörperung des Vertrauens in das Proletariat – und auch die komplexeste.

Vertrauen als solches steht auch im Zentrum des Aufbaus einer solchen Organisation. Hier wird das Vertrauen in die proletarische Mission direkt durch das Vertrauen in das politische Programm der Klasse ausgedrückt, in die marxistische Methode, die historische Fähigkeit der Klasse, in die Rolle der Organisation gegenüber der Klasse, in ihre Funktionsprinzipien, das Vertrauen der Militanten und der verschiedenen Bestandteile der Organisation in sich selbst und gegenseitig in die anderen: Insbesondere ist es die Einheit der verschiedenen politischen und organisatorischen Prinzipien, die sie verteidigt, und die Einheit zwischen den verschiedenen Teilen der Organisation, die die direktesten Ausdrücke des Vertrauens in die Klasseneinheit von Zweck und Ziel, des Klassenziels und der Mittel zu seiner Erlangung sind.

Die beiden Hauptaspekte dieses Vertrauens sind das politische und organisatorische Leben. Der erste Aspekt wird durch Loyalität zu politischen Prinzipien, aber auch durch die Fähigkeit ausgedrückt, die marxistische Theorie in Erwiderung auf die Evolution der Wirklichkeit weiterzuentwickeln. Der zweite Aspekt wird durch die Loyalität zu den Prinzipien der proletarischen Funktionsweise und die Fähigkeit ausgedrückt, ein wirkliches Vertrauen und eine wahre Solidarität innerhalb der Organisation zu entwickeln. Die Folge einer Schwächung des Vertrauens auf einer dieser beiden Ebenen wird stets die Einheit – und somit die Existenz – der Organisation in Frage stellen.

Auf der organisatorischen Ebene ist der ausgereifteste Ausdruck dieses Vertrauens, dieser Solidarität und Einheit der, wie Lenin ihn genannt hat, Parteigeist: In der Geschichte der Arbeiterbewegung gibt es drei berühmte Beispiele für die Erlangung solch eines Parteigeistes: die deutsche Partei in den 1870er und 1880er-Jahren, die Bolschewiki von 1903 bis zur Revolution und die italienische Partei sowie die Fraktion, die nach der revolutionären Welle aus ihr hervorging. Diese Beispiele werden helfen, uns die Natur und Dynamik dieses Parteigeistes und die Gefahren, die ihn bedrohen, zu zeigen.

a) Was die deutsche Partei auf dieser Ebene auszeichnete, war, dass sie ihre Funktionsweise auf die Grundlage der Organisationsprinzipien stellte, die von der Ersten Internationalen im Kampf gegen den Bakunismus (und Lassalleanismus) ausgearbeitet worden waren, dass diese Prinzipien in der gesamten Partei durch eine Reihe von organisatorischen Auseinandersetzungen verankert worden waren und dass im Kampf zur Verteidigung der Organisation gegen staatliche Repression eine Tradition der Solidarität zwischen den Militanten und den verschiedenen Teilen der Organisation geschmiedet worden war. Tatsächlich entwickelte die deutsche Partei während dieser „heroischen“ Periode der Klandestinität die Traditionen der kompromisslosen Verteidigung der Prinzipien, des theoretischen Studiums und der organisatorischen Einheit, die sie zum natürlichen Führer der internationalen Arbeiterbewegung machten. Die tägliche Solidarität in ihren Reihen war ein mächtiger Katalysator all dieser Qualitäten. Doch um die Jahrhundertwende war dieser Parteigeist nahezu tot, so dass Rosa Luxemburg feststellte, dass es mehr Menschlichkeit in einem sibirischen Dorf gebe als in der gesamten deutschen Partei.I In der Tat hatte schon lange zuvor das Verschwinden dieser Solidarität den kommenden programmatischen Verrat angekündigt.

b) Doch das Banner des Parteigeistes wurde von den Bolschewiki weitergetragen. Hier finden wir erneut dieselben Charakteristiken. Die Bolschewiki erbten ihre Organisationsprinzipien von der deutschen Partei, verankerten sie in jeder Sektion und in jedem Mitglied durch eine Reihe von organisatorischen Auseinandersetzungen, schmiedeten eine lebendige Solidarität durch Jahre der illegalen Arbeit. Ohne diese Qualitäten hätte die Partei nie die Prüfung der Revolution bestanden. Obwohl zwischen August 1914 und Oktober 1917 die Partei eine Reihe von politischen Krisen durchlitt und wiederholt auf die Penetration von offen bürgerlichen Positionen in ihren Reihen und in ihrer Führung (z.B. die Unterstützung des Krieges 1914 und nach dem Februar 1917) reagieren musste, wurde die Einheit der Organisation, ihre Fähigkeit, Divergenzen zu klären, ihre Irrtümer zu korrigieren und gegenüber der Klasse zu intervenieren, nie in Frage gestellt.

