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Weltrevolution Nr. 133

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Argentinien: Die Arbeiterklasse kämpft auf ihrem Klassenterrain

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Alles was die Regierung des Herrn K (1) über die "fantastische Erholung" der argentinischen Wirtschaft nach dem Debakel von 2001 sagt, ist reiner Unsinn. Die Wirklichkeit jedoch, an der die Arbeiter und ein Großteil der Bevölkerung leiden, wird immer beängstigender. Einige Zahlen illustrieren es: Der Bevölkerungsteil, der mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum überleben muss, lag im Jahr 1976 noch bei 5%, erreichte dann im Jahr 2004 schon einen Anteil von rund 50%; 11 Millionen Menschen verfügen lediglich über 150 Pesos pro Monat zum Leben, während die Armutsgrenze bei einem Einkommen von 389 Pesos festgelegt wurde (2). Der Hunger, zu Beginn begrenzt auf die nördlichen Provinzen wie Tucumán und Salta (wo 80% der Kinder an chronischer Unterernährung leiden), hält nun Einzug in die ärmsten Zonen der schrecklichen Elendssiedlungen südlich von Buenos Aires.
Gegen diese unerträgliche Situation haben sich die Arbeiter gewehrt. Zwischen Juni und August fand eine der größten Streikwellen seit 15 Jahren statt (3). Diese Welle wurde angeführt von den Kämpfen der Spitäler Quilmes und Moreno, von Supermärkten wie Coto, Parmalat, Tango Meat oder Lapsa, der U-Bahn von Buenos Aires, der Gemeindearbeiter von Avellaneda, Rosario und der wichtigsten Ortschaften der südlichen Provinz Santa Cruz, der Seeleute und Fischer auf nationaler Ebene, der Justizangestellten des ganzen Landes, der Lehrer aus fünf Provinzen, der Ärzte der Gemeinde Buenos Aires, der Dozenten der Universität von Buenos Aires und Córdoba ... Unter diesen Kämpfen ist einer besonders hervorgetreten, nämlich jener der Kinderklinik Garrahan (Buenos Aires), der sich durch die Kampfbereitschaft und einen Geist der Einheit und Solidarität auszeichnete. Córdoba, eines der wichtigsten Industriezentren des Landes, erlebte im Juni eine Vervielfachung der Kämpfe, wie es sie während  zweier Jahrzehnte nicht mehr gegeben hatte: Autoindustrie, Gas, Lehrer, öffentliche Angestellte...
Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels  scheint es, dass die Kampfwelle zurückgeht. Jetzt stehen  nicht mehr die Arbeiterkämpfe im Vordergrund der Aktualität von Argentinien, sondern ein lauter und in den Medien groß aufgebauschter Zusammenstoß zwischen den Organisationen der Piqueteros und der Regierung, wie auch das übliche Spektakel der Politiker im Hinblick auf die nächsten Parlamentswahlen. Die Kämpfe konnten hier und dort zwar vorübergehende Verbesserungen der Löhne erreichen, insbesondere im öffentlichen Dienst. Trotzdem lag angesichts eines Kapitalismus, der immer stärker in eine ausweglose Krise gerät, der Hauptsieg der Kämpfe nicht auf ökonomischer, sondern auf politischer Ebene. Die Lehren, die man daraus ziehen kann, sind unentbehrlich für die Vorbereitung der kommenden Kämpfe; die Solidarität, der Geist der Einheit, die innerhalb des Proletariats heranreifen; die Einsicht darüber, wer sein Freund und wer sein Feind ist...

Die Hauptlehre der Kampfwelle: Das Proletariat erkennt sich im Kampf als Klasse wieder

Im Jahr 2001 fand in Argentinien ein gewaltiger gesellschaftlicher Aufstand statt, der in der Presse der Globalisierungsgegner und von einer Gruppe des proletarischen Milieus, dem IBRP, als eine "revolutionäre" Situation begrüßt wurde. Diese Mobilisierungen fanden jedoch klar auf einem klassenübergreifenden Terrain mit nationalistischen Forderungen und solchen nach "Reformen" der argentinischen Gesellschaft statt, die nichts anderes bedeuten können als die Verstärkung der kapitalistischen Macht. In einem Artikel, den wir in der Internationalen Revue Nr. 30 publizierten, hoben wir hervor: "Das Proletariat in Argentinien ist von einer Bewegung der klassenübergreifenden Revolte durchtränkt und verwässert worden, einer Bewegung des Volksprotestes, die nicht die Stärke des Proletariats, sondern seine Schwäche ausdrückt. Die Klasse konnte weder ihre Autonomie noch ihre Selbstorganisation  behaupten".
Deshalb bekräftigten wir auch, dass "das Proletariat kein Bedürfnis (hat), sich mit Illusionen abzufinden und sich krampfhaft an sie zu klammern. Was es benötigt, ist, den Faden seiner eigenen revolutionären Perspektiven wieder aufzunehmen, sich selbst auf der gesellschaftlichen Bühne als die einzige Klasse zu behaupten, die in der Lage ist, der Menschheit eine Zukunft anzubieten und dabei die anderen nicht-ausbeutenden Gesellschaftsschichten mit sich zu ziehen". Weiter sagten wir, dass "das Proletariat in Argentinien, dessen Kampfähigkeit noch lange nicht erschöpft ist", und dass sich diese wieder entwickeln werden, wenn die Ereignisse von 2001 uns "als eine Lektion dienen: Klassen übergreifende Revolten schwächen nicht die Macht der Bourgeoisie, sondern das Proletariat".
Heute, 4 Jahre später, zeigt die Streikwelle in Argentinien eine kämpferische Arbeiterklasse, die sich auf ihrem eigenen Klassenterrain bewegt und die beginnt, sich - wenn auch noch sehr scheu - als Klasse mit eigener Identität wieder zu erkennen. Wir sind nicht die einzigen, die das sagen. In der Publikation "Lucha de Clases: Revista Marxista de Teoría y Política" ("Klassenkampf: Marxistische Zeitschrift für Theorie und Politik") vom Juli 2005, geschrieben von Linksintellektuellen, wird anerkannt, dass "eines der herausragenden Ereignisse in diesem letzten Jahr die Rückkehr der kämpfenden Arbeiter ins Zentrum der politischen Bühne Argentiniens nach Jahren des Rückzuges war. Wir stehen vor einem langen Zyklus von Verteidigungskämpfen, in dem die Arbeiter um die Verbesserungen ihrer Löhne und ihrer erniedrigenden Arbeitsbedingungen kämpfen und versuchen, sich die verlorenen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte wieder anzueignen". Und die Zeitschrift fügt hinzu: "Während die Arbeiter des Industrie- und Dienstleistungssektors anfingen, ihre Stimme zu erheben, verstummten andere Stimmen, jene nämlich, die den "Abschied des Proletariats" verkündet hatten".
Ist nun das Auftauchen eines kämpferischen Proletariats ein lokales Phänomen, das an die Eigenheiten der Situation Argentiniens gebunden ist? Ohne den Einfluss der besonderen Faktoren zu negieren - insbesondere die schnelle und brutale Verschlechterung der Lebensbedingungen der großen Massen der Bevölkerung als Folge eines wirtschaftlichen Absturzes, welcher sich mit dem Zusammenbruch von 2001 beschleunigte -, ist diese Welle Teil eines internationalen Prozesses der Wiederaufnahme der Klassenkämpfe, die wir seit 2003 beobachtet und aufgezeigt haben.
In einem kürzlich veröffentlichten Text (4) haben wir die allgemeinen Charakteristiken dieser Wiederaufnahme der Kämpfe hervorgehoben: Der Prozess ist langsam und schwierig und hat bis jetzt noch nicht in spektakulären Kämpfen gemündet, er schreitet auch nicht vorwärts in einer Abfolge von siegreichen Kämpfen, sondern über Niederlagen, aus welchen die Arbeiter ihre Lehren ziehen und damit ihre kommende Kämpfen vorantreiben. Der Leitfaden, der ihn führt und langsam zu seiner Reifung beiträgt, ist "ein noch sehr konfuses Gefühl - das in Zukunft aber noch entwicklungsfähig ist - dass es für die Widersprüche des Kapitalismus heute keine Lösung gibt, sei es auf wirtschaftlicher Ebene oder auf den anderen Ebenen seiner historischen Krise wie die permanenten kriegerischen Zusammenstösse, das zunehmende Chaos und die Barbarei, die jeden Tag klarer ihren unüberwindbaren Charakter aufzeigen...." (5).
Ähnlich wie in Kämpfen anderer Länder (Heathrow in Großbritannien, Mercedes und Opel in Deutschland) war in dieser Welle eine fundamentale Waffe für den Fortschritt der proletarischen Kämpfe gegenwärtig: die Suche nach der Solidarität.
In der U-Bahn von Buenos Aires streikte spontan die ganze Belegschaft auf Grund des Todes von zwei Wartungsarbeitern, die wegen völlig fehlenden Schutzmassnahmen durch Arbeitsunfälle getötet wurden. Die Arbeiter der Spitäler Posadas, Italiano und Francés der Hauptstadt begannen mit verschiedensten Solidaritätsaktionen für ihre Genossen von Garrahan. Im Süden, in der Provinz Santa Cruz, löste der Streik der Gemeindearbeiter der wichtigsten Städte eine große Sympathie in breiten Bevölkerungsschichten aus. Sie gipfelte in einer enormen Teilnahme an ihren Demonstrationen im Zentrum der Stadt. In Coleta Olivia schlossen sich die Arbeiter der Erdölindustrie, die Juristen, Lehrer, Arbeitslosen einer Demonstration der Beschäftigten der  Gemeindeverwaltung an. Die Arbeiter der Erdölförderstätten traten in einen Streik, in dem sie die Forderungen der Gemeindeangestellten zu ihren eigenen machten und dazu noch weitere stellten. Dasselbe taten die Arbeiter des Unternehmens Barillari im Fischereisektor. In Neuquén schlossen sich die Arbeiter des Gesundheitswesens spontan der Demonstration der streikenden Lehrer an, die einen Marsch zur Provinzregierung organisierten. Angegriffen von der Polizei, konnten die Demonstrierenden sich abermals sammeln und sahen, wie Leute von der Strasse sich der Demonstration anschlossen und die Polizei, die einen Sicherheitsabstand einhielt, hart zurückwiesen. Ein Streik an allen Schulen des Landes wurde zur Unterstützung der Lehrer von Neuquén ausgerufen.
Es ist auch wichtig, die einheitlichen Forderungen nach Erhöhung der Löhne der Arbeiter von Garrahan zu erwähnen: Statt eine Forderung nach prozentualen Lohnerhöhungen zu stellen, welche die Unterschiede zwischen den verschiedenen Sektoren nur vertiefen und somit die Spaltung und die Konkurrenz unter den Arbeitern verstärken würden, kämpften sie für eine Lohnerhöhung für alle, in dem Sinne, dass diese Lohnunterschiede verkleinert und dadurch die schlecht bezahlten Bereiche begünstigt würden.
Die letzten 15 Jahre standen unter dem Zeichen der schlimmsten Formen des degenerierenden Kapitalismus: Kriege, ökonomische Erschütterungen, Katastrophen aller Art, Terrorismus, Morde, die schlimmste Barbarei… Es schien, also ob es angesichts dieser Perspektive nur zwei Möglichkeiten gäbe: Einerseits die von den Organisationen des Kapitals angeführten Protestaktionen, welche sich ein "antikapitalistisches" Gesicht gaben, wie die Globalisierungsgegner, deren "Programm" wir bei ihrem "Kollegen" Lula in Brasilien umgesetzt sehen konnten; andererseits die hoffnungslosen Klassen übergreifenden Aufstände. Nun ändert sich das Panorama. Langsam und unter Leiden bereitet das Proletariat sein eigenes Klassenterrain vor und beginnt damit, die wirkliche Fahne des Kampfes gegen die kapitalistische Barbarei zu erheben, unter der sich alle Ausgebeuteten und Unterdrückten der Welt vereinigen können.

Die Antwort der Bourgeoisie

Es wäre dumm zu glauben, dass die Bourgeoisie die Arme verschränkt gegenüber der Auferstehung ihres Todfeindes. Sie antwortet schnell mit einer brutalen Repression darauf, belässt es aber nicht dabei, sondern weitet ihre Antwort weiter aus, indem sie das größte Gift, nämlich die politische und gewerkschaftliche Vernebelung anwendet.
Die Bundes- und die Provinzregierungen setzten die Polizei gegen die Streikenden ein; Verhaftungen, Gerichtsstrafen, administrative Sanktionen wurden über zahlreiche Arbeiter verhängt. Aber trotz allem konzentrierte sich die Antwort der Bourgeoisie auf politische Manöver, um die kämpferischsten Sektoren zu isolieren, sie in eine Sackgasse und die Demoralisierung zu führen und letztendlich in die Köpfe einzugravieren, dass "der Kampf sich nicht lohne", dass man durch die Mobilisierungen nichts erreiche, sondern dass man lediglich zwischen zwei Alternativen wählen müsse, wolle man etwas erreichen:
- Die Mobilisierungen "von unten": der gewalttätige Druck der Minderheit der Piqueteros auf der einen Seite; und die Art der "Basis-Organisationen" die Misere zu vertuschen: mittels selbstverwalteter Betriebe, des Tauschhandels, Volksküchen etc.
- Die Aktionen von "oben": die Verhandlungen der Gewerkschaften und die guten Taten der Politiker.
Also, sich wie ein Kreisel innerhalb der vom Staat kontrollierten Alternativen zu bewegen und sich einengen zu lassen, um somit die Unterjochung der Arbeiter aufrecht zu erhalten! Für sie hat der Kampf von Garrahan - wir haben ihre führende Rolle in der aktuellen Welle aufgezeigt - die Rolle des Sündenbockes übernommen.
Erstens wurde eine enorme Kampagne entfesselt, um die Arbeiter als "Terroristen" uns als verständnislos und auf ihre "Sonderinteressen" fixiert hinzustellen, denen die hospitalisierten Kinder egal seien. Die Regierenden selber aber, die mit einem üblen Zynismus Tausende von hungernden Kindern sterben lassen, stellten plötzlich ihre "frenetische Sorge" gegenüber den durch diese "unmenschlichen" Arbeiter "bedrohten" Kindern zur Schau. Die Regierung des Herrn K., unterstützt von den großen Gewerkschaften (CGT und CTA; das Mitglied der Letzteren, ATE, stellte sich sogar rundweg gegen die Streiks), entfaltete die schlimmste Unnachgiebigkeit. Somit wurden die Arbeiter von Garrahan absichtlich von den Lohnverhandlungen der Staatsangestellten ausgeschlossen, und darüber hinaus akzeptierten die Agenten der Regierung es, dass Repräsentanten anderer Streikkollektive empfangen wurden (wie zum Beispiel die Dozenten der Universität). Sie verweigerten systematisch jeglichen Kontakt mit jenen von Garrahan.
All das war eine deutliche Provokation, um die Arbeiter von Garrahan zu isolieren. Dazu kam die absurde Anschuldigung, dass sie von einer "anti-progressiven" Verschwörung unter der Führung von Menem, Duhalde und Maccri manipuliert worden seien (6).
Was aber die Kämpfe der Arbeiter von Garrahan am schwersten schwächte, war die ihnen von den Piqueteros-Organisationen (7) entgegengebrachte "Hilfe". Diese haben sich im Namen der "Solidarität" wie Kletten an den Kampf von Garrahan festgehakt (das gleiche machten sie mit den Arbeitern von Tango Meat). Somit sahen sich die Arbeiter von Garrahan - die Regierung und die Medien schlachteten das bis zum Maximum aus - mit den "Kampfmethoden" der Piqueteros-Organisationen in der Form von kleinen Kommando-Aktionen verbunden, die statt das Kapital und den Staat wirklich anzugreifen, den anderen Arbeitern nur noch mehr Probleme brachten. So blockierten die Piqueteros-Organisationen die strategische Brücke Pueyrredón zu Stosszeiten und provozierten dadurch Verkehrsstaus, wodurch viele Arbeiter der südlichen Viertel von Buenos Aires betroffen waren. Oder 45 Personen versperrten in Cañadón Seco (im Süden) den Zugang zu den Raffinerien von Repsol-YPF, ohne zuvor die Arbeiter des Betriebes zu konsultieren.
Nach und nach wandte sich die öffentliche Aufmerksamkeit vom Kampf von Garrahan und der Arbeiterkämpfe ab und richtete sich auf von der Presse aufgebauschten Zusammenstoß zwischen den Organisationen der Piqueteros und der Regierung, der von einem spektakulären Aufmarsch der Polizei in Richtung der Brücke Pueyrredón begleitet wurde.
Die Speerspitze der Kampagne gegen die Arbeiterklasse war aber die Organisierung einer falschen Solidarität mit den Arbeitern von Garrahan. Diese sahen sich überfallen durch einen Lawine von gewerkschaftlichen Basisorganisationen, von Piqueteros-Organisationen, von Gruppen der extremen Linken, von sozialen Organisationen jeder Art, deren Führer schöne Diskurse über die "Unterstützung" führten und lange Reden mit leeren Aufrufen hielten. Das löste ein illusorisches Gefühl von Solidarität aus, obwohl es in Wirklichkeit ein Ring um die Arbeiter herum bedeutete mit dem Zweck, sie immer stärker zu isolieren und sie damit in die vollständige Demoralisierung zu treiben.
Das war möglich, weil der Kampf von Garrahan, trotz seiner Kampfbereitschaft und seines Geistes der Einheit, seit Beginn eisern kontrolliert wurde durch eine Rote Liste innerhalb der Branchen-Gewerkschaft ATE, die in Opposition zu einer Grünen Liste stand, die in dieser Gewerkschaft die Führung inne hatte. Angesichts der Abneigung, welche die Arbeiter gegen die Gewerkschaften zu spüren beginnen, springen diese "Roten" Listen insbesondere in Momenten des Kampfes schnell in die Bresche, um die Arbeiter unter der Kontrolle der Gewerkschaften zu halten. Das zeigt sich gerade dort, wo diese falsche Solidarität mittels der "Koordination mit anderen Basisorganisationen" aufgezogen wird. Wie Gustavo Lerer, Führer der Roten Liste von Garrahan, sagte: "Heute kann man nicht sagen, dass die ATE tatsächlich kämpfe, sondern wir, die Basis, sind diejenigen die streiken. Die Idee ist es, mit allen denen zusammen zu arbeiten, mit denen wir können: Wir sollen versuchen, das von unten her zu tun, was die Führer von oben (…) nicht machen, nämlich dass sich die Arbeitslosenorganisationen, die Piqueteros - welche unsere Patienten sind - mit uns solidarisieren." Die Solidarität wird somit reduziert auf die "Unterstützung von Organisationen" und bezieht sich auf "Patienten", dass heißt, dass es keine Angelegenheit eines allgemeinen Kampfes der Klasse mehr ist, sondern ein privates Geschäft der Arbeiter und Patienten.
Die wirkliche Solidarität kann sich aber nur außerhalb und im Gegensatz zu den gewerkschaftlichen Fesseln entwickeln und besteht im gemeinsamen Kampf: neue Sektoren von Arbeitern in den Kampf inkorporieren, Delegationen versenden, Demonstrationen und Massenversammlungen durchführen, wo die Arbeiter auf direkte Art und Weise miteinander erleben, kämpfen, denken und sich als ein Ganzes fühlen. Weiter können sich andere Unterdrückte und Ausgebeutete dem Kampf anschließen. In dieser Bewegung beginnen die Spaltungen, welche die Arbeiter untereinander atomisieren, zu zerbrechen, und dadurch können die Arbeiter in lebendiger Weise erfahren, dass sie einer gemeinsamen Klasse angehören, indem sie ihre Kraft und Einheit wahrnehmen. "Das schlimmste für die Arbeiterklasse ist nicht die klare Niederlage, sondern das Gefühl eines Sieges nach einer verdeckten wirklichen und schlimmen Niederlage: Es war dieses Gefühl des "Sieges" (gegen den Faschismus und für die Verteidigung des "sozialistischen Vaterlandes"), das das effizienteste Gift darstellte, um das Proletariat in die im zwanzigsten Jahrhundert  über vier Jahrzehnte dauernde Konterrevolution versinken zu lassen und dort eingesperrt zu halten." IKS  16.09.05
(1) Kirchner, Präsident von Argentinien, der allgemein Herr K (el Señor K) genannt wird.
(2) Daten aus der Tageszeitung "Clarín" vom 30.08.2005.
(4) vgl. Internationale Revue Nr. 34 "Resolution über die Entwicklung des Klassenkampfes".
(5) a.a.O. Punkt 6
(7) Vgl. die Artikel über die Piqueteros-Bewegung in Internationale Revue Nr. 30 und über die Gruppe Núcleo Comunista Internacional Internationale Revue Nr. 35.

