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Internationale Revue - 2002

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Internationale Revue 29

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14. Kongress der IKS: Bericht über den Klassenkampf: Die revolutionäre Bewegung und das Konzept des Historischen Kurses,Teil 1

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Seit dem Bericht über den Klassenkampf auf dem letzten Kongress hat es keine unmittelbaren Verschiebungen in der allgemeinen Lage der Klasse gegeben. Das Proletariat hat in etlichen Kämpfen demonstriert, dass seine Kampfbereitschaft intakt ist und dass seine Unzufriedenheit wächst (s. Transportarbeiterstreik in New York, ‚Generalstreik‘ in Norwegen, Kämpfe in zahllosen Bereichen in Frankreich, der Postangestellten in Großbritannien, Bewegungen in peripheren Ländern wie Brasilien, China, etc.). Doch die Situation ist auch weiterhin vornehmlich von den Schwierigkeiten geprägt, denen sich die Klasse gegenübersieht – Schwierigkeiten, die ihr infolge der Bedingungen des zerfallenden Kapitalismus aufgezwungen wurden und die kontinuierlich von den Kampagnen der Bourgeoisie über das ‚Ende der Arbeiterklasse‘, die ‚Neue Ökonomie‘, die ‚Globalisierung‘ und selbst über den ‚Antikapitalismus‘ verschärft wurden. Innerhalb des politischen Milieus des Proletariats verbleiben fundamentale Meinungsverschiedenheiten über das Kräfteverhältnis mit gewissen Gruppen, die die ‚idealistische‘ Sichtweise der IKS über den Historischen Kurs als Grund anführen, um sich nicht an einer gemeinsamen Initiative gegen den Kosovo-Krieg zu beteiligen. Dies ist sicherlich ein Grund dafür, diesen Bericht nicht so sehr auf die Kämpfe zu konzentrieren, sondern darauf, unser Verständnis für das Konzept des Historischen Kurses, so wie es in der Arbeiterbewegung entwickelt worden war, zu vertiefen: Wenn wir dieser Kritik wirkungsvoll entgegentreten wollen, müssen wir uns an die historischen Wurzeln der Missverständnisse begeben, die das proletarische Milieu infiziert haben. Ein weiterer Grund besteht darin, dass eine unserer Schwächen in unseren eigenen Analysen der jüngsten Kämpfe eine gewisse Neigung zum Immediatismus war, eine Tendenz, sich auf bestimmte Kämpfe zu konzentrieren, um sie als ‚Beweis‘ für die Richtigkeit unserer Position über den Kurs zu verwenden, oder sich auf die Schwierigkeiten des Kampfes zu stürzen, um sie als mögliche Basis für die Infragestellung unserer Auffassungen zu nutzen. Was folgt, ist weit entfernt davon, ein erschöpfender Überblick zu sein; Absicht des Artikels ist es, der Organisation dabei zu assistieren, sich selbst etwas näher mit der allgemeinen Methode bekannt zu machen, mit der sich der Marxismus dieser Frage angenähert hat.

 

Teil 1: 1848-1952

 

Vom Kommunistischen Manifest bis zum Ersten Weltkrieg

 

Das Konzept des ‚Historischen Kurses‘, wie es vor allem von der italienischen Fraktion der Linkskommunisten entwickelt worden war, entspringt der historischen Alternative, die von der marxistischen Bewegung im 19. Jahrhundert entwickelt worden war: die Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei. Mit anderen Worten, die kapitalistische Produktionsweise enthält selbst die beiden sich widersprechenden Tendenzen und Möglichkeiten – die Tendenz zur Selbstvernichtung und die Tendenz zur weltweiten Assoziation der Arbeit und zur Entstehung einer neuen und höheren Gesellschaftsordnung. Dabei muss betont werden, dass aus marxistischer Sicht keine der beiden Tendenzen der kapitalistischen Gesellschaft von Außen aufgedrängt werden, wie beispielsweise die bürgerlichen Theorien, die solche Manifestationen der Barbarei wie den Nazismus oder Stalinismus für eine der kapitalistischen Normalität fremdartigen Störung erklären, oder die mannigfaltigen mystischen und utopistischen Visionen über die Ankunft der kommunistischen Gesellschaft meinen. Beide möglichen Resultate des historischen Niedergangs des Kapitals sind der logische Höhepunkt seines innersten Lebensprozesses. Die Barbarei, der gesellschaftliche Kollaps und der imperialistische Krieg rühren aus der unbarmherzigen Konkurrenz her, die das System vorwärtstreibt, aus den der Warenproduktion innewohnenden Spaltungen und dem unaufhörlichen Krieg eines Jeden gegen Jeden. Der Kapitalismus schafft infolge der Notwendigkeit des Kapitals, die Arbeit zu vereinheitlichen und zu assoziieren, so mit dem Proletariat seinen eigenen Totengräber. Entgegen aller idealistischen Irrtümer, die das Proletariat vom Kommunismus zu trennen versuchen, definierte Marx Letzteren als Verkörperung seiner ‚wahren Bewegung‘ und hielt daran fest, dass die Arbeiterklasse „keine Ideale zu verwirklichen (hat); sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben“ („Der Bürgerkrieg in Frankreich“).

 

Im Kommunistischen Manifest gibt es eine gewisse Neigung zur Annahme, dass diese Schwangerschaft automatisch mit einer glücklichen Geburt endet – dass der Sieg des Proletariats unvermeidlich sei. Gleichzeitig zeigt das Manifest, wenn es von den früheren Gesellschaftsformen spricht, auf, dass, wenn die Revolution sich nicht durchgesetzt hätte, das Ergebnis ”der gemeinsame Untergang der kämpfenden Klassen“ gewesen wäre – kurz: die Barbarei. Obgleich diese Alternative nicht ausdrücklich auf den Kapitalismus gemünzt wird, ist sie die logische Schlussfolgerung aus der Erkenntnis, dass die proletarische Revolution alles andere als ein automatischer Prozess ist und die bewusste Selbstorganisation des Proletariats erfordert, jener Klasse, deren Mission darin besteht, eine Gesellschaft zu schaffen, die es der Menschheit erstmalig erlaubt, Herr über ihr eigenes Schicksal zu werden. Ab da konzentriert sich das Manifest auf die Notwendigkeit der „Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei“. Ungeachtet späterer Klärungen über die Unterscheidung zwischen der Partei und der Klasse, bleibt der Kern dieser Stellungnahme völlig zutreffend: Das Proletariat kann nur als eine revolutionäre und selbstbewusste Kraft handeln, wenn es den Kapitalismus auf politischer Ebene konfrontiert; und wenn es so handelt, kann es nicht auf die Notwendigkeit verzichten, eine politische Partei zu gründen.

Ebenso klar wurde verstanden, dass die „Organisation der Proletarier zur Klasse“, ausgerüstet mit einem expliziten Programm gegen die kapitalistische Gesellschaft, nicht zu jeder Zeit möglich war. Schon im Manifest wurde die Notwendigkeit für die Klasse betont, durch eine lange Periode der Schulung zu gehen, wo sie ihren Kampf von seinen ursprünglichen, „primitiven“ Formen (wie dem Ludismus) zu organisierteren und bewussten Formen (Bildung von Gewerkschaften und politischen Parteien) weiterentwickeln konnte. Und entgegen dem „jugendlichen“ Optimismus des Manifestes über das Potenzial einer sofortigen Revolution zeigte die Erfahrung von 1848-52, dass Perioden der Konterrevolution und des Rückzugs ebenfalls Teil der Schulung des Proletariats waren und dass in solchen Perioden die Taktiken und die Organisation der proletarischen Bewegung sich entsprechend anzupassen haben. Dies war die ganze Bedeutung der Polemik zwischen der marxistischen Strömung und der Willich-Schapper-Tendenz, die in Marx‘ Worten „statt der materialistischen Auffassung eine idealistische vertritt. Statt die wirkliche Lage als die Triebkraft der Revolution zu betrachten, sieht sie einzig den Willen“ (Adresse an den Zentralrat des Bundes der Kommunisten, September 1850).  Diese Herangehensweise war die Grundlage für die Entscheidung, den Kommunistischen Bund aufzulösen und sich auf die Aufgaben der Klärung und der Verteidigung der Prinzipien zu konzentrieren – die Aufgaben einer Fraktion –, statt Energien in grandiosen revolutionären Abenteuern zu verschwenden. Mit ihrer tatsächlichen Praxis in der aufsteigenden Epoche des Kapitalismus zeigte die marxistische Vorhut, dass es vergebens war zu versuchen, eine wirklich wirkungsvolle Klassenpartei in Perioden des Rückzugs und der Reaktion zu gründen: Auch die Erste Internationale und die Zweite Internationale zur Zeit ihrer Gründung folgte dem Modell der Gründung von Parteien während Phasen wachsenden Klassenkampfes und der Erkenntnis der Unvermeidbarkeit ihres Dahinscheidens in Phasen der Niederlage.

Es ist wahr, dass die Schriften der Marxisten aus dieser Periode trotz vieler wichtiger Einsichten nicht in eine zusammenhängende Theorie über die Rolle der Fraktion in Perioden des Rückzugs mündeten; wie Bilan (die Publikation der Italienischen Linken während der 30er Jahre) hervorhob, war dies nicht möglich, solange der Begriff der Partei selbst nicht theoretisch erschlossen war, eine Aufgabe, die erst in der von der Dekadenz des kapitalistischen Systems eingeläuteten Periode des direkten Kampfes um die Macht vollkommen erfüllt werden konnte (s. unseren Artikel über das Verhältnis zwischen Fraktion und Partei in der International Review, Nr. 61). Darüber hinaus schärften die Bedingungen der Dekadenz die Konturen dieser Frage noch mehr, da im Gegensatz zur Aufstiegsperiode mit ihren langfristigen Kämpfen um Reformen, wo die politischen Parteien einen proletarischen Charakter bewahren konnten, ohne vollkommen aus Revolutionären zusammengesetzt zu sein, in der Dekadenz die Klassenpartei nur aus revolutionären Militanten zusammengesetzt sein darf und als solche sich nicht lange als eine kommunistische Partei – d.h. als ein Organ, das die Fähigkeit besitzt, die revolutionäre Offensive anzuführen – außerhalb der Phasen des offenen Klassenkampfes halten kann.

Aus dem gleichen Grund machten es die Bedingungen des aufsteigenden Kapitalismus nicht möglich, ein vollständiges Konzept darüber zu verfassen, dass die kapitalistische Gesellschaft, abhängig vom globalen Kräfteverhältnis der Klassen, auf einen Weltkrieg oder auf revolutionäre Aufstände zusteuert. Ein Weltkrieg war nicht „erforderlich“, für einen Kapitalismus, der seine periodischen Wirtschaftskrisen noch durch die Expansion des Weltmarkts überwinden konnte, und da sich der Kampf um Reformen noch nicht erschöpft hatte, blieb die Weltrevolution für die Arbeiterklasse eher eine langfristige Perspektive denn eine brennende Notwendigkeit. Die historische Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei konnte noch nicht in einer viel unmittelbareren Wahl zwischen Krieg und Revolution herausgefiltert werden.

Nichtsdestotrotz hatte das Auftauchen des Imperialismus Engels 1887 in die Lage versetzt, eine erste klare Vorhersage über die genaue Form zu machen, die die Tendenz des Kapitalismus zur Barbarei anzunehmen gezwungen war – verheerende Kriege im eigentlichen Herzen des Systems: „Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt, absolute Unmöglichkeit, vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird, nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse.“ (15. Dezember 1887, MEW Bd. 21, S. 350f.) Es ist ebenfalls bemerkenswert, dass Engels – indem er sich zweifellos auf die Erfahrung der Pariser Kommune anderthalb Jahrzehnte zuvor berief – voraussah, dass dieser europäische Krieg die proletarische Revolution in die Welt setzen wird.

Während des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts wurde die wachsende Gefahr dieses Krieges zu einer wichtigen Beschäftigung für den revolutionären Flügel der Sozialdemokratie, für diejenigen also, die sich nicht von den Sirenengesängen des „endlosen Fortschritts“, des „Superimperialismus“ und anderer Ideologien täuschen ließen, welche große Teile der Bewegung in den Bann zogen. Auf den Kongressen der Zweiten Internationalen war es der linke Flügel – besonders Lenin und Luxemburg –, der am stärksten auf der Notwendigkeit für die Internationale bestand, angesichts der Kriegsdrohung klare Stellung zu beziehen. Die Stuttgarter Resolution von 1907 und die Baseler Resolution, die 1912 ihre Vorhersagen bekräftigte, waren Früchte ihrer Bemühungen. Die erste stellte folgende Bedingung auf: „Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Büros, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern.

Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“

 Mit einem Wort: Angesichts des Abgleitens des Imperialismus in einen katastrophalen Krieg musste die Arbeiterklasse sich nicht nur diesem Abgleiten widersetzen, sondern auch, als der Krieg ausbrach, mit revolutionären Taten darauf antworten. Diese Resolutionen sollten als Grundlage für Lenins Parole während des Ersten Weltkrieges dienen: ‚Verwandelt den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg‘.

Um diese Periode widerzuspiegeln, ist es wichtig, nicht zurück zu projizieren, was das Bewusstsein beider Seiten der Klassengrenze anbelangt. Auf dieser Stufe konnte weder das Proletariat noch die Bourgeoisie vollkommen erfassen, was ein Weltkrieg wirklich bedeutete. Vor allem war noch nicht deutlich geworden, dass der moderne imperialistische Krieg nicht ohne die totale Mobilisierung des Proletariats – sowohl der Arbeiter in Uniform als auch der Arbeiter an der Heimatfront – geführt werden kann, da er ein totaler Krieg und keine auf abgelegenen Schlachtfeldern ausgefochtene Auseinandersetzung zwischen Söldnerarmeen ist. Sicherlich hatte die Bourgeoisie begriffen, dass sie keinen Krieg vom Zaun brechen kann, ohne sicher zu sein, dass die Sozialdemokratie verfault genug war, sich ihm nicht zu widersetzen. Doch die revolutionären Ereignisse von 1917–23, die direkt vom Krieg ausgelöst worden waren, erteilten ihr viele Lehren, die sie nie vergessen sollte, vor allem bezüglich der Notwendigkeit, sorgfältig den gesellschaftlichen und politischen Boden zu bereiten, ehe sie einen größeren Krieg auslöst, mit anderen Worten: die ideologische und physische Zerstörung der proletarischen Opposition zu vervollständigen.

Wenn man das Problem vom Standpunkt des Proletariats aus betrachtet, fällt auf, dass es in der Stuttgarter Resolution an einer Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen mangelt – einer Analyse der wirklichen Stärke des Proletariats, seiner Fähigkeit, sich dem Abgleiten in den Krieg zu widersetzen. Aus der Sicht der Resolution konnte der Krieg durch die Klassenaktion verhindert oder, nach seinem Ausbruch, gestoppt werden. In der Tat argumentierte die Resolution, dass die vielfältigen Antikriegs-Stellungnahmen und die Interventionen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie in diesen Tagen „Zeugnis ablegen von der wachsenden Macht des Proletariats und von seiner wachsenden Kraft, die Aufrechterhaltung des Friedens durch entschlossenes Eingreifen zu sichern“. Diese optimistische Stellungnahme stellte eine tatsächliche Unterschätzung des Ausmaßes dar, in dem die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften bereits in das System integriert worden waren und sich als nutzlose Instrumente (und nicht nur das) für die internationalistische Antwort erwiesen hatten. Dies sollte die Linke in einige Verwirrung stürzen, als der Krieg ausbrach – wie beispielsweise Lenins Ansicht bezeugt, dass das deutsche Oberkommando die Ausgabe des Vorwärts gefälscht habe, die die Arbeiter zur Unterstützung des Krieges aufrief; die Isolation der Gruppe Internationale in Deutschland und so weiter. Und es gibt keinen Zweifel daran, dass es der schleichende Verrat durch die alten Arbeiterorganisationen, ihre allmähliche Einverleibung in den Kapitalismus waren, die das Kräfteverhältnis zuungunsten der Arbeiterklasse verschoben sowie den Kurs zum Krieg öffneten, und dies trotz der hochgradigen Kampfbereitschaft, die die Arbeiter in vielen Ländern in dem Jahrzehnt vor dem Krieg und noch kurz zuvor offenbart hatten.

Letztere Tatsache hat häufig Anlass zur Theorie gegeben, dass die Bourgeoisie den Krieg als Präventivmaßnahme gegen die drohende Revolution ausgelöst habe – eine Theorie, die, wie wir meinen, auf dem Unvermögen basiert, zwischen Kampfbereitschaft und Bewusstsein zu unterscheiden, und die die enorme historische Bedeutung und Auswirkung des Verrats der Organisationen herunterspielt, die die Arbeiterklasse mit so viel Mühe aufgebaut hatte. Was dagegen zutrifft, ist, dass die Art und Weise des ersten großen Sieges der Bourgeoisie über die Arbeiter – der von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften proklamierte ‚Burgfrieden‘ – sich als ungenügend erwies, um die Dynamik des Massenstreiks total zu brechen, die in der europäischen, russischen und amerikanischen Arbeiterklasse im Jahrzehnt zuvor herangereift war. Die Arbeiterklasse erwies sich als fähig, sich von der hauptsächlich ideologischen Niederlage von 1914 zu erholen und drei Jahre später ihre revolutionäre Antwort zu formulieren. So wendete das Proletariat durch seine eigene Tat den Historischen Kurs: Die Flutwelle floss nun weg vom imperialistischen Weltkonflikt hin zur kommunistischen Weltrevolution.

Von der revolutionären Welle zur Konterrevolution

Während der folgenden revolutionären Jahre schuf die Praxis der Bourgeoisie ihren eigenen ‚Beitrag‘ zur Vertiefung des Problems des historischen Kurses. Sie bewies, dass angesichts einer offenen revolutionären Herausforderung durch die Arbeiterklasse der Marsch in den Krieg nur den zweiten Platz gegenüber der Notwendigkeit einnahm, die Kontrolle über die ausgebeuteten Massen wiederzuerlangen. Dies war nicht nur der Fall in der Hitze der Revolution selbst, als die Aufstände in Deutschland die herrschende Klasse dazu zwangen, einen Waffenstillstand auszurufen und sich gegen ihren Todfeind zu vereinigen, sondern auch in den folgenden Jahren, da die interimperialistische Antagonismen zwar nicht verschwanden (der Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland zum Beispiel), aber weitestgehend hintangestellt wurden, während die Bourgeoisie um die Lösung der sozialen Frage rang. Dies ist zum Beispiel die Erklärung für die Unterstützung von Hitlers Programm des Terrors gegen die Arbeiterklasse durch viele Fraktionen der Weltbourgeoisie, obwohl deren imperialistische Interessen einzig von einem wiedererwachten deutschen Militarismus bedroht werden konnten. Die Wiederaufbauperiode, die dem Krieg folgte – auch wenn sie im Vergleich mit der Wiederaufbauperiode nach 1945 in Umfang und Tiefe sehr begrenzt war – diente ebenfalls dazu, das Problem der Neuaufteilung der imperialistischen Beute zeitweilig zu verschieben, soweit die herrschende Klasse betroffen war.

Der Kommunistischen Internationalen ihrerseits wurde nur sehr wenig Zeit gewährt, um solche Fragen zu klären, obwohl sie von Beginn an klar gemacht hatte, dass, sollte die Arbeiterklasse daran scheitern, auf die revolutionäre Herausforderung durch die russischen Arbeiter zu antworten, der Weg zu einem weiteren Weltkrieg offen sei. Das Manifest des ersten Kongresses der KI (März 1919) warnte davor, dass, sollte sich die Arbeiterklasse von den Predigten der Opportunisten vereinnahmen lassen, „so würde die kapitalistische Entwicklung auf den Knochen mehrerer Generationen in neuer, noch konzentrierterer und ungeheuerlicherer Form ihre Wiederaufrichtung feiern mit der Aussicht eines neuen, unausbleiblichen Weltkrieges. Zum Glück für die Menschheit ist dies nicht mehr möglich“. Während dieser Periode war die Frage der Kräftebalance zwischen den Klassen in der Tat entscheidend, jedoch weniger in Bezug auf die Kriegsgefahr als vielmehr auf die unmittelbaren Chancen der Revolution. Der letzte Satz in der eben zitierten Passage verschafft uns Stoff zum Nachdenken: In den ersten, unbesonnenen Momenten der revolutionären Welle gab es eine eindeutige Tendenz, die den Sieg der Weltrevolution als unumstößlich ansah und die sich nicht vorstellen konnte, dass ein neuer Weltkrieg wirklich möglich war. Dies stellte eine eindeutige Unterschätzung der gigantischen Aufgabe dar, der sich die Arbeiterklasse bei der Schaffung einer auf Solidarität basierenden Gesellschaft und bei der bewussten Beherrschung der Produktivkräfte gegenübersieht. Und zusätzlich zu diesem allgemeinen Problem, das für alle revolutionären Bewegungen der Klasse gilt, kommt noch hinzu, dass das Proletariat sich in den Jahren 1914–21 mit dem plötzlichen und brutalen ‚Ausbruch‘ einer neuen historischen Epoche konfrontiert sah, die es dazu zwang, seine althergebrachten Verhaltensweisen und Kampfmethoden abzulegen und sich ‚über Nacht‘ neue Methoden zu verschaffen, die für diese neue Periode geeignet waren.