c) Wie wir wissen, war schon lange vor dem endgültigen Triumph des Stalinismus der Parteigeist in der Partei Lenins im vollen Rückgang begriffen. Doch auch im Angesicht der Konterrevolution wurde das Banner hochgehalten, diesmal von der italienischen Partei und daraufhin von der Fraktion. Die Partei wurde zum Erbe der Organisationsprinzipien und -traditionen des Bolschewismus. Sie entwickelte ihre Vision des Parteilebens im Kampf gegen den Stalinismus weiter und bereicherte es später mit der Vision und der Methode der Fraktion. Und dies wurde bewerkstelligt unter den fürchterlichsten Bedingungen, angesichts derer aufs Neue eine lebendige Solidarität geschmiedet werden musste. Am Ende des Zweiten Weltkrieges gab die Italienische Linke jedoch die Organisationsprinzipien auf, die ihre Pfeiler gewesen waren. In der Tat haben weder die halbreligiöse Parodie des kollektiven Parteilebens, die vom Nachkriegs-Bordigismus entwickelt worden war, noch der föderalistische Informalismus von Battaglia irgendetwas mit dem Organisationsleben der italienischen Partei unter Bordiga zu tun. Besonders das Konzept der Fraktion als solche wurde aufgegeben.

Es waren die französischen Linkskommunisten, die zu den Erben dieser Organisationsprinzipien und des Kampfes für den Parteigeist avancierten. Und heute obliegt es der IKS, das Erbe weiter zu tragen und es am Leben zu erhalten.

d) Der Parteigeist ist keine ewige Errungenschaft. Jene vergangenen Organisationen und Strömungen, die ihn am besten verkörpert hatten, gingen seiner eine nach der anderen vollkommen und endgültig verlustig. (...)

In jedem der geschilderten Beispiele waren die Umstände, unter denen der Parteigeist verschwand, sehr verschieden. Die Erfahrung der langsamen Degeneration einer Massenpartei oder die Integration einer Partei in den Staatsapparat einer isolierten Arbeiterbastion werden vielleicht niemals wiederholt werden. Dennoch gibt es allgemeine Lehren, die man aus jedem dieser Fälle ziehen kann:

– Der Parteigeist verschwand an einem historischen Wendepunkt: in Deutschland zwischen dem aufsteigenden und niedergehenden Kapitalismus, in Russland mit dem Rückzug der Revolution und im Falle der Italienischen Linken zwischen Revolution und Konterrevolution. Heute ist es der Eintritt in die Zerfallsphase, der die Existenz des Parteigeistes bedroht.

– Die Illusion, dass die vergangenen Errungenschaften die Notwendigkeit der Wachsamkeit unnötig machen. Lenins „Kinderkrankheit“ ist ein perfektes Beispiel für diese Illusion. Heute birgt die Überschätzung der organisatorischen Reife der IKS dieselbe Gefahr.

– Es waren der Immediatismus und die Ungeduld, die dem programmatischen und organisatorischen Opportunismus Tür und Tor öffneten. Das Beispiel der Italienischen Linken ist besonders markant, da es sich uns historisch am nächsten befindet. Es war der Wunsch, auf lange Sicht den eigenen Einfluss und die Mitgliederzahl zu erhöhen, der die Italienische Linke 1943–45 dazu veranlasste, die Lehren der Fraktion aufzugeben, und die IKP 1980–81 dazu veranlasste, die programmatischen Prinzipien aufzugeben. Heute ist die IKS ihrerseits mit ähnlichen Versuchungen, gebunden an die Entwicklung der historischen Lage, konfrontiert.