Geographisch: 

  • Argentinien [1]

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [3]

Demo gegen Jugendarbeitslosigkeit: Gegen Spaltungsversuche - Einheit der Arbeiterklasse!

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Anfang November 2005 führte die Gewerkschaft Unia eine Aktionswoche zum Thema Jugendarbeitslosigkeit durch, die am 5. November mit einer Demonstration in Zürich endete. Der Slogan der Gewerkschaften lautete: "Future Now! - Arbeit und Ausbildung für alle Jugendlichen". Obwohl die politische Unterstützung breiter nicht hätte sein können - von der Christlichen Volkspartei bis zum "Revolutionären Aufbau" - nahmen nur einige Hundert Leute daran teil, wobei ein Grossteil davon Gewerkschaftsaktivisten waren.
 
Die nur mässige Beteiligung an der Aktion der vereinigten Linken kann nicht daran liegen, dass das Thema Jugendarbeitslosigkeit niemanden interessieren würde. Auch wenn die Arbeitslosigkeit in der Schweiz noch nicht die gleichen Ausmasse angenommen hat wie in Deutschland, Frankreich oder Spanien, ist sie doch deutlich spürbar und nimmt ständig zu. Immer mehr Arbeitsplätze gehen verloren. Gerade für diejenigen, die die Schule verlassen, wird es immer schwieriger, eine Lehrstelle oder überhaupt eine Lohnarbeit zu finden.
Obwohl die staatlichen Statistiken längst nicht alle Arbeitslosen erfassen, sprechen sie mindestens in der Tendenz eine deutliche Sprache: Die offizielle Quote aller Arbeitslosen liegt gegenwärtig bei 3.7% (Oktober 2005). Zwischen 2001 und 2004 ist sie von 1.7% auf 3.9% angestiegen. Niemand rechnet ernsthaft mit einem Rückgang. In dieser Statistik gilt nur als "arbeitslos", wer in den letzten 14 Monaten seine Stelle verloren hat und bei der Arbeitslosenversicherung gemeldet ist. Das sind gegenwärtig etwa 145'000. Diejenigen, die nach 14 Monaten ausgesteuert worden sind, werden also nicht mehr als "Arbeitslose" erfasst. Hinzu kommen deshalb noch einmal 70'000 "Stellensuchende", die nicht als "arbeitslos" gelten, weil sie sich z.B. in einer Umschulung oder einem Beschäftigungsprogramm befinden oder einen Zwischenverdienst erzielen. Und schliesslich kommen all diejenigen hinzu, die überhaupt nicht mehr von diesen Statistiken registriert werden, weil sie die Hoffnung auf einen Job aufgegeben haben und mit der Sozialhilfe oder sonst irgendwie überleben. Auch hier zeigen die Zahlen die Tendenz mehr als deutlich auf: In der Stadt Zürich gab es Ende 2001 rund 6'000 Haushalte, die Sozialhilfe beanspruchten; Ende 2004 waren es schon über 9'000, was mit 15'500 betroffenen Personen 6.3% der Stadtbevölkerung ausmachte. 
Weiter ist klar, dass viele, die vor der Arbeitslosigkeit stehen, eine andere "Lösung" suchen: Ältere Arbeiter lassen sich früher pensionieren, als es eigentlich vorgesehen wäre; wer kann oder muss, meldet sich bei der Invalidenversicherung an; ImmigrantInnen verlassen die Schweiz wieder, weil sie schon lange nicht mehr hält, was sie als vermeintliches Schokoladenparadies versprochen hat; die Jugendlichen drücken weiterhin die Schulbank, weil sie keine Stelle finden. Gerade bei ProletarierInnen zwischen 15 und 25 Jahren ist die Arbeitslosigkeit besonders hoch; sie stieg von 1.7% im Jahr 2001 auf 5.5% im Januar 2005, wobei die Quote in den Städten wesentlich höher, nämlich bei bis zu 10%, liegt. Auch bei der Sozialhilfe trifft es allen voran die junge Generation; in Zürich sind es 12% und in Basel gar 15% der Kinder, die Sozialhilfe beziehen müssen.

Welch ein Hohn: Dieses Wirtschaftssystem zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nach Tausenden von Jahren des Fortschritts, dieser Kapitalismus mit Produktivkräften, wie sie nie zuvor eine menschliche Gesellschaft gekannt hat, kann nicht einmal mehr der Jugend eine Zukunft anbieten, geschweige denn den Menschen, die wegen ihres Alters oder der Gesundheit nicht mehr arbeiten können. Und niemand kann sich einer Illusion hingeben: Die sich verschlimmernden Verhältnisse in der Schweiz sind erst ein Vorgeschmack dessen, was der Kapitalismus dem Proletariat auch hier bereit hält. Die Lebensbedingungen in den französischen Vorstädten, in den argentinischen und brasilianischen Elendsvierteln zeigen die Richtung auf, in welche dieses todkranke System sich bewegt.
Der Staat kann sich in dieser Gesellschaft, die nach der Profitlogik funktioniert, die Ernährung der Arbeitslosen, die Pflege der Kranken, einen würdigen Lebensabend der Pensionierten je länger je weniger leisten. Nach 30 Jahren Krise, nachdem alle Kniffe mit Verschuldung, Subventionen, Protektionismus, Steuererhöhung für die Armen, Steuerreduktionen für die Reichen usw. ausgereizt worden sind, kann der Kapitalismus auch in den höchstentwickelten Ländern die Sozialversicherungen - diese verstaatlichte "Solidarität" - nicht mehr bezahlen. Es liegt nicht an den falschen Rezepten der jeweils gerade Regierenden. Vielmehr gibt es im Kapitalismus gar kein Rezept mehr. Es bleibt nur die Abschaffung des Kapitalismus, die revolutionäre Überwindung dieses Systems, das auf der einen Seite immer mehr Waren produziert, die nicht verkauft werden können, und auf der anderen Seite immer mehr Elend bei denjenigen, die diesen Reichtum eigentlich geschaffen haben, aber der Mittel beraubt sind, um ihn zu konsumieren.

Sabotageversuche des Kapitals

Um die Reifung dieses Bewusstseins über die Notwendigkeit der revolutionären Überwindung dieses Systems zu verhindern oder wenigstens so lange wie möglich hinauszuzögern, organisiert die Linke des Kapitals - d.h. die Gewerkschaften und die linken Parteien und Organisationen - solche Veranstaltungen wie die eingangs erwähnte Aktionswoche mit der krönenden Demonstration. Dabei gibt es innerhalb dieser Linken eine Arbeitsteilung:
Auf der einen Seite stehen diejenigen, die vorgeben, dieses kapitalistische System verbessern zu können. Sich bei den Jugendlichen anbiedernd, proklamieren sie "Future Now! - Arbeit und Ausbildung für alle Jugendlichen", als ob der Kapitalismus eine Zukunft hätte, und bieten eine Party mit R'n'B, Hip Hop und House an (vgl. offizieller Flyer der Gewerkschaften). Die Unia als Hauptorganisatorin fordert: "Ein Recht auf eine Ausbildung oder Lehrstelle, für alle. 10 Prozent mehr Ausbildungsplätze an Handelsmittelschulen und in Lehrwerkstätten. (...) Jeder Lehrling, jede Lehrtochter soll vom ausbildenden Betrieb während mindestens einem Jahr weiterbeschäftigt werden." (aus dem Flugblatt zur Aktionswoche). Dabei verschweigt sie, dass im Kapitalismus das Geld längst fehlt, um solche Massnahmen zu finanzieren: Entweder bezahlen es letztlich die Kapitalisten, die entsprechend ihre Profite schwinden sehen und angesichts der billiger produzierenden Konkurrenz bankrott gehen oder ihre Produktion in ein anderes Land ohne solche Vorschriften auslagern. Oder die von der Unia geforderten Massnahmen werden ganz oder teilweise von der Arbeiterklasse bezahlt, was noch mehr Angriffe auf ihre Lebensbedingungen bedeutet.
Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die zwar vollmundig gegen "Profite", "Ausbeutung" und "Kapitalismus" wettern und den "Kommunismus" als Lösung anpreisen, aber verschweigen, was sie damit meinen. Dazu zählen insbesondere die Stalinisten verschiedener Couleur, namentlich die Partei der Arbeit (PdA)  und der "Revolutionäre Aufbau". Für diese Organisationen ist Stalins Russland oder der so genannte Realsozialismus, wenn nicht gerade das Paradies auf Erden, so doch ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Der "Aufbau" unterstützt nach wie vor von der Bourgeoisie als "kommunistisch" bezeichnete Staaten wie Nordkorea oder Kuba und die "linksnationalistische Chavez-Regierung" in Venezuela . Die Antwort des Realsozialismus (im ehemaligen Ostblock) auf die Wirtschaftskrise war das Stachanow-Prinzip: Wer am schnellsten und längsten arbeitete, erhielt einen Orden als "Held der Arbeit". Die fehlende Entwicklung der Produktivkräfte, wurde durch die umso längere und intensivere Auspressung der verfügbaren Arbeitskräfte kompensiert . Dadurch "lösten" diese Staaten auch das Problem der Arbeitslosigkeit; alle mussten arbeiten - nicht zuletzt auch im Gulag. Das System beruhte aber auf der Warenproduktion, der Lohnarbeit und der Kapitalakkumulation, es war also durch und durch kapitalistisch. Als solches musste es sich auf dem Weltmarkt, in der Konkurrenz mit dem westlichen Kapitalismus bewähren, was ihm misslang. 1989 ist dieser als "Sozialismus" verkaufte Ostblock-Kapitalismus wegen mangelnder Konkurrenzfähigkeit zusammengebrochen. Das hindert die Stalinisten der verschiedenen Richtungen aber nicht daran, dieses Modell als Lösung zu verkaufen, wenn auch in einer Mogelpackung, auf der in knallroten Lettern "Kommunismus" und "revolutionär" steht. Wer die Arbeitslosigkeit heute mit solchen Schlagworten anprangert, dies aber auf der Grundlage der Sympathie mit dem Stalinismus und seinen Methoden zur "Vollbeschäftigung" tut, steht nicht auf der Seite der Arbeiterklasse.

Wie kämpfen gegen die Arbeitslosigkeit?

Es scheint absurd: Einerseits werden ständig Arbeitsplätze abgebaut, weil Überkapazitäten bestehen, also zuviel produziert wird; andererseits leiden etwa eine Milliarde Menschen an Unterernährung. Die Arbeitslosigkeit nimmt immer grössere Ausmasse an, gleichzeitig müssen diejenigen, die noch eine Stelle haben, sich immer mehr bis zur körperlichen und psychischen Erschöpfung auspressen lassen. Die Jugendlichen finden keine Stelle; gleichzeitig erhöhen die Regierungen das Rentenalter, zwingen also die älteren ArbeiterInnen zu noch mehr Arbeit.
All diese Widersprüche sind im Kapitalismus nicht lösbar. Die Profitlogik steht einer Lösung entgegen. Umgekehrt zeigen aber diese Widersprüche auf, wie überreif diese Gesellschaft und die mittlerweile entwickelten Produktivkräfte für eine neue Produktionsweise sind - für eine andere Gesellschaft, in der nicht für den Profit, sondern für die Bedürfnisse der Menschen produziert wird. Es kann genug produziert werden, niemand braucht Hunger zu leiden oder auf die Gesundheitspflege zu verzichten. Darüber hinaus ist es auch nicht nötig, dass wir alle den ganzen Tag malochen.

Aber diese klassenlose Gesellschaft wird erst das Resultat von Kämpfen der Arbeiterklasse sein. Diese Kämpfe beginnen heute mit der Verteidigung gegen die Angriffe, denen wir täglich als Arbeiter - ob jung oder alt, männlich oder weiblich, arbeitslos, Rentner oder erwerbstätig, gelernt oder ungelernt - ausgesetzt sind. Lassen wir uns nicht spalten! Wenn die Gewerkschaften und die Linken die Jugendarbeitslosigkeit in den Vordergrund stellen, ist dies ein typischer Spaltungsversuch. Als ob nur die "Jugendlichen Arbeit und Ausbildung" bräuchten. Diese Organisationen der Bourgeoise wollen gar nicht, dass die Arbeiterklasse als ganze zusammen kommt. Sie wollen hier und dort etwas Luft ablassen, die gärende Unzufriedenheit kanalisieren und in Forderungen nach einer Umverteilung der Arbeit versickern lassen. Dies steckt in Wirklichkeit hinter Mobilisierungen wie derjenigen am 5. November, die sich mit jugendfreundlichen Parolen schmücken.
Selbstverständlich ist es notwendig, dass sich jugendliche Arbeitslose zur Wehr setzen und das scheinbare Schicksal nicht passiv hinnehmen. Dazu gehört aber vor allem auch die Diskussion über die Ursachen dieser im Kapitalismus tatsächlich ausweglosen Situation. Ebenso wichtig ist die Überprüfung der vermeintlichen Lösungen und "Kampfmittel", die uns die kapitalistischen Organe von links bis rechts schmackhaft machen wollen, wie z.B. am 5. November. Dies ist ein erster Schritt, um sich dem Kampf der Arbeiterklasse als ganze anzuschliessen und so erst eine wirkliche Perspektive zu eröffnen.
Die Entlassungen gehen weiter. Die Stärke der Arbeiterklasse ist ihre Einheit. Wir müssen gegen die Angriffe auf die Löhne, die Renten, die Arbeits- und Lebensbedingungen überhaupt die Solidarität zum Tragen bringen; die Einheit mit anderen Arbeitern suchen; das allgemeine Interesse der ganzen Klasse in den Vordergrund stellen; die Kämpfe ausweiten, und zwar unabhängig von den Gewerkschaften und allen anderen staatskapitalistischen Organisationen. E/N, 14.11.05

(1)  vgl. dazu auch den Artikel "Massenarbeitslosigkeit: Bankrotterklärung des Kapitalismus" in Weltrevolution Nr. 129
(2)  Die PdA, die bis zum Zusammenbruch des Ostblocks offizielle prosowjetische Partei in der Schweiz, figuriert zwar unter den unterstützenden Organisationen der Demo gegen Jugendarbeitslosigkeit, scheint aber weder dafür mobilisiert noch ein Flugblatt geschrieben zu haben.
(3)   "Aufbau" Nr. 39 S. 6
(4)  vgl. für eine vertiefte Analyse über die kapitalistische Krise in den Ländern des Ostblocks den Artikel in Internationa

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in der Schweiz [4]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Linksextreme [5]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [6]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die Gewerkschaftsfrage [7]

Die Ursachen des imperialistischen Krieges

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Die Ursachen des imperialistischen Krieges Die Anarchie als Wesensmerkmal des Kapitalismus

In der Weltrevolution 124 berichteten wir über die erste einer Reihe von öffentlichen Veranstaltungen des Internationalen Büros für die revolutionäre Partei (IBRP) in Berlin. Die zweite Veranstaltung fand am 15. Mai 2004 statt. Dort wurde über die Ursachen des imperialistischen Krieges debattiert. Ein Vertreter von Battaglia Comunista (BC) hielt das Einleitungsreferat, welches die Hintergründe des Irakkrieges sowie die gegenwärtige Außenpolitik der USA beleuchtete. Der Genosse trug die Analyse des IBRP vor, der zufolge der amerikanische “Kreuzzug gegen den Terrorismus” hauptsächlich ökonomischen Zielen dient: Die Befestigung der amerikanischen Kontrolle über die Ölreserven der Welt, um die Vorherrschaft des Dollars über die Weltwirtschaft abzustützen, um die weitere Abschöpfung einer zusätzlichen Ölrente sicherzustellen. Auf Grund ihrer nachlassenden Wettbewerbsfähigkeit seien die USA auf eine parasitäre Absaugung des Mehrwerts angewiesen, um ihre eigene Wirtschaft über Wasser zu halten. Zudem würden strategische Überlegungen eine Rolle spielen, welche oft mit der Beherrschung von Ölreserven einhergehen und darauf abzielen, Russland und China von einander bzw. von wichtigen Ölfeldern abzutrennen, und die Europäische Union schwach und uneins zu halten.