Nachdem der erste Schwung der revolutionären Welle nachgelassen hatte, erwies sich der auf eine Art vereinfachende Optimismus der frühen Jahre als unangemessen, und es wurde immer dringlicher, eine nüchterne und realistische Einschätzung des wahren Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen zu machen. In den frühen 20er Jahren gab es eine besonders scharfe Polemik zwischen der KI und der deutschen Linken über diesen Punkt, eine Debatte, in der keine der beiden Seiten die Wahrheit für sich allein gepachtet hatte. Die KI erblickte schneller die Realität des Rückzugs der Revolution nach 1921 und somit die Notwendigkeit, die Organisation zu konsolidieren und durch die Teilnahme an ihren Verteidigungskämpfen das Vertrauen der Arbeiterklasse zu erwerben. Doch unter dem Druck der Forderungen des auf Grund gelaufenen russischen Staates und seiner Wirtschaft, neue Stützpunkte außerhalb Russlands zu finden, übersetzte die KI diese Perspektive in wachsendem Maße in die Sprache des Opportunismus (Einheitsfront, Vereinigung mit zentristischen Parteien, etc.). Die deutsche Linke lehnte diese opportunistischen Schlussfolgerungen rundweg ab, doch ihre revolutionäre Ungeduld sowie ihre Theorie von der Todeskrise des Kapitalismus hinderte sie daran, den Unterschied zwischen der allgemeinen historischen Epoche des kapitalistischen Niedergangs, die die Notwendigkeit einer Revolution im allgemeinen historischen Sinn beinhaltete, und den verschiedenen unmittelbaren Phasen innerhalb dieser Epoche zu erblicken, Phasen, die nicht automatisch alle Bedingungen für einen revolutionären Umsturz in sich tragen. Das Versäumnis der deutschen Linken, das objektive Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zu analysieren, war mit der Schlüsselschwäche an der organisatorischen Front verknüpft – ihre Unfähigkeit, die Aufgaben einer Fraktion zu begreifen, die gegen die Degeneration der alten Partei kämpft. Diese Schwächen sollten fatale Konsequenzen für die eigentliche Existenz der deutschen Linken als organisierte Strömung haben.

Der Beitrag der Italienischen Linken

Genau an diesem Punkt kam die Italienische Linke als ein internationaler Pol der Klärung zum Tragen. Sie, die selbst ihre Erfahrungen mit dem Faschismus gemacht hatte, war in der Lage, Kenntnis davon zu nehmen, dass das Proletariat von der entschlossenen Offensive der Bourgeoisie zurückgedrängt worden war. Diese Erkenntnis führte jedoch weder zum Sektierertum, da sie fortfuhr, an den Verteidigungskämpfen der Klasse teilzunehmen, noch zum Opportunismus, da sie deutliche Kritik an der Gefahr des Opportunismus in der Internationalen übte, besonders an den Zugeständnissen Letzterer gegenüber der Sozialdemokratie. Nachdem sie sich bereits in den Auseinandersetzungen innerhalb der italienischen Sozialistischen Partei  in den Aufgaben einer Fraktion geübt hatte, würdigte die Italienische Linke ebenfalls voll und ganz die Notwendigkeit, innerhalb der existierenden Klassenorgane zu kämpfen, solange diese irgendeinen proletarischen Charakter enthielten. Um 1927/28 musste die Linke jedoch erkennen, dass der Ausschluss der linken Opposition aus der bolschewistischen Partei und anderer linker Strömungen auf internationaler Ebene eine qualitative Vertiefung der Konterrevolution bedeutete und die formelle Gründung einer unabhängigen linken Fraktion verlangte, auch wenn die Möglichkeit einer Wiedereroberung der Kommunistischen Parteien offen gelassen wurde.

Das Jahr 1933 war das nächste bedeutsame Datum für die Italienische Linke, nicht nur, weil in jenem Jahr die erste Ausgabe von Bilan herauskam, sondern auch, weil der Triumph des Nazismus in Deutschland die Fraktion davon überzeugte, dass der Kurs zu einem zweiten Weltkrieg nun eröffnet war. Bilans Verständnis der Dynamik im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen seit 1917 wurde im Logo, das ihre Zeitung einige Zeit schmückte, zusammengefasst: „Lenin 1917, Noske 1919, Hitler 1933“: Lenin als Personifizierung der proletarischen Revolution, Noske als solche der Unterdrückung der revolutionären Welle durch die Sozialdemokratie, Hitler als Inbegriff der Komplettierung der bürgerlichen Konterrevolution und der Vorbereitungen für einen neuen Krieg. Von Anbeginn war Bilans Position in der Debatte über den Historischen Kurs eines ihrer markantesten Kennzeichen.

Es trifft zu, dass der Leitartikel von Bilan Nr.[i], der durchaus die schwere Niederlage der Arbeiterklasse anerkennt, irgendwie unentschlossen erscheint, räumt er doch die Möglichkeit ein, dass das Proletariat immer noch imstande sei, seinen Kampf wiederzubeleben und durch einen neuen revolutionären Anlauf den Kriegsausbruch zu verhindern (s. The Italian Communist Left, S. 71). Dies war möglicherweise das Resultat des Unwillens, die Möglichkeit der Umkehrung der konterrevolutionären Flutwelle völlig auszuschließen. Doch in den nächsten paar Jahren gründeten sich sämtliche Analysen der internationalen Lage von Bilan – ob es dabei um die nationalen Befreiungskämpfe in der Peripherie ging, um die Expansion der deutschen Macht in Europa, die Volksfront in Frankreich, die Integration der UdSSR in das imperialistische Schachspiel oder um die so genannte spanische Revolution – auf die nüchterne Erkenntnis, dass sich die Waage im Kräfteverhältnis entscheidend zuungunsten des Proletariats geneigt und die Bourgeoisie den Weg zu einem weiteren imperialistischen Massaker freigemacht hat. Diese Entwicklung wurde mit großer Klarheit in einem Text in Bilan Nr. 17 ausgedrückt: ”Die Bildung von Fraktionen in einer Epoche zu befürworten, in der die Zerschlagung des Weltproletariats von einer Konkretisierung des Kriegsausbruchs begleitet wird, ist die Stellungnahme eines ‚Fatalismus‘, der die Unvermeidbarkeit des kommenden Krieges und die Unmöglichkeit der Mobilisierung des Proletariats dagegen akzeptiert” (‚Resolutionsentwurf über die Probleme der linken Fraktion‘).

In Bilan Nr.16 wurde der unüberbrückbare Gegensatz zwischen einem Kriegskurs und dem Kurs zur Revolution resümiert: „Wir haben es bereits gesagt: Krieg und Revolution sind zwei gegensätzliche Ausdrücke derselben Situation, in der beide aus der Explosion der Widersprüche heranreifen (...), doch sie sind ‚gegensätzliche Ausdrücke‘, was bedeutet, dass die Entfesselung des Krieges aus politischen Bedingungen resultiert, die die Revolution ausschließen. Es ist eine anarchistische Vereinfachung, wenn man meint, dass in dem Moment, wenn der Kapitalismus die Arbeiter bewaffnen muss, die Bedingungen bereits reif sind für das Proletariat, diese Waffen für den Triumph seiner revolutionären Sache zu benutzen (...) Das ganze Ausmaß des Gegensatzes zwischen Krieg und Revolution wird deutlich, wenn man anerkennt, dass die politischen Bedingungen, die den Ausbruch des Krieges erst möglich machen, das Verschwinden aller Bedingungen mit einschließen, die den Sieg des Proletariats erlauben könnten, und zwar aller Art von revolutionärer Bewegung bis hin zur letzten Äußerung des proletarischem Bewusstseins“ (‚Resolutionsentwurf über die internationale Lage‘).

Diese methodische Herangehensweise stand in krassem Gegensatz zur Position Trotzkis, der zu jener Zeit (und auch später) der weitaus bekannteste ‚Repräsentant‘ der linken Opposition gegen den Stalinismus war. Es sollte jedoch gesagt werden, dass auch Trotzki das Jahr 1933 und den Sieg des Nazismus als einen Wendepunkt betrachtete. Wie für Bilan markierte dieses Ereignis für ihn auch den endgültigen Verrat der Kommunistischen Internationalen zugunsten des Regimes in der UdSSR. Wie Bilan fuhr Trotzki zwar damit fort, sich auf Letzterem als Arbeiterstaat zu beziehen, meinte aber ab dieser Periode nicht mehr, dass das stalinistische Regime reformiert werden könnte, sondern dass es in einer ”politischen Revolution” mit Gewalt gestürzt werden muss. Doch neben diesen sichtbaren Ähnlichkeiten blieben fundamentale Gegensätze offen und sollten in einen endgültigen Bruch zwischen der italienischen Fraktion und der internationalen Linksopposition münden. Diese Gegensätze waren eng mit dem von der Italienischen Linken geprägten Begriff des  Historischen Kurses und den Aufgaben einer Fraktion verbunden. Für Trotzki bedeutete der Bankrott der alten Partei die sofortige Proklamation einer neuen Partei. Bilan lehnte dies als voluntaristisch und idealistisch ab und bestand darauf, dass die Partei als effektive politische Führung der Klasse in Momenten des Tiefstands der Klassenbewegung nicht existieren könne. Trotzkis Bemühungen, in solch einer Periode eine Massenorganisation zusammenzuschustern, konnten nur zum Opportunismus führen, was durch die Hinwendung der Linksopposition zum linken Flügel der Sozialdemokratie ab 1934 beispielhaft veranschaulicht wurde. Für Bilan konnte eine wahre Partei des Proletariats nur gebildet werden, wenn die Klasse sich auf dem Kurs zum offenen Konflikt mit dem Kapitalismus befand. Doch die Aufgabe der Vorbereitung auf eine solche Situation, der Schaffung einer Basis für die zukünftige Partei konnte nur von einer Fraktion ausgeübt werden, die es als ihre Aufgabe ansieht, eine ‚Bilanz‘ der vergangenen Siege und Niederlagen zu ziehen.

Bezüglich der UdSSR führte Bilans Gesamtsicht der Situation, der sich das Proletariat gegenübersah, zur Ablehnung von Trotzkis Perspektive eines Angriffs des Weltkapitals auf den Arbeiterstaat – und somit der Notwendigkeit für das Proletariat, die UdSSR gegen einen solchen Angriff zu verteidigen. Stattdessen sah sie, dass in einer Periode der Reaktion es die unvermeidliche Tendenz eines isolierten Arbeiterstaates war, in das System von kapitalistischen Bündnissen gezogen zu werden, die den Boden für einen neuen Weltkrieg bereiteten. Daher die Ablehnung jeglicher Verteidigung der UdSSR als unvereinbar mit dem Internationalismus.

Es ist richtig, dass Trotzkis Schriften aus jener Zeit oft lebendige Einsichten in die durch und durch reaktionären Tendenzen enthalten, die die globale Lage beherrschten. Aber woran es Trotzki mangelte, war eine strenge Methode, ein wirkliches Konzept zum Historischen Kurs. So erlag Trotzki trotz des totalen Triumphes der Reaktion und trotz seiner Einsicht in das Herannahen eines Krieges einem falschen Optimismus, der im Faschismus die letzte Karte der Bourgeoisie gegen die Gefahr einer Revolution und im Antifaschismus in gewisser Weise einen Indikator für die Radikalisierung der Massen erblickte, der meinte, dass zur Zeit der Streiks unter der Volksfront in Frankreich 1936 ”alles möglich war”, oder die Behauptung für bare Münze nahm, dass im gleichen Jahr eine Arbeiterrevolution in Spanien im Gange sei. Mit einem Wort, Trotzkis Unkenntnis über die wahre Natur der Periode beschleunigte das Abgleiten des Trotzkismus in die Konterrevolution, während ihre Klarheit über dieselbe Frage Bilan in die Lage versetzte, an der Verteidigung der Klassenprinzipien festzuhalten, selbst zum Preis einer fürchterlichen Isolation.

Sicherlich forderte diese Isolation ihren Tribut von der Fraktion; so wurde ihre Klarheit nicht ohne große Auseinandersetzungen innerhalb ihrer eigenen Reihen verteidigt. Zunächst gegen die Positionen der Minderheit über den spanischen Bürgerkrieg, als der Druck, an der illusorischen ”spanischen Revolution” teilzunehmen, immens war und die Minderheit ihm mit ihrer Entscheidung, in den Milizen der POUM mitzukämpfen, erlag. Die Unnachgiebigkeit der Mehrheit wurde größtenteils deswegen durchgehalten, weil sie sich weigerte, die Ereignisse in Spanien isoliert zu behandeln, und diese als Ausdruck des weltweiten Kräfteverhältnisses betrachtete. Dann gegen Gruppen wie die Union Communiste oder die LCI (Ligue des Communistes Internationalistes, die belgische Hennaut-Gruppe), deren Positionen jenen der Minderheit ähnelten und die Bilan vorhielten, außerstande zu sein, eine Klassenbewegung als solche zu erkennen, wenn diese nicht von der Partei angeführt würde, und in der Partei eine Art Deus ex machina zu erblicken, ohne die die Massen nichts erreichen könnten. Bilan antwortete, dass das Fehlen einer Partei in Spanien das Produkt der Niederlagen sei, die das Proletariat international erlitten habe. Sich mit den spanischen Arbeitern völlig solidarisch erklärend, bestand Bilan dennoch darauf, dass dieser Mangel an programmatischer Klarheit dazu geführt habe, dass ihre anfänglichen, spontanen Reaktionen von ihrem eigenen Terrain auf das bürgerliche Terrain des interimperialistischen Krieges gedrängt worden seien.

Die Ansicht der Fraktion über die Ereignisse in Spanien wurde durch die Realität bestätigt; doch kaum hatte sie diese Feuerprobe bestanden, wurde sie schon in die nächste und noch größere gedrängt – Vercesis (einer der Haupttheoretiker innerhalb der Fraktion) Aneignung einer Konzeption, die alle vorherigen Analysen der Fraktion über die historische Periode in Frage stellte: die Theorie der Kriegswirtschaft.

Diese Theorie war das Ergebnis einer Flucht in den Immediatismus. Unter Berufung auf die Fähigkeit des Kapitalismus, den Staat und seine Kriegsvorbereitungen dafür zu nutzen, die Massenarbeitslosigkeit, die die erste Phase der Wirtschaftskrise der 30er Jahre charakterisiert hatte, teilweise wieder zu absorbieren, zogen Vercesi und seine Anhänger die Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus irgendwie eine tiefe Veränderung vollzogen hätte, mit der er seine historische Überproduktionskrise überwunden hätte. Mit dem Hinweis auf den elementaren marxistischen Grundsatz, dass der Hauptwiderspruch in der Gesellschaft der zwischen der ausbeutenden und ausgebeuteten Klasse sei, verstieg sich Vercesi dann zur Schlussfolgerung, dass der imperialistische Weltkrieg nicht mehr die Antwort des Kapitalismus auf seine inneren ökonomischen Widersprüche sei, sondern ein Akt der interimperialistischen Solidarität, die das Ziel habe, die revolutionäre Arbeiterklasse zu massakrieren. Somit bedeute, wenn der Krieg sich nähert, dies lediglich, dass die proletarische Revolution eine immer größere Gefahr für die herrschende Klasse werde. Tatsächlich bestand der Haupteffekt der Theorie der Kriegswirtschaft während dieser Periode darin, die Kriegsgefahr vollkommen herunterzuspielen. Lokale Kriege und punktuelle Massaker könnten, so wurde argumentiert, denselben Job für den Kapitalismus verrichten wie ein Weltkrieg. Das Ergebnis war, dass die Fraktion bei der Vorbereitung auf die Folgen, die der Krieg unvermeidlich für die Organisationsarbeit haben würde, völlig versagte und sich mit Kriegsbeginn fast völlig auflöste. Und Vercesis Theoretisierungen über die Bedeutung des Kriegs, als er dann ausbrach, vervollständigte die Schlappe: Der Krieg bedeute das „gesellschaftliche Verschwinden des Proletariats“ und mache jede organisierte militante Aktivität zwecklos. Das Proletariat könne nur auf den Weg der Kämpfe zurückkehren, die dem Ausbruch der „Krise der Kriegswirtschaft“ folgen (nicht ausgelöst durch das Wirken des Wertgesetzes, sondern durch die Erschöpfung der materiellen Mittel zur Fortsetzung der Kriegsproduktion). Die Konsequenzen dieses Aspektes der Theorie über das Kriegsende werden noch kurz untersucht werden, doch ihre erste Wirkung bestand darin, Unordnung und Demoralisierung in den Reihen der Fraktion zu säen.

In der Periode nach 1938, als Bilan, in Erwartung neuer revolutionärer Attacken durch die Arbeiterklasse, durch Octobre ersetzt wurde, wurden die Originalanalysen von Bilan von einer Minderheit am Leben erhalten und weiterentwickelt, die keinen Anlass sah, die Tatsache in Frage zu stellen, dass der Krieg nahe bevorstand, dass es einen neuen interimperialistischen Konflikt um die Aufteilung der Welt geben werde und dass die Revolutionäre auch unter widrigen Umständen ihre Aktivitäten aufrechterhalten müssten, um ein Verlöschen der Flamme des Internationalismus zu verhindern. Diese Arbeit wurde vor allem von jenen Militanten fortgesetzt, die nach 1941 die italienische Fraktion wiederbelebten und bei der Bildung der französischen Fraktion in den letzten Kriegsjahren behilflich waren.

Die Gauche Communiste de France setzt das Werk von Bilan fort

Diejenigen, die dem Werk Bilans treu blieben, hielten auch an ihrer Interpretation darüber fest, wohin sich der Kurs wendet – nämlich hin zur Feuersbrunst des Krieges. Diese Auffassung gründete sich fest auf den realen Erfahrungen der Klasse – 1871, 1905 und 1917; und auch die Ereignisse in Italien 1943 schienen dies zu bestätigen. Hier gab es eine authentische Klassenbewegung mit einer klaren Antikriegs-Ausrichtung, die nicht ohne Echo in der anderen geschlagenen europäischen Achsenmacht, in Deutschland blieb. Als die italienische Bewegung auch noch einen mächtigen Drang zur Sammlung der versprengten proletarischen Kräfte in Italien selbst entwickelte, schloss der französische Kern der Linkskommunisten in Übereinstimmung mit der italienischen Fraktion im Exil und in Italien daraus, dass „der Weg zur Gründung der Partei nun offen ist“. Doch während eine große Zahl von Militanten die sofortige Gründung der Partei darunter verstand, und zwar auf einer noch nicht genau definierten Basis, ließ die französische Fraktion (insbesondere der Genosse Marco – MC –, der Mitglied sowohl der italienischen als auch der französischen Fraktion war) nicht von ihrer rigorosen Herangehensweise los. Entgegen der Auflösung der italienischen Fraktion und der überstürzten Gründung der Partei bestand die französische Fraktion auf einer Untersuchung der italienischen Situation auch im Lichte der allgemeinen Weltlage und sträubte sich dagegen, von einem sentimentalen ‚Italozentrismus‘ mitgerissen zu werden, der etliche Mitglieder der italienischen Fraktion erfasst hatte. Die Gruppe in Frankreich (die spätere Gauche Communiste de France) war auch die erste, die erkannte, dass sich der Kurs nicht geändert hatte, dass die Bourgeoisie die notwendigen Lehren aus ihrer Erfahrung von 1917 gezogen hatte und dem Proletariat eine weitere entscheidende Niederlage beigebracht hatte.