– Dieses Aufgeben war auf der organisatorischen Ebene Ausdruck eines Verlustes des Vertrauens in die Arbeiterklasse, was sich unweigerlich auch auf der politischen Ebene ausdrückte (Verlust programmatischer Klarheit). Bis jetzt geschah dies noch nie mit der IKS selber. Doch waren davon die verschiedenen „Tendenzen“ betroffen, die sich von ihr abspalteten (wie die EFIKS oder der „Pariser Zirkel“, die beide die Analyse über die Dekadenz des Kapitalismus aufgaben).

In den vergangenen Monaten war es vor allem das gleichzeitige Auftreten einer Schwächung unserer theoretischen Bemühungen und Wachsamkeit, einer gewissen Euphorie im Verhältnis zum Fortschritt der Organisation und demzufolge einer Blindheit gegenüber unserem Versagen sowie das Wiederauftreten des Clanwesens, die die Gefahr des Verlustes des Parteigeistes, der organisatorischen Degeneration und theoretischen Sklerose aufdeckten. Die Untergrabung des Vertrauens in unseren Reihen und die Unfähigkeit, entscheidende Schritte in der Weiterentwicklung der Solidarität zu machen, waren entscheidende Faktoren in dieser Tendenz gewesen, die potenziell zum programmatischen Verrat oder zum Verschwinden der Organisation führen kann.

6. Kein Parteigeist ohne individuelle Verantwortlichkeit

Nach dem Kampf von 1993–96 gegen das Clanwesen begannen sich Misstrauen gegenüber den politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Genossen ausserhalb des formellen Rahmens der Treffen und mandatierter Aktivitäten breit zu machen. Freundschaften, Liebesbeziehungen, soziale Bande und Handlungen, Gesten der persönlichen Solidarität, politische und andere Diskussionen unter Genossen wurden manchmal praktisch als notwendiges Übel, ja, als das bevorzugte Terrain der Entwicklung des Clanwesens behandelt. Im Gegensatz dazu wurden die formellen Strukturen unserer Aktivitäten als eine Art von Garantie gegen die Rückkehr des Clanwesens angesehen.

Solche Reaktionen gegen das Clanwesen enthüllen die ungenügende Verinnerlichung unserer Analyse und eine Preisgabe gegenüber der Gefahr, die von ihm ausgeht. Wie wir gesagt haben, tritt das Clanwesen teilweise als eine falsche Antwort auf das reale Problem eines Mangels an Vertrauen und Solidarität in unseren Reihen auf. Ferner war die Zerstörung der Beziehungen des gegenseitigen Vertrauens und der Solidarität zwischen den Genossen grösstenteils das Werk des Clanwesens und die Voraussetzung seiner weiteren Entwicklung. Es war in erster Linie das Clanwesen, das den Geist der Freundschaft zerstörte: Wirkliche Solidarität richtet sich niemals gegen Dritte und schliesst niemals gegenseitige Kritik aus. Das Clanwesen zerstört die unerlässliche Tradition der politischen Diskussionen und der sozialen Bande zwischen den Genossen, indem sie in „informelle Diskussionen“ hinter dem Rücken der Organisation umgewandelt werden. Indem es die Atomisierung steigert und das Vertrauen zerstört, indem es auf unverantwortliche Weise in das persönliche Leben von Genossen eingreift und sie sozial von der Organisation isoliert, untergräbt das Clanwesen die natürliche Solidarität, die sich auch ausdrückt in der „Pflicht der Organisation, die Augen offen zu halten“ gegenüber persönlichen Schwierigkeiten der Mitglieder.

Es ist unmöglich, das Clanwesen zu bekämpfen, indem man dessen Waffen benutzt. Nicht das Misstrauen gegenüber der vollen Entwicklung des politischen und sozialen Lebens ausserhalb der Sektionstreffen, sondern ein wirkliches Vertrauen in diese Tradition der Arbeiterbewegung macht uns gegenüber dem Clanwesen resistenter.

Diesem ungerechtfertigten Misstrauen gegenüber dem „informellen“ Leben einer Arbeiterorganisation liegt die kleinbürgerliche Utopie einer Garantie gegen den Zirkelgeist zugrunde, die nur zu einem illusorischen Dogma eines Katechismus gegen das Clanwesen führen kann. Solch eine Herangehensweise neigt dazu, die Statuten in starre Gesetze, das Recht, die Augen offen zu halten, in eine Überwachung und die Solidarität in ein leeres Ritual umzuwandeln.