Diese Analyse löste unterschiedliche Reaktionen unter den Veranstaltungsteilnehmern aus. Während ein Genosse der “Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft” (FKG) – der vormals die Gruppe “Aufbrechen” mit ins Leben gerufen hatte – die Fähigkeit des IBRP lobte, die konkreten wirtschaftlichen Ursachen des Krieges zu identifizieren, äußerte einer der anwesenden Sprecher der “Gruppe internationaler Sozialisten” (GIS) Zweifel gegenüber dieser Analyse. Er wies darauf hin, dass der Vorgang der Aufnahme von internationalen Finanzmitteln durch die USA in erster Linie Ausdruck und Fortsetzung einer klassischen Verschuldungspolitik der USA sei. Zudem wiederholte er die Auffassung, welche er bereits auf der ersten IBRP-Veranstaltung in Berlin vorgetragen hatte (siehe: Weltrevolution 124), der zufolge das Bestreben nach militärischer Beherrschung der Ölquellen weniger wirtschaftlichen als politischen und militärstrategischen Zielen diene. Ein Mitglied der Gruppe “Internationale KommunistInnen” wiederum wies darauf hin, dass nicht nur die USA, sondern auch andere führende imperialistische Staaten – allen voran die europäischen – gegenwärtig um die Weltvorherrschaft kämpften. Er stellte die These auf, dass während in diesem Kampf der US-Imperialismus hauptsächlich seine militärische Überlegenheit in die Waagschale werfe, Europa auf die Karte seiner wirtschaftlichen Stärke setzen würde.

Die Kritik der IKS an der Analyse des IBRP

Die IKS befasste sich in ihrem ersten Diskussionsbeitrag mit der Argumentationslinie des Büros. Dieser Auffassung zufolge hätten die USA weitgehend ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt eingebüßt. Um die Folgen dieser Entwicklung – gigantische Handels- und Zahlungsbilanzdefizite, zunehmend auch wieder Haushaltsdefizite der öffentlichen Hand – auszugleichen, führten die USA in aller Welt Kriege, um mittels der Kontrolle über Erdöl sowie die Vormachtsstellung des Dollars Kapital an sich zu ziehen.

Erstens ist aus der IKS diese Analyse politisch sehr gefährlich, weil sie die Ursachen des imperialistischen Krieges in der besonderen Lage eines bestimmten Staates sucht, anstatt in der Entwicklungsstufe und dem Reifegrad der Widersprüche des kapitalistischen Systems insgesamt. Kein Wunder also, wenn diese Analyse große Ähnlichkeiten aufweist mit der Argumentationslinie, welche von den pro-europäischen “Globalisierungsgegnern” bzw. von linken deutschen Sozialdemokraten wie Oskar Lafontaine vertreten werden, welche die Zuspitzung der imperialistischen Spannungen auf einen angeblich besonders parasitären Charakter der US-Wirtschaft zurückführen.

Zweitens lässt diese Analyse zwei Fragen unbeantwortet:

* Weshalb hat ausgerechnet die Wirtschaft der USA – des immer noch mächtigsten kapitalistischen Staates der Welt mit den größten Konzernen, und mit einer nationalen Kultur, welche sich den Bedürfnissen der kapitalistischen Produktionsweise besonders gut angepasst hat – solche Probleme mit ihrer internationalen Konkurrenzfähigkeit?

* Weshalb reagiert die amerikanische Bourgeoisie nicht auf dieses Problem, indem sie das tut, was am einfachsten, am naheliegendsten wäre, nämlich, massiv in ihren Produktionsapparat zu investieren, um ihre Konkurrenzfähigkeit wiederzuerlangen? Weshalb sollte sie statt dessen auf dieses wirtschaftliche Problem reagieren, indem sie – wie Battaglia behauptet – die ganze Welt mit Krieg übersäht?

Tatsächlich verwechselt das Internationale Büro in diesem Fall Ursache und Wirkung. Die USA rüsten nicht deshalb so hoch, weil sie nicht mehr konkurrenzfähig sind, sondern – insofern sie tatsächlich Wettbewerbsvorteile verloren haben – rührt dies vielmehr im großen Maße aus ihren riesigen Aufwendungen für die Rüstung.

Diese Entwicklung allerdings ist keine Besonderheit des US-Imperialismus. Bereits die UdSSR, Jahrzehnte Hauptrivale der USA, ist nicht zuletzt an dieser Rüstungsspirale zugrunde gegangen. In Wahrheit ist das Aufblähen des Kriegsbudgets auf Kosten der Entwicklung der Produktivkräfte sowie die zunehmende Indienstnahme der Wirtschaft durch den Militarismus ein Wesensmerkmal des niedergehenden Kapitalismus.

Drittens gibt es zwar einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Krise und Krieg im Kapitalismus. Aber dieser Zusammenhang lässt sich nicht auf die vereinfachende These eines Krieges um Öl oder um die Hegemonie des Dollars reduzieren. Der wirkliche Zusammenhang dieser beiden Faktoren zeigt beispielsweise die Konstellation auf, welche zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte. Damals gab es noch keine Weltwirtschaftsdepression wie die, welche erst später, 1929, ausbrach. Die Wirtschaftskrise von 1913 wies immer noch einen im Wesentlichen zyklischen Charakter auf und fiel vergleichsweise milde aus. Auch gab es damals keine mit heute vergleichbare Handels-, Zahlungs- oder Haushaltskrise Großbritanniens, Deutschlands oder anderer führender Protagonisten, und keine besonderen Währungsturbulenzen (damals wurde der Goldstandard noch weltweit anerkannt). Und dennoch brach der erste imperialistische Weltbrand vom Zaun. Weshalb? Wie lautet das allgemeine Gesetz des Imperialismus, dem die Kriege der Moderne zugrunde liegen?

Je entwickelter ein bürgerlicher Staat ist, je mächtiger die Konzentration seines Kapitals, je größer schließlich seine Abhängigkeit vom Weltmarkt, desto mehr ist der Staat auf gesicherte Zugänge zu den Ressourcen der Welt und deren Beherrschung angewiesen. In der Epoche des Imperialismus ist somit jeder Staat gezwungen zu versuchen, eine Einflusssphäre zu etablieren. Die Großmächte ihrerseits betrachten notwendigerweise die ganze Welt als ihre Einflusssphäre – nichts weniger reicht aus, um ihre Existenzgrundlage abzusichern. Je stärker die Wirtschaftskrise, je härter umkämpft der Weltmarkt wird, desto dringender wird dieses Bedürfnis.

Deutschland erklärte Großbritannien 1914 den Krieg, nicht auf Grund seiner unmittelbaren Wirtschaftslage, sondern, weil es für eine solche Macht - für die die Weltwirtschaft ihr Schicksal geworden war – nicht mehr politisch hinnehmbar war, dass ihr Zugang zum Weltmarkt auf Gedeih und Verderb vom Wohlwollen Großbritanniens (der damaligen Beherrscherin der Weltmeere sowie eines Großteils der Kolonien) abhing. Dies bedeutet, dass die deutsche Bourgeoisie gar nicht erst bis 1929 abzuwarten brauchte, bis es angesichts der weltweiten Depression von Seiten der alten Kolonialmächte vom Weltmarkt ausgeschlossen wurde. Sie zog es vielmehr vor, gewissermaßen vorbeugend, zu versuchen ihre missliche Lage zu verändern, bevor das Schlimmste eintraf. Dies erklärt weshalb am Anfang des 20. Jahrhunderts der Weltkrieg vor der Weltwirtschaftskrise ausbrach.

Die Tatsache, dass die kapitalistischen Mächte immer brutaler auf einander stoßen, bedeutet, dass der imperialistische Krieg immer mehr zum gegenseitigen Ruin der teilnehmenden Staaten führt. Darauf hat bereits Rosa Luxemburg in ihrer ‚Juniusbroschüre‘ hingewiesen. Auch der jüngste Irakkrieg zeigt diese Entwicklung. Der Irak war einst an der Peripherie des Kapitalismus einer der wichtigsten Großauftraggeber der europäischen und amerikanischen Industrie. Heute haben nicht nur die kapitalistische Wirtschaftskrise, sondern noch mehr die Kriege gegen den Iran und gegen die USA dieses Land vollständig ruiniert. Aber auch die amerikanische Wirtschaft blutet zusätzlich auf Grund der Kosten des Irakeinsatzes. Hinter der Idee, dass der Krieg heute um Dollarspekulationen oder eine angebliche Ölrente geführt wird, steckt die Annahme, dass der Krieg noch lukrativ, dass der Kapitalismus noch ein expandierendes System sei. Nicht nur die Politik der USA, sondern auch der Terrorismus vom Schlage Bin Ladens wurde durch den Vertreter Battaglias in diesem Sinne interpretiert: als Ausdruck des Bestrebens “200 saudi-arabische Familien” um einen größeren Anteil der Profite aus der eigenen Ölproduktion.

Die Gefahr des bürgerlichen Empirismus

Nachdem sowohl das IBRP als auch die IKS je die eigene Sichtweise der Kriegsursachen dargelegt hatten, folgte eine interessante und lebhafte Debatte. Dabei fiel auf, dass die Veranstaltungsbesucher großen Wert darauf legten, die jeweilige Position der beiden anwesenden linkskommunistischen Organisationen besser zu verstehen. Sie drängten darauf, dass beide Gruppen aufeinander antworten sollten. Diese Genossen beschränkten sich auch nicht darauf, Fragen zu stellen, sondern trugen ihrerseits Einwände vor und äußerten Kritiken.

So bezeichnete beispielsweise ein Genosse der FKG den von der IKS gemachten Vergleich der Analyse des IBRPs mit der von den Globalisierungsgegnern als “billige Polemik”. Er unterstrich, dass Battaglias Hinweis auf die Aggressorrolle der USA heute nichts mit der Verharmlosung der Rolle der europäischen Imperialismen durch deren bürgerliche Sympathisanten zu tun habe. Und er wies zu Recht darauf hin, dass auch in der Vergangenheit proletarische Internationalisten die Rolle bestimmter Staaten als Auslöser imperialistischer Kriege analysiert haben, ohne sich dadurch irgendwelche Konzessionen gegenüber den Rivalen dieser Staaten zu Schulden kommen zu lassen.

Allein: die Kritik der IKS bezog sich gar nicht auf die Identifizierung der gegenwärtigen Rolle der USA als Hauptauslöser der heutigen Kriege, sondern darauf, dass die Ursachen des Krieges nicht auf die Lage des Imperialismus insgesamt, sondern auf die besondere Stellung der USA zurückgeführt werden.

Der Sprecher Battaglias seinerseits bestritt gar nicht die Ähnlichkeit der von seiner Organisation erstellten Analyse mit denen verschiedener bürgerlicher Strömungen. Er argumentierte jedoch, dass die vom Büro angewandte Analyse innerhalb einer ganz anderen Weltsicht, und zwar einer proletarischen Weltsicht, verankert sei. Dies trifft glücklicherweise noch immer zu. Doch wir bleiben dabei, dass eine solche Analyse nicht nur die Wirksamkeit unseres Kampfes gegen die Ideologie des Klassengegners schwächen, sondern darüber hinaus die Festigkeit des eigenen proletarischen Standpunktes untergraben muss. Unserer Meinung nach ist die Ähnlichkeit der Analyse des IBRP mir der gängigen bürgerlichen Auffassung darauf zurückzuführen, dass sich die Genossen selbst eine bürgerliche Herangehensweise zu Eigen gemacht haben. Diese Betrachtungsweise haben wir Empirismus genannt. Damit meinen wir die Grundtendenz des bürgerlichen Denkens sich durch bestimmte besonders herausragende Tatsachen in die Irre führen zu lassen, anstatt durch eine tiefergehende theoretische Herangehensweise den wirklichen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Tatsachen aufzudecken. Diese Herangehensweise des Büros zeigte sich in der Diskussion exemplarisch daran, wie das IBRP die Tatsache, dass die amerikanische Wirtschaft ohne ausländischen Kapitalzufluss zusammenbrechen würde als Beweis dafür anführte, dass der Irakkrieg dazu gedient habe, die anderen Bourgeoisien zu zwingen, weiterhin ihr Geld in Amerika anzulegen. Doch die Gewißheit, dass die US-Ökonomie ohne diese Zuwendungen untergehen würde, ist schon Zwang genug, dass die europäischen und japanischen Kapitalismen weiterhin amerikanische Bonds und Anlagen kaufen – sie selbst würden einen Zusammenbruch der USA nicht überleben. (1)

Die Verbindung zwischen Krise und Krieg

Vor allem in diesem Teil der Diskussion wurden von verschiedenen Seiten kritische Fragen an die IKS gerichtet. Die Genossen hinterfragten die so betonte Bedeutung strategischer Fragen in unserer Analyse der imperialistischen Rivalitäten. Der Genosse von FKG kritisierte, dass die IKS – wie er meinte – die imperialistischen Spannungen allein aus den militärischen Rivalitäten ableiten würde, ohne Bezug zur Wirtschaftskrise und scheinbar unter Ausschluss wirtschaftlicher Motive. Er wies auf das Beispiel der wirtschaftlichen Kriegsziele Deutschlands im Zweiten Weltkrieg hin, um gegenüber den Auffassungen der IKS darauf zu bestehen, dass die imperialistischen Staaten durch den Krieg eine Lösung für die Wirtschaftskrise suchen. Ein Genosse aus Österreich (einst ein Gründungsmitglied der Gruppe “Internationale Kommunisten” – GIK) wollte von uns wissen, ob die IKS überhaupt die Rolle des Erdöls berücksichtige oder ob wir es für puren Zufall halten würden, dass der “Kampf gegen den Terrorismus” ausgerechnet dort schwerpunktmäßig geführt wird, wo sich die größten Erdölvorkommen der Welt befinden. Und auch der Vertreter der GIS verlangte eine Präzisierung unserer Aussage, dass moderner Krieg nicht die Lösung, sondern selbst ein Ausdruck, ja, eine Explosion der Krise darstellt.

Die Delegation der IKS antwortete, dass aus unserer Sicht der Marxismus, weitentfernt davon, den Zusammenhang zwischen Krise und Krieg zu verneinen, diesen Zusammenhang viel tiefer und umfassender zu begreifen im Stande ist. Für die IKS jedoch, ist der imperialistische Krieg nicht Ausdruck der zyklischen Krisen, welche für das 19. Jahrhundert charakteristisch waren, sondern der Krieg das Produkt der permanenten Krise des niedergehenden Kapitalismus ist. Als solches ist er Ausdruck der Rebellion der zu mächtig gewordenen Produktivkräfte gegen die zu eng gewordenen Produktionsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft. In seinem Werk “Anti-Dühring” behauptet Friedrich Engels, dass der zentrale Widerspruch des Kapitalismus der zwischen der bereits vergesellschafteten Produktion und der noch immer privaten, anarchischen Aneignung des Produktes ist. In der Epoche des Imperialismus ist einer der Hauptausdrücke dieses Widerspruchs der zwischen dem weltweiten Charakter des Produktionsprozesses und dem Nationalstaat als wichtigstem Instrument der kapitalistischen Privataneignung. Die Krise des dekadenten Kapitalismus ist eine Krise der gesamten bürgerlichen Gesellschaft. Sie findet ihren rein ökonomischen Ausdruck in Wirtschaftsdepressionen, Massenarbeitslosigkeit usw. Sie äußert sich aber auch auf der politischen, militärischen Ebene, z.B. durch immer zerstörerischere militärische Auseinandersetzungen. Charakteristisch für diese Krisenhaftigkeit des gesamten Systems ist die stetige Zuspitzung der Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten sowohl auf wirtschaftlicher wie auch auf militärischer Ebene. Somit sprachen wir uns gegen die Hypothese des Vertreters der “Internationalen KommunistInnen” aus, der zufolge die amerikanische Bourgeoisie mit militärischen, die europäische Bourgeoisie aber mit wirtschaftlichen Mitteln um die Weltherrschaft kämpfen würden. In der Realität wird dieser Kampf von allen Seiten mit allen Mitteln ausgetragen. Es tobt der Handelskrieg ebenso wie der militärische Krieg.

Zwar stimmt es, dass die Bourgeoisie nach wie vor im Krieg einen Ausweg aus der Krise sucht. Doch weil die Welt seit Anfang des 20. Jahrhunderts bereits aufgeteilt ist, kann diese ‚Lösung‘ jeweils nur auf Kosten anderer, in der Regel benachbarter kapitalistischer Staaten gehen. Im Falle der Großmächte liegt diese ‚Lösung‘ in der Weltherrschaft und erfordert somit den Ausschluss oder die vollständige Unterwerfung anderer Großmächte. Das bedeutet, dass diese Suche nach einer Lösung der Krise einen stets utopischeren oder unrealistischeren Charakter annimmt. Die IKS spricht von einer zunehmenden ‚Irrationalität‘ des Krieges.