Im Text ‚Die Aufgabe der Stunde – Parteigründung oder Bildung von Kadern‘, der in der Augustausgabe von Internationalisme 1946 (wiederveröffentlicht in der International Review Nr. 32), veröffentlicht worden war, gibt es eine beißende Polemik gegen den Wankelmut der anderen Strömungen des proletarischen Milieus jener Tage. Der Hauptinhalt der Polemik zielt darauf ab aufzuzeigen, dass die Entscheidung, die PCInt in Italien zu gründen, auf einer falschen Einschätzung der historischen Periode fußte und letztendlich zur Abschwörung von der marxistischen Konzeption der Fraktion zugunsten einer voluntaristischen und idealistischen Herangehensweise führte, die eine Menge mit dem Trotzkismus zu tun hatte, für den Parteien zu jeder Zeit und ohne jeglichen Bezug zur reellen historischen Situation, in der sich die Arbeiterklasse befindet, ‚errichtet‘ werden können. Doch der Artikel konzentriert sich – wahrscheinlich, weil die PCInt selbst, von einer aktivistischen Stampede ergriffen, kein wirklich zusammenhängendes Konzept des historischen Kurses entwickelt – auf die Analysen, die von anderen Gruppen des Milieus, insbesondere von der belgischen Fraktion der Linkskommunisten, die mit der PCInt personell verknüpft war, entwickelt wurden. In der Vorkriegsperiode war die von Mitchell 1  angeführte belgische Fraktion der aktivste Opponent gegen Vercesis Theorie der Kriegswirtschaft gewesen; ihre nach dem Krieg verbliebenen Überreste wandelten sich nun  zu begeisterten Fürsprechern dieser Theorie. Diese enthielt die Idee, dass die Krise der Kriegswirtschaft tatsächlich nur nach dem Krieg ausbrechen könne, daher „ist die Nachkriegsperiode der Zeitpunkt, an dem die Umwandlung des imperialistischen Kriegs in einen Bürgerkrieg stattfindet... Die gegenwärtige Situation kann somit als die der ‚Umwandlung in den Bürgerkrieg‘ bezeichnet werden. Mit dieser Analyse als Ausgangspunkt wird die Lage in Italien als besonders fortgeschritten erklärt, um so die sofortige Konstituierung der Partei zu rechtfertigen, während die Unruhen in Indien, Indonesien und anderswo, die von etlichen konkurrierenden Imperialismen und den lokalen Bourgeoisien sicher im Zaum gehalten werden, als Anzeichen des antikapitalistischen Bürgerkrieges gesehen werden.“ Die katastrophalen Konsequenzen der totalen Missdeutung des wirklichen historischen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen lagen auf der Hand; sie verleiteten die belgische Fraktion dazu, interimperialistische Konflikte als Ausdrücke einer der Revolution zustrebenden Bewegung anzusehen.

Ebenfalls bemerkenswert ist, dass der Artikel von Internationalisme eine weitere Theorie des Kurses kritisierte, die von den RKD (Revolutionäre Kommunisten Deutschlands, einer Gruppe, die sich während des Krieges vom Trotzkismus abgespaltet hatte, um internationalistische Positionen zu verteidigen) vorgestellt wurde. Nach Internationalisme „sucht (die RKD), wenn auch vorsichtig, Zuflucht in der Theorie des Doppelkurses, d.h.einer simultanen und parallelen Entwicklung des Kurses zur Revolution und eines anderen Kurses zum imperialistischen Krieg. Die RKD haben offensichtlich nicht verstanden, dass die Entwicklung eines Kurses zum Krieg vorrangig durch die Schwächung des Proletariats und die Abschwächung der Gefahr einer Revolution bedingt wird.”

Im Gegensatz dazu war Internationalisme in der Lage, deutlich zu erkennen, dass die Bourgeoisie ihre Lehren aus den Erfahrungen von 1917 gezogen und brutale Präventivmaßnahmen gegen die Gefahr einer durch das Kriegselend provozierten revolutionären Erhebung ergriffen hatte, dass sie der Arbeiterklasse besonders in Deutschland eine entscheidende Niederlage zugefügt hatte: „Dass der Kapitalismus einen Imperialistischen Krieg ‚beendet‘, der sechs Jahre ohne jegliches revolutionäres Auffllackern angedauert hat, zeigt die Niederlage des Proletariats und dass wir uns nicht am Vorabend grosser revolutionärer Kämpfe befinden, sondern in den Nachwehen einer Niederlage. Diese Niederlage fand 1945 mit der physischen Zerstörung des revolutionären Zentrums, das das deutsche Proletariat darstellte, statt, und sie war um so entscheidender, als sich das Weltproletariat der Niederlage, die es erlitten hat, nicht bewusst war“

Internationalisme lehnte also nachdrücklich alle voluntaristischen und aktivistischen Schemata zur Gründung einer neuen Partei in solch einer Periode ab und beharrte darauf, dass die Aufgabe der Stunde die ‚Bildung von Kadern‘ sei – in anderen Worten, die Fortsetzung der Arbeit der linken Fraktionen.

Jedoch gab es eine ernsthafte Schwachstelle in der Argumentation der GCF – nämlich die im obigen Artikel zum Ausdruck gebrachte Schlussfolgerung, dass „der Kurs in Richtung eines dritten imperialistischen Krieges eingeschlagen wurde... Unter den gegenwärtigen Umständen sehen wir keine Kraft, die imstande wäre, diesen Kurs zu stoppen oder zu ändern.“ Eine weitere Theoretisierung dieser Position ist in dem Artikel „Die Evolution des Kapitalismus und die neuen Perspektiven“ enthalten, der 1952 veröffentlicht wurde (wiederveröffentlicht in International Review Nr. 21). Dies ist ein fruchtbarer Text, da er die Arbeit der GCF hinsichtlich des Verständnisses des Staatskapitalismus als universelle Tendenz im dekadenten Kapitalismus und nicht als bloßes Phänomen, das sich auf die stalinistischen Regimes beschränkt, zusammenfasst. Doch sein Versäumnis besteht darin, dass er keinen klaren Unterschied zwischen der Integration der alten Arbeiterorganisationen in den Staatskapitalismus und der Integration des Proletariats an sich macht: „Das Proletariat findet sich jetzt mit seiner eigenen Ausbeutung ab. Es ist also geistig und politisch im Kapitalismus integriert.“ Gemäß Internationalisme nimmt die permanente Krise des Kapitalismus in der Epoche des Staatskapitalismus nicht mehr die Form einer ‚offenen Krise‘ an, die die Arbeiter aus der Produktion wirft und sie so dazu zwingt, gegen das System zu handeln. Stattdessen erreicht sie ihren Höhepunkt im Krieg. Und nur im Krieg – den die GCF schon wieder nahen sah – könne der proletarische Kampf einen revolutionären Inhalt annehmen. Andernfalls könne die Klasse „sich selbst lediglich als ökonomische Kategorie des Kapitals ausdrücken“. Was Internationalisme dabei übersah, war, dass die eigentlichen Mechanismen des Staatskapitalismus unter den Bedingungen einer Wiederaufbauperiode nach den massiven Kriegszerstörungen dem Kapitalismus erlaubten, in eine ‚Boom‘-Phase zu treten, in der interimperialistische Antagonismen, wenngleich sie akut blieben, einen neuen Weltkrieg nicht absolut notwendig machten, und dies trotz der Schwäche des Proletariats.

Kurz nachdem dieser Text verfasst worden war, führten die Bemühungen der GCF, ihre Kader angesichts dessen zu erhalten, was sie als das Herannahen eines Weltkrieges verstand (eine Schlussfolgerung, die angesichts des Koreakrieges gar nicht so irrational war), zum ‚Exil‘ ihres führenden Genossen MC nach Venezuela und zur raschen Auflösung der Gruppe. Sie zahlte somit einen hohen Preis für ihre Schwäche, die Perspektive nicht mit genügender Klarheit zu erblicken. Doch die Auflösung der Gruppe bestätigte auch ihre Diagnose der konterrevolutionären Natur dieser Periode. Es ist kein Zufall, dass die PCInt im gleichen Jahr ihre erste große Spaltung durchmachte. Die ganze Geschichte dieser Spaltung ist dem internationalen Publikum noch nicht zugänglich gemacht worden, aber es scheint, als sei etwas Klarheit dabei herausgekommen. Kurz gesagt, fand die Spaltung zwischen der Tendenz um Damen auf der einen Seite und der von Bordiga inspirierten Tendenz auf der anderen statt. Die Damen-Tendenz stand, soweit es ihre politischen Positionen betrifft, dem Geist von Bilan näher – d.h. sie teilte die Bereitschaft Bilans, die Positionen der Kommunistischen Internationalen in ihren frühen Jahren in Frage zu stellen (z.B. über die Gewerkschaften, nationale Befreiung, Partei und Staat, etc.). Doch neigte sie stark zum Aktivismus und entbehrte der theoretische Strenge von Bilan. Dies traf besonders auf die Frage des Historischen Kurses und der Bedingungen für die Parteigründung zu, denn ein Besinnen auf die Methodik Bilans hätte dazu geführt, die Gründung der PCInt in Frage zu stellen. Dazu war die Damen-Tendenz oder – präziser – die Gruppe Battaglia Comunista jedoch nie gewillt. Bordigas Strömung schien sich im Gegensatz dazu bewusster darüber zu sein, dass diese Periode eine Periode der Reaktion war und dass die aktivistische und auf die Rekrutierung von Mitgliedern abzielende Herangehensweise der PCInt sich als fruchtlos erwiesen hat. Unglücklicherweise war Bordigas Werk in der Periode nach der Spaltung, gleichwohl es viel Wertvolles auf allgemeiner Ebene enthielt, völlig abgeschnitten von den Fortschritten, die während der 30er Jahre von der italienischen Fraktion erzielt worden waren. Die politischen Positionen seiner neuen ‚Partei‘ waren kein Fortschritt, sondern ein Rückgriff auf die schwächsten Analysen der KI, zum Beispiel über die Gewerkschaften und die nationale Frage. Und ihre Theorie über die Partei sowie ihr Verhältnis zur historischen Bewegung basierte auf semi-mystischen Spekulationen über die ‚Invarianz‘ und über die Dialektik zwischen der ‚historischen Partei‘ und der ‚formalen Partei‘. Mit einem Wort, unter diesen Ausgangsbedingungen konnte keine der Gruppen, die aus der Spaltung entstanden waren, irgendetwas Wertvolles zum Verständnis des Proletariats über das historische Kräfteverhältnis beitragen, und diese Frage war eine ihrer wesentlichen Schwächen seither geblieben.

 

                                                Dezember 2000

(Der Teil 2 dieses Artikels folgt in der Internationalen Revue Nr. 30 vom November 2002)

 

[i] Mitchell starb 1945 in Folge seiner Inhaftierung im Konzentrationslager Buchenwald während des Krieges.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [1]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [2]

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [3]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [4]

Deutsche Revolution XIII (Teil 2)

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2. Eine Niederlage, die das Ende der weltweiten revolutionären Welle bedeutete

Wir haben in einem früheren Artikel aufgezeigt, wie die internationale Isolierung der Revolution in Russland – infolge der gescheiterten Ausdehnung der Revolution nach Westeuropa – zur Entartung der Komintern und zum Aufstieg des russischen Staatskapitalismus führte, was wiederum die Niederlage der Arbeiterklasse in Deutschland beschleunigte

Nach dem Abschluss des Geheimabkommens von Rapallo war der Kapitalistenklasse nicht verborgen geblieben, dass der russische Staat dabei war, die Komintern zu seinem Instrument zu machen. Gegen diese Entwicklung stemmte sich in Russland eine starke Opposition, die sich im Jahre 1923 durch eine Reihe von Streiks in der Gegend von Moskau sowie durch eine immer lauter werdende Opposition innerhalb der bolschewistischen Partei äußerte. Im Herbst 1923 hatte sich Trotzki nach langem Zögern endlich zu einem entschlosseneren Kampf gegen die wachsende staatskapitalistische Orientierung durchgerungen. Auch wenn die Komintern infolge der Politik der Einheitsfront und der Befürwortung des Nationalbolschewismus immer opportunistischer wurde und  um so mehr degenerierte, je stärker sie durch den russischen Staat stranguliert wurde, gab es noch einen internationalistisch gesinnten Kern in ihr, der weiterhin an der weltrevolutionären Orientierung festhielt. Nachdem das deutsche Kapital sein “Bündnisversprechen”, das es als “unterdrückte Nation”  Russland gegenüber gelobt hatte, fallengelassen hatte (1), fühlte sich dieser internationalistische Kern in der Komintern desorientiert, weil nunmehr die Aussichten auf eine revolutionäre “Entlastung” und Erneuerung immer geringer zu werden schienen. Aus Sorge vor dem emporkommenden Staatskapitalismus in Russland selbst und in der Hoffnung auf einen revolutionären Wiederaufschwung suchten sie verzweifelt nach einem letzten Strohhalm, nach der letzten Möglichkeit eines revolutionären Wiederaufbäumens.

“Da habt ihr, Genossen, endlich den Sturm, auf den wir so viele Jahre voller Ungeduld gewartet haben und welcher das Antlitz der Welt verändern wird. Die stattfindenden Ereignisse werden eine kolossale Bedeutung erlangen. Die deutsche Revolution bedeutet den Zusammenbruch der kapitalistischen Welt”. (Trotzki)

Überzeugt von dem weiterhin vorhandenen  revolutionären Potenzial und davon, dass die Gelegenheit zum Aufstand noch nicht verstrichen war, setzte er sich dafür ein, dass seitens der Komintern alles in Bewegung gesetzt wird, um eine revolutionäre Entwicklung zu unterstützen.

Gleichzeitig hatte sich in Bulgarien und in Polen die Lage weiter zugespitzt. Bereits am 23. September hatten die Kommunisten in Bulgarien mit Unterstützung der Komintern einen Aufstandsversuch unternommen, der allerdings scheitern sollte. Im Oktober und November brach in Polen eine breite Streikwelle aus, an der sich ca. zwei Drittel der Industriearbeiter des Landes beteiligten, wobei die KP Polens von der Kampfbereitschaft der Arbeiter überrascht wurde. Ebenso wie diese Streiks wurden auch aufstandsartige Kämpfe Anfang November 1923 niedergeschlagen.

Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Partei sprach sich Stalin gegen die Unterstützung der Bewegung in Deutschland aus, da sie eine direkte Bedrohung für den russischen Staatsapparat hätte werden können, innerhalb dessen er einige der wichtigsten Positionen innehatte. “Meiner Meinung nach müssen die deutschen Genossen gebremst und nicht angespornt werden.” (Brief Stalins vom 5.8.23 an Sinowjew)

Die Komintern verirrt sich im Abenteuer des Aufstands

Sich mit letzter Hoffnung an die Wiederbelebung einer revolutionären Situation klammernd,  beschloss die Führung der Komintern (EKKI) eigenständig und zunächst ohne Absprache und Beratung der Lage mit der  KPD, die Entwicklung zu forcieren und sich auf einen Aufstand in Deutschland vorzubereiten.

Nachdem am 11. September in Moskau die Nachricht von der Beendigung der Politik des “passiven Widerstands” Deutschlands gegen Frankreich und der Aufnahme deutsch-französischer Verhandlungen eintraf, drängte das EKKI auf ein Losschlagen Ende September in Bulgarien und kurze Zeit später in Deutschland. Die Vertreter der KPD wurden im September nach Moskau gerufen, um mit dem EKKI den Aufstand vorzubereiten. Diese Beratungen, an denen auch Vertreter der kommunistischen Parteien aus den Nachbarländern anwesend waren, dauerten nahezu einen Monat, von Anfang September bis Anfang Oktober.

Damit vollzog die Komintern eine erneute, verheerende Wende. Nach der katastrophalen Politik der Einheitsfront mit den konterrevolutionären sozialdemokratischen Kräften, deren zerstörerische Auswirkungen wir noch sehen werden, nach dem Flirt mit dem Nationalbolschewismus nun eine Verzweiflungstat - das Abenteuer eines Aufstandsversuches, ohne dass die Bedingungen für seine erfolgreiche Durchführung vorhanden waren.

Ungünstige Bedingungen

Auch wenn die Arbeiterklasse in Deutschland weiterhin der zahlenmäßig stärkste und konzentrierteste Teil des internationalen Proletariats war, der neben dem russischen am heftigsten gekämpft hatte, war die Kampfeswelle international weiter rückläufig und die Arbeiterklasse in Deutschland selbst stand 1923 relativ isoliert da.

Gegenüber der Lage in Deutschland schätzte das EKKI  das Kräfteverhältnis, das sich nach dem Schachzug der SPD-geführten Regierung im August in Deutschland klar zugunsten der Bourgeoisie entwickelte, falsch ein. Um die Strategie des Feindes zu durchschauen, muss sich eine international organisierte und zentralisierte Organisation auf eine richtige Analyse der Verhältnisse durch ihre örtlichen Sektionen stützen können. Doch gerade die KPD hatte sich am stärksten durch ihre national-bolschewistische Politik blenden lassen und nicht die wirkliche Entwicklung des Kräfteverhältnisses  erkannt, die in Deutschland die Schwächen der Bewegung offengelegt hatte.

·        Bis August war die Bewegung hauptsächlich auf ökonomische Forderungen beschränkt geblieben. Noch hatte die Arbeiterklasse keine eigenständigen politischen Forderungen formuliert. Auch wenn die Bewegung sich immer stärker aus den Fabriken heraus auf die Straße verlagerte, auch wenn die Arbeiter immer häufiger in Vollversammlungen zusammenkamen und Arbeiterräte gebildet wurden, kann man nicht von einer Situation der Doppelmacht sprechen. Mehrere Mitglieder des EKKI meinten, die Bildung von Arbeiterräten würde von der aus ihrer Sicht prioritären Aufgabe der militärischen Vorbereitung des Aufstandes ablenken; die Räte liefen gar Gefahr, zur Zielscheibe der Repression der Regierung zu werden. Denn die neue Regierung hatte die Fabrikräte per Gesetz verboten. Eine Mehrheit im EKKI schlug vor, dass die Sowjets erst nach der Machtergreifung errichtet werden sollten.

·        * Anstatt die Lehren aus der katastrophalen Politik der erhofften “nationalen Allianz” zu ziehen, wobei die “Einheitsfrontpolitik” nur eine Vorstufe zu diesem Verhängnis gewesen war, stützte man den angestrebten Aufstand auf eine “Arbeiterregierung”‘ aus SPD und KPD.

·        Schließlich fehlte in Deutschland eine unabdingbare Voraussetzung für einen erfolgreichen Aufstand: die revolutionäre Partei. Die KPD, angenagt durch ihre opportunistische Entwicklung und in ihrem Kern gespalten, erfüllte nicht die Bedingungen, um eine wirklich entscheidende politische Rolle in der Klasse zu übernehmen.

Die Aufstandsvorbereitungen

Im Laufe der Beratungen im EKKI wurden  folgende Punkte debattiert:

Trotzki drängte darauf, im Voraus ein Aufstandsdatum festzulegen. Er plädierte für den 7. November, den Tag des Oktoberaufstands in Russland sechs Jahre zuvor. Damit wollte er jeglicher zaudernden Haltung einen Riegel vorschieben. Der KPD-Vorsitzende Brandler lehnte es ab, sich auf einen bestimmten Termin festzulegen. So wurde Ende September beschlossen, dass der Aufstand in den nächsten vier bis sechs Wochen stattfinden sollte, d.h. Anfang November.

Da die deutsche Parteileitung sich für zu unerfahren hielt, schlug Brandler vor, dass Trotzki, der eine herausragende Rolle bei der Organisierung des Aufstands im Oktober 1917 in Russland gespielt hatte, selbst nach Deutschland kommen sollte, um zu helfen, den Aufstand zu organisieren.

Diesem Vorschlag widersetzten sich die anderen Mitglieder des EKKI; Sinowjew “beanspruchte” diese Führungsrolle für sich, da er der Vorsitzende des EKKI war. Der Streit um diese Entscheidung war nur vor dem Hintergrund des sich zuspitzenden Führungskampfes in Russland zu verstehen. Schließlich entschied man, ein Kollektivgremium zu schicken, das aus Radek, Guralski, Skoblewski und Tomski zusammengesetzt war.

Das EKKI beschloss, dass die Hilfe auf drei Ebenen erfolgen sollte:

-         militärisch: Sie sollte der Schwerpunkt sein. Bürgerkriegserfahrene Offiziere der russischen Roten Armee wurden heimlich nach Deutschland geschickt, um beim Aufbau der Roten Hundertschaften und einer künftigen Roten Armee zu helfen. Auch wirkten sie beim  Ausbau eines Nachrichtendienstes in Deutschland mit und hatten die Aufgabe, Kontakt zu oppositionellen Offizieren der Reichswehr zu knüpfen. Zudem sollten besonders erfahrene Mitglieder der russischen Partei an der Grenze bereitstehen, um schnellstmöglich vor Ort eintreffen zu können.

-         materiell (Lebensmittel):  Rund eine Million Tonnen Getreide sollten an der russischen Westgrenze bereitgestellt werden,  damit man einer siegreichen Revolution in Deutschland sofort zu Hilfe eilen konnte.

-         propagandistisch: Öffentliche Versammlungen mit dem Titel ‘Der deutsche Oktober steht vor der Tür, wie können wir der deutschen Revolution helfen?’ wurden in Russland abgehalten, wo man über die Perspektiven der Revolution in Deutschland berichtete. Vor allem aber wurden sie genutzt, um zu Spendensammlungen aufzurufen. So wurden Frauen aufgefordert, Eheringe und andere Wertsachen für “die deutsche Sache” zu opfern. 