Eine Erscheinungsweise der kleinbürgerlichen Zukunftsangst ist der morbide Dogmatismus, der einen Schutz gegen die Gefahr des Unvorhergesehenen anzubieten scheint. Diese Haltung verleitete die „alte Garde“ der russischen Partei dazu, Lenin ständig zu beschuldigen, die Prinzipien und Traditionen des Bolschewismus aufgegeben zu haben. Es ist eine Art von Konservatismus, der den revolutionären Geist untergräbt. Niemand ist vor dieser Gefahr gefeit, wie die Debatte über die polnische Frage zeigte, in der nicht nur Wilhelm Liebknecht, sondern auch teilweise Engels eine solche Haltung eingenommen hatte.

In Wirklichkeit ist das Clanwesen, gerade weil es eine Ausgeburt labiler Zwischenschichten ohne jegliche Zukunft ist, nicht nur fähig, sondern faktisch auch dazu verdammt, ständig wechselnde Formen und Charakteristiken anzunehmen. Die Geschichte zeigt, dass das Clanwesen nicht nur die Form der Unverbindlichkeit der Boheme und der von den Deklassierten sehr beliebten parallelen Strukturen annimmt, sondern auch in der Lage ist, die offiziellen Strukturen der Organisation wie auch das Auftreten des kleinbürgerlichen Formalismus und der Routiniertheit zu nutzen, um seine parallele Politik zu fördern. Während in einer Organisation, wo der Parteigeist schwach und die Streitsucht stark ist, ein informeller Clan die besten Erfolgsaussichten hat, sucht das Clanwesen in einer strengeren Atmosphäre, in der ein starkes Vertrauen in die Zentralorgane herrscht, den Erfolg im formalistischen Auftreten und in der Ausnutzung der offiziellen Strukturen für seine Zwecke. In Wirklichkeit enthält das Clanwesen beide Seiten dieser Medaille. Historisch ist es dazu verdammt, zwischen diesen beiden, sich scheinbar gegenseitig ausschliessenden Polen hin und her zu schwanken. Im Falle der Politik Bakunins sehen wir beide in einer „höheren Synthese“ zusammengefasst: die von der offiziellen Allianz verkündete absolute, individuelle, anarchistische Freiheit und das von der geheimen Allianz eingeforderte blinde Vertrauen sowie ihr bedingungsloser Gehorsam.

„Wie die Jesuiten, aber nicht mit dem Ziel der Knechtschaft, sondern der Emanzipation der Menschen, hat sich jeder von ihnen seinem eigenen Willen entsagt. Im Komitee wie in der gesamten Organisation ist es nicht das Individuum, das denkt, wünscht und handelt, sondern das Ganze“, schreibt Bakunin. Was diese Organisation auszeichnet, ist, wie er fortfährt, „das blinde Vertrauen, das bekannten und respektierten Persönlichkeiten geschenkt wird“.J

Es ist klar, welche Rolle die sozialen Beziehungen in einer solchen Organisation spielen sollen:

„Alle Gefühle der Zuneigung, all die verhätschelnden Empfindungen der Vertrautheit, Freundschaft, Liebe, Dankbarkeit müssen in ihm durch die kalte Leidenschaft der revolutionären Aufgabe erstickt werden.“K

Hier sehen wir deutlich, dass der Monolthismus keine Erfindung des Stalinismus ist, sondern bereits im clanmässigen Mangel an Vertrauen in die historische Aufgabe, in das kollektive Leben und in die proletarische Solidarität enthalten ist. Für uns ist dies nicht neu oder überraschend. Es ist die altbekannte kleinbürgerliche Furcht vor der individuellen Verantwortlichkeit, die heutzutage zahllose höchst individualistische Existenzen in die Arme diverser Sekten treibt, wo sie aufhören können, zu denken und selbst zu handeln.

Es ist gewiss eine Illusion zu glauben, dass man das Clanwesen ohne die Verantwortlichkeit der individuellen Mitglieder der Organisation bekämpfen kann. Und es wäre paranoid zu denken, dass individuelle Überzeugung und Wachsamkeit durch eine „kollektive“ Überwachung ersetzt werden könnten. In Wahrheit verkörpert das Clanwesen einen Mangel an Vertrauen sowohl in das reale kollektive Leben als auch in die Möglichkeit einer realen individuellen Verantwortlichkeit.