In der Dekadenzphase des Kapitalismus stellt sich regelmäßig heraus, dass diejenige Macht, welche die Rolle des Kriegstreibers übernehmen muss, als Verlierer hervorgeht: z.B. Deutschland in zwei Weltkriegen. Dies zeigt den zunehmend irrationalen und immer schwerer beherrschbaren Charakter des modernen Krieges.

Was wir an der Kriegsanalyse des IBRP kritisieren, ist gar nicht die Behauptung, dass der Krieg wirtschaftliche Ursachen hat, sondern die Gleichsetzung von wirtschaftlichen Ursachen und wirtschaftlicher Gewinnträchtigkeit. Darüber hinaus kritisieren wir eine aus unserer Sicht vulgärmaterialistische Tendenz, jeden Schritt in der imperialistischen Auseinandersetzung von einer unmittelbaren wirtschaftlichen Ursache abzuleiten. Dies zeigt sich gerade in der Ölfrage. Das Vorhandensein der Erdölquellen im Nahen Osten spielt selbstverständlich eine große Rolle. Jedoch müssen die Industriestaaten – allen voran die USA – diese Quellen nicht erst militärisch besetzen, um ihre ökonomisch vorherrschende Rolle gegenüber diesen und anderen Rohstoffen durchzusetzen. Es geht vielmehr um die militärstrategische Hegemonie über diese möglicherweise kriegsentscheidenden Energiequellen.

Krieg und Niedergangsphase des Kapitalismus

Das Büro bestritt vehement die Behauptung der IKS, dass der moderne Krieg Ausdruck der Ausweglosigkeit des Kapitalismus sei. Zwar würde das zerstörerische Wesen des Kapitalismus irgendwann zur Zerstörung der Menschheit führen – so der Vertreter von Battaglia Comunista. Doch solange dieser endgültige Kladderatsch noch nicht eingetreten sei, könne der Kapitalismus unbegrenzt weiter expandieren. Nicht die gegenwärtigen, von den USA angezettelten Kriege, sondern die ‚wirklichen imperialistischen Kriege‘ der Zukunft, beispielsweise zwischen Amerika und Europa, seien dem Genossen von Battaglia zufolge die Mittel zu dieser Expansion, indem eine allgemeine Zerstörung eine neue Akkumulationsphase eröffnen würde. Wir stimmen darin überein, dass der Kapitalismus imstande ist, die Menschheit zu vernichten. Jedoch die Vernichtung überschüssiger Produkte reichte, historisch betrachtet, nicht mal aus, um die konjunkturellen, zyklischen Krisen des aufsteigenden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zu überwinden. Dazu war laut Marx und Engels auch noch die Erschließung neuer Märkte erforderlich. Denn während im Rahmen der Naturalwirtschaft Überproduktion immer nur als Überschuss über die maximale physiologische Konsumtionsgrenze hinaus auftreten kann, tritt sie in der Warenwirtschaft – und erst recht im Kapitalismus – stets im Verhältnis zu der Nachfrage der Geld besitzenden Konsumenten auf. Es handelt sich um eine ökonomische und nicht so sehr um eine physiologische Kategorie.

Das bedeutet aber, dass die Kriegszerstörung das Problem der fehlenden, zahlungskräftigen Nachfrage nicht lösen kann. Vor allem aber ist die hier vom Büro vertretene Auffassung hinsichtlich der möglichen Expansion des Kapitalismus bis zum Moment der physischen Vernichtung nicht vereinbar mit der Vorstellung von der Dekadenz des Kapitalismus – eine Auffassung, von der sich das IBRP faktisch immer mehr zu verabschieden scheint.

Denn nach der marxistischen Auffassung geht der Niedergang einer Produktionsweise stets einher mit der wachsenden Fesselung der Produktivkräfte durch die bestehenden Produktions- und Eigentumsverhältnisse. Aus der Sicht Battaglias jedenfalls scheint der Krieg wie im 19. Jahrhundert weiterhin die Rolle eines Motors der wirtschaftlichen Expansion spielen zu können.

Wenn der Vertreter des Büros von den kommenden ‚wirklichen imperialistischen Kriegen‘ redet, so festigt sich bei uns der Eindruck, dass diese Organisation die Kriege der Gegenwart lediglich als Fortsetzung der Wirtschaftspolitik der USA mit anderen Mitteln, nicht aber als imperialistische Konflikte betrachtet. Wir für unseren Teil bestanden darauf, dass auch diese Kriege inter-imperialistische Auseinandersetzungen sind. Auch die imperialistischen Großmächte geraten jetzt schon aneinander, zwar nicht direkt, aber in der Form von Stellvertreterkriegen. Die ursprünglich von Deutschland ausgelöste Kette kriegerischer Konflikte in Jugoslawien verdeutlicht zudem, dass dabei nicht allein die USA als Aggressor auftreten.

Eine sehr nützliche Debatte

In seinem Schlusswort vertrat der Sprecher des Büros die Auffassung, dass die Diskussion gezeigt habe, dass – so wörtlich - ‚die Debatte zwischen dem IBRP und der IKS nutzlos sei.‘

Dem IBRP zufolge zeige sich das darin, dass das Büro der IKS seit Jahrzehnten Idealismus‘, die IKS hingegen dem IBRP ‚Vulgärmaterialismus‘ vorwerfe, ohne dass die beiden Organisationen von ihren jeweiligen Positionen abgerückt wären.

Aus unserer Sicht ist das ein ziemlich herablassendes Urteil über eine Diskussion, an der sich außer den beiden Organisationen so unterschiedliche Positionen und politische Gruppen sehr rege beteiligt haben. Es liegt auf der Hand, dass die neue Generation politisch interessierter Menschen im deutschsprachigen Raum ein großes Interesse daran haben muss, die Positionen der bestehenden internationalistischen Organisationen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von deren Auffassungen möglichst umfassend kennenzulernen. Was könnte diesem Bedürfnis zweckdienlicher sein als die öffentliche Debatte?

Soweit wir wissen, ist kein Revolutionär bisher auf die Idee gekommen, beispielsweise die Debatte zwischen Lenin und Rosa Luxemburg über die nationale Frage nur deshalb als ‚nutzlos‘ zu bezeichnen, weil keiner der beiden Kontrahenten seine jeweilige Position geändert hat. Im Gegenteil: Vielmehr fußt die heutige ‚linkskommunistische‘ Position zur Frage der sog. ‚nationalen Befreiungsbewegungen‘ zum bedeutenden Teil auf dieser Debatte.

Die IKS für ihren Teil jedenfalls hat keine Angst vor der öffentlichen Diskussion, und wird sich weiterhin dafür einsetzen und sich daran beteiligen. Denn diese Debatte ist der unverzichtbare Bestandteil des Prozesses der Bewusstseinsentwicklung. -Weltrevolution

(1) Wir wollen an dieser Stelle hinzufügen, dass unabhängig von der Rivalität mit den USA, ihre Rivalen weiterhin ihr Kapital in der stabilsten Wirtschaft der Welt anlegen werden, da dieses Land militärisch und ökonomisch in absehbarer Zeit weltweit das mächtigste Land bleiben wird.

 

Koalitionsvertrag, Massenentlassungen zeigen: Die Sackgasse des Kapitalismus, die Notwendigkeit des Arbeiterkampfes

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Das große öffentliche Gejammer über das Fehlen eines “großen Wurfs” bei dem zwischen der Union und der SPD ausgehandelten Koalitionsvertrag dient einzig und allein dazu, davon abzulenken, dass die designierte Regierung das brutalste Maßnahmepaket der Nachkriegszeit auf Kosten der Bevölkerung geschnürt hat. Dazu gehören: Die drastische Anhebung der Mehrwertsteuer um gleich 3 Prozent; die schrittweise Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf zunächst 67 Jahre; die Kürzung bzw. ersatzlose Streichung  steuerlicher “Begünstigungen” wie der Entfernungspauschale oder der Eigenheimzulage; weitere Einschnitte von 4 Mrd. Euro bei den Ärmsten der Armen, bei den  “Hartz IV-Empfängern”; die flächendeckende Abschaffung des Kündigungsschutzes während der ersten zwei Jahre einer Beschäftigung; weitere “Nullrunden” bei der Rente, welche angesichts der jetzigen Teuerungsrate und der beschlossenen Steuererhöhungen faktisch drastische Kürzungen sein werden.

Ein Generalangriff gegen die Arbeiterklasse

Charakteristisch für diese verschärfte Kriegserklärung der Ausbeuter gegen die arbeitende Bevölkerung ist die Anhebung der Mehrwertsteuer. Während des vorangegangenen Wahlkampfes eiferte die SPD gegen die Steuerpläne des damals von Angela Merkel designierten Finanzministers Kirchhoff, der davon träumte, einen einheitlichen Eingangssteuersatz einzuführen, den Millionäre wie Geringbeschäftigte gleichermaßen zu entrichten hätten. Aber gerade die Anhebung der Mehrwertsteuer trifft die Armen doppelt schwer, da selbst Bettler und Obdachlose diese Steuer zu entrichten haben, sobald sie etwas kaufen.
Ein solcher Generalangriff der Herrschenden gegen die Lebensinteressen der Arbeiterklasse wird mit Sicherheit Zorn und Empörung auf Seiten der Betroffenen hervorrufen. Jedoch zeigt die Art und Weise, wie dieses Angriffs-“Paket” zusammengestellt wurde, dass die Ausbeuter alles tun wollen, um den Arbeiterwiderstand von vornherein zu erschweren. Neben der Brutalität der Maßnahmen ist an diesem rot-schwarzen Koalitionsvertrag v.a. eins kennzeichnend: Das Bemühen, die Lohnabhängigen gegeneinander auszuspielen. Ein Paradebeispiel hierfür ist die geplante Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge. um zwei Prozentpunkte. Die Hälfte davon soll durch Kürzungen bei der Erwerbslosenunterstützung “gegenfinanziert” werden. Die andere Hälfte soll aus den zusätzlichen Einnahmen durch die Mehrwertsteuererhöhung bestritten werden. So soll ein Spalt zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen gesät werden. Dabei geht es bei dieser Maßnahme in Wahrheit um die Senkung der Lohnnebenkosten für die Unternehmer, die “paritätisch” (zur Hälfte”) an der herkömmlichen Arbeitslosenversicherung beteiligt sind. Die Kosten für diese Senkung – falls sie überhaupt zustande kommt – haben allein die Beschäftigen und Arbeitslosen zu tragen. Was es mit solchen angeblichen Entlastungen der Arbeiterklasse auf sich hat, zeigt beispielsweise die versprochene Senkung der Abgaben zur Gesundheitsversicherung seitens der rot-grünen Regierung. Während seitdem die Gesundheitsversorgung weiter erheblich eingeschränkt und verschlechtert wurde, ist bis heute keine Absenkung der Versicherungsbeiträge eingetreten. Im Gegenteil. Allein schon die Anhebung der Mehrwertsteuer wird für eine weitere Verteuerung auch auf diesem Gebiet sorgen.

Die parlamentarische Demokratie: Die ideale Verpackung der Angriffe

Was der Koalitionsvertrag darüber hinaus noch bestätigt, ist die Verlogenheit nicht nur der Wahlversprechen (beispielsweise hat die Union versprochen, die Gesamtsteuerlast für die Bevölkerung zu senken, die SPD, die Mehrwertsteuererhöhung zu verhindern), sondern des demokratischen Wahlkampfes überhaupt. So hat alle Welt so getan, als ob Christdemokraten und Sozialdemokraten, “Marktliberale” und “Verteidiger des Sozialstaates” unversöhnliche politische Lager bilden würden. Jetzt erlebt man von neuem, wie wunderbar Links und Rechts miteinander in einer Regierungskoalition sich verständigen, wenn es um die Durchsetzung der Interessen des Kapitals gegen die Ausgebeuteten geht. Dies trifft auf alle beteiligten Parteien zu, so z.B. auf die PDS überall dort, wo sie in den Ländern und Kommunen Regierungsverantwortung übernimmt. Wichtiger als die Lehre, dass die Wahlkämpfer lügen, ist jedoch die Erkenntnis, dass die bürgerliche Demokratie eine viel mächtigere, weil raffiniertere und elastischere Form des staatlichen Totalitarismus darstellt als die unverhüllte Gewaltherrschaft eines Hitlers oder Stalins. Durch die “freie Stimmabgabe” und die “freie Auswahl” an der Wahlurne wird den Untertanen der Eindruck vermittelt, die Regierung selbst einzusetzen und auch wieder abwählen zu können. Dabei gehorcht die Regierung nicht dem Willen des Volkes, sondern den Sachzwängen des kapitalistischen Systems. Es ist die kapitalistische Konkurrenz im Rahmen der Niedergangskrise des Systems, welche das Regierungsprogramm diktiert. Diese Krise schert sich einen Dreck um die Wahlergebnisse. Es zwingt den Einzelkapitalisten wie den kapitalistischen Staat bei Strafe des Untergangs dazu, die Arbeiterklasse anzugreifen. Der parlamentarische Zirkus dient lediglich dazu, die Proletarier in die Irre zu führen.

Der Koalitionsvertrag als Ausdruck der Ausweglosigkeit der Krise

Dabei ist das rot-schwarze Regierungsprogramm lediglich die direkt staatlich verwaltete Seite des kapitalistischen Angriffs. Was von den Versprechen der Politiker zu halten ist, dass die Hinnahme von Verschlechterungen und “Härten” jetzt zu einer baldigen Verbesserung der Lage der Hauptbetroffenen selbst führen wird, zeigen auch die Erfahrungen in der “Privatwirtschaft”. Nachdem bei der Telecom bereits die Streichung von Weihnachts- und Urlaubsgelder hingenommen wurde, folgt nun die Ankündigung erneuter Stellenstreichungen – nicht weniger als 32.000! Und nachdem bei Volkswagen immer mehr Beschäftigte tariflich “umgeschichtet” wurden und für 20 % weniger arbeiten, hat man nun im Gesamtkonzern Pausenregelungen und Nachtzuschläge gestrichen. Das sind die von der kapitalistischen Wirklichkeit erzeugten Nachrichten, welche die “Aufbruchstimmung” begleiten, welche die Bildung einer neuen Regierung erzeugen soll.

Die Arbeiter haben nichts als ihre Ketten zu verlieren

So zeigen die jüngsten Arbeiterkämpfe in Deutschland eine mit dem Rücken zur Wand kämpfende Klasse. Bei den Werksbesetzungen bei AEG in Nürnberg und bei Infineon in München ging es nicht um die Verhinderung von Werksschließungen, sondern darum, zu verhindern, dass die durch diese Schließungen auf die Straße Geworfenen von heute auf morgen mittellos dastehen. Vorbei die Zeiten, da die führenden Konzerne der High-Tech-Branche – wie eben Infineon – Entlassenen “freiwillig” Abfindungen zahlten, um sozialen Explosionen vorzubeugen. Gar nicht lange ist es her, da hat man über einen “endgültigen Siegeszug” des Kapitalismus geschwafelt und festgestellt, der Ausspruch von Marx und Engels, demzufolge die Proletarier nichts zu verlieren haben als ihre Ketten, sei durch die Geschichte widerlegt worden. Die Lage der Beschäftigten bei AEG und Infineon heute beweist die ganze Aktualität der berühmten Formulierung des Kommunistischen Manifestes.
Diese Kämpfe zeigen die Wut der Betroffenen – eine Wut, die, wie gesagt, durch das Vorhaben der neuen Regierung angeheizt wird. Das ist auch wichtig, denn ohne diese Wut kann es zu keinem Arbeiterkampf kommen. Aber Wut allein reicht nicht. Wut ohne Klassenbewusstsein lässt sich leicht in harmlose Richtungen kanalisieren. Auch das ist eine durch den jüngsten Wahlgang erneut bestätigte Lehre. Die Wut der Betroffenen wurde in Richtung Wahlurne gelenkt. Das Angebot des demokratischen Staates lautete: Die Verantwortlichen – v.a. also die regierende SPD und die CDU/CSU als neue Kanzlerpartei in spe – bei den Wahlen “abzustrafen”. Tatsächlich hatten beide “Volksparteien” ihr schlechtestes Wahlergebnis seit langem. Das Ergebnis? Ausgerechnet die “Abgestraften” bilden die neue Regierung, werden von der herrschenden Klasse für ihre Mühen belohnt. Deutlicher könnte die Ohnmacht des demokratischen “Abstrafens” als Protestform nicht zu Tage treten.