Während die Diskussionen in Moskau noch fortdauerten, hatten Emissäre der Komintern in Deutschland selbst bereits die Vorbereitungen für den Aufstand vorangetrieben. Anfang Oktober hatten sich viele führende Parteimitglieder schon auf eine illegale Situation eingestellt. Während in Moskau zwischen der Führung der KPD und dem EKKI  die Aufstandspläne erörtert wurden, scheint eine größere Debatte über die unmittelbaren Perspektiven und die Aufstandsfrage innerhalb der KPD selbst nicht stattgefunden zu haben.

In Deutschland hatte die KPD seit Jahresbeginn, vor allem seit dem Leipziger Kongress, systematisch mit der Aufstellung von Hundertschaften begonnen. Anfangs noch sollten diese bewaffneten Truppen mehr als Schutzformation für Demonstrationen und Arbeiterversammlungen dienen, in denen kampfbereite Arbeiter unabhängig von ihrer politischen Überzeugung mitwirken konnten. Nun erprobten sich diese Hundertschaften  in militärischen Übungen, machten Probealarme und spezielle Ausbildungen an Waffen und anderen militärischen Geräten. 

Im Vergleich zum März 1921 wurde jetzt mit viel größerem organisatorischen Aufwand vorgegangen und erhebliche Mittel in die militärischen Vorbereitungen gesteckt. So hatte die KPD in der Zwischenzeit ihren Nachrichtendienst aufgebaut. Es gab den M-Apparat (Militärapparat), Z-Gruppen zur Zersetzung der Reichswehr und Polizei, T-Gruppen (Terror). Geheime Waffenlager wurden angelegt, militärische Karten aller Art besorgt. 

Die russischen Militärberater gingen davon aus, über eine halbe Million Gewehre zur Verfügung zu haben. Man rechnete mit der Möglichkeit, 50-60.000 Mann schnellstens bewaffnen zu können, während die Reichswehr und die sie unterstützenden rechtsradikalen Wehrverbände mit der Polizei zahlenmäßig ca. 50 mal stärker als die von der KPD geführten Formationen waren.

In dieser Situation wurde von der Komintern ein Plan ausgearbeitet, der sich auf einen militärischen Schlag ausrichtete. 

Indem die KPD in einigen Regionen in eine “Arbeiterregierung” mit der SPD eintrete, würde dies die Lage explosiv werden lassen. Man rechnete damit, dass die Faschisten, von Bayern und Süddeutschland aus kommend, nach Sachsen und Mitteldeutschland vorstoßen würden. Gleichzeitig rechnete man mit einem Vorstoß der Reichswehr von Preußen aus. Diesem Vormarsch könne man durch den Aufmarsch von riesigen bewaffneten Arbeitereinheiten entgegentreten und die Reichswehr und die faschistischen Verbände militärisch schlagen, indem man den Gegner bei Kassel in eine Falle locke. Aus den Roten Hundertschaften sollte eine Rote Armee entstehen, von der sächsische Teil nach Berlin, der thüringische nach München marschieren sollte. Die neue, für ganz Deutschland aufgestellte Regierung würde dann Kommunisten, linke Sozialdemokraten, Gewerkschafter und nationalbolschewistische Offiziere umfassen.

Ein Schlüsselelement der Taktik sollte deshalb zunächst der Regierungseintritt der KPD in Sachsen sein.

Aufstand durch ein Regierungsbündnis mit der SPD?

Im August war die SPD der Regierung beigetreten, um mit einer Reihe von Versprechungen die Aufwärtsbewegung zu stoppen.

Obgleich die Regierung am 26. September offiziell das Ende des passiven Widerstands angekündigt und versprochen hatte, Löhne auszuzahlen, brach am 27. September ein Streik im Ruhrgebiet aus. Am 28. September rief die KPD zum Generalstreik im ganzen Reich, zur Bewaffnung der Arbeiter und zur “Erkämpfung einer Arbeiter- und Bauern-Regierung” auf. Am 29. September erklärte die Regierung den Ausnahmezustand, woraufhin die KPD am 1. Oktober den Streik im Ruhrgebiet abbrach.

Wie schon zuvor bestand ihr Ziel nicht darin, die Arbeiterklasse durch die Erhöhung des Drucks aus den Betrieben weiter zu stärken, sondern sich ganz auf den entscheidenden, irgendwann eintretenden Moment zu konzentrieren. Anstatt, wie die Komintern später feststellen musste, durch den Druck aus den Betrieben die jetzt frisch an die Regierung gekommene SPD zu entblößen, wurde die Initiative in den Betrieben gebremst.  So wurde die Bereitschaft in der Arbeiterklasse, sich gegen die Angriffe zur Wehr zu setzen, nicht nur durch das Versprechen von Zugeständnissen seitens der Regierung gebremst, sondern auch von der KPD selbst.

Die Komintern sollte später dazu auf dem 5. Kongress feststellen:

“Nach dem Cuno-Streik wurde der Fehler gemacht, elementare Bewegungen bis zum Entscheidungskampf verschieben zu wollen.

Einer der schwersten Fehler war es, dass die instinktive Rebellion der Massen nicht durch Einstellung auf politische Ziele systematisch in bewusst revolutionären Kampfwillen verwandelt wurde...

Die Partei versäumte es, energische, lebendige Agitation für die Aufgaben der politischen Arbeiterräte durchzuführen. Übergangsforderungen und Teilkämpfe aufs engste mit dem Endziel der Diktatur des Proletariats zu verbinden. Die Vernachlässigung der Betriebsrätebewegung machte es auch unmöglich, die Betriebsräte zeitweilig die Rolle der Arbeiterräte übernehmen zu lassen, so dass es in den entscheidenden Tagen an einem autoritativen Zentrum fehlte, um das sich die schwankenden Arbeitermassen hätten sammeln können, die dem Einfluss der SPD entzogen worden waren.

Da auch andere Einheitsfrontorgane (Aktionsausschüsse, Kontrollausschüsse, Kampfkomitees) nicht planmäßig ausgenützt wurden, um den Kampf politisch vorzubereiten, so wurde der Kampf fast nur als Parteisache und nicht als einheitlicher Kampf des Proletariats aufgefasst.”

Durch das Bremsen der Abwehrkämpfe der Arbeiter mit dem Argument, bis zum “Entscheidungstag’ zu warten, machte die KPD den Arbeitern ein Kräftemessen mit dem Kapital und sich selbst die Mobilisierung der durch die SPD-Propaganda verunsicherten Arbeiter unmöglich. So kritisierte die Komintern später: “Die Überhitzung in den technischen Vorbereitungen während der entscheidenden Wochen, die Einstellung auf die Aktionen als Parteikampf und nur auf den ‘entscheidenden Schlag’ ohne vorherige anwachsende Teilkämpfe und Massenbewegungen verhinderten die Prüfung des wirklichen Kräfteverhältnisses und machten eine zweckmäßige Terminsetzung unmöglich (....) Tatsächlich ließ sich nur feststellen, dass die Partei auf dem Wege war, die Mehrheit für sich zu erobern, ohne schon die Führung über sie zu besitzen.” (Die Lehren der deutschen Ereignisse und die Taktik der Einheitsfront)

Zu diesem Zeitpunkt, nämlich am 1. Oktober, revoltierten in Küstrin Mitglieder einer “Schwarzen Reichswehr-Garnison”  (d.h. ein mit den Faschisten sympathisierender Verband). Ihre Erhebung wurde von preußischen Polizeitruppen niedergeschlagen. Der demokratische Staat  brauchte die Faschisten noch nicht!

Am 9.Oktober traf Brandler aus Moskau mit der neuen Orientierung des Aufstands mittels Regierungseintritt ein. Am 10. Oktober wurde die Bildung einer Regierung mit der SPD in Sachsen und Thüringen beschlossen. Drei Kommunisten traten in die sächsische Regierung ein (Brandler, Heckert, Böttcher), zwei in die thüringische Regierung (Korsch und Tenner).

Während man im Januar 1923 noch auf dem Parteitag gesagt hatte: “Die Beteiligung der KPD an einer Landesarbeiterregierung, ohne Bedingungen an die SPD zu stellen, ohne genügend starke Massenbewegung und ohne ausreichende außerparlamentarische Stützpunkte, kann die Idee der Arbeiterregierung kompromittieren und die Reihen der eigenen Partei zersetzen” (S. 255, Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung), war die KPD-Zentrale jetzt bereit, entsprechend den Anweisungen der Komintern praktisch bedingungslos der SPD-Regierung beizutreten. Die KPD hoffte, so einen Ausschlag gebenden Hebel für den Aufstand in der Hand zu haben, denn geplant war, dass die KPD sofort alles unternehmen würde, um für die Bewaffnung der Arbeiter zu sorgen.

Während die KPD mit einer wütenden Reaktion der Faschisten und der Reichswehr  gerechnet hatte, war es der SPD-Reichspräsident Ebert, der am 14. Oktober die sächsische und die thüringische Regierung für abgesetzt erklärte. Am gleichen Tag ordnete Ebert den Einmarsch der Reichswehr in Sachsen und Thüringen an.

Der “demokratische” SPD-Reichspräsident schickte also die Reichswehr gegen die “demokratisch gewählte” SPD-Regierung in Sachsen und Thüringen. Wiederum war es die SPD, die im Auftrag des Kapitals eine gewaltsame Niederwerfung der Arbeiter mit einem geschickten politischen Manöver vorbereitete und in die Hand nahm.

Gleichzeitig machten sich faschistische Gruppierungen aus Bayern auf den Weg nach Thüringen. Die KPD beschloss, die Arbeiter zu den Waffen zu rufen. In der Nacht vom 19. zum 20. Oktober verteilte die KPD ein Flugblatt in einer Auflage von 150.000 Exemplaren, in dem die Parteimitglieder angewiesen wurden, sich aller verfügbaren Waffen zu bemächtigen. Gleichzeitig sollte der Generalstreik beschlossen werden, der den Aufstand einleiten sollte.

Chronik einer angekündigten Niederlage

Um diesen Beschluss jedoch nicht als Partei zu fassen, sondern ihn von einer Delegiertenversammlung verabschieden zu lassen, wollte der Parteivorsitzende Brandler am 21. Oktober auf der Arbeiterkonferenz in Chemnitz einen Streikbeschluss erwirken. Zu den ca. 450 Delegierten gehörten u.a. 60 offizielle Delegierte der KPD, sieben offizielle Delegierte der SPD und 102 Vertreter der Gewerkschaften.

Mit dem Argument, die Stimmung zu testen, schlug Brandler auf dieser Versammlung den Generalstreik vor. Daraufhin reagierten vor allem die Gewerkschaftsvertreter und die SPD-Delegierten mit lautem Protest und der Drohung, die Versammlung zu verlassen, falls der Generalstreik beschlossen würde. Von Aufstand war ohnehin keine Rede. Allen voran der anwesende SPD-Minister wandte sich energisch gegen den Generalstreik. Doch anstatt ein Ort der Bündelung des Widerstandes gegen die Angriffe des Kapitals zu sein, gab die Versammlung gegenüber der SPD und den Gewerkschaftsvertretern kleinlaut bei. Selbst die KPD-Delegierten hüllten sich in Schweigen! So beschloss dieses Treffen, auf dem nach den Vorstellungen der KPD der Funken durch den Generalstreiksbeschluss gezündet werden sollte, seine Entscheidung zu vertagen.

Dabei hatte für Brandler  und die KPD-Führung von Anfang an außer Frage gestanden, dass die Anwesenden unter dem Eindruck der auf Sachsen vorrückenden Truppen der Reichswehr und dem von Berlin aus geplanten Sturz der sächsischen Arbeiterregierung in eine revolutionäre Hochstimmung geraten und somit selbstverständlich bereit sein würden, sich zu wehren. Nach der Fehleinschätzung der Lage im August hatte die  KPD das Kräfteverhältnis und die Stimmung auch diesmalzu diesem Zeitpunkt erneut falsch eingeschätzt.

In der Versammlung von Chemnitz, die von der KPD-Führung als “Dreh- und Angelpunkt” für den Aufstand auserwählt worden war, beeinflusste die SPD noch den Großteil der Delegierten. In den Fabrikkomitees und Vollversammlungen hatte die KPD noch nicht die Mehrheit für sich gewinnen können. Im Gegensatz zu den Bolschewiki im Jahre 1917 hatte die KPD weder die Lage richtig einzuschätzen noch den Lauf der Ereignisse entscheidend zu beeinflussen vermocht. Für die Bolschewiki wurde die Frage des Aufstands  erst akut, als sie in den Räten die Mehrheit für sich erobert hatten und die Partei die Ausschlag gebende, führende Rolle spielen konnte.

Die Versammlung in Chemnitz ging auseinander, ohne einen Beschluss für den Streik, geschweige denn für den Aufstand gefasst zu haben. Nach diesem niederschmetternden Abstimmungsergebnis beschloss die Zentrale einstimmig, der Rückzug anzutreten. Nicht nur Brandler, sondern auch die “linken” Mitglieder der Zentrale und alle ausländischen Genossen, die damals in Deutschland anwesend waren, haben ohne Ausnahme diesem Beschluss zugestimmt.

Als die Ortsgruppen der Partei, die überall “Gewehr bei Fuß” standen, von dieser Entscheidung unterrichtet wurden, war die  Enttäuschung riesig!

Obwohl es zum genauen Ablauf der Ereignisse in Hamburg unterschiedliche Versionen gibt, scheint die Nachricht von der Annullierung des Aufstands nicht rechtzeitig übermittelt worden zu sein. Überzeugt davon, dass der Aufstand nach Plan läuft, legten die örtlichen Parteimitglieder los, ohne die Bestätigung der Zentrale bekommen zu haben. So schlugen in der Nacht vom 22. zum 23. Oktober in Hamburg die Hundertschaften und die Kommunisten los und kämpften gegen die Polizei nach einem vorher festgelegten Schlachtplan. Die Kämpfe dauerten einige Tage, wobei sich der Großteil der Arbeiter zurückhielt, ja, viele Mitglieder der SPD sich bei den Polizeibehörden meldeten, um gegen die Aufständischen zu kämpfen.

Als am 24. Oktober nachmittags die Nachricht der KPD von der Aufforderung zum Abbruch der Kämpfe eintraf, war ein geordneter Rückzug nicht mehr möglich. Die Niederlage war unvermeidbar.

Am 23. Oktober marschierten Reichswehrtruppen in Sachsen ein. Erneut begann die Repression gegen die KPD. Wenig später, am 13. November, wurde Thüringen von der Reichswehr besetzt. In den anderen Landesteilen kam es zu keinen größeren Reaktionen der Arbeiter. Selbst in Berlin, wo der “linke Flügel” der KPD dominierte, ließen sich nur wenige hundert Mitglieder für Solidaritätsdemonstrationen mobilisieren. Enttäuscht von der Partei, wandten sich große Teile der Arbeiterklasse von ihr ab.

Die Lehren der Niederlage

Der Versuch der Komintern, durch die abenteuerliche Organisierung eines Aufstands in Deutschland die revolutionäre Welle von Kämpfen wieder anzukurbeln und eine Wende in Russland herbeizuführen, war fehlgeschlagen.

1923 stand die Arbeiterklasse in Deutschland in vielerlei Hinsicht isolierter da als zu Beginn der revolutionären Welle 1918/19. Gleichzeitig hatte die Bourgeoisie eine geschlossene Front gegen die Arbeiterklasse gebildet. Die Bedingungen für einen erfolgreichen Aufstand in Deutschland waren nicht vorhanden. Die in der Klasse vorhandene Kampfbereitschaft war im August 1923 von der Bourgeoisie gedämpft worden. Der Druck aus den Betrieben, das Bestreben, zu Vollversammlungen zusammenzukommen, ließ nach.

“Die Gradmesser unseres revolutionären Einflusses waren für uns die Sowjets (...) Die Sowjets gaben den politischen Mantel für unsere verschwörerische, konspirative Tätigkeit ab, sie waren dann auch Organe der Regierung nach der faktischen Machtergreifung.” (L. Trotzki, Kann man eine Konterrevolution oder eine Revolution auf einen bestimmten Zeitpunkt ansetzen?, 1924)  Zu einer Bildung von Arbeiterräten, zentrale Voraussetzung für die Machtergreifung, war es in Deutschland 1923 nicht gekommen.

Nicht nur waren die politischen Bedingungen in der Klasse insgesamt noch nicht herangereift, auch und vor allem die KPD selbst hatte sich als unfähig erwiesen, ihre politische Führungsrolle wirklich zu erfüllen. Ihre politische Ausrichtung - die Politik des Nationalbolschewismus bis zum August, ihre Politik der Einheitsfront und der Schutz der Demokratie  -trugen zu einer gewaltigen Verwirrung und Entwaffnung der Arbeiterklasse bei. Eine erfolgreiche Erhebung der Arbeiterklasse ist aber nur denkbar, wenn die Arbeiterklasse politisch ausreichend klar ihre Ziele erkennt und eine Partei an ihrer Seite hat, die Stoßrichtung und den Moment zum Handeln klar genug aufzeigen kann.

Ohne eine starke, solide Partei ist der Aufstand nicht denkbar, da nur sie einen Überblick über die Lage  hat, die Strategie des Gegners erkennen und die entsprechenden Schlussfolgerungen daraus ziehen kann. Wegen ihrer Fähigkeit zur Analyse der Strategie des Klassenfeindes, ihrer Fähigkeit, die Temperatur in der Klasse, insbesondere in ihren Hauptbataillonen,  zu messen und wegen ihrer Fähigkeit, ihr Gewicht im entscheidenden Moment in die Waagschale zu werfen, ist sie unerlässlich.

Die Komintern hatte das Hauptaugenmerk auf die militärische Vorbereitung gelegt.  So schilderte Retzlaw –(der Verantwortliche für den militärischen Geheimapparat der KPD) -,  dass mit den russischen Militärberatern meist rein strategische Schachzüge diskutiert wurden, wobei die große Masse der Arbeiter nicht einmal erwähnt wurde.

Auch wenn der Aufstand militärstrategisch minutiös geplant werden muss, beschränkt er sich  selbst keinesfalls auf eine einfache Militäroperation. Die militärischen Aufstandsvorbereitungen können erst angegangen werden, wenn der politische Reifungs- und Mobilisierungsprozess der Klasse weit genug vorangeschritten ist. Dieser Prozess lässt sich nicht überspringen.

Das heißt nicht, dass die Arbeiterklasse unterdessen ihren Druck vernachlässigen sollte, wie es die KPD 1923 befürwortete. Hatten die Bolschewiki im Oktober 1917 die “Kunst des Aufstands” erfolgreich zur Anwendung bringen können, so war der Aufstandsplan vom Oktober 1923 eine reine Farce, die in einer Tragödie endete. Die Internationalisten in der Komintern, die mit dieser abenteuerlichen Verzweiflungstat nach einem letzten Strohhalm greifen wollten, hatten die Lage falsch eingeschätzt.

Trotzki, der im September offensichtlich schlecht über die Lage im Bilde war, war am meisten davon überzeugt, die Bewegung ginge weiter aufwärts, und er gehörte zu denen, die  am heftigsten auf den Aufstand gedrängt hatten.

Die Kritik, die er nach den Ereignissen entwickelte, ist zum großen Teil falsch. Er warf  der KPD vor, dass, während sie sich 1921 abenteuerlich und ungeduldig verhalten habe, sie 1923 in das andere Extrem des Abwartens, der Vernachlässigung der eigenen Rolle verfallen sei.

“Die Reife der revolutionären Situation in Deutschland wurde von der Partei zu spät erkannt, (...) so dass die wichtigsten Kampfmaßnahmen verspätet in Angriff genommen wurden.  

Die Kommunistische Partei kann nicht gegenüber der wachsenden revolutionären Bewegung des Proletariats eine abwartende Haltung einnehmen. Das ist eigentlich die Stellungnahme des Menschewismus: Die Revolution hemmen, solange sie sich entwickelt, ihre Erfolge ausnutzen, wenn sie halbwegs siegreich ist, und alles anwenden, um sie aufzuhalten.” (L. Trotzki, Kann man eine Konterrevoultion oder eine Revolution an einem bestimmten Zeitpunkt ansetzen?, 1924)

Er betonte zwar zu Recht den subjektiven Faktor und die Tatsache, dass der Aufstand  die energische, entschlossene, gezielte und weitsichtige Intervention der Revolutionäre braucht, um gegenüber allen Zögerungen und Schwankungen der Klasse einzugreifen. Darüber hinaus hatte Trotzki die zerstörerische Rolle der Stalinisten erkannt: “...die Stalinsche Führung (...) hemmte und bremste die Arbeiter, wo die Bedingungen einen kühnen revolutionären Angriff diktierten; proklamierte revolutionäre Situationen als bevorstehend, wenn sie bereits verpasst waren; schloss Bündnisse mit Phrasenhelden und Schwätzern aus dem Lager des Kleinbürgertums; hinkte unter dem Schein der Einheitsfrontpolitik ohnmächtig hinter der Sozialdemokratie her.” (Die Tragödie des deutschen Proletariats, Mai 1933)     

Aber er selbst hatte sich mehr vom eigenen Willen leiten lassen als von der richtigen Analyse des Kräfteverhältnisses.