Worin besteht der Unterschied zwischen Diskussionen unter Genossen ausserhalb der Treffen und den „informellen Diskussionen“ des

Clanwesens? Ist es die Tatsache, dass Erstere, nicht jedoch Letztere der Organisation mitgeteilt werden? Ja, auch wenn es nicht möglich ist, über jede Diskussion formell zu berichten. Weitaus fundamentaler und entscheidender ist jedoch das Verhalten, mit dem eine solche Diskussion geführt wird. Dies ist der Parteigeist, den wir alle weiterentwickeln müssen, da dies niemand für uns erledigt. Dieser Parteigeist wird immer ein toter Buchstabe bleiben, wenn die Militanten nicht lernen, gegenseitiges Vertrauen zu haben. Ebenso wenig kann es eine lebendige Solidarität ohne das persönliche Engagement jedes Militanten auf dieser Ebene geben.

Wenn der Kampf gegen den Zirkelgeist allein von der Gesundheit der formellen kollektiven Strukturen abhinge, gäbe es nie ein Problem des Clanwesens. Clans entwickeln sich aufgrund der Schwächung der Wachsamkeit und des Verantwortlichkeitssinns auf der individuellen Ebene. Daher widmet sich ein Teil des Orientierungstexts von 19933 der Identifizierung der Verhaltensweisen, gegen die sich jeder Genosse selbst wappnen muss. Diese individuelle Verantwortlichkeit ist unerlässlich nicht nur im Kampf gegen das Clanwesen, sondern auch für die positive Weiterentwicklung eines gesunden proletarischen Lebens. In einer solchen Organisation haben die Militanten gelernt, selbst zu denken, und ihr Vertrauen ist in einem tiefgreifenden theoretischen, politischen und organisatorischen Verständnis der Natur der proletarischen Sache verwurzelt, und nicht in der Loyalität oder Furcht gegenüber diesem oder jenem Genossen oder Zentralkomitee.

“Der neue Kurs muss mit dem Gefühl eines jeden in dem Apparat – vom einfachen bis zum höchsten Funktionär – beginnen, dass niemand die Partei terrorisieren kann. Unsere Jugend muss die revolutionären Parolen erobern, sie in Fleisch und Blut übernehmen. Sie muss ihre eigene Meinung und ihr eigenes Profil gewinnen und in der Lage sein, mit einem Mut für ihre eigene Meinung zu kämpfen, der einer tiefen Überzeugung und einem unabhängigen Charakter entspringt. Raus mit dem passiven Gehorsam, mit der mechanischen Orientierung an die Amtsträger, mit der Unpersönlichkeit, der Kriecherei und des Karrierismus in unserer Partei! Ein Bolschewik ist nicht nur ein diszipliniertes Wesen, nein, er ist eine Person, die an die Wurzeln der Dinge geht und seine eigene Meinung bildet und sie nicht nur im Kampf gegen den Feind, sondern auch in seiner eigenen Partei vertritt.“L

Und Trotzki fügt hinzu: „Der grösste Heroismus in militärischen Angelegenheiten und in der Revolution ist der Heroismus der Wahrheitsliebe und Verantwortung.“M Kollektive und individuelle Verantwortung hängen, weit entfernt davon, sich gegenseitig auszuschliessen, voneinander ab und bedingen sich gegenseitig.

Wie Plechanow argumentierte, ist die Eliminierung der Rolle des Individuums in der Geschichte mit einem Fatalismus verbunden, der mit dem Marxismus unvereinbar ist.“Während einige Subjektivisten – darauf aus, das ‚Individuum‘ mit der grösstmöglichen Rolle in der Geschichte auszustatten – sich geweigert haben, die historische Entwicklung der Menschheit als einen gesetzmässigen Prozess anzuerkennen, waren einige ihrer aktuelleren Gegner, die versucht haben, die gesetzmässige Natur jener Entwicklung deutlicher herauszuarbeiten, augenscheinlich darauf aus, zu vergessen, dass die Geschichte von Menschen gemacht wird und dass die Handlungen der Individuen daher überaus wichtig in der Geschichte sein können.“N

Eine solche Verkennung der individuellen Verantwortung ist mit dem kleinbürgerlichen Demokratismus verbunden, mit dem Wunsch, unser Prinzip des „Jeder-nach-seinen-Fähigkeiten“ durch die reaktionäre Utopie der Egalisierung aller zu ersetzen. Dieses Projekt, das bereits im 1993er Orientierungstext verurteilt wurde, ist weder das Ziel der heutigen Organisation noch das der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft.