Sich auf Jahrzehnte lange Kämpfe einstellen

Überhaupt ist es ungeheuer wichtig, dass die Arbeiterklasse, die während der letzten Jahre noch verbleibenden Illusionen über die Wirklichkeit des kapitalistischen Systems ablegt. Hinter der Wucht der Angriffe steckt die Ausweglosigkeit der Krise eines mit dem Fortschritt der Menschheit nicht mehr zu vereinbarendem Gesellschaftssystems. Die Arbeiterklasse muss um diese Einsicht ringen. Denn gerade der linke, angeblich arbeiterfreundliche Flügel des demokratischen Staates macht heute mobil, um diese Einsicht im Keim zu ersticken. So haben im Oktober und November 2005 die Gewerkschaften in einer Reihe Europäischer Staaten – u.a. in Frankreich, Belgien und Griechenland – Aktionstage veranstaltet, um gegen bestimmte Regierungsmaßnahmen zu protestieren. Sie wollen damit nicht nur Dampf ablassen, der sich sonst in den Reihen der Arbeiter gefährlich (für das Kapital) aufstauen könnte. Sie sollen darüber hinaus die Illusion aufrechterhalten, dass es sich bei diesen Angriffen nicht um Äußerungen des Bankrotts des Kapitalismus handelt, sondern um einzelne Maßnahmen oder um eine “verfehlte Politik”, welche durch punktuelle und begrenzte Aktionen abgewehrt oder infrage gestellt werden können. Das parlamentarische Gegenstück dazu bilden heute die “Globalisierungsgegner”, welche in Form der Linkspartei-PDS gerade in Fraktionsstärke und mit viel Tamtam in den neuen deutschen Bundestag gezogen sind. Diese Kräfte behaupten, die Ursache des Leids der Arbeiterklasse heute sei nicht die Krise des Systems, sondern die Tatsache, dass das Kapital in den letzten Jahren international und damit übermächtig geworden sei. Ihre Antwort darauf: den Nationalstaat stärken. Tatsächlich wird durch diese Sichtweise der Bankrott des Systems verhüllt. Dass das Kapital international agiert, ist überhaupt nicht neu. Bereits zu Marxens Lebzeit   gründeten die Arbeiter die 1. Internationale, nicht zuletzt um zu verhindern, dass Arbeiter aus anderen Ländern als Streikbrecher eingesetzt werden konnten. Nicht nur die Bewegungen des Kapitals und seine Krisen, sondern der Kampf der Arbeiterklasse war von Anfang an international. Was aber den Kapitalismus kennzeichnet, ist nicht allein sein globaler Charakter, sondern wesentlich der Widerspruch zwischen Weltmarkt und Nationalstaat, zwischen internationaler Produktion und nationalstaatlicher Aneignung. Die gnadenlose “Standortkonkurrenz” aller Staaten der Erde ebenso wie das Aufflammen militärischer Konflikte zeigt heute auf, wie wenig dieser Widerspruch verschwunden ist. Der Nationalstaat ist die höchste Form der kapitalistischen Konkurrenz. Er ist Teil des Problems und niemals Teil der Lösung.
Somit ist auch das neue deutsche Regierungsprogramm nur eine Erscheinungsform eines weltweiten Phänomens. Angesichts dieser Entwicklung muss die Arbeiterklasse sich auf große Kämpfe, ja auf Jahrzehnte lange Kämpfe einstellen.

Die Notwendigkeit der internationalen Solidarität

Regierung und Opposition, Links und Rechts streiten sich um den wirkungsvollsten, gerechtesten und sozialverträglichsten Weg zur Stärkung des Standorts Deutschland. In allen Ländern wiederholt sich, in unterschiedlichen Formen, dieses Schauspiel. Die Bourgeoisie kennt auch keine andere Antwort auf die Krise des Systems, als sich immer wieder der Konkurrenz zu stellen. Die Konkurrenz ist keine Antwort auf die und kein Ausweg aus der Krise, sondern das Grundprinzip des Kapitalismus. Sie ist die Ursache der Unmenschlichkeit der Lebenslage der Arbeiter sowie der Ohnmacht des Proletariats. Vor dem Kapitalismus wurden die Ausgebeuteten gewaltsam zur Mehrarbeit gezwungen. Im Kapitalismus hingegen ist es die Konkurrenz der Arbeiter untereinander, welche das Proletariat zwingt, sich der Ausbeutung zu unterwerfen. Die Arbeiterklasse kann nur eine eigene Macht entwickeln, indem sie der kapitalistischen Konkurrenz ihr Prinzip der Klassensolidarität entgegenstellt. Erst diese Solidarität ermöglicht die Entwicklung des Arbeiterkampfes als wirkliche Gegenmacht und als alternatives Gesellschaftsprojekt zur Welt des jeder gegen jeden. Hier keimt die Saat einer neuen, klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft.

Diese Solidarität ist zu aller erst internationalistisch. Die Arbeiterklasse ist die einzige internationale und zur weltweiten Solidarität befähigte Klasse der heutigen Gesellschaft. Es handelt sich hierbei keineswegs um ein abstraktes Prinzip oder um eine erst in einer fernen Zukunft sich stellende Frage. Wie die Beschäftigten bei VW in Wolfsburg, die jüngst gegen ihre Kolleginnen und Kollegen in Portugal um den preiswerteren Produktionsort des neuen Marrakesch-Models ausgespielt wurden, steht die gesamte Arbeiterklasse vor dieser Frage. Die Frage lautet: Entweder sich den Profitinteressen der “eigenen” Kapitalisten unterordnen, oder überall entschlossen sich gegen die Angriffe des Kapitals zu Wehr setzen - im politischen Bewusstsein, einen gemeinsamen solidarischen Kampfes zu führen.
“Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!”    15.11.05

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in Deutschland [8]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [6]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Der parlamentarische Zirkus [9]

Leserbrief aus Süddeutschland: Die Bedeutung theoretischer Arbeit

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Die Bedeutung theoretischer Arbeit

Ohne einen aktiven Austausch von Standpunkten, ohne Debatte ist eine Klärung kommunistischer Positionen unmöglich.  Deshalb versuchen wir möglichst regelmäßig in unserer Zeitung Zuschriften von Leser/Innen zu veröffentlichen und darauf so ernsthaft wie möglich zu antworten. Wir unsererseits sind nicht nur erfreut, sondern auch dankbar für jede Zuschrift, die wir erhalten, weil sie uns zu einer selbstkritischen  Auseinandersetzung mit unserer Arbeit und unseren Positionen zwingt. Deshalb, wenn euch an unserer Zeitung etwas besonders angesprochen aber auch missfallen hat, schreibt uns, auch wenn es nur ein paar Zeilen sind.

Leserbrief aus Süddeutschland

Zunächst einmal muß ich mich bei euch entschuldigen, dass ich Nichts von mir habe hören lassen. Vor etwa einem Jahr habe ich so ziemlich jede linke Organisation zwecks Informationen angeschrieben und infolgedessen bei einigen auch Materialien bestellt. Ebenso bei der IKS - hier ein "Weltrevolution"-Abo und diverse Publikationen.

Wenn ich versuche im Folgenden auf euch einzugehen, dann bitte ich zu bedenken, dass mir als Quellenmaterial nur die letzten vier Ausgaben der "Weltrevolution" und "Plattform und Manifest der IKS" zu Verfügung standen. Für die restlichen Publikationen habe ich noch keine Zeit zum Lesen gefunden.

Ich stimme mit euch überein, dass die Arbeiterklasse das revolutionäre Subjekt ist. Marx und Engels haben dies im Kommunistischen Manifest nachgewiesen. Gleichzeitig halte ich den Begriff, den ihr vom Proletariat habt, für ziemlich abstrakt. Da wird die Arbeiterklasse "geschwächt und an Händen und Füßen gefesselt in den II. Weltkrieg geführt" und  "dazu gezwungen , eine vom Krieg zerstörte, in Trümmern liegende Welt wiederaufzubauen". Sind wir nicht alle ein bißchen Opfer ? möchte man fragen.

Kein Arbeiter steht außerhalb der Welt. Jeder handelt eigenverantwortlich zugunsten oder eben zuungunsten der "eigenen Sache". Das die naheliegende Revolution nur so selten angegangen wird, und wenn, dann meist ziemlich schnell in der Scheiße landet, hat viele Ursachen. Die Bourgeoisie hält eine Aktie daran, das Proletariat die andere. Über die Bedenken des Proletariats bezüglich der revolutionären Frage sollte aber schon Klarheit bestehen (auch wenn es sich nur um die Tatsache handelt, dass Arbeiterkinder während der revolutionären Krise schneller verhungern als Generalsfamilien). Das kann dann schon ein verdammt gutes Argument dafür sein, die Füße still zu halten und die Faust in der Tasche zu ballen. Wenn es da an Lösungswegen mangelt, liegt die Schuld hierbei aber weder bei der Bourgeoisie noch beim Proletariat, sondern vielmehr bei der revolutionären Partei.

Auch der Begriff "Dekadenz des Kapitalismus" wirkt auf mich eher verwirrend als erleuchtend. Während ihr damit zum einen auf die "Überproduktionskrise" eingeht, werden etwas später auch die Toten der "systematischen, fabrikmäßigen Massenmorde" hierunter subsumiert.

Die Überproduktionskrise wirkt auf mich weniger dekadent, als vielmehr notwendig logisch aus der Krise der Akkumulation. Diese wiederum hat ihren Ursprung in einer unvernünftigen Ideologie namens Kapitalismus. Ebenso "vernünftig" erscheint auch die Vernichtung von Lebensmitteln, während nebenan Millionen Hunger leiden. Auch dies ist notwendiger Bestandteil des kapitalistischen Systems. Dekadent bleibt dabei vielleicht die Tatsache, dass man Kinder im Rahmen der Entwicklungshilfe im vierten Lebensjahr für zehn Jahre gegen Viruserkrankungen immunisiert, während man genau weiß, dass diese das achte Lebensjahr mangels Nahrung sowieso nicht erreichen. Dies ist auch innerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik nicht nachzuvollziehen.

Die "Massenmorde", auf die ihr dagegen hinweist - und hier vor allem die Shoah -, sind meines Erachtens auch keiner "Dekadenz des Kapitalismus" geschuldet, sondern vielmehr in der Unendlichkeit der menschlichen Dummheit zu suchen. Es gibt nicht eine einzige These die glaubhaft den Zusammenhang zwischen den Erkenntnissen aus Marxens "Kapital" mit der "Notwendigkeit" von Ausschwitz herstellt.

Während ich euren Thesen zum Staatskapitalismus, den "sozialistischen" Ländern, den Gewerkschaften, den bürgerlichen Quatschbuden und zur "nationalen Befreiung" teile, möchte ich euch in den "partiellen Kämpfen" widersprechen. Zu diesen Auseinandersetzungen zähle ich mal grundsätzlich alle "Ein-Punkt-Bewegungen", also nicht nur Umwelt, Gender, Rassismus, sondern auch Antifaschismus. Diese Bewegungen grundsätzlich als "Mittel der Bourgeoisie, um die Ziele der Arbeiter zu vernebeln" zu brandmarken, halte ich grundsätzlich für falsch. Oftmals sind solche Zusammenhänge erst der Beginn eines politischen Bewußtseins. Sicherlich habt ihr recht, wenn ihr meint, dass man sich nicht in einzelnen Kämpfen aufreiben darf. Aber Leuten, die eine fortschrittliche Linie verfolgen, dann die Solidarität mit der Begründung zu entziehen - insbesondere wenn der bürgerliche Staat denen gegenüber repressiv auftritt -, dass sowieso nur die Sache der Konterrevolution vertreten wird, kann ich nur als zynisch und der Konterrevolution als dienlicher bezeichnen. (Darin ist vielleicht auch ein Grund zu sehen; warum die warum die "Fraktionen der kommunistischen Linken" so sang- und klanglos in den 30ern ausgestorben sind. Das Proletariat brauchte damals keine Schwätzer und Schreiber.

Dies bringt mich zum letzten Kritikpunkt: "Unsere Aktivität"

Hier wird von der "Umgruppierung der Revolutionäre im Hinblick auf die Schaffung einer wirklichen kommunistischen Weltpartei" geschrieben. Dass sich dies in theoretischen Veranstaltungen zu erschöpfen scheint, finde ich ziemlich schade. Ein reiner Diskussionsclub ist ein bißchen wenig für eine revolutionäre Perspektive. Statt dessen wird sich in altlinker Manier mit Verrätern und Abweichlern gekloppt. Bitte zukünftig gelassener und besser werden als KPD/ML und Genossen.

Abschließend möchte ich noch zu eurer letzten Ausgabe der "Weltrevolution" Nr. 130 ein paar Zeilen verlieren.

Der Artikel "60. Jahrestag der Befreiung der KZs, der Bombardierung Dresdens, Hiroshimas, der Kapitulation Deutschlands" besticht vor allem durch eins, es geht um Bombardierung und Vertreibung und arbeitende Deutsche - ähem deutsche Arbeiter. Natürlich alle Opfer der barbarischen englischen, amerikanischen und russischen Bourgeoisie. Gleichzeitig wird kurz vor Kriegsende ein zweites 1918 halluziniert. Ursache und Wirkung wird mal wieder schön ausgeblendet. Weder wird der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Tschechoslowakei, Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien, Luxemburg; Frankreich, England, Jugoslawien, Griechenland und der Sowjetunion thematisiert, noch wird auf die Befreiung der Zwangsarbeiter, der koreanischen, chinesischen und der kommunistischen KZler eingegangen. Kriegsverbrechen auf deutscher und japanischer Seite ? - Fehlanzeige !

Ich persönlich bin der Meinung, dass alle humanistischen Leistungen auch zur Geschichte des Proletariats gehören. Und zur größten humanistischen Leistung des 20. Jahrhunderts -gehört nun mal die Befreiung vom NS-Regime,vom japanischen und italienischen Faschismus. Ich wäre heute nicht am Leben, hätten die Nazis damals gesiegt.

Hand aufs Herz Leute: Den gleichen Sermon kann man in Publikationen wie den "Funkenflug" der Heimattreuen Deutschen Jugend, dem "Fahnenträger" oder der "Volk in Bewegung" lesen. Wenn der Schwachsinn auf angloamerikanischen Haufen gewachsen ist, dann bitte auch nur dort publizieren. Danke !Trotzdem werde ich natürlich mein Abo verlängern. Den Betrag füge ich diesem Schreiben in bar bei.

Mit freundlichen Grüßen 

Antwort der IKS  

Lieber Genosse,

auch wenn du deine Korrespondenz vom 06.07.2005 mit der Äußerung beendest, dass dein Brief ”hoffentlich nicht zu streng klingt” – wir haben uns darüber sehr gefreut. Erstens weil für uns die politische Debatte das Lebensblut der Arbeiterklasse darstellt, unverzichtbare Vorbedingung der Klärung ist. Diese Auseinandersetzung soll ruhig kontrovers und polemisch geführt werden, solange die Argumente aufrichtig sind und der Klärung dienen. Schließlich ist unser Thema, der Klassenkampf des Proletariats, eine äußerst wichtige und auch emotional ergreifende Angelegenheit! Zweitens weil es eine Reihe von Punkten gibt, wo du Übereinstimmung mit uns signalisierst. So stellst du von vorne weg klar: ”Ich stimme mit euch überein, dass die Arbeiterklasse das revolutionäre Subjekt ist.” Darüber hinaus schreibst du, dass du unsere ”Thesen zum Staatskapitalismus, den ‘sozialistischen’ Ländern, den Gewerkschaften, den bürgerlichen Quatschbuden und zur ‘nationalen Befreiung’” teilst. Auch wenn du dich sonst eher kritisch über die Kommunistische Linke in deinem Brief äußerst, erscheint es uns wichtig, darauf hinzuweisen, dass du einigen der wichtigsten Thesen zustimmst, welche diese internationalistische Strömung von den Positionen der Stalinisten, Trotzkisten und auch vielen Anarchisten radikal unterscheidet. Selbst gegenüber dem Bereich, den du als ”Ein-Punkt-Bewegungen” bezeichnest (wozu du ”nicht nur Umwelt, Gender, Rassismus, sondern auch Antifaschismus” zählst), wo du unsere Ansicht nicht teilst, stimmst du uns zumindest in einem wichtigen Punkt zu: ”Sicherlich habt ihr recht, wenn ihr meint, dass man sich nicht in einzelnen Kämpfen aufreiben darf. 

Der alte Maulwurf am Werk

Wenn wir diese Übereinstimmungen betonen, dann nicht um die zwischen uns bestehenden, schwerwiegenden Meinungsunterschiede herunterzuspielen. Was uns bedeutsam erscheint ist, dass wir in letzter Zeit immer mehr Briefe erhalten – nicht nur aus Deutschland, sondern aus der ganzen Welt – worin die Leser unserer Presse teilweise, manchmal aber auch umfassend und begeistert unseren Positionen zustimmen. Unsere politische Tradition, die der Kommunistischen Linken, entstand ursprünglich als Reaktion auf die Degeneration der russischen Revolution und der Kommunistischen Internationale. Sie musste ihre programmatischen Positionen ausarbeiten inmitten der vom Stalinismus, Nazismus und von der totalitären Demokratie geprägten Konterrevolution. Und selbst nach der Beendigung dieser langen Phase der Konterrevolution durch die weltweite Wiederbelebung des Klassenkampfes nach 1968 mussten wir Jahrzehnte lang in gewisser Weise gegen den Strom der kapitalistischen Linken anschwimmen, welche die ”politische Hoheit” über die große Mehrheit der politisierten Teile der neuen, ungeschlagenen Generation der Arbeiterklasse gewann. Es ist noch gar nicht so lange her, da wirkten proletarische Positionen - etwa die Ablehnung der sog. nationalen Befreiung und der Gewerkschaften - noch schockierend auf die große Mehrheit der Politisierten. Heute hingegen stimmen immer mehr dieser politisierten, proletarische Positionen Suchenden den Thesen des ”Linkskommunismus” zu. Wir sehen darin einen ganz wichtigen Ausdruck eines Prozesses, welchen wir mit Marx als unterirdische Bewusstseinsentwicklung bezeichnen möchten.

Für uns ist diese Arbeit des ”alten Maulwurfs” – welche das Potenzial birgt, nach der Niederlage des revolutionären Ansturms in Deutschland, Österreich-Ungarn und schließlich Russland am Ende des Ersten Weltkrieges, einen zweiten Anlauf zur proletarischen Weltrevolution vorzubereiten – in erster Linie ein Ergebnis der aktuellen Weltlage: Zuspitzung der kapitalistischen Krise, langsamer Illusionsverlust der Arbeiterklasse. Aber es ist auch ein Ergebnis der programmatischen Arbeit der kommunistischen Linken in den 20er und 30er Jahren. Denn ohne diese theoretische Vorarbeit würden die oft jungen, nach Klarheit suchenden politischen Vorkämpfer der Arbeiterklasse keine Orientierungspunkte vorfinden.