Die Oktoberniederlage 1923 bedeutete nicht nur eine  physische Schwächung der Arbeiter in Deutschland,

sondern sie sollte auch zu einer tiefgreifenden politischen Desorientierung und Demoralisierung der Arbeiterklasse führen.

Die Welle revolutionärer Kämpfe, deren Höhepunkt 1918/1919 überschritten war, war 1923 beendet. Der Bourgeoisie war es gelungen, der Arbeiterklasse in Deutschland eine entscheidende Niederlage beizufügen.

Die Niederschlagung der Kämpfe in Deutschland,  Bulgarien und Polen ließen die Arbeiterklasse in Russland noch isolierter zurück. Zwar gab es noch einige “Nachhutgefechte”, von denen die Kämpfe 1927 in China besonders herausragen, dennoch brach eine lange Ära der Konterrevolution an, die erst mit der Wiederbelebung der Kämpfe 1968 durchbrochen werden sollte.

Die Komintern sollte sich als unfähig erweisen, die wirklichen Lehren aus den Ereignissen in Deutschland zu ziehen.

Die Unfähigkeit der Komintern und der KPD, die wahren Lehren zu ziehen

Auf dem 5. Weltkongress der Komintern 1924 richteten die Komintern und die KPD ihre Hauptkritik darauf, dass die KPD die Taktik der Einheitsfront und der Arbeiterregierung “falsch” ausgelegt habe. Zu einer grundsätzlichen Verwerfung dieser Taktik kam es nicht.

Die KPD trug sogar dazu bei, die SPD von ihrer Verantwortung bei der Niederlage weißzuwaschen, als sie behauptete: “Man kann ohne Übertreibung sagen: die heutige deutsche Sozialdemokratie ist tatsächlich nur noch ein lockeres Gefüge schlecht untereinander verbundener Organisationen mit grundverschiedener politischer Einstellung.”

Sie blieb ihrer opportunistischen und verheerenden Politik gegenüber der verräterischen Sozialdemokratie treu: “Der ständige kommunistische Druck auf die Zeigner-Regierung und den sich mit ihr herausbildenden linken Flügel der SPD werde die Zersetzung der SPD bringen. Es kam darauf an, unter unserer Führung den Massendruck auf die sozialdemokratische Regierung zu steigern, zu verschärfen und die sich herausbildende sozialdemokratische linke Führergruppe im Zuge einer großen Bewegung vor die Entscheidung zu stellen, entweder mit den Kommunisten gemeinsam den Kampf gegen die Bourgeoisie einzuleiten, oder sich zu demaskieren und damit die letzte Illusion der sozialdemokratischen Arbeitermassen zu vernichten.” (9. Parteitag, April 1924)

Seit dem 1. Weltkrieg ist die SPD vollends in den Staat integriert. Diese Partei, der schon soviel Blut aus dem 1. Weltkrieg und der Niederschlagung der Kämpfe an den Fingern klebte, befand sich keineswegs in einem Zersetzungsprozess. Im Gegenteil, als  ein Teil des Staatsapparates konnte sie weiterhin einen großen Einfluss auf die Arbeiter ausüben. Dies musste auch Sinowjew im Namen der Komintern feststellen: “Aber den ‘linken’ Sozialdemokraten, (...) die in Wahrheit der schmutzigen, gegenrevolutionären Politik der rechten Sozialdemokraten nur zur Verhüllung dienen - ihnen glaubt ein erheblicher Teil der Arbeiter immer noch.”

Die Geschichte hat seitdem immer wieder bewiesen, dass es nicht möglich ist, eine Partei, die verraten und ihr Klassenwesen geändert hat, zurückzuerobern. Der Versuch, mit Hilfe der SPD die Arbeiterklasse zu führen, war damals schon ein Zeichen der opportunistischen Entartung der Komintern gewesen. Denn während Lenin in seinen Aprilthesen 1917 die Unterstützung der Kerenski-Regierung abgelehnt und  die schärfstmögliche Abgrenzung von  der Provisorischen Regierung verlangt hatte, bestand die KPD im Oktober 1923 auf überhaupt keiner Abgrenzung und trat bedingungslos in die Regierung mit der SPD ein.  Anstatt die Arbeiter zu mobilisieren, hat der  Regierungseintritt der KPD sie vielmehr eingeschläfert. Die politische Entwaffnung der Arbeiterklasse und die Repression durch die  Reichswehr wurden erleichtert. Eine Aufstandsbewegung kann nur vorankommen, wenn es der Arbeiterklasse gelingt, ihre Illusionen über die bürgerliche Demokratie zu überwinden. Und die Revolution kann  nur siegen, wenn die Kräfte, die bürgerliche Demokratie verteidigen, zerschlagen werden.

1923 hat die KPD nicht  nur nicht die bürgerliche Demokratie bekämpft, sondern sie hat die Arbeiter gar zur Verteidigung der bürgerlichen Demokratie aufgerufen.

Insbesondere hinsichtlich der SPD stand die KPD im eklatanten Gegensatz zu den Positionen der Komintern, die auf ihrem Gründungskongress diese Partei als den Henker der Revolution in Deutschland 1919 gebrandmarkt hatte.

Später beharrte die KPD nicht nur auf ihren Fehlern, sondern sie erwies sich auch als Vorreiter des Opportunismus. Unter allen Parteien der Komintern wurde sie zu deren treuesten Vasall. Nicht nur war sie zum Vorreiter bei der Einführung der Einheitsfront und Arbeiterregierung geworden, sondern sie setzte auch als erste die Politik der Fabrikzellen und der Bolschewisierung um, die von Sinowjew und Stalin befürwortet wurde.

Durch die Niederlage der Arbeiterklasse in Deutschland erhielt der Stalinismus gewaltigen Auftrieb. 

International, aber auch in Russland konnte die Bourgeoisie ihre Offensive fortsetzen und die furchtbarste Konterrevolution gegen die Arbeiterklasse einleiten, unter der sie je gelitten hat. Der russische Staat wurde nach 1923 von den anderen kapitalistischen Staaten und dem Völkerbund völkerrechtlich anerkannt.

1917 hatte die erfolgreiche Machtergreifung der Arbeiterklasse in Russland den Auftakt gebildet für die Auslösung einer weltweiten revolutionären Welle. Das Kapital hatte jedoch den Erfolg der Revolution in den Schlüsselländern, allen voran in Deutschland, verhindern können.

Die Lehren hinsichtlich der erfolgreichen Machtergreifung im Oktober 1917 in Russland wie  des Scheiterns der Revolution in Deutschland – und insbesondere die Lehren darüber, wie es der Bourgeoisie gelang, den Sieg der Revolution zu vereiteln, über die Folgen, die daraus für die internationale Dynamik der Kämpfe entstanden und über  die  daraus resultierende  Entartung der Revolution in Russland – all diese Elemente sind ein Bestandteil ein und derselben historischen Erfahrung der Arbeiterklasse.

Damit eine nächste revolutionäre Welle sich entfalten kann und die nächste Revolution erfolgreich ist, muss die Arbeiterklasse sich diese unschätzbare Erfahrung unbedingt aneignen.   

Dv

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [5]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1919 - Deutsche Revolution [6]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Deutsche und Holländische Linke [7]

Theoretische Fragen: 

  • Zerfall [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [4]

Geschichte der Arbeiterbewegung

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Die Verteidigung der proletarischen Perspektive durch die linken Fraktionen

In Zeiten wie heute, wo die Perspektive einer Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Barbarei für die meisten Arbeiter ‚unerreichbar‘ scheint, müssen Revolutionäre mehr denn je die langfristige Natur ihrer Arbeit betonen und dürfen sich nicht von kurzfristigen Betrachtungen beirren lassen. Die Arbeit der Revolutionäre ist stets auf die Zukunft gerichtet und nicht nur ein Kampf für die Verteidigung der unmittelbaren Interessen des Proletariats. Wie die Geschichte gezeigt hat, kann eine Revolution nur erfolgreich sein, wenn sich eine revolutionäre Organisation, wenn sich die Partei den Aufgaben, die sie zu erfüllen hat, gewachsen zeigt.

Doch eine Partei, die imstande ist, ihre Aufgaben zu erfüllen, entsteht weder durch bloße Verkündung noch spontan, sondern ist das Resultat langer Jahre des Aufbaus und der Auseinandersetzungen. In diesem Sinne sind bereits die heutigen Revolutionäre an der Vorbereitung der Gründung der künftigen Partei beteiligt. Es wäre fatal, wenn Revolutionäre die historische Bedeutung ihrer eigenen Arbeit unterschätzen.

Selbst wenn die heutigen revolutionären Organisationen unter schwierigeren Umständen entstanden sind als frühere revolutionäre Organisationen, tragen die heutigen Revolutionäre bereits zum Aufbau einer unerlässlichen Brücke zur Zukunft bei. Doch können sie dies nur dann tun, wenn sie sich als fähig erweisen, ihre Verantwortung mit Leben zu füllen, denn die Geschichte hat uns gezeigt, dass nicht alle Organisationen, die die Klasse in der Vergangenheit produziert hat, dem nachgekommen sind, besonders wenn sie mit der Prüfung eines imperialistischen Krieges oder einer revolutionären Periode konfrontiert waren.

Viele Organisationen degenerierten oder zerfielen unter dem Druck der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Gifts des Opportunismus. Auch heute ist der Druck des Opportunismus sehr groß, daher müssen revolutionäre Organisationen einen ständigen Kampf gegen diesen Druck ausfechten.

Das berühmteste Beispiel der Degeneration in der Vergangenheit ist der Fall der deutschen Sozialdemokratie, der SPD, die zur größten Arbeiterorganisation des 19. Jahrhunderts aufstieg, um dann mit anzusehen, wie ihre Führung der Interessen der Arbeiterklasse verriet, als die Bourgeoisie im August 1914 in den Ersten Weltkrieg trat. Ein anderes berühmtes Beispiel ist jenes der bolschewistischen Partei, die, nachdem sie die Vorhut der proletarischen Revolution im Oktober 1917 gewesen war, sich in einen Feind der Arbeiterklasse verwandelte, nachdem sie im sowjetischen Staat integriert worden war.

Doch wann immer eine revolutionäre Organisation degenerierte und die Interessen der Arbeiterklasse verriet, das Proletariat war stets in der Lage, eine neue Fraktion in die Welt zu setzen, die gegen Degeneration und Verrat kämpfte.

„Die historische Kontinuität zwischen der alten und der neuen Klassenpartei kann nur auf dem Wege der Fraktion gesichert werden, deren historische Funktion es ist, eine Bilanz der vergangenen Erfahrungen zu ziehen, die Irrtümer und Unzulänglichkeiten des gestrigen Programms im Lichte einer marxistischen Kritik  zu thematisieren, aus diesen Erfahrungen die politischen Prinzipien zu ziehen, die notwendig sind, um das alte Programm zu vervollständigen, und die die Vorbedingung für die Bestimmung des neuen Programms sind, das für die Gründung der neuen Partei lebenswichtig ist. Die Fraktion ist sowohl ein Ort der ideologischen Fermentierung, das Labor des revolutionären Programms in einer Rückzugsperiode als auch Übungsgelände für ihr menschliches Material, die Militanten der künftigen Partei.“ (L’Etincelle, Nr. 10, Januar 1946)[i]

Im ersten Teil dieses Artikels wollen wir einige wichtige Lehren aus früheren Degenerationen und den Auseinandersetzungen der Fraktionen in Erinnerung rufen. Im zweiten Teil werden wir etwas präziser betrachten, wie die Fraktionen sich organisierten, um gegen solch eine Degeneration zu kämpfen.

Das Problem der Fraktion in der Zweiten Internationalen

Als am 4. August 1914  die sozialdemokratische Reichstagsfraktion geschlossen für die Kriegskredite stimmte und somit aktiv die Kriegsmobilisierung des deutschen Imperialismus unterstützte, beging zum ersten Mal in der Geschichte der Arbeiterbewegung eine Partei der Arbeiterklasse Verrat. Für eine bürgerliche Organisation kommt ein Verrat an ihren Klasseninteressen nicht in Betracht. Dies trifft selbst dann zu, wenn sie sich zu einem gegebenen Zeitpunkt weigert, am imperialistischen Krieg teilzunehmen. Im Gegenteil dazu ist die Ablehnung des Internationalismus eine der schlimmsten Vergewaltigungen proletarischer Prinzipien, die eine proletarische Organisation begehen kann, und kennzeichnet ihren Übergang ins bürgerliche Lager.

In Wirklichkeit war dieser Verrat des proletarischen Lagers durch die SPD-Führung lediglich der Höhepunkt eines langen Degenerationsprozesses. Während Rosa Luxemburg[ii] eine der ersten war, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein Gespür für den Prozess der opportunistischen Verfaulung entwickelt hatten, wurde der volle Umfang dieses Prozesses nicht vor dem Verrat 1914 erkannt. Wie wenig bewusst sich die meisten Revolutionäre über das Ausmaß dieser Degeneration waren, veranschaulicht Lenins ungläubiges Staunen, als er von der parlamentarischen Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten im August 1914 vernahm – er war davon überzeugt, dass die Kopie des Vorwärts (der SPD-Zeitung), die er in der Schweiz erhielt, eine von der deutschen Regierung ausgebrütete Fälschung war.

Wie ereignete sich die Degeneration der SPD?

Damit es zu einem Degenerationsprozess kommt, muss es materielle Bedingungen geben, die solch eine Dynamik in Gang setzen, und die Arbeiterklasse muss politisch geschwächt sein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Arbeiterklasse von Illusionen wie jene über die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus penetriert. Jahre ununterbrochenen Wachstums (trotz des Konjunktur bedingten Aufs und Abs) hatten die materielle Basis für das Aufblühen solcher Illusionen gelegt. Bernstein[iii] repräsentierte diese Illusionen in ihrer extremsten Form, als er behauptete, dass der Kapitalismus durch eine Reihe von Reformen überwunden werden könne und dass „das Ziel nichts, die Bewegung alles ist“.

Rosa Luxemburg fühlte die große Verwirrung, die durch das Erscheinen des Opportunismus in der SPD erzeugt wurde, als sie im März 1899 einen Brief an Leo Jogiches[iv] verfasste:

“Mit einem Wort, dieses ganze Gerede hat den einen Sinn: dass Bebel[v] selbst schon senil geworden ist und die Zügel aus der Hand gleiten lässt; er ist froh, wenn andere kämpfen, aber hat selbst weder die Energie noch das Feuer für eine Initiative... so steht die ganze Partei verdammt schlecht da; absolutes bezholowie, wie die Ruthenen sagen. Niemand leitet, niemand fühlt sich verantwortlich“ (Rosa Luxemburg an Leo Jogiches, 3. März 1899).

In einem weiteren Brief an Jogiches kurze Zeit später erwähnte sie die Intrigen, die Furcht und die Ressentiments ihr gegenüber in der Partei, die auftraten, sobald sie gegen diesen Prozess zu kämpfen begann.

“Dabei habe ich gar nicht die Absicht, mich auf die Kritik zu beschränken, im Gegenteil, ich habe die Absicht und Lust, positiv zu schieben, nicht Personen, sondern die Bewegung in ihrer Gesamtheit, unsere ganze positive Arbeit zu revidieren, die Agitation, die Praxis, neue Wege aufzuzeigen (sofern sich welche finden, woran ich nicht zweifle), den Schlendrian zu bekämpfen etc., mit einem Wort, ein ständiger Antrieb der Bewegung zu sein...Und dann die mündliche und schriftliche Agitation überhaupt, die in alten Formen versteinert ist und auf fast niemanden mehr wirkt, auf eine neue Bahn zu bringen, überhaupt neues Leben in die Presse, die Versammlungen und die Broschüren hineinzubringen“ (Rosa Luxemburg an Leo Jogiches, 1. Mai 1899).

Und als Rosa Luxemburg „Sozialreform oder Revolution“ (April 1899) schrieb, zeigte sie nicht nur ihre Entschlossenheit, gegen diese opportunistischen Abwege zu kämpfen; sie begriff auch, dass dieser Kampf in seiner ganzen programmatisch-theoretischen Dimension verstanden werden muss. Sie unterstrich: “Daher zeigt sich bei denjenigen, die nur den praktischen Erfolgen nachjagen wollen, das natürliche Bestreben, sich die Hände frei zu machen, d.h. unsere Praxis von der ‚Theorie‘ zu trennen, von ihr unabhängig zu machen... Es ist klar, dass diese Strömung, wollte sie sich gegen unsere Grundsätze behaupten, folgerichtig dazu kommen musste, sich an die Theorie selbst, an die Grundsätze heranzuwagen, statt sie zu ignorieren, sie zu erschüttern suchen und eine eigene Theorie zurechtzumachen“ (Rosa Luxemburg, „Sozialreform oder Revolution“, Ges. Werke, Bd 1/1, S. 441).

Die Degeneration wird also stets durch die Infragestellung des politischen Programms ausgedrückt, aber sie trifft auf ihrem Weg nach Oben auf den Widerstand eines Teils der Partei, der weiterhin zu den Prinzipien eben dieses Programms steht.

Der Kampf des linken Flügels der Zweiten Internationalen war daher von Beginn an ein politischer Kampf um die Verteidigung des Marxismus gegen seine Entwaffnung, aber es war zugleich ein Versuch, die Lehren aus den neuen Bedingungen des dekadenten Kapitalismus zu ziehen. Indem sie diese neuen Bedingungen spürten und versuchten, sie in einen neuen Rahmen zu platzieren, versuchten Rosa Luxemburg in „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ und Anton Pannekoek[vi] in „Taktische Differenzen in der Arbeiterbewegung“, die tiefer verwurzelten historischen Bedingungen des Opportunismus und seiner Unfähigkeit zu begreifen, die neuen Kampfbedingungen im dekadenten Kapitalismus zu verstehen.

Doch der linke Flügel der Sozialdemokratie blieb eine Minderheit, da die Mehrheit der Partei große Schwierigkeiten hatte, diese revisionistischen Ideen zu bekämpfen, seitdem der Parlamentarismus und die wachsende Integration des Gewerkschaftsapparates in den Staat diesen Illusionen ermöglichten, sich zu verbreiten und einen Apparat zu schaffen, der dem Staat loyal und der Arbeiterklasse gegenüber fremd und feindlich war.

Eine Degeneration wird stets von einem spezifischen Teil der Organisation verkörpert, der durch seine Identifizierung mit den Interessen der herrschenden Klasse Schritt für Schritt die fundamentalen Prinzipien der Partei über Bord wirft und als loyaler Vertreter des Staates und des nationalen Kapitals endet. Dieser degenerierende Organisationsteil ist dazu gezwungen, sich jeder Debatte zu widersetzen, ist durch seine Natur monolithisch und beabsichtigt das Mundtotmachen jeder kritischen Stimme. So wurde die Sozialdemokratie, die während der Zeit des Sozialistenverbots (1878-1890) das Zentrum des proletarischen Lebens und vieler kontroverser Debatten gewesen war, immer mehr zu einem Abstimmungsverein, der jede Debatte in der Partei zum Schweigen brachte. Viele Artikel des linken Flügels wurden der Zensur durch die Parteiführung unterworfen, andere Gegner wurden verwirrt, die Führung versuchte, die Linken aus den Redaktionskommissionen zu drängen, und bei Abstimmungen im Parlament wurden die Abgeordneten dazu angehalten, sich der Fraktionsdisziplin zu unterwerfen.

Rosa Luxemburg sah und verdammte diese Trends so deutlich wie möglich. Sie beschloss, nicht der Partei den Rücken zu kehren, sondern für ihre Wiederherstellung zu kämpfen – weil es nicht das Prinzip der Kommunisten ist, „die eigene Haut zu retten“, sondern für die Organisation zu kämpfen.

In einem Schreiben an Clara Zetkin[vii]  vom 16. Dezember 1906 bestand sie darauf:

“Mir kommt die ganze Zaghaftigkeit und Kleinlichkeit unseres ganzen Parteiwesens so schroff und schmerzlich zu Bewusstsein wie nie zuvor.( ...)

Aber ich rege mich deshalb über diese Dinge nicht so auf wie du, weil ich mit erschreckender Klarheit bereits eingesehen habe, dass diese Dinge und diese Menschen nicht zu ändern sind, solange die Situation nicht ganz anders geworden ist. Und auch dann – ich habe mir das bereits mit kühler Überlegung gesagt und bei mir ausgemacht – müsen wir einfach mit dem unvermeidlichen Widerstand dieser Leute rechnen, wenn wir die Massen vorwärts führen wollen. Die Situation ist einfach die: August Bebel und erst recht all die anderen haben sich für den Parlamentarismus und im Parlamentarismus gänzlich ausgegeben. Bei irgendeiner Wendung, die über die Schranken des Parlamentarismus hinausgeht, versagen sie gänzlich, ja, noch mehr, suchen alles auf den parlamentarischen Leisten zurückzuschrauben, werden also mit Grimm alles und jeden als ‚Volksfeind’ bekämpfen, der darüber hinaus wird gehen wollen..