Eine unserer Aufgaben ist es, aus dem Beispiel all der grossen Revolutionäre (die berühmten und all die namenlosen Kämpfer unserer Klasse) zu lernen, die unsere programmatischen und organisatorischen Prinzipien nicht verrieten. Dies hat nichts mit einem Personenkult zu tun. Wie Plechanow in seiner berühmten Schrift über die Rolle des Individuums schlussfolgerte:“Es liegt nicht nur an den ‚Pionieren‘ und an den ‚grossen‘ Männern allein, dass ein weites Betätigungsfeld sich eröffnet hat. Es wartet auf all diejenigen, die Augen zum Sehen, Ohren zum Hören und Herzen haben, um ihre Mitmenschen zu lieben. Das Konzept der Grösse ist ein relatives. Im moralischen Sinn ist jeder gross, der, um das Neue Testament zu zitieren, ‚sein Leben für seine Freunde hingibt‘.“P

Anstelle einer Schlussfolgerung

Daraus folgt, dass die Verinnerlichung und Vertiefung der Fragen, die wir vor mehr als einem Jahr zu diskutieren begonnen haben, heute von grösster Priorität sind.

Es ist die Aufgabe des Bewusstseins, einen politischen und organisatorischen Rahmen zu schaffen, der die Pflege des Vertrauens und der Solidarität am meisten begünstigt. Diese Aufgabe steht im Mittelpunkt des Organisationsaufbaus, dieser schwierigsten aller Künste und Wissenschaften. Auf der Grundlage dieser Arbeit erfolgt die Stärkung der Einheit der Organisation, dieses „heiligsten“ Prinzips des Proletariats. Und wie bei jeder anderen kollektiven Gemeinschaft gehört zu ihrer Vorbedingung die Existenz allgemeingültiger Verhaltensregeln. Konkret haben die Statuten, die Texte von 1981 über Funktion und Funktionsweise und jener von 1993 über die organisatorische Frage bereits die Elemente für solch einen Rahmen beigesteuert. Es ist notwendig, wiederholt auf diese Texte zurückzukommen, vor allem dann, wenn die Einheit der Organisation in Gefahr ist. Sie müssen der Ausgangspunkt einer ständigen Wachsamkeit sein. Es ist notwendig, sie, ihren Geist und die von ihnen verkörperte Methode noch tiefer zu verinnerlichen.

In diesem Rahmen ist der Gedanke, dass diese Fragen leicht und unkompliziert sind, eine falsche Auffassung, die in unseren Reihen überwunden werden muss. Gemäss dieser Herangehensweise reicht es aus, das Vertrauen zu erklären, damit es existiert. Und da Solidarität eine aktive Handlung ist, reiche es aus, „sich ans Werk zu machen“. Nichts liegt der Wahrheit ferner! Der Aufbau der Organisation ist ein extrem kompliziertes und noch delikateres Unternehmen. Es gibt kein anderes Produkt in der menschlichen Kultur, das so schwierig und zerbrechlich ist wie das Vertrauen. Nichts anderes ist schwerer aufzubauen und leichter zu zerstören. Aus diesem Grund ist im Angesicht dieses oder jenes Vertrauensmangels durch diesen oder jenen Teil der Organisation die erste Frage, die gestellt werden muss, die, was kollektiv getan werden muss, um Misstrauen oder gar Furcht in unseren Reihen abzubauen. Was die Solidarität angeht, so lebt die Arbeiterklasse in einer bürgerlichen Gesellschaft und ist umgeben von Faktoren, die gegen die Solidarität arbeiten, auch wenn diese für sie „praktisch“ und „natürlich“ ist. Darüber hinaus führt die Penetration fremder Ideologien zu abwegigen Auffassungen über diese Fragen, wie der Haltung, man müsse aus Solidarität die Veröffentlichung von Texten bestimmter Genossen verweigern, oder der Anwendung von „Küchenpsychologie“, mit welcher Methode aus dem persönlichen Leben von Genossen die Herkunft bestimmter politischer Divergenzen abgeleitet und erklärt werden soll.4 (...)

Insbesondere im Kampf um das Vertrauen muss unsere Losung Geduld und noch einmal Geduld lauten.