Nun aber zu deinen Divergenzen. Dass du uns in der Frage der ”Ein-Punkt-Bewegungen” nicht zustimmst, haben wir bereits erwähnt. Vielleicht können wir diesen Punkt für einen späteren Briefwechsel aufheben. Grundlegender erscheint uns die Frage der Dekadenz des Kapitalismus.(...) Schließlich ist die Dekadenztheorie keine Erfindung der IKS oder der Kommunistischen Linken. In seiner berühmten Vorrede zur ”Kritik der politischen Ökonomie” erklärte bereits Marx die Vorstellung, dass jede bisherige Produktionsweise eine aufsteigende und eine niedergehende Entwicklungsphase durchlief, zum Eckpfeiler seiner dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung. 

Die Einschätzung des Antifaschismus und des 2. Weltkriegs

Eine andere in deinem Brief aufgeworfene, sehr grundlegende Frage ist die Einschätzung des Antifaschismus und des 2. Weltkriegs. Hier äußerst du keinen Zweifel, sondern erhebst entschieden Widerspruch gegen unsere internationalistische Auffassung. Das, was weithin die ”Befreiung vom NS-Regime” durch den angloamerikanisch-sowjetischen  Block genannt wird, betrachtest du als eine ”humanistische Leistung” welche zur ”Geschichte des Proletariats” gehört. Du behauptest sogar, ”den gleichen Sermon” nicht nur bei uns, sondern auch bei den Rechtsradikalen lesen zu können. Stimmt das?

Die Neonazis sind Nationalisten. Auch die Stalinisten sind Nationalisten. Alle bürgerlichen Demokraten sind Nationalisten. Spätestens dann, wenn wichtige imperialistische Kriege ausbrechen, kann man beobachten, wie sie alle sich beeilen, für eine der kriegsführenden Seiten Partei zu ergreifen. Was alle diese – durch und durch bürgerlichen – Kräfte gemeinsam haben, ist ihr Glaube, dass die Nation, dass der Nationalstaat noch eine fortschrittliche Rolle in der Menschheitsgeschichte spielen kann. Diese Auffassung stirbt nicht aus, sobald der Kapitalismus, durch die Schaffung eines einheitlichen Weltmarktes und eines Weltproletariats, die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus geschaffen hat. Im Gegenteil. Je brutaler der Widerspruch der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen wird - und damit der Gegensatz zwischen den Bedürfnissen der weltweiten Produktion und dem Fortbestand einer durch Nationalstaaten organisierten privaten Aneignung - desto wahnwitziger die Art und Weise, wie die herrschende Klasse die Nation hochhält. Zwei der aberwitzigsten Ausdrücke dieser den Bedürfnissen der geschichtlichen Entwicklung total widersprechenden, nationalen Wahnsysteme griffen in den 20er und 30er Jahren um sich: Der Nationalsozialismus und der Stalinismus. Während der Nationalsozialismus im Rassismus eine neue ideologische Grundlage für die bürgerliche Nation suchte, verstieg sich der Stalinismus sogar zu der Behauptung, dass der Nationalstaat den geeigneten Rahmen für die Entwicklung des Sozialismus liefern könnte.

Das Grundprinzip des Proletariats hingegen ist, dass die Arbeiter kein Vaterland haben. Das heißt aber nicht, dass die marxistische Auffassung über die Rolle des Nationalstaates unwandelbar ist. Denn die Rolle der Nation in der Geschichte vollzieht selbst einen Wandel. Die Nation spielte eine fortschrittliche Rolle gegen die feudale Zersplitterung. Sie trug entscheidend dazu bei, große, durch die Produktion und den modernen Verkehr miteinander verbundene Abteilungen des Proletariats zu erschaffen. Deshalb gab die Arbeiterbewegung in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus bestimmten, fortschrittlichen nationalen Bewegungen ihre kritische Unterstützung, ohne aber sich die Ideologie des Nationalismus zu Eigen zu machen. Jedoch hat der Erste Weltkrieg aufgezeigt, dass diese Phase im Leben des Kapitalismus zu Ende war. Aus einem Faktor des gesellschaftlichen Fortschritts ist die Nation zu einem Faktor der Zerstörung der bis dahin entwickelten, materiellen Voraussetzungen des Sozialismus geworden.

In deinem Brief listest du die Verbrechen Deutschlands, Italiens und Japans im Zweiten Weltkrieg auf, sozusagen als Beweis für die Fortschrittlichkeit des Antifaschismus. Du wirfst uns sogar vor, diese Verbrechen zu verschweigen. Jedoch vom Standpunkt des Marxismus können die Verbrechen der einen Seite eines imperialistischen Krieges niemals ausreichen, um die Fortschrittlichkeit der anderen Kriegsseite zu beweisen. Dies wurde bereits beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs deutlich. Führende Sozialdemokraten aller kriegsführenden Länder haben ihre Kriegsteilnahme mit der Barbarei der Gegenseite zu rechtfertigen versucht. Jedes Mal beriefen sie sich auf die Haltung von Marx und Engels gegenüber dem barbarischen Russland. Was sie dabei verschwiegen: Marx und Engels haben niemals behauptet, dass die von den modernen, demokratischen, bürgerlichen Nationen angewendeten Mittel – beispielsweise in den Kolonien – weniger barbarisch waren als die zaristisch-russischen. Die Barbarei, von der sie in Bezug auf Russland sprachen, war die feudale Barbarei, welche alle fortschrittlichen, bürgerlichen Bewegungen auf dem europäischen Festland bekämpfte.

Die Barbarei der Nazis beweist keineswegs die Fortschrittlichkeit des angloamerikanisch-sowjetischen Blocks im Zweiten Weltkrieg – genau so wenig wie sie die im Namen des Antifaschismus verübten Verbrechen aus der Welt schaffen kann. Wir meinen, dass gerade diese Frage die entscheidende Wichtigkeit des Konzepts von der Dekadenz des Kapitalismus unterstreicht. Die Ablehnung des Nationalismus ist ein Prinzip des Proletariats. Dass die Arbeiterbewegung dennoch bestimmte nationale Bewegungen gutheißen konnte, war eine Ausnahme, welche nur die Regel bestätigt – eine Ausnahme auf Grund der Tatsache, dass die materiellen Vorbedingungen der proletarischen Revolution noch nicht vorhanden waren. Dass diese Ausnahmephase, in der die Arbeiterklasse unter Umständen ihren  natürlichen Hauptfeind, die Bourgeoisie, gegen den Feudalismus unterstützen konnte, mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende ging, trifft aus unserer Sicht nicht nur für die Rolle des Nationalstaates und der ”nationalen Befreiung” zu, sondern auch was die Demokratie anbetrifft, ist eine Ausnahmephase zu Ende gegangen. Hat die Arbeiterklasse, der Totengräber der bürgerlichen Gesellschaft, in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus oft der revolutionären und ”liberalen” Bourgeoisie gegen das Mittelalter geholfen, so bestimmt nicht, weil diese demokratische Bourgeoisie weniger barbarische Mittel zum Einsatz bringen würde oder weniger rassistisch wäre (das Gegenteil ist viel eher der Fall, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts bestätigt hat), sondern weil die demokratische und parlamentarische Republik für eine freiere Entwicklung des Kapitalismus und damit für die Voraussetzungen des Sozialismus günstige Bedingungen schuf. Deshalb sind wir auch nicht damit einverstanden, wenn du den Antifaschismus zu den ”Ein-Punkt-Bewegungen” zählst. Wir lehnen die Ein-Punkt-Bewegungen ab, nicht weil ihre Zielsetzungen als solche falsch wären (die Beseitigung des Rassismus, des Sexismus, der Umweltzerstörung gehören selbstverständlich zu den Zielen des kämpfenden Proletariats), sondern weil diese Ziele nicht innerhalb des Kapitalismus, sondern nur durch seine revolutionäre Beseitigung erreicht werden können. Wir lehnen hingegen die Zielsetzung des Antifaschismus rundweg ab, die darin besteht, eine bestimmte Form der Kapitalherrschaft gegen eine andere zu verteidigen, da erstere angeblich menschlicher wäre oder zumindest ”das kleinere Übel” für die Arbeiterklasse darstelle. Die Geschichte zeigt, dass die Demokratie die stärkste Waffe der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse darstellt, und dass die Herrschenden diese Waffe erst bei Seite legen kann , wenn die Arbeiterklasse bereits geschlagen ist.

Wir sind aber der Ansicht, dass deine, aus unserer Sicht falsche Einschätzung des Zweiten Weltkrieges und des Antifaschismus nicht nur mit der Dekadenzfrage, sondern auch mit deiner Einschätzung der Rolle der Kommunistischen Linken in den 1930er Jahren zusammenhängt. Du deutest an, dass die Linkskommunisten, da sie ”Leuten die eine fortschrittliche Linie verfolgen dann die Solidarität mit der Begründung [entziehen …], dass sowieso nur die Sache der Konterrevolution vertreten wird” eine Haltung einnehmen, welche du als ”zynisch” und ”der Konterrevolution dienlich” bezeichnest. Denn du fügst direkt hinzu: ”Darin ist vielleicht auch ein Grund zu sehen, warum die ‘Fraktionen der kommunistischen Linken’ so sang- und klanglos in den 30ern ausgestorben sind. Das Proletariat brauchte damals keine Schwätzer und Schreiber.” 

Das Wirken der Fraktionen der Kommunistischen Linken

Das erste, was wir dazu anmerken wollen, ist, dass weder die Fraktionen der Kommunistischen Linken in den 30er Jahren, noch die IKS als die international wichtigste linkskommunistische Organisation der Gegenwart, Leuten ”die eine fortschrittliche Linie” verfolgt haben, die Solidarität entzogen haben. Die italienische Fraktion, auf dessen Verhaltenskodex und Organisationsverständnis die IKS sich beruft, nahm immer eine solidarische Haltung allen proletarischen Strömungen gegenüber ein, nicht nur gegenüber der deutsch-holländischen Linken (allen politischen Divergenzen zum Trotz), sondern auch beispielsweise gegenüber den Trotzkisten, welche sogar eine Zusammenarbeit mit der Konterrevolution, mit Stalinismus und Sozialdemokratie befürwortet haben. Nicht zuletzt auf Grund dieser solidarischen Haltung gelang es den Linkskommunisten, die besten Genossen im Lager der Trotzkisten für ihre internationalistische Haltung gegenüber dem 2. Weltkrieg zu gewinnen, während der Trotzkismus die Arbeiterklasse verraten hat. Was allerdings wahr ist: Die Linkskommunisten zählten bürgerliche Demokraten, Stalinisten, Sozialdemokraten (und auch nicht die CNT Anarchisten, welche 1937 in der Regierung saßen, welche auf kämpfende Arbeiter in Barcelona scharf schießen ließ) nicht zu denjenigen, welche eine ”fortschrittliche Linie” verfolgten. Wir auch nicht. Was meinst du dazu?

Zweitens stimmt es nicht, dass die Kommunistische Linke in den 30er Jahren ”sang- und klanglos” ausgestorben ist. Die Vertreter dieser Strömung in Italien und Frankreich, in Belgien oder in den Niederlanden, haben ihr Leben riskiert, und oft auch hingegeben, um den politischen Kampf gegen den imperialistischen Krieg während des zweiten Weltgemetzels weiterzuführen. Dabei taten sie im Prinzip nichts anderes, als Lenin oder Rosa Luxemburg gegenüber dem Ersten Weltkrieg: in Wort und Tat den proletarischen Internationalismus gegen alle kriegsführenden Seiten hochzuhalten. Sie setzten sich dafür ein, dass der Klassenkampf gegen den Krieg fortgeführt wird, dass die Proletarier in Uniform ihre Waffen, nicht gegen ihre Klassenbrüder und Schwester, sondern gegen ihre eigenen Offiziere richten, dass der imperialistische Krieg in einen Bürgerkrieg verwandelt wird. Du wirfst unserer Strömung vor, ”kurz vor Kriegsende ein zweites 1918 halluziniert” zu haben. Muss man im Nachhinein diese internationalistische Politik als falsch oder unnütz betrachten, da es nicht zum gewünschten Erfolg führte, da der Zweite, im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg nicht durch die Revolution beendet werden konnte? Die Internationalisten im Ersten Weltkrieg haben mehrere Jahre lang in großer Isolation gegen den Strom des Chauvinismus ankämpfen müssen, bevor die Masse der Arbeiter von der Richtigkeit dieser Politik überzeugt werden konnte. Die Internationalisten des Zweiten Weltkriegs mussten Jahrzehnte  bis 1968 darauf warten, bis zumindest ein Teil der Politisierten einer neuen, ungeschlagenen Generation der Arbeiterklasse von der Richtigkeit und der Unerlässlichkeit dieser internationalistischen Haltung überzeugt wurde. Heute, ca. weitere 30 Jahre später, beginnt sich der politisierteste Teil der jetzigen neuen Generation von diesem Internationalismus zu überzeugen – wobei dieser Prozess, wenn auch weniger spektakulär, so doch viel breiter und tiefer in der Klasse insgesamt verwurzelt zu sein verspricht als nach 1968. Ist das etwa kein Beweis für die Wirksamkeit proletarischer Politik? Wir meinen ja, es sei denn, man misst den Erfolg ausschließlich an den unmittelbaren Auswirkungen.

Aber du behauptest, dass die Internationalisten von damals ”Schwätzer und Schreiber” waren, die das Proletariat nicht brauchte. Diese Behauptung wird durch die geschichtlichen Tatsachen selbst am besten widerlegt. Zwei Beispiele. Erstens: Während im gesamten Verlauf des Zweiten Weltkriegs der westlich-”sowjetische” Block es systematisch unterließ, auch nur das Geringste zu unternehmen, um die Juden vor der Vernichtung zu bewahren, trat das niederländische Proletariat gegen die Deportationen in den Massenstreik, wobei die Internationalisten eine aktive, vorantreibende Rolle gespielt haben. Zweitens: Eines der berühmtesten politischen Manifeste des Zweiten Weltkrieges – Das Manifest von Buchenwald – wurde im KZ Buchenwald kurz vor der dortigen Erhebung  am Kriegsende von einem Genossen der österreichische RKD verfasst, welche sich auf Grund des politischen Einflusses der Französischen Kommunistischen Linken (die direkte Vorläuferin der IKS) von dem die internationalistischen Klassenprinzipien verratenden Trotzkismus gelöst hatten. 

Der spezifische Beitrag der Revolutionäre – die theoretische Arbeit

Wir finden, dass man die Hochhaltung des proletarischen Internationalismus nicht als ”Geschwätz” gering schätzen sollte. Bereits Friedrich Engels stellte fest, dass der proletarische Klassenkampf drei Hauptbestandteile hat. Neben dem ökonomischen und dem politischen Kampf nannte Engels den theoretischen Kampf als dritte Säule der Befreiung der Arbeit. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Revolutionäre sich entschlossen an den ökonomischen und politischen Kämpfen ihrer Klasse zu beteiligen haben. Ja, sie haben sich nach Möglichkeit an die Spitze dieser Kämpfe zu stellen. Jedoch ist der theoretische Kampf nicht nur ebenso wichtig wie die beiden anderen Dimensionen – es ist die  Ebene des theoretischen Kampfes, worin der spezifische Beitrag der Revolutionäre besteht und ausschlaggebend ist.

Die Arbeit der Revolutionäre besteht nicht nur darin, die vorwärtsstürmenden Massen voranzutreiben. Da – um mit Marx zu sprechen – die herrschende Ideologie in der Regel die Ideologie der herrschenden Klasse ist, besteht sogar die Hauptaufgabe der Revolutionäre über weite Strecken darin, gegen den Strom zu schwimmen. So nannten Lenin und Sinoview ihre während des 1. Weltkriegs in der Schweiz herausgegebene Zeitschrift ”Gegen den Strom”. Wir sprachen vorhin davon, wie die Internationalisten im Zweiten Weltkrieg ihr Leben riskierten, um den Prinzipien ihrer Klasse treu zu bleiben. Nun, nicht nur die Revolutionäre, sondern Millionen von Soldaten haben damals, während des ersten wie des zweiten imperialistischen Gemetzels ihr Leben aufs Spiel gesetzt bzw. setzen müssen. Worin bestand der besondere Mut der Internationalisten? Er bestand darin, Risiken auf sich zu nehmen für eine Sache, welche von der offiziellen Gesellschaft – und manchmal sogar, zumindest vorübergehend, von einer Mehrheit der Bevölkerung – gehasst, verfolgt und verleumdet wird. Marx spricht von Augenblicken in der Geschichte, wo große umstürzlerische revolutionäre Ideen von der Masse Besitz ergreifen. Besteht die vornehmste Aufgabe der Kommunisten nicht darin, sich und die Klasse auf diesen Umsturz vorzubereiten, indem sie diese Ideen hochhalten und in der Klasse verbreiten? Eine große Revolution kann nicht gemacht werden auf Grund von reaktionären oder halbherzigen Prinzipien. Nur Ideen, welche zutiefst dem Wesen und den Klasseninteressen des Proletariats entsprechen, können die lohnabhängige Bevölkerung mit Macht ergreifen. Hierin liegt aus unserer Sicht die große Gefahr des Aktivismus. Damit meinen wir eine Herangehensweise, welche v.a. auf den unmittelbaren Erfolg bzw. die unmittelbare Einflussnahme abzielt auf Kosten der langfristigen Ziele. Bereits Bernstein, der bekannteste Sprecher des Opportunismus und ”Revisionismus” innerhalb der deutschen Sozialdemokratie am Ende des 19. Jahrhunderts erklärte: ”Die Bewegung ist alles. Das Ziel ist nichts.” Für den revolutionären Marxismus hingegen müssen Ziel und Mittel übereinstimmen. Deswegen erscheint es uns so gefährlich, Genossen, welche inmitten der tiefsten Konterrevolution in der Geschichte des Proletariats Klassenprinzipien verteidigt haben, als ”Schwätzer” zu bezeichnen.

Wir wissen, dass wir nicht alle Punkte deines Briefes hiermit angesprochen und beantwortet haben (beispielsweise unseren Umgang mit der so genannten ”internen Fraktion der IKS). Andere wichtige Aspekte, etwa die Dekadenztheorie, haben wir hier nur kurz angeschnitten. Wir halten aber nichts davon, alles in einen Brief zu stopfen. Wir hoffen vielmehr auf die Entwicklung einer lebhaften Korrespondenz mit dir.