Die Massen, und noch mehr die große Masse der Genossen, sind innerlich mit dem Parlamentarismus fertig, das Gefühl habe ich. Sie würden mit Jubel einen frischen Luftzug in der Taktik begrüßen; aber die alten Autoritäten lasten noch auf ihnen und noch mehr auf die oberste Schicht der opportunistischen Redakteure, Abgeordneten und Gewerkschaftsführer. Unsere Aufgabe ist jetzt, dem Einrosten dieser Autoritäten mit möglichst schroffem Protest entgegenzuwirken... Wenn wir gegen den  Opportunismus eine Offensive starten, werden die alten Anwälte gegen uns sein.... Das sind Aufgaben, die auf lange Jahre berechnet sind! (Rosa Luxemburg, Briefe, S. 213)

Selbst als die Linken es mit einem wachsenden Widerstand innerhalb der Partei zu tun bekamen, dachte keiner von ihnen daran, sich in einem separaten Körper zu sammeln, ganz zu schweigen daran, die Partei den Opportunisten zu überlassen. Am 19. April 1912 drückte Rosa Luxemburg ihre Ansicht in einem Brief an Franz Mehring[viii]  aus:

“Sie werden sicher auch das Gefühl haben, dass wir immer mehr Zeiten entgegengehen, wo die Masse der Partei einer energischen, rücksichtslosen und großzügigen Führung bedarf, und daß unsere führenden Instanzen – Parteivorstand, Zentralorgan, Parlamentsfraktion – immer kleinlicher, feiger und parlamentarisch-kretinhafter werden. Wir müssen also offen dieser schönen Zukunft ins Auge blicken, alle Posten bestzen und festhalten, die es ermöglichen, der offiziellen “Führerschaft“ zum Trotz das Recht der Kritik wahrzunehmen.

J. Marchlewski[ix] betonte in einem Brief an Rosa Luxemburg:

“Daraus erwächst aber für uns die Pflicht, gerade auszuharren, gerade nicht den offiziellen Parteibonzen den Gefallen zu tun und die Flinte ins Korn zu werfen. Auf ständige Kämpfe und Reibungen müssen wir ja gefasst sein... Aber trotz alledem – keinen Fußbreit nachgeben scheint mir die beste Parole“, wie er unterstrich. Und weiter: “wir drei, und ich ganz besonders, was ich betonen möchte, sind der Auffassung, dass die Partei eine innere Krise durchmacht, viel, viel schwerer als zu jener Zeit, da der Revisionismus aufkam. Das Wort mag hart sein, aber es ist meine Überzeugung, dass die Partei dem Marasmus zu verfallen droht, wenn es so weitergeht. In einer solchen Situation gibt es für eine revolutionäre Partei nur eine Rettung: die denkbar schärfste, rücksichtsloseste Selbstkritik“ (Marchlewski, Brief an Block 16.12.1913, in Nettl, Rosa Luxemburg, S. 448).

So verhalf die Degeneration der SPD einer linken Strömung innerhalb der Zweiten Internationalen zur Entstehung, die jedoch mit unterschiedlichen Bedingungen in jedem Land konfrontiert war. Die deutsche SPD war eine der Parteien, die am meisten vom Opportunismus durchdrungen waren, doch erst als die Parteiführung den proletarischen Internationalismus verriet, nahm die linke Strömung eine organisierte Form an.

In den Niederlanden wurde der linke Flügel aus der SDAP (Sociaal-Demokratische Arbeiders Partei) ausgeschlossen und gründete 1909 die SDP (Sozialdemokratische Partei – bekannt als die Tribunisten, dem Titel ihrer Zeitung entlehnt). Jedoch ereignete sich diese Spaltung zu früh – wie wir in unserer Analyse der deutsch-holländischen Linken betonten.[x]

In Russland ging seit 1903 ein tiefer Riss zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDARP).

Die Menschewiki erkannten die Entscheidungen der Mehrheit auf dem Kongress von 1903 nicht an und versuchten, durch eine Reihe von Manövern die Bolschewiki aus der Partei zu vertreiben. Die Bolschewiki verteidigten die Parteiprinzipien, die in wachsendem Maße von den Menschewiki untergraben wurden, die ihrerseits nun vom Opportunismus infiziert wurden. In der russischen Sozialdemokratie trat die Penetration durch den Opportunismus zunächst in organisatorischen Fragen auf, aber schon bald betraf es ihre Taktiken, da während der russischen Revolution von 1905 die meisten Menschewiki eine Haltung zu Gunsten der liberalen Bourgeoisie einnahmen, während die Bolschewiki für eine unabhängige Politik der Arbeiterklasse stritten. Ein großer Teil dieses opportunistischen Flügels in der Partei – unter der Fahne der Menschewiki versammelt – lief 1914 ins bürgerliche Lager über, als er auch den proletarischen Internationalismus verriet. Doch die Bolschewiki fochten fast zehn Jahre lang innerhalb der gleichen Partei gegen die Menschewiki, ehe sich 1912 die tatsächliche Spaltung ereignete. Als sie noch als separate Fraktion innerhalb der SDARP organisiert waren, sahen sich die Bolschewiki trotz ihrer tiefen Divergenzen mit den Menschewiki nicht mit einem solchen Degenerationsprozess wie in der SPD konfrontiert. Doch indem sie sich als eine gesonderte Strömung organisierten, indem sie resolut gegen den Opportunismus kämpften und ihr Vertrauen im marxistischen Parteiprogramm behielten, legten sie das Fundament für die spätere Gründung der bolschewistischen Partei und der Kommunistischen Partei 1917/18.

Somit trugen die Bolschewiki noch vor 1914, obwohl sie unter widrigen Umständen arbeiteten, entscheidend zur Erfahrung einer Fraktion bei.

Eine bemerkenswerte Charakteristik der linken Strömungen vor 1914 ist ihr Versäumnis, sich auf internationaler Ebene zu regruppieren oder eine organisierte Form anzunehmen – mit Ausnahme der Bolschewiki. Wie Bilan bemerkte: „Das Problem der Fraktion, das wir in anderen Worten als einen Moment des Wiederaufbaus der Klassenpartei betrachten, war innerhalb der Ersten oder der Zweiten Internationalen so unvorstellbar wie abwegig. Diejenigen, die sich zu dieser Zeit selbst ‚Fraktion‘ oder, etwas allgemeiner, ‚rechter‘ oder ‚linker Flügel‘, ‚unnachgiebige‘, ‚reformistische‘ oder ‚revolutionäre‘ Strömung nannten, waren in den meisten Fällen Gelegenheitsübereinkommen kurz vor oder während eines Kongresses, den Blick darauf gerichtet, eine besondere Tagesordnung zur Debatte zu stellen, aber ohne jegliche organisatorische Kontinuität. Die Bolschewiki waren die Ausnahme...“ („La Fraction dans les partis socialistes de la seconde Internationale“, Bilan, Nr. 24, Oktober 1935). Obgleich es Momente gab, in denen sie ihre Kräfte vereinten und auf den Kongressen gemeinsame Anträge und Verbesserungsvorschläge unterbreiteten (zum Beispiel in Stuttgart 1907 und Basel 1912 über die Kriegsgefahr), kam es zu keinem gemeinsamen Vorgehen des linken Flügels.

Etliche Elemente erklären diese relative Zersplitterung.

Eines davon sind die verschiedenen materiellen Bedingungen in den Mitgliedsländern der 2. Internationalen.

Zum Beispiel waren die Arbeiter in Russland, entsprechend dem ökonomischen Hinterherhinken des Kapitalismus in Russland im Vergleich mit Deutschland, nicht fähig gewesen, dem Kapital dieselben Zugeständnisse abzuringen. Der Einfluss des Gewerkschaftstums in Russland war schwach, die parlamentarische Präsenz der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei war weitaus schwächer als jene der SPD und die demokratischen Illusionen sowie der parlamentarische Kretinismus unvergleichlich kleiner.

Ein anderes Element ist die föderalistische Struktur der Zweiten Internationalen – was es den Revolutionären ungleich schwerer machte, zu einem tiefen Verständnis der verschiedenen Situationen in den einzelnen Ländern zu gelangen. Entsprechend der föderalistischen Struktur gab es keine wirkliche Zentralisierung, und ein Konzept des allgemeinen, zentralisierten Kampfes existierte im linken Flügel noch nicht.

„Lenins Fraktionsarbeit fand allein innerhalb der russischen Partei statt. Er versuchte nicht, sie auf eine internationale Ebene zu stellen. Wir brauchen nur seine Interventionen auf den mannigfaltigen Kongressen zu lesen, um zu sehen, dass seine Arbeit außerhalb der russischen Kreise vollständig unbekannt blieb“ (Bilan, Nr. 24, s.o.: Dieser Artikel ist bereits in unserer International Review, Nr. 64 wiederveröffentlicht worden).

Die Zweite Internationale war in einem gewissen Sinn immer noch ein Ausdruck der aufsteigenden Phase des Kapitalismus, wo die verschiedenen Mitgliedsparteien auf föderaler Ebene existieren konnten – „Seite an Seite“, statt in einem einzigen Körper vereint zu sein.

Die Herausforderung des Krieges für die Revolutionäre

Der Ausbruch des I. Weltkrieges im August 1914, der Verrat der SPD und der Tod der Zweiten Internationalen stellten die Revolutionäre vor eine neue Situation.

Der I. Weltkrieg bedeutete, dass der Kapitalismus weltweit zu einem dekadenten System geworden ist, wodurch die Revolutionäre überall auf der Welt vor denselben Aufgaben gestellt wurden. Dies erforderte eine Intervention der Revolutionäre nicht auf „föderaler“ Ebene, sondern auf einer höheren, zentralisierten Ebene – mit demselben Programm und der Notwendigkeit einer internationalen Vereinigung der revolutionären Kräfte.

Doch sollten die Revolutionäre nach dem Verrat durch die sozialdemokratische Führung der Partei sofort den Rücken kehren und eine eigene Organisation aufstellen?

Die linke Strömung in Deutschland um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht[xi] erfasste die neue Lage sofort. Sie:

-          verteidigte den proletarischen Internationalismus und widersetzte sich dem Burgfrieden, den die Gewerkschaften mit der Bourgeoisie schlossen, indem sie die Arbeiter dazu aufrief, sich in einem unnachgiebigen Klassenkampf zu engagieren;

-          organisierte sich separat unter dem Namen Spartakusbund, mit dem Ziel, die Partei zurückzuerobern und die chauvinistische, patriotische Führung hinauszubefördern, um zu verhindern, dass die Partei von den bürgerlichen Kräften erdrosselt wird, und gleichzeitig das Fundament für eine neue, noch zu gründende Partei zu legen;

-          stellte einen internationalen Kontakt zu anderen internationalistischen Kräften her.

Die deutschen Revolutionäre begannen ohne Zögern mit dieser Arbeit, warteten nicht weitere Arbeiterreaktionen gegen den Krieg ab. Während der 52 Monate des Krieges befanden sich die meisten ihrer Führer im Gefängnis – von wo aus sie ihre Fraktionsarbeit fortsetzten. Die Spartakisten und andere linke Kräfte fanden sich im Angesicht äußerst schwieriger Umstände wieder. Sie mussten einem immer repressiveren Staatsapparat begegnen, wobei die Parteiführung internationalistische Stimmen so offen wie irgendein Polizeiagent denunzierte. Viele Parteimitglieder, die auf Parteitreffen den Internationalismus verteidigten, wurden denunziert und kurze Zeit darauf von der Polizei festgenommen. Unter den schwierigsten Bedingungen der Illegalität fuhren die Spartakisten damit fort, für die Rückeroberung der Partei von der chauvinistischen Führung zu kämpfen, doch bereiteten sie gleichzeitig die Bedingungen für die Gründung einer neuen Partei vor. Ihre Verteidigung eines revolutionären Programms bedeutete, dass sie sich permanent mit dem zentristischen Verhalten innerhalb der SPD auseinandersetzen mussten. Dieser eiserne Kampf der Spartakisten dagegen, dass die Partei von der Bourgeoisie übernommen wird, sollte später als Bezugspunkt für die Genossen der Italienischen Linken dienen, die sich etliche Jahre lang der Führung der Komintern widersetzten.

Die andere wichtige Kraft, die imstande war, eine wirkliche Arbeit als Fraktion nach 1914 zu leisten, waren die Bolschewiki. Mit den vielen ihrer im ausländischen Exil befindlichen Führer engagierten sie sich in einem unermüdlichen Kampf für die Aufrechterhaltung des proletarischen Internationalismus. Lenin und die anderen Bolschewiki waren die Ersten, die die Zweite Internationale für tot erklärten und für die Sammlung der internationalistischen Kräfte einstanden. Sie übten eine aktive Rolle auf der Zimmerwalder Konferenz von 1915 aus, wo sie gemeinsam mit Militanten insbesondere der holländischen Linken einen linken Flügel bildeten.

Ob im Exil oder innerhalb Russlands, sie handelten als die wichtigste treibende Kraft bei der Errichtung des Widerstandes der Arbeiterklasse gegen den Krieg. Es war ganz offenkundig ihr Verdienst, das internationalistische Banner hochgehalten zu haben, die Perspektive eines internationalen Kampfes vorgestellt zu haben (Verwandelt den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg), die es der Arbeiterklasse in Russland erlaubte, sich gegen den Krieg zu erheben und den revolutionären Prozess in Gang zu setzen.

Somit waren die Spartakisten und Bolschewiki als Speerspitze einer größeren internationalistischen, revolutionären Bewegung wäh-rend des Krieges unerlässliche Helfer dabei, den Krieg zu beenden und die Kämpfe in Richtung internationale Ausweitung und Überwindung des Kapitalismus zu drängen.

Sie veranschaulichten deutlich, dass keine Fraktion ihre militante Verantwortung erfüllen kann, wenn sie nicht an zwei Fronten kämpft: in der Arbeiterklasse zu intervenieren und gleichzeitig eine revolutionäre Organisation zu verteidigen und zu errichten. Es wäre undenkbar für sie, sich von eine dieser zwei Fronten zurückzuziehen.

Die Frage der Fraktion in der Kommunistischen Internationale

Im Falle der Sozialdemokratie degenerierte die Partei bis zu dem Punkt, wo sie die Interessen der Klasse in einer Kriegssituation verriet. Wir wollen nun einen Blick auf das zweite große Beispiel einer Degeneration werfen – nämlich jene der bolschewistischen Partei.

Einst die Vorhut der Arbeiterklasse und entscheidende Kraft bei der Ermöglichung der Machtergreifung durch die Arbeiterräte im Oktober 1917, wurde die bolschewistische Partei allmählich durch den russischen Staat absorbiert, sobald die internationale Ausweitung der Revolution zum Stillstand gekommen war. Auch hier haben wir im Gegensatz zum anarchistischen Standpunkt, der behauptet, dass jede Partei zum Verrat verdammt ist, einen objektiven, materiellen Hintergrund, der die bolschewistische Partei vom russischen Staat verschlingen ließ.

Wie wir in unserer Präsentation der Geschichte der linken Fraktionen erklärt haben (The Communist Left and the continuity of Marxism – ein Artikel, der in Proletarian Tribune in Russland veröffentlicht worden war und auf unsere Website unter www.internationalism.org/texts/prol_tribune [9]. htm erhältlich ist), „setzten das Zurückfluten der revolutionären Welle und die Isolation der Russischen Revolution einen Degenerationsprozess sowohl innerhalb der Kommunistischen Internationale als auch innerhalb der Sowjetmacht in Russland  in Gang. Die bolschewistische Partei verschmolz immer mehr mit dem bürokratischen Staatsapparat, der in umgekehrter Proportion zu den Organen der Macht und Beteiligung des Proletariats in Russland, den Sowjets, Fabrikkomitees und den Roten Garden, stand. Innerhalb der Internationale förderten die Versuche, in einer Phase abnehmender Massenaktivität die Unterstützung durch die Massen zu gewinnen, die opportunistischen ‚Lösungen‘ – die immer stärkere Betonung der Arbeit in den Parlamenten und Gewerkschaften, der Appell an die ‚Völker des Ostens‘, sich gegen den Imperialismus zu erheben, und vor allem die Politik der Einheitsfront, die die hart erarbeitete Klarheit über die kapitalistische Natur der Sozialpatrioten zunichte machte.“

Diese opportunistische Wende, die von der internationalen Schwächung der Arbeiterklasse und der Isolation der Revolution in Russland ausgelöst wurde, artete allmählich in einem völlig selbständigen Prozess der Degeneration aus, der nach einem halben Dutzend Jahren mit der Verkündung des „Sozialismus in einem Land“ auf den 6. Kongress der KI im August 1928 seinen Höhepunkt fand.

Wie bei der Degeneration der SPD vor dem I. Weltkrieg war dieser Prozess auch durch eine allmähliche Zerstörung des Parteilebens gekennzeichnet. Die Kräfte der Partei, die am engsten mit dem Staatsapparat verknüpft und in ihm integriert waren, zogen hinter den Kulissen einmal mehr die Fäden.

Nach einigen sehr frühen Protesten gegen die Erdrosselung des Parteilebens, in denen die wachsende Bürokratisierung der Partei kritisiert wurden (s. die Artikel in International Review Nr. 8-9 über die „Degeneration of the Russian Revolution and the work of the Communist Left in Russia“), wurde eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die oppositionellen Kräfte zum Verstummen zu bringen:

-          im Frühjahr 1921 wurden die Fraktionen verbannt;

-          lokale Parteisektionen konnten zu Parteibeschlüssen nur ihre Zustimmung oder ihre Ablehnung äußern, Initiativen von örtlichen Sektionen wurden allmählich eliminiert;

-          die Delegierten der Parteikonferenzen wurden von den höheren Rängen bestimmt, statt ein Mandat von den lokalen Sektionen zu erhalten und ihnen gegenüber verantwortlich zu sein;

-          eine Kontrollkommission wurde eingerichtet, die sich in wachsendem Maße verselbständigte und mit der eisernen Hand des Militarismus über die Partei herrschte;

-          immer mehr Macht wurde in den Händen des Organisationsbüros und des Generalsekretärs Stalin konzentriert;

-          Oppositionszeitungen wurden an ihrer Veröffentlichung gehindert;

-          Oppositionelle wurden zur Zielscheibe bösartiger Verleumdungen.

Wie in der Zweiten Internationale begrenzte sich der Degenerationsprozess nicht auf die bolschewistische Partei; dieser Prozess setzte sich in allen Mitgliedsparteien der Komintern fort. Schritt für Schritt folgten sie dem tragischen Kurs der russischen Partei - ohne notwendigerweise im Staatsapparat der Länder, in denen sie existierten, integriert zu sein, zogen sie es alle vor, die Interessen des internationalen Proletariats jenen des russischen Staats zu opfern.

Einmal mehr reagierte das Proletariat durch die Bildung von „Antikörpern“, durch die Schaffung der Linkskommunisten: „Es ist offenkundig, dass die Notwendigkeit der Fraktion auch ein Ausdruck der Schwäche des Proletariats ist, das entweder zerbrochen ist oder vom Opportunismus gewonnen wurde“ („Vorschlag einer Resolution über die Probleme der linken Fraktion“, Bilan Nr. 17, April 1935, S. 571).

Aber genauso wie der Opportunismus in der Zweiten Internationale eine proletarische Antwort in Form der linken Strömungen provoziert hatte, so widerstanden auch die Strömungen der Linkskommunisten der Flut des Opportunismus in der Dritten Internationale – viele ihrer Sprecher wie Pannekoek und Bordiga[xii]  hatten sich bereits als die besten Vertreter des Marxismus in der alten Internationale erwiesen.

Die Gründung der Kommunistischen Linken

Die Kommunistische Linke war im Wesentlichen eine internationale Strömung mit Ablegern in vielen verschiedenen Ländern, von Bulgarien bis Großbritannien und von den USA bis Südafrika. Doch ihre wichtigsten Repräsentanten waren exakt in jenen Ländern anzutreffen, wo die marxistische Tradition am stärksten war: Deutschland, Italien und Russland.