Die marxistische Theorie ist unsere hauptsächliche Waffe im Kampf gegen den Vertrauensverlust. Allgemein ausgedrückt, ist sie das bevorzugte Mittel gegen den Immediatismus und zur Verteidigung einer langfristigen Vision. Sie ist die einzig mögliche Grundlage für ein wirkliches, wissenschaftliches Vertrauen in das Proletariat, das umgekehrt die Basis des Vertrauens all der verschiedenen Teile der Klasse in sich selbst und gegenüber dem anderen ist. Spezifisch ausgedrückt, ermöglicht uns nur eine theoretische Vorgehensweise, zu den tiefsten Wurzeln der organisatorischen Probleme zu gelangen, die als theoretische und historische Themen im eigenen Namen behandelt werden müssen. Ähnlich muss die IKS in Abwesenheit einer lebendigen Tradition in dieser Frage und in Ermangelung einer Feuerprobe durch die Repression sich selbst bei der bewussten und gewollten Weiterentwicklung einer Tradition der aktiven Solidarität in ihren Reihen auf die Grundlage einer Untersuchung der vergangenen Arbeiterbewegung stellen.

Wenn uns die Geschichte gegenüber den Gefahren des Clanwesens besonders verwundbar gemacht hat, so hat sie uns auch die Mittel gegeben, um selbiges zu überwinden. Insbesondere dürfen wir nie vergessen, dass der internationale Charakter der Organisation und die Einrichtung von Informationskommissionen unerlässliche Mittel zur Wiederherstellung von gegenseitigem Vertrauen in Momenten der Krise sind, wenn dieses Vertrauen beschädigt wird und verloren geht.

Der alte Liebknecht sagte über Marx, dass er sich der Politik als Studienobjekt angenähert habe.P Wie wir gesagt haben, ist es die Vergrösserung der Zone des Bewusstseins im gesellschaftlichen Leben, die die Menschheit von der Anarchie blinder Kräfte befreit, die Vertrauen schafft, die Solidarität bewirkt, die den Sieg des Proletariats möglich macht. Um die gegenwärtigen Schwierigkeiten zu überwinden und die gestellten Fragen zu lösen, muss die IKS sie studieren. Denn wie der Philosoph sagte: „Ignorantia non est argumentum“ (“Ignoranz ist kein Argument“, aus Spinoza: Ethik).

IKS, 15.6.2001

Fußnoten:

1 Für Einzelheiten zu dieser Konferenz siehe: „Der Kampf für die Verteidigung der organisatorischen Prinzipien“ in Internationale Revue Nr. 30.

2 MC war unser Genosse Marc Chirik, der 1990 starb. Er erlebte 1917 die Revolution in seinem Geburtsort Kischiniev (Moldau). Mit 13 Jahren wurde er schon Mitglied der Kommunistischen Partei Palästinas, doch wurde er später ausgeschlossen, da er mit den Positionen der Kommunistischen Internationale zur nationalen Frage nicht einverstanden war. Er emigrierte nach Frankreich, wo er der KPF beitrat, bevor er auch hier wieder zusammen mit den Mitgliedern der Linken Opposition ausgeschlossen wurde. Er wurde zunächst Mitglied der (trotzkistischen) Ligue Communiste und dann der Union Communiste, welche er 1938 verliess, um der Italienischen Fraktion der Internationalen Kommunistischen Linken (IKL) beizutreten, da er deren Position zum spanischen Bürgerkrieg im Gegensatz zu derjenigen der Union Communiste teilte. Während des Kriegs und der deutschen Besetzung Frankreichs erachtete es das Internationale Büro der IKL, das durch Vercesi geführt wurde, als sinnlos, die Arbeit der Fraktion fortzusetzen. MC setzte sich aber für den Wiederaufbau der Italienischen Fraktion um einen kleinen Kern in Marseille ein. Im Mai 1945 widersetzte er sich dem Entscheid der Konferenz der Italienischen Fraktion, die Fraktion aufzulösen und der kürzlich gegründeten Internationalistischen Kommunistischen Partei individuell beizutreten. Er trat der Französischen Fraktion der Kommunistischen Linken bei, die 1944 gegründet worden war und dann den Namen Gauche Communiste de France (GCL) annahm. Ab 1964 in Venezuela, dann ab 1968 wieder in Frankreich spielte MC eine entscheidende Rolle beim Aufbau der Gruppen, die später die IKS gründen sollten, indem er ihnen die politischen und organisatorischen Erfahrungen vermitteln konnte, die er in den verschiedenen Organisationen, in denen er Mitglied gewesen war, hatte sammeln können. Für mehr Einzelheiten aus der politischen Biographie unseres Genossen vgl. unsere Broschüre La Gauche communiste de France (frz.) und zwei Artikel der International Review Nr. 65 und 66 (engl./frz./span.Ausgabe).