Mit kommunistischen Grüßen die IKS.            August 2005

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Antifaschismus/-rassismus [10]

Historische Ereignisse: 

  • Zweiter Weltkrieg [11]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [12]

Produktionsverlagerungen - Die Gesetze der kapitalistischen Ausbeutung

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Die Produktionsverlagerungen werden von der bürgerlichen Propaganda bei jeder Gelegenheit benutzt, so dass dadurch nicht nur die anderen Angriffe, die auf die Arbeiterklasse niederprasseln, verdrängt werden, sondern diese werden auch durch die Produktionsverlagerungen begründet. Antiglobalisierer, die Vertreter der Extremen Linken und die Linksparteien stehen an vorderster Stelle, um den ‚Neoliberalismus’ von geierhaften Arbeitgebern und dividendenhungrigen Aktionären zu kritisieren, die in Anbetracht verschiedener Optionen für “eine bessere Welt” die schlechteste gewählt hätten. Wir wollen dagegen in diesem Artikel aufzeigen, dass die Arbeitsplatzverlagerungen auf die eigentlichen Gesetze des Kapitalismus selbst zurückzuführen sind.

Im Gegensatz zu den Spinnereien der Antiglobalisierer “gegen die Verwandlung der Welt zu Waren” steht fest, dass Warenbeziehungen alle gesellschaftlichen und menschlichen Beziehungen der Gesellschaft seit der Entstehung des Kapitalismus beherrschen. In der kapitalistischen Gesellschaft stellen die Herstellung und der Verkauf einer Ware das einzige Mittel dar, einen Teil der produzierten Güter zu erhalten, wenn man nicht völlig ohne Subsistenzmittel dastehen möchte. Diejenigen, die über überhaupt keine Produktionsmittel verfügen, nämlich die Arbeiter, und die damit nicht in der Lage sind, mit ihren Mitteln Waren herzustellen, können auf dem Markt nur eine einzige, besondere Ware anbieten: ihre Arbeitskraft.

Die kapitalistische Ausbeutung der Arbeitskraft

Wie bei jeder anderen Ware spiegelt sich der Wert der Arbeitskraft auf dem Markt im Preis, im  Lohn wieder. Die Ware Arbeitskraft unterscheidet sich überhaupt nicht von den anderen am Markt erhältlichen Waren, außer dass sie mit ihrem Verkäufer, dem Arbeiter, untrennbar verbunden ist, und dass es für diese Ware unhaltbar ist, zu lange auf einen Käufer  zu warten, da sie mit ihrem Träger, dem Arbeiter, sonst wegen Ermangelung von Lebensmitteln zum Untergang verdammt ist.
Die Arbeitskraft stellt für den kapitalistischen Käufer, den Bourgeois, der die Ware verbraucht, die Quelle seines Profits dar. Wenn der Industriekapitalist den von ihm eingestellten Beschäftigten nur für die Zeit arbeiten ließe, die dem Arbeiter reicht, um den Lohnanteil zu produzieren, den er bezahlt bekommt, würde der Unternehmer keinen Gewinn erzielen. Der Arbeiter muss zusätzlich zu dieser Zeit arbeiten. Die Arbeitszeit eines jeden Arbeiters zerfällt – ohne dass der Beschäftigte sich dessen bewusst ist – in zwei Bestandteile: einen bezahlten Teil, in dem der Arbeiter nur den Wert seines Lohns erarbeitet, und einen unbezahlten Teil, in dem er kostenlos arbeitet oder für den Kapitalisten, welcher sich die gesamte Produktion aneignet,  Mehrarbeit leistet. Die Lage der Arbeiter kommt durch die Unsicherheit ihrer Existenz zum Ausdruck:
“Der Proletarier ist hülflos; er kann für sich selbst nicht einen einzigen Tag leben. Die Bourgeoisie hat sich das Monopol aller Lebensmittel im weitesten Sinne des Worts angemaßt. Was der Proletarier braucht, kann er nur von dieser Bourgeoisie, die durch die Staatsgewalt in ihrem Monopol geschützt wird, erhalten. Der Proletarier ist also rechtlich und tatsächlich der Sklave der Bourgeoisie; sie kann über sein Leben und seinen Tod verfügen. Sie bietet ihm ihre Lebensmittel an, aber für ein »Äquivalent«, für seine Arbeit; sie läßt ihm sogar noch den Schein, als ob er aus freiem Willen handelte, mit freier, zwangloser Einwilligung, als mündiger Mensch einen Vertrag mit ihr abschlösse. Schöne Freiheit, wo dem Proletarier keine andere Wahl bleibt, als die Bedingungen, die ihm die Bourgeoisie stellt, zu unterschreiben.” [Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, S. 180. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 10441 (vgl. MEW Bd. 2, S. 307)]
Im Kapitalismus kennt das Verlangen nach Ausbeutung der Mehrarbeit kenne Grenzen: Je mehr der Kapitalismus aus der unbezahlten Arbeit der Arbeiter herauspresst, desto besser für ihn. Grenzenlos Mehrwert herauszupressen, sind das Ziel und die Rolle des Kaufs der Ware Arbeitskraft durch den Kapitalisten. “...so bleibt doch auch der industrielle Kapitalist im Grunde ein Kaufmann. Seine Tätigkeit als Kapitalist (...) beschränkt sich wie die des Handelsmannes auf den Markt. Seine Aufgabe ist es, die nötigen Rohstoffe, Hilfsstoffe, Arbeitskräfte usw. so zweckentsprechend und billig als möglich zu kaufen und die in seinem Unternehmen fertiggestellten Waren so teuer als möglich zu verkaufen. Auf dem Gebiete der Produktion hat er nichts zu tun, als dafür zu sorgen, dass die Arbeiter für möglichst kleinen Lohn möglichst viel Arbeit leisten, dass ihnen möglichst viel Mehrwert ausgepresst wird.” (K.Kautsky, Erfurter Programm, II, Das Proletariat, 1. Proletarier und Handwerksgeselle)
Diese Ausbeutung wird nur durch die Erschöpfung des Ausgebeuteten und die Widerstandsfähigkeit der Arbeiterklasse gegen die Ausbeuter begrenzt. Um den Anteil der kostenlosen Arbeit zu erhöhen, durch die der Proletarier dem Kapitalismus seinen Mehrwert liefert, verfügt das Kapital über verschiedene Mittel: Die Intensivierung des Arbeitsrhythmus während der Arbeit und die Senkung der Löhne; selbst wenn nur ein Mindestlohn bezahlt wird, der für das einfache Überleben des Arbeiters bezahlt wird.
Wie jede Ware unterliegt die Arbeitskraft der Konkurrenz und den Schwankungen des kapitalistischen Marktes:
“Und wenn mehr Arbeiter da sind, als die Bourgeoisie zu beschäftigen für gut hält, wenn also am Ende des Konkurrenzkampfs doch noch eine Zahl übrigbleibt, die keine Arbeit findet, so muß diese Zahl eben verhungern; denn der Bourgeois wird ihnen doch wahrscheinlich keine Arbeit geben, wenn er die Produkte ihrer Arbeit nicht mit Nutzen verkaufen kann.” [Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, S. 182. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 10443 (vgl. MEW Bd. 2, S. 308)]
“Die Konkurrenz ist der vollkommenste Ausdruck des in der modernen bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Kriegs Aller gegen Alle. Dieser Krieg, ein Krieg um das Leben, um die Existenz, um alles, also auch im Notfalle ein Krieg auf Leben und Tod, besteht nicht nur zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft, sondern auch zwischen den einzelnen Mitgliedern dieser Klassen; jeder ist dem andern im Wege, und jeder sucht daher auch alle, die ihm im Wege sind, zu verdrängen und sich an ihre Stelle zu setzen. Die Arbeiter konkurrieren unter sich, wie die Bourgeois unter sich konkurrieren.”
Dabei konkurrieren Arbeitslose und Beschäftigte, einheimische und zugewanderte Arbeiter miteinander.
Diese Konkurrenz der Arbeiter gegeneinander ist aber die schlimmste Seite der jetzigen Verhältnisse für den Arbeiter, die schärfste Waffe gegen das Proletariat in den Händen der Bourgeoisie.” [Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, S. 179. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 10440 (vgl. MEW Bd. 2, S. 306-307)]

Die Arbeitsplatzverlagerungen – ein Ergebnis der kapitalistischen Konkurrenz

Die Verlagerung von Produktionsstandorten von den Industriestaaten in Niedriglohnländer spiegelt das kapitalistische Gesetz der Suche nach einem Höchstprofit wider. Unter dem Druck der wilden Konkurrenz unter den großen kapitalistischen Industriestaaten um immer mehr begrenzte Märkte stellen die Durchschnittsstundenlöhne von 18€ in Spanien, 4 € in Polen und der Tschechischen Republik, 2€ in Brasilien und Mexiko, 1 € in Rumänien, 0,7€ in Indien oder in China gegen 23€ in Westeuropa oder den USA eine reichhaltige Fundgrube für den Kapitalismus, dieses Vampirs der Arbeitskraft, dar.

Vom 19. Jahrhundert an hat die Bourgeoisie nie gezögert, wenn immer die Produktionstechniken es ermöglichten, Arbeitsplätze zu vernichten, zum Beispiel die des Webers, um an anderen Orten der Erde billigere oder leichter auszubeutenden Arbeitskräfte  zu suchen.
Selbst wenn die Arbeitsplatzverlagerungen für die Arbeiterklasse nichts Neues, sondern ein altes und internationales Phänomen sind, das in allen Ländern anzutreffen ist, hat dieses Phänomen seit den 1990er Jahren unter dem Druck der seit mehr als drei Jahrzehnten dauernden Wirtschaftskrise an Schärfe zugenommen. In einigen Wirtschaftsbereichen, in denen die Lohnkosten einen Großteil der Gesamtproduktionskosten darstellen, hat die Verlagerung von den Industriestaaten in Billiglohnländer “längst stattgefunden” (5).
In der Autobranche zum Beispiel haben die Hersteller seit Jahren Arbeitsplätze verlagert. So produziert zum Beispiel Renault das Modell R12 seit 1968 in Rumänien. “Seit den 1970er Jahren hat Renault wie auch Peugeot die Zahl seiner Werke in Brasilien, Mexiko, Argentinien, Kolumbien, der Türkei erhöht. (…) Nach den Umstrukturierungen der 1980er Jahre stürzte sich Renault in den Kauf von Samsung in Südkorea und 1999 von Dacia in Rumänien” (6). Die Bourgeoisie hat übrigens nicht erst den Zusammenbruch der stalinistischen Regime und das Ende einer angeblichen “sozialistischen Wirtschaft” abgewartet, damit die Staaten des ehemaligen westlichen Blocks in den ehemaligen Ostblockstaaten investieren und dorthin Arbeitsplätze verlagern.
Während alle Bereiche der kapitalistischen Produktion durch die Arbeitsplatzverlagerungen betroffen sind, wird jedoch nicht die gesamte Produktion verlagert, wie auch die Propaganda der Bourgeoisie verlautbaren lässt. “Die Teile der Industrie, die von den Arbeitsplatzverlagerungen betroffen sind, sind zahlreich: Leder, Textil, Bekleidung, Metall, Elektrohaushaltsgeräte, Fahrzeugbau, Elektronik… Aber auch der Dienstleistungsbereich wird davon erfasst: Telefonzentralen, Informatik, Buchhaltung… Tatsächlich steht jede Massenproduktion und jede sich wiederholende Tätigkeit zur Disposition und gerät auf die Liste der möglichen Verlagerung in Billiglohnländer” (7). Der starke Rückgang der Transportkosten in den 1990er Jahren (ein Rückgang um 45% bei den Transporten per Schiff, um 35% bei der Luftfracht zwischen 1985-1993) hat den Nachteil der großen Entfernung zwischen Produktionsstätten und Märkten noch schrumpfen lassen.

Die Ausbeutung der in den Hightech-Bereichen Beschäftigten, die in den westlichen Industriestaaten als zu teuer gilt, mittels Niedriglöhne wird überall geradezu frenetisch betrieben; gleichzeitig will man damit die hohen Ausbildungskosten umgehen, da die Arbeitskräfte vor Ort kostengünstig ausgebildet wurden. In China errichten immer mehr westliche staatliche und private Unternehmen, “vor Ort Forschungszentren wie z.B. France Telecom in Kanton im Juni 2004, um von den fantastisch niedrigen Lohnkosten für die Wissenschaftler in den chinesischen Labors zu profitieren” (9). Indien ist innerhalb weniger Jahre ebenso eine Softwareschmiede geworden.
Gleichzeitig werden die Arbeitsplatzverlagerungen dazu ausgenutzt, um die unproduktiven Kosten der Großunternehmen um 40-60% zu senken. “Alles, was irgendwie aus der Ferne erledigt oder per Telefon oder Satellit übermittelt werden kann, gilt als ‚verlagerungsfähig’”. So kann man im Falle Indiens davon sprechen, dass das Land zum Hinterhof ‚amerikanischer und britischer Firmen’ wird (5).
Bei dem mörderischen Konkurrenzkampf, in dem die Nationen stehen, begrenzen die entwickelten Staaten ausdrücklich die Verlagerung gewisser Tätigkeitsfelder ins Ausland. Im Lande über gewisse Industrien mit militärischer Bedeutung zu verfügen, mit Hilfe derer man mit gleichrangigen Nationen rivalisieren kann, ist eine strategische Notwendigkeit und auf imperialistischer Ebene eine Überlebensfrage. Es ist allgemein auf wirtschaftlicher Ebene unabdingbar, dass zentrale Produktionsteile verschiedener wichtiger Schlüsselbereiche im Land verbleiben, weil man solche Trümpfe gegenüber der Konkurrenz nicht aus der Hand geben will. (…) (6).
Die Zahl der Länder, wohin Arbeitsplätze verlagert werden, ist begrenzt. “Indien, der Maghreb, die Türkei, die Länder Mittel- und Osteuropas, Asien (insbesondere China)” (7). Während jedes nationale Kapital sein bevorzugtes Investitionsgebiet besitzt, entspricht dies jeweils den gleichen zwingenden Kriterien. Diese Länder müssen nicht nur über eine gewisse innere Stabilität verfügen, was für immer weniger Länder zutrifft, weil viele Gebiete der Erde heute durch Kriege verwüstet werden. Aber sie müssen ebenso über eine ausreichende Infrastruktur und Arbeitskräfte verfügen, die an die die kapitalistische Ausbeutung gewöhnt und relativ gut ausgebildet sind. In den meisten “Empfängerländern” gab es eine industrielle Vergangenheit (Osteuropa) oder einen Anschein von Industrialisierung. An den afrikanischen Ländern der Subsahara sind die Arbeitsplatzverlagerungen bislang vorbeigegangen.

Die ausweglose Überproduktionskrise

Die Definition der Arbeitsplatzverlagerungen als “die Verlagerung einer bestehenden Wirtschaftstätigkeit ins Ausland (z.B. nach Frankreich), dessen Produktion anschließend wieder nach Frankreich eingeführt wird”, (8) liefert uns einen Teil des Geheimnisses der großartigen Zahlen, die uns von der Bourgeoisie zu den angeblichen Wirtschaftswundern Chinas und Indiens geliefert werden. Wenn man die Gesamtheit der Weltproduktion zusammenfasst, stellen die Arbeitsplatzverlagerungen eine Nullsumme dar. Während es auf der einen Seite sehr wohl zur Schaffung eines Industriezentrums kommt, das vorher nicht existierte, kann man keinesfalls von Entwicklung oder dem neuen Aufstieg der kapitalistischen Produktion reden, da die Schaffung einer vorher nicht vorhandenen Aktivität in einem “Empfängerland” direkt verbunden ist mit der Deindustrialisierung und der Stagnation der am meisten fortgeschrittenen Länder.
Jahrzehntelang sind in diesen Ländern die Investitionen ausgeblieben  für die umfangreiche Anschaffung einer modernen Technologie, die eine Vorbedingung ist für die Entwicklung der Konkurrenzfähigkeit der höher entwickelten Staaten und um Zugang zu haben zu einem Niveau der Industrialisierung, das diesen Namen verdient, selbst mit einer billigen Arbeitskraft. Ihre Unterentwicklung und das Bestreben, dass diese Staaten in diesem Zustand verharren, sind sogar heute eine der Bedingungen für die Ausbeutung der Arbeiterklasse vor Ort durch fremde Kapitalisten.
Fehlende Perspektiven für die Verbesserung der Lebensbedingungen des Proletariats in den Ländern, wohin die Arbeitsplätze verlagert werden, sowie die weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit in den westlichen Industriestaaten, in denen der Großteil der verlagerten Produktion verkauft wird, verhindern jedoch die weitere Expansion des Kapitalismus, sondern bewirken eine Zuspitzung der Überproduktionskrise.