In Deutschland hatte die ausgeprägte marxistische Tradition, gekoppelt mit dem riesigen Einfluss der reellen Bewegung der proletarischen Massen, bereits auf dem Höhepunkt der revolutionären Welle einige der fortgeschrittensten politischen Positionen erzeugt, besonders über die Frage des Parlamentarismus und der Gewerkschaften. Doch der Linkskommunismus als solcher erschien als Antwort auf die ersten Anzeichen des Opportunismus in der deutschen Kommunistischen Partei und der Internationale, und ihre Speerspitze war die KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands), die 1920 gegründet wurde, nachdem die Linksopposition innerhalb der KPD durch ein haltloses Manöver ausgeschlossen worden war. Obwohl von der KI-Führung als „infantil“ und „anarchosyndikalistisch“ kritisiert, basierte die Ablehnung der alten parlamentarischen und gewerkschaftlichen Taktiken durch die KAPD auf einer profunden marxistischen Analyse der Dekadenz des Kapitalismus, die diese Taktiken obsolet machte und neue Formen der Klassenorganisation forderte – die Fabrikkomitees und die Arbeiterräte; dasselbe kann von ihrer deutlichen Ablehnung der alten „Massenpartei“-Konzeption der Sozialdemokratie zugunsten des Begriffs der Partei als ein programmatisch klarer Nukleus – ein Begriff, der direkt vom Bolschewismus geerbt wurde – gesagt werden. Die kompromisslose Verteidigung dieser Errungenschaften durch die KAPD gegen eine Rückkehr zu den alten sozialdemokratischen Taktiken machte sie zum Kern einer internationalen Strömung, die in einer Anzahl von Ländern Ableger hatte, besonders in den Niederlanden, deren revolutionäre Bewegung durch das Werk Pannekoeks und Gorters[xiii] eng mit Deutschland verknüpft war. Dies soll nicht heißen, dass der Linkskommunismus in Deutschland in den frühen 20er Jahren nicht an wesentlichen Schwächen litt.

In Italien andererseits war der Linkskommunismus – der anfangs eine Mehrheitsposition innerhalb der Kommunistischen Partei Italien innehatte – besonders klar über die Organisationsfrage, und dies versetzte ihn in die Lage, nicht nur einen couragierten Kampf gegen den Opportunismus innerhalb der degenerierenden Internationalen zu führen, sondern auch eine kommunistische Fraktion in die Welt zu setzen, die fähig war, den Schiffbruch der revolutionären Bewegung zu überleben und die marxistische Theorie während der Nacht der Konterrevolution weiterzuentwickeln. Doch in den frühen 20er Jahren basierten seine Argumente zugunsten des Abstentionismus vom bürgerlichen Parlamentarismus, gegen die Vereinigung der kommunistischen Vorhut mit den großen zentristischen Parteien mit dem Zweck, Illusionen über den „Masseneinfluss“ zu erzeugen, gegen die Parolen der Einheitsfront und die „Arbeiterregierungen“ auf einem tiefen Verständnis der marxistischen Methode. Dasselbe trifft auf seine Analysen des neuen Phänomens des Faschismus und auf seine konsequente Ablehnung aller antifaschistischen Fronten mit den Parteien der „demokratischen“ Bourgeoisie zu. Der Name Bordigas ist untrennbar mit dieser Phase in der Geschichte des italienischen Linkskommunismus verbunden, aber trotz der ungeheuren Bedeutung des Beitrags dieses Militanten lässt sich die Italienische Linke ebensowenig auf Bordiga reduzieren wie der Bolschewismus auf Lenin: Beide waren organische Produkte der politischen Bewegung des Proletariats.

Die Isolation der Revolution in Russland war, wie wir festgestellt haben, in einer wachsenden Trennung zwischen der Arbeiterklasse und einer wachsenden bürokratischen Staatsmaschinerie gemündet – der tragischste Ausdruck dieser Trennung war die Unterdrückung des Aufstandes der Kronstädter Arbeiter und Matrosen im März 1921 durch die eigene, bolschewistische Partei, die immer mehr mit dem Staat verwickelt war. Doch just, weil er eine durch und durch proletarische Partei war, erzeugte der Bolschewismus eine große Anzahl innerer Reaktionen gegen die eigene Degenerierung. Lenin selbst – der 1917 der eloquenteste Sprecher des linken Flügels der Partei gewesen war – übte einige höchst relevante Kritiken an dem Rutsch der Partei in den Bürokratismus, besonders gegen Ende seines Lebens; und etwa um die gleiche Zeit wurde Trotzki zum Hauptrepräsentanten einer linken Opposition, die danach trachtete, die Normen der proletarischen Demokratie innerhalb der Partei zu restaurieren, und die damit fortfuhr, die schlimmsten Ausdrücke der stalinistischen Konterrevolution zu bekämpfen, besonders die Theorie vom „Sozialismus in einem Land“. Doch die bedeutendsten linken Strömungen innerhalb der Partei neigten im Wesentlichen, weil der Bolschewismus durch seine Verschmelzung mit dem Staat seine eigene Rolle als proletarische Avantgarde unterminiert hatte, dazu, sich von weniger bekannten Figuren anzuführen zu lassen, die potenziell der Klasse näher standen als dem Staat. Bereits 1919 hatte die Gruppe Demokratischer Zentralismus, angeführt von Ossinski, Smirnow und Sapranow, begonnen, vor der Gefahr des „Austrocknens“ der Sowjets und der wachsenden Abkehr von den Prinzipien der Pariser Kommune zu warnen. Ähnliche Kritik wurde 1921 von der Gruppe Arbeiteropposition, angeführt von Kollontai und Schljapnikow, geübt, obgleich sich letztere als nicht so rigoros und dauerhaft erwies wie die „Dezisten“-Gruppe, die während der 20er Jahre weiter eine wichtige Rolle spielen und eine ähnliche Vorgehensweise entwickeln sollte wie die Italienische Linke. 1923 gab die von Miasnikow angeführte Gruppe Arbeiteropposition ihr Manifest heraus und unternahm eine wichtige Intervention in den Arbeiterstreiks jenes Jahres. Ihre Positionen und Analysen standen jenen der KAPD nahe. All diese Gruppen entstanden nicht nur aus der bolschewistischen Partei; sie fuhren damit fort, innerhalb der Partei für eine Rückkehr zu den ursprünglichen Prinzipien der Revolution zu kämpfen. Doch da die Kräfte der bürgerlichen Konterrevolution innerhalb der Partei an Boden gewonnen hatten, wurde die Fähigkeit der mannigfaltigen Oppositionen, die wahre Natur dieser Konterrevolution zu erblicken und mit jeglicher sentimentalen Loyalität zu ihren organisierten Ausdrücken zu brechen, zur Schlüsselfrage. Dies sollte die grundsätzliche Divergenz zwischen Trotzki und den russischen Linkskommunisten beweisen: Während Ersterer sein Leben lang an dem Begriff der Verteidigung der Sowjetunion und gar an der proletarischen Natur der stalinistischen Parteien gekettet bleiben sollte, sahen die Linkskommunisten, dass der Triumph des Stalinismus – einschließlich seiner „linken“ Wendemanöver, die viele Anhänger Trotzkis verwirrten – den Triumph des Klassenfeindes bedeutete und die Notwendigkeit einer neuen Revolution beinhaltete. Dennoch liefen viele der besten Elemente in der trotzkistischen Opposition – die so genannten „Unversöhnlichen“ – in den späten 20er und frühen 30er Jahren zu den Positionen der Kommunistischen Linken über. Der stalinistische Terror hatte am Ende des Jahrzehnts diese Gruppen nahezu eliminiert.

Im Gegensatz zum opportunistischen Kurs von Trotzki definierte die italienische linke Fraktion um die Zeitschrift Bilan herum die Aufgaben der Stunde korrekt: erstens nicht die elementaren Prinzipien des Internationalismus angesichts des Kurses zum Krieg zu verraten; zweitens eine „Bilanz“ aus dem Scheitern der revolutionären Welle und insbesondere der Russischen Revolution zu ziehen sowie die geeigneten Lehren zu erarbeiten, so dass sie als theoretisches Fundament für die neuen Parteien dienen konnten, die aus dem künftigen Wiedererwachen des Klassenkampfes entstehen würden.

Der Krieg in Spanien 1936–38 war eine besonders harte Prüfung für die damaligen Revolutionäre; viele von ihnen kapitulierten vor den Sirenengesängen des Antifaschismus und vermochten nicht zu sehen, dass der Krieg auf beiden Seiten imperialistisch war, eine Generalprobe für den kommenden Weltkrieg. Bilan jedoch blieb standhaft und rief zum Klassenkampf sowohl gegen die Faschisten als auch gegen die republikanischen Fraktionen der Bourgeoisie auf, genauso wie Lenin beide Lager im Ersten Weltkrieg denunziert hatte. Gleichzeitig waren die theoretischen Beiträge dieser Strömung – die später auch Fraktionen in Belgien, Frankreich und Mexiko umfasste – immens und in der Tat unersetzlich. In ihren Analysen über die Degeneration der Russischen Revolution – die sie niemals zur Infragestellung des proletarischen Charakters von 1917 verleitete -, in ihren Untersuchungen der Probleme einer künftigen Übergangsperiode, in ihrer Arbeit über die Wirtschaftskrise und den Fundamenten der kapitalistischen Dekadenz, in ihrer Ablehnung der Position der Kommunistischen Internationaln für die Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe, in ihrer Erarbeitung einer Theorie der Partei und der Fraktion – auf diesen und vielen anderen Gebieten führte die italienische Linksfraktion zweifellos ihre Aufgabe aus, eine programmatische Basis für die proletarischen Organisationen der Zukunft zu legen.

Die Fragmentierung der linkskommunistischen Gruppen in Deutschland wurde durch den Naziterror vervollständigt, auch wenn einige klandestine revolutionäre Aktivitäten auch unter dem Hitlerregime fortgesetzt wurden. Während der 30er Jahre wurde die Vertretung revolutionärer Positionen der deutschen Linken größtenteils von den Niederlanden aus fortgesetzt, besonders durch die Arbeit der Gruppe der Internationalen Kommunisten (GIK), aber auch in Amerika durch eine von Paul Mattick angeführte Gruppe. Wie Bilan blieb die Holländische Linke angesichts all der lokalen imperialistischen Kriege, die den Weg zum globalen Gemetzel ebneten, dem Internationalismus treu und widerstand den Versuchungen einer „Verteidigung der Demokratie“. Sie fuhr damit fort, ihr Verständnis in der Gewerkschaftsfrage, in der Frage neuer Formen von Arbeiterorganisationen in der Epoche des kapitalistischen Niedergangs, der materiellen Wurzeln der kapitalistischen Krise, der Tendenz zum Staatskapitalismus zu vertiefen. Sie hielt auch an der Wichtigkeit von Interventionen im Klassenkampf fest, besonders gegenüber der Bewegung der Arbeitslosen. Doch die Holländische Linke schlitterte, traumatisiert von der Niederlage der Russischen Revolution, immer mehr in die rätekommunistische Negation von politischen Organisationen – und somit jeglicher klaren Rolle für sich selbst. Gekoppelt daran war eine totale Ablehnung des Bolschewismus und der Russischen Revolution, die als bürgerlich von Anbeginn abgetan wurde. Diese Theoretisierungen waren der Keim für ihr künftiges Ableben. Obwohl der Linkskommunismus in den Niederlanden auch unter der Nazibesetzung fortgesetzt wurde und einer bedeutenden Organisation – den Spartacusbond, der sich anfangs zu den Pro-Partei-Positionen der KAPD zurück bewegte - nach dem Krieg zum Aufstieg verhalf, erschwerten die Zugeständnisse der Holländischen Linken in der Organisationsfrage gegenüber dem Anarchismus es ihr, jegliche Art von organisatorischer Kontinuität in späteren Jahren aufrechtzuerhalten.

Die Italienische Linke dagegen hielt die organisatorische Kontinuität auf ihre Art aufrecht, wobei jedoch die Konterrevolution ihren Tribut forderte. Noch vor dem Krieg fiel die Italienische Linke durch die „Theorie der Kriegswirtschaft“, die den drohenden Weltkrieg leugnete, der Auflösung anheim, doch ihre Arbeit wurde besonders durch das Auftreten der französischen Fraktion mitten im imperialistischen Konflikt fortgesetzt. Gegen Ende des Krieges schuf der Ausbruch von Arbeiterkämpfen in Italien weitere Verwirrung in den Reihen dieser Fraktion, wobei die Mehrheit nach Italien zurückkehrte, um gemeinsam mit Bordiga, der seit den späten 20er Jahren politisch inaktiv gewesen war, die Internationalistische Kommunistische Partei Italiens zu gründen, die trotz ihrer Opposition zum imperialistischen Krieg auf einer unklaren programmatischen Basis  und einer falschen Analyse der Periode, die als eine der zunehmenden revolutionären Auseinandersetzungen betrachtet wurde, gebildet wurde.

Diese politische Orientierung stand im Gegensatz zur Mehrheit in der französischen Fraktion, die schneller als andere erfasste, dass die Periode eine Periode der triumphierenden Konterrevolution bleibt und dass folglicherweise die Aufgaben der Fraktion noch nicht abgeschlossen waren. Die Gauche Communiste de France setzte also die Arbeit im Geiste von Bilan fort und konzentrierte ihre Energien, auch wenn sie ihre Verantwortung für die Intervention in den unmittelbaren Kämpfen der Klasse nicht vernachlässigte, auf die Arbeit der politischen und theoretischen Klärung und erzielte dabei eine Reihe wichtiger Fortschritte, insbesondere in der Frage des Staatskapitalismus, der Übergangsperiode, der Gewerkschaften und der Partei. Während sie rigoros an der für die Italienische Linke so typischen marxistischen Methode festhielt, war sie ebenfalls in der Lage, einige der besten Beiträge der Deutsch-Holländischen Linken in ihr allgemeines programmatisches Zeughaus zu integrieren.

Während die deutsche und holländische Linke im Prinzip unfähig war, eine wirkliche Arbeit als Fraktion zu leisten, gelang es den Genossen der Italienischen Linken nicht nur, es zu vermeiden, zu früh aus der Komintern geworfen zu werden, sondern es gelang ihnen auch, unter den sehr schwierigen Bedingungen einer illegalen Arbeit in Italien und gegen die wachsende militaristische Disziplin in der Komintern einen heroischen Kampf gegen den Opportunismus und die Stalinisierung zu führen.

Bis kurz vor Ausbruch des II. Weltkrieges hatte sich Bilan durch ihre Klarheit über die Einschätzung der Klassenkräfte, über den historischen Kurs zum Krieg ausgezeichnet – und die Gruppe war bereit, den Antifaschismus selbst um den Preis einer fürchterlichen Isolation abzulehnen. Ihre Ablehnung einer Unterstützung der bürgerlichen Demokratie war die Vorbedingung für ihr Einstehen für den proletarischen Internationalismus im Krieg in Spanien 1936–38 und während des II. Weltkrieges. Dies stand in starkem Kontrast zu den Trotzkisten, die während der 30er Jahre den Versuch unternahmen, in die sozialdemokratischen Parteien einzutreten, um sie als Mittel zum Kampf gegen den aufkommenden Faschismus zu benutzen, und die zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Krieges in Spanien 1936–38 glaubten, der Augenblick einer neuen revolutionären Welle von Kämpfen sei gekommen. Im Gegensatz zum opportunistischen und immediatistischen Verhalten Trotzkis und seiner Anhänger bot Bilan eine historische und politische Klarheit, die als Bezugspunkt nicht nur für die damaligen Internationalisten, sondern auch für politische

Gruppen diente, die am Ende der Konterrevolution 1968 entstanden.

Fraktionen – eine unverzichtbare Waffe für die Verteidigung der Arbeiterklasse

Nachdem wir die beiden Hauptfälle der Degeneration von proletarischen Parteien und die Reaktion des Proletariats durch die Schaffung von „Antikörpern“ – den Fraktionen – in Erinnerung gerufen haben, wollen wir nun an einige Elemente ihres Kampfes erinnern.

Bilan definierte die Funktion und Bedingungen einer Fraktion wie folgt:

„Wie die Partei wird auch die Fraktion durch ein Moment der Klasse ins Leben gerufen und nicht durch den individuellen Willen. Sie tritt notwendig auf, wenn die Partei bürgerliche Ideologien reflektiert, ohne sie bereits auszudrücken, wenn ihre Stellung im Klassenmechanismus sie schon zu einem Anhängsel des bürgerlichen Herrschaftssystems gemacht hat. Die Fraktion lebt und entwickelt sich entsprechend dem Voranschreiten des Opportunismus und wird zum einzigen historischen Ort, wo das Proletariat sich als Klasse organisieren kann...

Im Gegenteil dazu tritt die Fraktion als historische Notwendigkeit der Aufrechterhaltung einer Klassenperspektive und als eine Tendenz auf, die sich der Erarbeitung jener Ideen widmet, deren Fehlen infolge der Unreife des Proletariats den Triumph des Feindes erst möglich gemacht hat. In der Zweiten Internationale waren die Fraktionen als Reaktion auf die Tendenz des Reformismus, das Proletariat allmählich in den kapitalistischen Staatsapparat einzugliedern, entstanden.

In der Zweiten Internationale wuchs die Fraktion und entwickelte ihre Konturen gegenüber der Entwicklung des Opportunismus und der Erarbeitung neuer programmatischer Gegebenheiten, während der Opportunismus versuchte, sie innerhalb der korrupten Massenparteien gefangenzuhalten, um ihr historisches Werk zu brechen. In der Dritten Internationalenfand das kapitalistische Einkreisungsmanöver rund um Russland statt, und der Zentrismus versuchte, die KPs dahin zu bringen, dem Schutz der Wirtschaftsinteressen des proletarischen Staates entgegenzukommen, indem ihnen die Rolle anvertraut wurde, den Klassenkampf überall zum Entgleisen zu bringen.“

(Bilan, Nr. 17,  April 1935).

Die Bildung einer Fraktion muss einer Methode folgen. So reicht es nicht aus, lediglich so laut wie möglich zu verkünden, eine Organisation sei am ‚Degenerieren‘, sobald eine kontroverse Debatte begonnen hat. Das Konzept der Degeneration darf sich niemals in Beleidigungen erschöpfen, sondern ist eine politische Einschätzung, die auf materialistischem Wege bewiesen werden muss.

Wie Bilan unterstrich, wird die Bildung einer Fraktion notwendig, wenn alles getan wurde, um zu verhindern, dass die betreffende Organisation in die Hände des Klassenfeindes fällt. Das Konzept der Degeneration zieht daher einen lang hingezogenen, zähen Kampf in Betracht; es berücksichtigt die Tatsache, dass man für die Zukunft arbeitet und jede überhastete Vorgehensweise ablehnt; es steht daher in völligem Gegensatz zur Ungeduld. Eine solche Einschätzung darf niemals einem „Hochgefühl“ oder einer „schlechten Stimmung“ folgen. Kurz: Die Beschuldigung, dass eine Organisation am Degenerieren ist, kann nicht leichtfertig, sorglos erhoben werden, sondern muss auf einer materialistischen Analyse basieren.

Zum Beispiel bezeichnete die KAPD-Delegation auf dem Moskauer Kongress der Komintern 1921 die bolschewistische Partei und die Komintern als einen degenerierenden Körper, der von der Bourgeoisie vereinnahmt worden sei. Zu jenem Zeitpunkt war diese Diagnose jedoch voreilig. Wie wir in unserer Artikelreihe über die Deutsche Revolution (Internationale Revue, Nr. 18–29) gezeigt haben, machte die KAPD durch die Erstellung solch einer Diagnose einen kapitalen Fehler; mit der Konsequenz, dass sie außerstande gesetzt wurde, sich als Fraktion einem wirklichen Kampf innerhalb der Komintern zu stellen.

Eine Fraktion kann erst nach einer langen Debatte, nach einem intensiven Kampf innerhalb der Organisation gebildet werden, wenn sich die Divergenzen nicht mehr auf ein, zwei Punkte beschränken, sondern eine völlig unterschiedliche Orientierungen beinhalten – wenn eine Seite sich auf die Abschaffung von Klassenpositionen zu bewegt und die andere Seite sich dem widersetzt.

Erst wenn solch ein langer Kampf stattgefunden hat, wenn alle vorherigen Schritte sich als unzureichend erwiesen haben, um die Organisation daran zu hindern, sich in Richtung Degeneration zu bewegen, ist die Fraktion eine unbedingte Notwendigkeit. In solchen Fällen, wo die Organisation gen bürgerliche Positionen rutscht, wäre es sogar unverantwortlich, keine Fraktion zu bilden.

Das Verständnis einer neuen historischen Situation...

Die Fraktion ist also durch ihre Verteidigung des Programms, durch ihre Loyalität gegenüber den Klassenpositionen, die von einem bestimmten Teil der Organisation in Frage gestellt werden, charakterisiert. Im Gegensatz zu den opportunistischen, immediatistischen Versuchungen in der Organisation, das Programm im Namen einiger Zugeständnisse an die bürgerliche Ideologie aufzugeben, unternimmt die Fraktion einen theoretisch-politisch-programmatischen Kampf, der zur Etablierung einer Reihe von Gegenpositionen führt – die Teil eines breiteren theoretischen Rahmens sind.

So beschränkten sich die linken Strömungen, die sich den opportunistischen Neigungen vor dem I. Weltkrieg widersetzt hatten, nie auf eine bloße Verteidigung des existierenden Programms, sondern warfen ein Schlaglicht auf die tieferen historisch-politischen Wurzeln der zur Debatte stehenden Fragen und boten einen theoretisch-programmatischen Rahmen zum Verständnis der neuen Situation an. In diesem Sinn ist eine Fraktion mehr als die verkörperte Loyalität zum alten Programm, sie bietet vor allem einen neuen theoretischen Rahmen zum Verständnis der neuen Bedingungen an, denn der Marxismus ist keineswegs ‚unveränderlich‘, sondern bietet stets eine Analyse an, die imstande ist, neue Elemente einer neuen Situation zu integrieren.