MCs Text, der hier erwähnt wird, ist ein Beitrag zu einer internen Debatte der IKS im März 1984 und trägt den Titel „Revolutionärer Marxismus und Zentrismus in der Gegenwart und der heutigen Debatte in der IKS“.

3 Der Text, auf den wir uns hier beziehen, ist der Orientierungstext „Die Frage der Funktionsweise in der IKS“, in der Internationalen Revue Nr. 30.

4 Diese Stelle bezieht sich besonders auf Vorkommnisse, auf die wir bereits in unserem Artikel „Der Kampf für die Verteidigung der organisatorischen Prinzipien“ in der Internationalen Revue Nr. 30 eingegangen sind, in dem wir über die Ausserordentliche Konferenz von März 2002 und die Organisationsprobleme berichten, die dazu geführt haben, diese Konferenz einzuberufen: „Es war nie ein Problem für die IKS gewesen, dass einige Teile der Organisation einen vom Zentralorgan verabschiedeten Text kritisieren. Im Gegenteil, die IKS und ihre Zentralorgane haben stets darauf bestanden, dass jede Meinungsverschiedenheit oder jeder Zweifel offen innerhalb der Organisation ausgedrückt wird, um grösstmögliche Klarheit zu erzielen. Das Verhalten des Zentralorgans gegenüber Meinungsverschiedenheiten bestand stets darin, ihnen so ernsthaft wie möglich zu antworten. Doch im Frühjahr 2000 nahm die Mehrheit des IS eine völlig andere Haltung an, als es in der Vergangenheit der Fall gewesen war. Für diese Mehrheit konnte die Tatsache, dass eine kleine Minderheit von Genossen einen Text des IS kritisiert, nur aus einem Geist der Opposition um der Opposition willen oder aus der Tatsache herrühren, dass einer von ihnen von familiären Problemen betroffen sei oder ein anderer an Depressionen leide. Ein Argument, das von IS-Mitgliedern benutzt wurde, lautete, dass der Text von einem besonderen Militanten verfasst worden sei und eine andere Aufnahme gefunden hätte, wäre dies das Werk eines anderen Genossen gewesen. Die Antwort auf die Argumente jener Genossen, die anderer Auffassung waren, bestand also nicht darin, Gegenargumente zu suchen, sondern darin, die Genossen zu verunglimpfen oder gar zu versuchen, die Veröffentlichung ihrer Texte mit der Begründung zu verhindern, dass sie „Scheisse in der Organisation verbreiten“ würden, oder dass eine der GenossInnen, die unter dem Druck, der ihr gegenüber ausgeübt wurde, litt, die Antworten, die die anderen Genossen der IKS ihren Texten erteilen würden, nicht „aushalte“. Kurz, das IS betrieb eine völlig heuchlerische Politik, um im Namen der Solidarität die Debatte zu ersticken.“

E Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte.

F Karl Kautsky, Ethische und materialistische

Geschichtsauffassung.

G Hegel, Enzyklopädie der philosophischen

Wissenschaften.

H Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte.

I Rosa Luxemburg, Korrespondenz mit Konstantin

Zetkin.

J Bakunin, Appell an die Offiziere der russischen

Armee.

K Bakunin, Der revolutionäre Katechismus.

L Trotzki, Der neue Kurs.

M Trotzki, Über Routinismus in der Armee und

anderswo.

N Plechanow, Über die Rolle des Individuums in der

Geschichte.

O a.a.O.

P Liebknecht, Karl Marx.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [10]

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Links
[1] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/antifaschismus-rassismus [2] https://de.internationalism.org/tag/3/50/religion [3] https://de.internationalism.org/tag/3/49/politische-konomie [4] https://de.internationalism.org/tag/2/24/marxismus-die-theorie-der-revolution [5] http://www.ibrp.org [6] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/irak [7] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/kommunistische-linke [8] https://de.internationalism.org/tag/3/44/internationalismus [9] https://de.internationalism.org/tag/3/54/zerfall [10] https://de.internationalism.org/tag/2/40/das-klassenbewusstsein