Die Arbeitsplatzverlagerungen stellen als solche nicht die Ursache der Arbeitslosigkeit und der Absenkung des Lebensstandards der Arbeiterklasse. Sie stellen nur eine Form der Angriffe dar, unter denen das Proletariat leidet; aber sie alle besitzen die gleichen Wurzeln: Die Wirtschaftsgesetze des kapitalistischen Systems, die sich jeder Nation und jedem Unternehmer aufzwingen, und die die kapitalistische Welt in eine ausweglose Überproduktionskrise stürzen.
Um den von der Arbeiterklasse produzierten und in den Waren vergegenständlichten Mehrwert zu realisieren, muss der Kapitalist aber die Waren auf dem Markt verkaufen.
Die kapitalistischen Überproduktionskrisen, die die Geißeln des kapitalistischen Systems sind, sind immer verwurzelt in der Unterkonsumption der Massen, vor der die Arbeiterklasse infolge des kapitalistischen Ausbeutungssystems der Lohnarbeit steht, welche den Teil der gesellschaftlichen Produktion, der dem Proletariat zuzuordnen ist, ständig reduziert. Der Kapitalismus muss einen Teil seiner zahlungsfähigen Käufer außerhalb des Bereichs der Leute finden, die dem Verhältnis Arbeit-Kapital unterworfen sind.
Weil es zuvor im inneren Markt große Teile der vorkapitalistischen Produktion gab (handwerklich und vor allem bäuerlich), die relativ wohlhabend waren, bildeten diese den unabdingbaren Nährboden für das kapitalistische Wachstum.
Die außerkapitalistischen Kolonialmärkte, die seinerzeit erobert wurden, stellten auf Weltebene eine Möglichkeit dar, den Überschuss der in den Industrieländern produzierten Waren abzusetzen. Seitdem der Kapitalismus seit Beginn des 20. Jahrhunderts den gesamten Erdball seinen Wirtschaftsbeziehungen unterworfen hat, sind die historischen Bedingungen nicht mehr vorhanden, die ihm zuvor ermöglicht hatten, mit seinen Widersprüchen fertig zu werden.
Seitdem ist er unwiderruflich in seine Niedergangsphase eingetreten, die die Menschheit in immer mehr Kriege, in immer tiefere Erschütterungen der Krise und in allgemeine Verarmung stürzt mit der Gefahr, dass die Menschheit ganz einfach ausgelöscht wird.  Scott

(1)    Engels, Die Lage der Arbeiterklasse in England, MEW 2, S.
(2)    K. Kautsky, Das Erfurter Programm, Das Proletariat,
(3)    Engels, ebenda, S.
(4)    Engels, ebenda, S.
(5)    Noethics.fr 10.01.2001
(6)    L’Expansion, 27.01.2004
(7)    Vie publique.fr 12.01.2004
(8)    Le Monde.fr 27.06.2004

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [6]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [13]

SPD -Bester Verteidiger des Kapitalismus

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Die derzeitige Änderung der wirtschaftlichen Großwetterlage und der gesellschaftlichen Stimmung in den wichtigsten Industriestaaten zeigt sich exemplarisch anhand der öffentlichen Kapriolen der neuen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im Wahlkampf trat sie auf als radikale Reformerin, gewillt, eine Art neoliberale Revolution durchzuführen. Wie einst Ludwig Erhardt mit seiner damals umstrittenen Währungsreform von 1948 wollte sie dem Land bittere Medizin verordnen und versprach, mittels der “Entfesselung der Marktkräfte” und der Wiederherstellung des Vertrauens in den Standort Deutschland ein neues “Wirtschaftswunder”. Nach der Wahl hingegen präsentiert sich nun die neue Bundeskanzlerin als Anführerin einer Großen Koalition, welche unter dem Motto “Mut und Menschlichkeit” durch “schmerzliche, aber ausgewogene” Einschnitte Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangen und damit den “deutschen Sozialstaat bewahren” möchte. Der zwischen Union und SPD ausgehandelte Koalitionsvertrag – weit entfernt, einem wie auch immer gearteten neoliberalen Manifest zu ähneln – zeigt keinerlei Berührungsängste mit den Schlagwörtern und Forderungen der linksextremen Globalisierungsgegner. So werden die jährlich 7,5 Milliarden an öffentlichen Investitionen, welche das Regierungsprogramm vorsieht, propagandistisch über vier Jahre addiert und als “milliardenschweres Investitionsprogramm” der Öffentlichkeit vorgestellt. Dabei sind diese staatlichen Investitionen im Verhältnis zur vorgesehenen Neuverschuldung so niedrig, dass damit der für 2006 vorgestellte Staatsetat als nicht verfassungskonform gilt. Auch andere Worthülsen der Globalisierungsgegner finden sich im Programm der Regierung Merkel wieder, wie etwa die Forderung nach internationaler Kontrolle der Finanzmärkte, insbesondere der “Hedge Fonds” als Symbole des “wildwuchernden Kapitalismus”.
Als sie am 11.11.2005 ihr Regierungsprogramm vorstellte, gab sich Merkel nicht mehr als Vertreterin einer radikalen Schocktherapie, sondern als (trotz zu erhebender Praxisgebühr) fürsorgliche Hausärztin. Die Tatsache, dass die vorgesehene Erhöhung der Mehrwertsteuer erst ab 2007 eingeführt werden soll, erklärte sie mit der Notwendigkeit, “den Patienten” auf die notwendig gewordene “Operation” erst vorzubereiten. Als ob um zu beweisen, dass die neue Sprache des “sozialen Ausgleichs” ihr nicht bloß durch ihren neuen, sozialdemokratischen Koalitionspartner aufgezwungen wurde, nutzte Merkel die Gelegenheit, um einen Frontalangriff gegen die Arbeitgeberverbände zu lancieren. Die sollten – so Merkel – ihr eigenes Haus in Ordnung bringen, anstatt sich in die Politik einzumischen.
Was steckt hinter diesem offenkundig gewordenen politischen Stilwechsel? Es liegt auf der Hand, dass das verheerende Abschneiden der Union bei der Bundestagswahl vom 18. September ausschlaggebend war. Merkel und ihre Berater haben mit ihrem “Mut zur Wahrheit” – Wahlkampf und ihrer Ankündigung einer neoliberalen Revolution die Stimmung im Lande völlig falsch eingeschätzt. Selbst viele Stammwähler der Christdemokraten wurden dadurch abgeschreckt. Offensichtlich war die dadurch erlittene Wahlschlappe notwendig (die Union lag mit 36% der abgegebenen Wahlstimmen nur ein Prozentpunkt vor der nach sieben Jahren an der Regierung sehr unbeliebt gewordenen SPD), um Merkel die Augen dafür zu öffnen, dass in Anbetracht des Ausmaßes der Wirtschaftskrise immer breitere Teile der Bevölkerung von einer tiefsitzenden Angst vor der Zukunft erfasst worden sind.

Die Sozialdemokratie leitet eine politische Akzentverschiebung ein

Dennoch sind die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, welche zu dem unerwarteten Ergebnis einer Großen Koalition in Deutschland geführt haben, keinesfalls das Ergebnis der Bundestagswahl von September 2005. Die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die politischen Parteien der herrschenden Klasse und ihr Auftreten nach Außen beschränken sich auch nicht auf Merkel und die Union. Die Änderung in der politischen Sprache der Spitzenvertreter des Staates begann bereits vor der Wahl und erfasste zuallererst die Reihen der Sozialdemokratie.
Zu Erinnerung: als vor sieben Jahren Rot-Grün die Regierung Kohl ablöste, gewann die SPD – damals noch unter dem Parteivorsitzenden Lafontaine – die Wahl mit einem eher links angehauchten, leicht “keynesianistisch” anmutenden Regierungsprogramm. Kurz danach jedoch verjagte der neue Bundeskanzler Schröder seinen Rivalen Lafontaine und leitete einen propagandistischen Kurswechsel ein, indem er die Arbeit seiner Regierung ins Licht eines “moderaten Neoliberalismus” stellte. Um diese Korrektur zu verstehen, ist es notwendig, sich vor Augen zu halten, dass die deutsche Sozialdemokratie Ende der 90er Jahre unter etwas anderen Vorzeichen die Regierungsverantwortung übernahm als etwa “New Labour” in Großbritannien. Während in England die “Entschlackung” des Staates mittels Privatisierungen und radikalem Abbau von Sozialleistungen bereits von Tony Blairs konservativer Vorgängerin Thatcher in Angriff genommen wurde, wurde diese Aufgabe in Deutschland aufgrund der Wiedervereinigung erst mit Verspätung angegangen. Sie wurde erst unter Rot-Grün konsequent angepackt. Dieser Vorgang machte die vorsichtige Übernahme der Sprache des “Neoliberalismus” erforderlich, um beispielsweise die “Agenda 2010” zu rechtfertigen. Es ging darum die Illusion anzufachen, dass es möglich wäre, die Staatsverschuldung und die Massenarbeitslosigkeit durch die Reduzierung der “Staatsquote” (also den Anteil der öffentlichen Hand am Wirtschaftsleben) zu drücken.
Als nach der verheerenden Niederlage der SPD bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen in März 2005 Schröder sich dazu entschloss, die für den Herbst 2006 vorgesehene Bundestagswahl um ein Jahr vorzuziehen, steckte hinter dieser Entscheidung bereits die Erkenntnis, dass angesichts der auf schwindelerregender Höhe verharrenden Staatsverschuldung und Massenarbeitslosigkeit die Glaubwürdigkeit der neoliberalen Versprechungen dahinschmelzen würde. Dabei hatte Schröder nicht nur die enormen wirtschaftlichen Probleme im eigenen Land vor Augen, sondern ebenfalls die Tatsache, dass die für die angeblichen Erfolge des neoliberalen Kurses als Modell dienenden Länder wie die USA, Großbritannien oder die nordischen Staaten ebenfalls immer offensichtlicher zu straucheln begannen.
Die gesamte herrschende Klasse Deutschlands begrüßte einhellig das Vorziehen der Bundestagswahl. Sie begrüßte dies nicht nur, weil der Wahlzirkel zumindest vorläufig das beste Mittel ist, um dem Nachdenken der Arbeiterklasse über die Wirklichkeit und die Perspektive der bürgerlichen Gesellschaft entgegenzutreten. Darüber hinaus setzte die Bourgeoisie auf einen Regierungswechsel, um der Bevölkerung weiszumachen, nicht das kapitalistische System, sondern die amtierende Regierung sei schuld an der wirtschaftlichen Misere, insbesondere an der Massenarbeitslosigkeit. Gerade jetzt, wo der kapitalistisch nicht lösbare Charakter der Wirtschaftskrise sichtbarer zu werden droht, gehört es zu den obersten Prioritäten der herrschende Klasse, sich selbst gegenüber, vor allem aber der Arbeiterklasse gegenüber den historischen Bankrott des Systems zu verhüllen.
Innerhalb der deutschen Sozialdemokratie jedoch wurden bereits weiterreichende Schlussfolgerungen aus der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung gezogen. Dort ging die Entscheidung zu Neuwahlen mit einer politischen Kursänderung einher. Die beiden wichtigsten Ausdrücke dieser Kursänderung waren:
- die Entscheidung Lafontaines, die Partei zu verlassen und eine gesamtdeutsche, auf den Thesen der linken Globalisierungsgegner eingeschworene politische Kraft aus der Taufe zu heben
- die Entscheidung Schröders, den Wahlkampf zu nutzen, um den neo-liberalen Sprachgebrauch abzuschütteln.
Es gibt guten Grund zu der Annahme, dass nicht alle bedeutenden Gruppierungen der deutschen Bourgeoisie sofort die volle Tragweite dieser Änderungen erfassten. Es ist auch offenkundig, dass einflussreiche Fraktionen der herrschenden Klasse zunächst auf eine Ablösung von Rot-Grün durch eine konservative, schwarz-gelbe (aus CDU/CSU und FDP) bestehende Koalition setzten, um die Aufbruchswirkung einer neuen Regierung zu verstärken, und um der Sozialdemokratie eine Erholungspause in der Opposition zu gönnen. Aber gerade die Ungeschicktheit Merkels sowie ihre neoliberalen Exzesse im Wahlkampf haben das ihre getan, um der deutschen Bourgeoisie klarzumachen, dass eine solche Regierung angesichts von steigendem Unmut und einem vertieften Nachdenken innerhalb der Bevölkerung dazu führen könnte, eine Radikalisierung der Arbeiterklasse eher weiter zu provozieren als dieser entgegenzuwirken.

Die “soziale Frage” rückt wieder in den Mittelpunkt

Es handelt sich bei dieser, von der Sozialdemokratie eingeleiteten Akzentverschiebung keineswegs um eine Änderung der Wirtschaftspolitik. In der heutigen Zeit ist die Wirtschaftspolitik im wesentlichen von der Tiefe der kapitalistischen Krise vorbestimmt. Einerseits ist auch der fanatischste Anhänger des neoliberalen Credos in der Praxis gezwungen, auf die Macht des kapitalistischen Staates zu setzen, um die Wirtschaft vor der Gefahr plötzlicher Einbrüche zu schützen. Andererseits ist ohnehin kein Geld mehr vorhanden, um beispielsweise ein klassisch “keynesianisches” staatliches Konjunkturprogramm zu finanzieren.
Es geht vielmehr um eine Modifizierung des politischen Stils. Da das neoliberale Licht am Ende des Tunnels nicht mehr glaubwürdig erscheint, muss die Bourgeoisie andere Argumente anführen, um die Angriffe gegen die Arbeiterklasse zu rechtfertigen. So verteidigt heute die Große Koalition die faktischen Rentenkürzungen mit der Notwendigkeit der Entlastung der jungen Generation; die Einschränkung der Pendlerpauschale und die Abschaffung der Eigenheimzulage mit der Vordringlichkeit der Förderung von Bildung; die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die neuen Einschnitte bei der Arbeitslosenunterstützung mit der beabsichtigten Senkung der Lohnnebenkosten. Letztendlich soll alles der “Rettung des Sozialstaates” dienen, indem sein Unterhalt “erwirtschaftet” wird. Es ist die Neuauflage des alten Märchens, demzufolge der Unternehmer investiert, um Arbeitsplätze zu schaffen.
Es geht außerdem keineswegs darum, das Ausmaß der Angriffe zu drosseln, sondern darum, ein verfeinertes Fingerspitzengefühl bei der Durchsetzung dieser Angriffe zu entwickeln. Bezeichnend hierfür ist die Art und Weise, wie die neue Regierung bereits auf die ersten Anzeichen der Empörung gegenüber den angekündigten Angriffen reagiert. Angesichts des Unmuts gegenüber dem Vorhaben, die Arbeitszeit der Staatsbeschäftigten zu verlängern und ihr Jahreseinkommen um bis zu 4% zu kürzen, stellte die Regierung fest, dass zwar an dem “Einsparziel” von 1 Mia. Euro nicht zu rütteln sei, dass aber die Frage, wie diese Opfer zu vollbringen seien, und wen es am meisten treffen solle, durchaus Gegenstand von ausgiebigen “Verhandlungen” und “Dialoge” sein sollte.

Da die Merkels und Westerwelles im konservativen Lager über ein solches Fingerspitzengefühl nicht verfügen, hat die deutsche Bourgeoisie eingesehen, dass eine Große Koalition unter den gegebenen Bedingungen die beste Ablösung der alten, in der Bekämpfung der Wirtschaftskrise offensichtlich gescheiterten rot-grünen Koalition bietet. Und zwar eine große Koalition, wo die Sozialdemokraten “auf Augenhöhe” mitregieren d.h. die Regierungspolitik und ihre Akzentsetzungen im Wesentlichen bestimmen. Dass der schwergewichtige Parteichef der bayrischen CSU Stoiber doch nicht der neuen Regierung beigetreten ist, passt zu diesem Bild, indem das relative Gewicht der SPD innerhalb der Koalition dadurch erhöht wird.

Die Sozialdemokratie als Speerspitze der Verteidigung des Kapitalismus

Dass die deutsche Bourgeoisie den politischen Vorgaben der Sozialdemokratie gefolgt sind, widerlegt abermals die alte aber weitverbreitete Vorstellung, derzufolge die Wirtschaftsverbände einseitig die Politik des Staates festlegen. Die letzten Wochen und Monate haben vielmehr unter Beweis gestellt, dass in der heutigen Zeit die Sozialdemokratie die politisch ausschlaggebende Kraft des deutschen Staates darstellt. Die Sozialdemokratie hat als erstes erkannt, dass das Zeitalter des starken Wiederauflebens der Illusionen in das kapitalistische System, welches mit dem Mauerfall von 1989 anbrach, zu Ende geht. Die Sozialdemokratie hat als erste daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass heute die “soziale Frage” wieder Dreh- und Angelpunkt der Politik geworden ist. Inzwischen scheint selbst Angela Merkel in dieser Frage ein Licht aufgegangen zu sein.
Die SPD bleibt angesichts dieser Lage in die Regierungsverantwortung eingebunden, um angesichts einer langsam explosiver werdenden Situation möglichst zu vermeiden, die Arbeiterklasse mehr als nötig zu provozieren. (1) Das Wiedererlangen der eigenen Klassenidentität durch das Proletariat soll dadurch  - so viel es geht  - hinausgeschoben werden. Die linken Sozialdemokraten um Lafontaine wiederum – im Bündnis mit den Altstalinisten in der neuen Linkspartei – sollen mit ihren radikalisierten, “globalisierungskritischen” Reformismus- Tendenzen innerhalb des Proletariat der Infragestellung des kapitalistischen Systems entgegenwirken.

Die Änderungen, welche heute im Innern der Gesellschaft vor sich gehen, sind von welthistorischer Tragweite. Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus ist die Bourgeoisie – auf Grund der Tiefe der historischen Krise – nicht mehr in der Lage, auf diesen Niedergang mit einem Ausbau der Sozialleistungen des Staates zu reagieren. Infolge dessen droht das Wesen des Kapitalismus in den Augen der Ausgebeuteten offenkundig zu werden: die absolute Unsicherheit des Daseins der Arbeiterklasse unter dem Regime der Lohnarbeit.
Die Bourgeoisie hat dies erkannt und stellt sich darauf ein, um mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mittel das Ausbeutungssystem, von dem sie lebt, zu verteidigen.      22.11.05

(1) Wir leugnen damit keineswegs, dass es auch andere gewichtige Gründe dafür gab, einer Großen Koalition den Vorzug zu geben, wie etwa die Möglichkeit einer großen Verfassungsreform, damit Bundestag und Bundesrat sich nicht mehr gegenseitig blockieren, oder aber die Chance zu versuchen, zwei unterschiedlich nuancierte Auffassungen in der Außenpolitik unter einen Hut zu bringen.

Nationale Situationen: 

  • Wahlen in Deutschland [14]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Der parlamentarische Zirkus [9]

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