„Dies sollte als Beweis dafür dienen, dass die Fraktion nur unter der Bedingung leben, ihre Kader trainieren und die Endziele des Proletariats wirklich repräsentieren kann, wenn sie als eine höhere Stufe in der marxistischen Lageanalyse, im Verständnis der gesellschaftlichen Kräfte in Bewegung innerhalb des Kapitalismus, der proletarischen Positionen zu den Problemen der Revolution auftritt und nicht als bloßer Organismus, der auf den ersten vier Kongressen der KI fußt – die sowieso noch keine Lösung für Probleme, die noch nicht reif waren, enthalten konnten“ (Bilan, ebenda, S. 577).

Ohne die Kritik am Opportunismus vor dem I. Weltkrieg, ohne die theoretische, analytische Arbeit der Internationalisten während des I. Weltkrieges hätten die Revolutionäre nie die neue Situation begriffen. So waren z.B. Rosa Luxemburgs Junius-Broschüre, Lenins Imperialismus – das höchste Stadium des Kapitalismus, Pannekoeks Der Imperialismus und die Aufgaben des Proletariats vitale theoretische Beiträge, die in jener Zeit verfasst worden waren.

Und als die Komintern begann, nach 1920 einen opportunistischen Kurs einzuschlagen, indem sie die alten Kampfmethoden propagierte, demonstrierten die linken Fraktionen, dass die neuen Bedingungen des Kapitalismus eine Rückkehr zur Vergangenheit nicht zuließen. Sie waren die Einzigen, die begonnen hatten, die Auswirkungen der neuen Epoche zu begreifen (auch wenn dies fragmentiert, bruchstückhaft und sehr konfus war).

Der Verteidigungsmechanismus, den eine Fraktion widerspiegelt, ist daher vom Bedürfnis bestimmt, die neue historische Lage zu verstehen. Eine Fraktion ist gezwungen, eine neue theoretische Kohärenz zu präsentieren, indem sie die Organisation auf eine höhere Ebene des Verständnisses führt.

„Sie setzt sich selbst als ein fortschrittlicher Organismus durch, dessen Hauptanliegen es ist, die kommunistische Bewegung auf eine höhere Stufe in der Entwicklung ihrer Doktrin zu drängen, indem er seinen eigenen Beitrag zur internationalen Lösung der neuen Probleme liefert, die von der Erfahrung der Russischen Revolution und der Periode des kapitalistischen Niedergangs gestellt werden“ (Bilan, Nr. 41, Mai 1937)

Da der Kampf einer Fraktion sich nie darauf beschränkt, die alternative Ansicht über eine einzelne Frage entgegenzusetzen, sondern einen weitaus größeren Rahmen umfassen muss, kritisierte Bilan Trotzki, der hauptsächlich als eine „Strömung der Opposition“ gegenüber dem Aufstieg des Stalinismus agieren wollte, aus dem Grund, dass er niemals wirklich die Herausforderung erfasste, denen sich die Revolutionäre zu stellen hatten: „Es war Trotzki, der die Möglichkeit unterdrückte, eine vereinte Fraktion in Russland zu bilden, indem er sie von der Weltebene loslöste und die Bildung von Fraktionen in verschiedenen Ländern verhinderte, indem er die Notwendigkeit einer Opposition für die ‚Wiederherstellung‘ der Kommunistischen Parteien proklamierte. Er reduzierte auf diese Weise den riesigen Kampf der marxistischen Kerne gegen den Block der kapitalistischen Kräfte, die den proletarischen Staat verkörperten (Zentrismus), auf den bloßen Schutz ihrer Interessen, auf einen Kampf, der lediglich Druck auf Letztere ausüben sollte, um eine ungleichmäßige Industrialisierung unter dem Banner des ‚Sozialismus in einem Land‘ und ‚Irrtümer‘ der KPs zu vermeiden, die in die Niederlage führen“ (Bilan, Nr. 17, 1935, S. 576).

... das Engagement in einer langen Schlacht

Es ist fast müßig zu sagen, dass die Bereicherung des Marxismus und die Vertiefung der anstehenden Themen nicht in „einer kurzen Auseinandersetzung“ vollbracht werden kann. So, wie der Aufbau der Organisation alles andere als ein hastiger Versuch ist, ein Kartenhaus zu errichten, sondern die entschlossensten Bemühungen erfordert, so muss eine Fraktion bei der Bekämpfung der Gefahren des Immediatismus, der Ungeduld, des Individualismus, etc. jede Übereilung ablehnen.

Die Degeneration ist stets ein langer Prozess. Eine Organisation kollabiert nie aus heiterem Himmel, sie durchläuft einen Todeskampf. Es ist nicht wie beim Boxkampf, der über 15 Runden geht, sondern es ist ein Kampf um Leben und Tod, der erst mit dem Triumph einer der beiden Seiten endet, weil beide Positionen unvereinbar miteinander sind. Eine Seite, der opportunistische, degenerierende Teil, bewegt sich auf bürgerliche Positionen und auf den Verrat zu, während der Gegenpol den Internationalismus verteidigt. Dies ist ein Kampf, in dem sich ein Kräfteverhältnis entwickelt, das im Falle der Degeneration und des Verrats zum Verschwinden des proletarischen Lebens aus der Partei führt.

Im Falle der SPD und anderer degenerierender Parteien der Zweiten Internationale dauerte dieser Prozess, grob gesagt, ein Dutzend Jahre.

Doch selbst nachdem die SPD-Führung im August 1914 den proletarischen Internationalismus verraten hatte, desertierten die Internationalisten nicht, sondern kämpften drei Jahre lang um die Partei, bis jegliches proletarische Leben aus der SPD verschwunden und die Partei für das Proletariat endgültig verloren war.

Im Falle der Komintern zog sich die Degeneration ungefähr ein halbes Dutzend Jahre hin und stieß auf heftigen Widerstand von Innen. Der Prozess in den ihr angeschlossenen Kommunistischen Parteien ging über mehrere Jahre und war von der Fähigkeit der einzelnen Parteien abhängig, sich der Vorherrschaft durch die russische Partei zu widersetzen, was dem Gewicht der Linkskommunisten in ihnen entsprach.

Den italienischen Linkskommunisten, die die konstantesten und standhaftesten Verteidiger der Organisation waren, gelang es, bis 1926 sich zur Wehr zu setzen, ehe sie aus der Komintern ausgeschlossen wurden. Trotzki gar wurde erst 1927 aus dem Parteikomitee ausgeschlossen und 1928 leibhaftig nach Sibirien deportiert.

Im Gegensatz zu jeglicher kleinbürgerlichen Ungeduld und Unterschätzung der Notwendigkeit einer revolutionären Organisation ist die Fraktion stets für einen langfristigen Kampf ausgelegt. In dieser Beziehung bot der Spartakusbund während des I. Weltkrieges einen unersetzlichen Bezugspunkt für die Arbeit der italienischen Fraktion während der 20er Jahre.

Die Geschichte hat gezeigt, dass diejenigen, die den Kampf um die Verteidigung der Organisation zu früh aufgaben, in die Katastrophe steuern.

Zum Beispiel entschieden sich in Deutschland die Hamburger Internationalisten um Borchert und der Zeitschrift Lichtstrahlen sowie Otto Rühle aus Dresden schnell, die SPD aufzugeben: Sie nahmen rätekommunistische Positionen an und lehnten am Ende des Krieges und inmitten der revolutionären Welle von Kämpfen politische Parteien in Bausch und Bogen ab.

Der Fall der KPD und der KAPD zeigt dasselbe. In Schlüsselfragen wie die Frage der parlamentarischen Wahlen und der Arbeit in den Gewerkschaften entzweit, warf die katastrophale KPD-Führung unter P. Levi die Mehrheit der Organisation hinaus, womit sie sie im April 1920 zur Gründung der KAPD zwang. Statt diese fundamentalen Fragen in einer intensiven Debatte in den Reihen der KPD zu klären, wurden die Debatten durch eine monolithische Vorgehensweise abgewürgt. Die KPD zerbrach also bereits nach zehn Monaten ihrer Existenz in zwei Teile!

Die Komintern schloss die KAPD nach einem Ultimatum im Sommer 1921 aus ihren Reihen aus und machte es ihr unmöglich, als Fraktion innerhalb der Komintern zu arbeiten.

Und es war eine wahre Tragödie der Geschichte, dass die KAPD-Strömung, kaum aus der KPD und der Komintern ausgeschlossen, sofort vom Virus der Spaltungen befallen wurde, weil sich die Partei, sobald tiefgehende Divergenzen in ihren Reihen auftraten, vor dem Hintergrund eines abebbenden Klassenkampfes in zwei Teile spaltete: in die Essener und Berliner Tendenz (1922).

Die Verteidigung des Programms kann folglich nicht vom langen und zähen Kampf um die Verteidigung der Organisation getrennt werden.

Eine neue Organisation zu errichten, bevor der Kampf um die Verteidigung der alten Organisation in einen Sieg oder eine Niederlage geendet hat, bedeutet zu desertieren oder in ein Fiasko zu schlittern.

Den Kampf als Fraktion aufzugeben, indem übereilt eine neue Organisation gebildet wird, birgt das Risiko in sich, dass diese neue Organisation von Natur aus zur Selbstzerstörung veranlagt ist, mit der Gefahr, vom Opportunismus und Immediatismus erdrosselt zu werden. Das Abenteuer der KAPD, 1921 eine Kommunistische Arbeiterinternationale in Deutschland zu errichten, endete in einem wahren Fiasko.

Und als die Italienische Linke, die in der Lage gewesen war, die Tradition der Fraktionsarbeit gegen das Abgleiten einiger ihrer Mitglieder in den Opportunismus und Immediatismus im Zusammenhang mit dem Krieg in Spanien 1936–38 und im Zusammenhang mit den Theorien Vercesis zu verteidigen, 1943 für die überstürzte und prinzipienlose Gründung der PCInt stimmte, schlug auch sie einen gefährlichen Weg ein – mit dem Keim des Opportunismus im eigenen Körper.

Schließlich ist, wie wir gesehen haben, der Prozess der Degeneration niemals auf ein Land beschränkt, sondern ein internationaler Prozess. Wie die Geschichte gezeigt hat, sind verschiedene Stimmen laut geworden, die zwar ein heterogenes Bild ergeben, aber alle sich gegen den opportunistischen und degenerierenden Trend äußerten.

Gleichzeitig muss der Kampf einer Fraktion ebenfalls international sein und kann sich nicht auf die Grenzen eines Landes beschränken, wie das Beispiel der Zweiten und Dritten Internationale zeigt.

Leider waren die linken Fraktionen genauso wie die linken Strömungen innerhalb der Zweiten Internationale, denen es nicht gelungen war, zentralisiert in einer Fraktion zu arbeiten, ebenfalls nicht in der Lage, auf international zentralisierte Weise zu wirken, nachdem sie aus der Komintern ausgeschlossen worden waren.

Die Bildung einer Fraktion erfordert Klarheit und Rigorosität. Dies trifft nicht nur auf programmatischer Ebene zu, wie wir gesehen haben, sondern auch auf ihre organisatorischen Methoden, die ihre proletarische Natur genauso wie ihre programmatischen Positionen ausdrücken.

Während es in bürgerlichen Organisationen übliche Praxis ist, Geheimtreffen abzuhalten, um Intrigen zu spinnen und Komplotte auszuhecken, ist es elementares Prinzip einer proletarischen Organisation, Geheimtreffen zu ächten. Genossen einer Minderheit oder einer Fraktion müssen sich offen treffen, um es allen Genossen der Organisation zu ermöglichen, ihre Treffen zu verfolgen.

Sich jeglicher geheimer und paralleler Organisationen zu widersetzen war Inhalt einer wichtigen Auseinandersetzung in der Ersten Internationale, die die in ihren eigenen Reihen wirkende geheime Allianz Bakunins aufgedeckt hat.

Es ist kein Zufall, dass Bordiga darauf bestand: „...doch ich muss ganz offen sagen, dass diese gesunde, nützliche und notwendige Reaktion nicht im Gewande eines Manövers oder einer Intrige, in Gestalt von Gerüchten, die sich hinter den Kulissen verbreiten, auftreten kann und darf“ (Bordiga auf der 6. Vollversammlung der KI, Februar-März 1926).

Wir werden auf diese Frage im zweiten Teil dieses Artikels näher eingehen, wenn wir die Notwendigkeit betrachten, die Fraktion vor den Angriffen einer degenerierenden Führung zu schützen, die im Fall der SPD bereit gewesen war, Liebknecht in den Schützengraben und damit in den Tod zu schicken und jegliche internationalistische Stimme innerhalb der eigenen Reihen zu denunzieren, oder die, wie im Fall der stalinistischen bolschewistischen Partei, Parteimitglieder durch Repressionsmaßnahmen zum Schweigen gebracht hat.

                                                            D.A.

 

[i] L´Etincelle: Zeitung die von der Gauche Communiste de France, der politischen Vorgängerin der IKS, Ende des Zweiten Weltkrieges veröffentlicht wurde.  (s. unser Buch The Italian communist Left und die Broschüre La Gauche Communiste de France)

[ii] Rosa Luxembrug (1870–1919): Eine der bekanntesten Persönlichkeiten der internationalen Arbeiterbewegung. In Polen geboren, arbeitete sie für die Sozialdemokratische Partei in Deutschland (und war auch Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Polens), wurde später als eine wichtige Theoretikerin in der SPD anerkannt, bevor sie eine führende Figur des linken Flügels in der SPD wurde. Während des Ersten Weltkrieges wurde sie wegen ihrer internationalistischen Aktivitäten inhaftiert. Sie wurde befreit im November 1918 durch die Deutsch Revolution. Sie spielte eine aktive Rolle bei der Bildung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und entwarf ihr Programm Ende 1918. Zwei Wochen später wurde sie ermordet durch Freikorps Truppen im Solde der Regierung, die von ihren vorherigen “Genossen” der SPD geführt wurde, die jetzt die kapitalistische Ordnung verteidigte.

[iii] Eduard Bernstein (1850–1932): Ein enger Mitarbeiter von Engels bis zu dessen Tod 1895. 1896 begann er mit der Veröffentlichung einer Reihe von Artikeln, in denen er sich für eine “Revision” des Marxismus einsetzte. Dies machte ihn zum Haupttheoretiker der opportunistischen Strömung in der SPD.

[iv] Leo Jogiches (1867–1919): Einer der wichtigsten Führer der Sozialdemokratischen Partei Polens und Lettlands (SDKPiL) und während 15 Jahren Rosa Luxemburgs Partner. Er beteiligte sich an der Gründung der KPD und wurde in ihre Führung gewählt. Fünf Tage später wurde er inhaftiert und im März 1919 in seiner Gefängniszelle ermordet.

[v] August Bebel (1840–1913): Eines der Gründungsmitglieder und führende Persönlichkeit der SPD und der Zweiten Internationalen bis zu seinem Tod.

[vi] Anton Pannekoek (1873–1969): Einer der Haupttheoretiker des linken Flügels der Sozialdemokratischen Partei Hollands, und gleichzeitig Militanter in der SPD vor dem Ersten Weltkrieg. Er beteiligte sich an der Gründung der Kommunistischen Partei Hollands und blieb Führer ihres linken Flügels, welcher später zur “Rätekommunistischen” Strömung wurde.

[vii] Clara Zetkin (1873–1960): Mitglied des linken Flügels in der SPD an der Seite von Rosa Luxemburg. Sie war Spartakistin während des Kriegs und ein Gründungsmitglied der KPD.

[viii] Franz Mehring (1846–1919): Ein Führer und Theoretiker des linken Flügels der SPD. Spartakist während den ersten Weltkriegs und eines der Gründungmitglieder der KPD mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht u.a.

[ix] Julian Marchlewski (1866–1925): Mit Leo Jogiches und Rosa Luxemburg einer der Führer der SDKPiL. Als Militanter in Deutschland nahm er am Kampf gegen den Krieg und an den ersten Schritten der Kommunistischen Internationalen teil.

[x] „Der Kampf gegen das Sektierertum stellte sich in der SDP von Anfang an. Im Mai 1909 erklärte Mannoury (ein bekannter Mathematiker und Parteiführer), dass die SDP die einzige sozialistische Partei sei, da die SDAP eine bürgerliche Partei geworden sei. Gorter, der vorher aufs heftigste gegen Troelstra gekämpft hatte, stellte sich energisch gegen diese Auffassung. Er war zuerst in der Minderheit und zeigte auf, dass zwar der Revisionismus ins bürgerliche Lager führt, dass aber die SDAP zunächst und vor allem eine opportunistische Partei innerhalb des proletarischen Lagers war. Diese Position hatte direkte Auswirkungen auf der Ebene der Propaganda und der Agitation in der Klasse. So war es immer noch möglich, ohne das geringste theoretische Zugeständnis zusammen mit der SDAP zu kämpfen, wenn sie einen Klassenstandpunkt vertrat.“ (The Dutch and German Communist Left, S. 46)

[xi] Karl Liebknecht (1871–1919). Mitglied der SPD-Parlamentsfraktion, und einer der Abgeordneten, welche 1914 gegen die Kriegskredite stimmten. Er war die bekannteste Persönlichkeit des Spartakusbundes und ein Gründungsmitglied der KPD. Er wurde zur gleichen Zeit wie Rosa Luxemburg von den Freikorps im solde der SPD-Führung ermordet.

[xii] Amadeo Bordiga (1889–1970): 1910 in die Sozialistische Partei Italiens (PSI) eingetreten, gehörte er zu ihrem äusserst linken Flügel. Er war ein entschlosserner Kämpfer gegen den Krieg und den Opportunismus und vertrat 1917 anti-parlamentarische Positionen, womit er sich an der Bildung der „unnachgiebigen sozialistischen Fraktion” innerhalb der PSI beteiligte. Er wurde nach der Abspaltung 1921 von der PSI zum Führer der neuen italienischen Sektion der Kommunistischen Internationale gewählt. 1930 wurde er aus der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) ausgeschlossen und hielt sich bis 1949 von organisatorischen Tätigkeiten fern, als er in die Internationalistische Kommunistische Partei eintrat. Nach der Spaltung von 1952 nahm er an der Bildung der Internationalen Kommunistischen Partei (PCInt) teil, und blieb deren wichtigster Theoretiker bis zu seinem Tod.

[xiii] Herman  Gorter (1864–1927): Mit Pannekoek einer der wichtigsten Theoretiker der Holländischen Linken. Er war Gründer der Zeitung De Tribune und eines der Gründungsmitglieder der Holländischen SDP. Er verteidigte die Positionen der Kommunistischen Linken in der Frage derr Gewerkschaften und der Beteiligung an den Parlamenten in seinem “Offenen Brief an den Genosse Lenin”.

Theoretische Fragen: 

  • Partei und Fraktion [10]

Internationale Revue 29 - Editorial

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Naher Osten: Nur das Weltproletariat kann die kapitalistische Barbarei stoppen

Die militärischen Operationen in Afghanistan waren noch nicht beendet, als eine weiteres Gemetzel im Nahen Osten ausbrach. Und während der Schlächtereien im Westjordanland und in Jerusalem wird schon eine neue Intervention in den Irak vorbereitet. Die kapitalistische Welt stürzt buchstäblich ins Chaos und in die Barbarei des Krieges. Jedes neue Blutbad zeugt vom mörderischen Irrsinn dieses Systems.

Der Nahe Osten wird ein weiteres Mal in den Krieg gestürzt. Der israelisch-palästinensische Konflikt, dessen Wurzeln auf die 1916 erfolgte imperialistische Aufteilung dieser Region durch Großbritannien und Frankreich zurückreichen, ist bereits durch vier offiziell „erklärte“ Kriege gekennzeichnet, nämlich diejenigen von 1956, 1967, 1973 und 1982. Doch seit dem Beginn der zweiten Intifada im September 2000 hat dieser Konflikt eine bisher nie erreichte Dimension der Gewalt und der blinden Massaker angenommen. Unter diesem Druck haben sich die mühsam erreichten Vereinbarungen von Oslo und die jahrelangen Verhandlungen um einen Friedensprozess in Luft aufgelöst. Dieser Konflikt reiht sich in die endlose irrsinnige Kriegsspirale ein, welche durch eine Ausbreitung des Chaos und der Barbarei gekennzeichnet ist. Der Krieg ist nicht mehr einfach Produkt des Kampfes zweier imperialistischer Rivalen, sondern Ausdruck einer generellen Entgleisung und des dominierenden Chaos in den internationalen Beziehungen.

Seit dem 11. September gibt es eine enorme Zuspitzung, welche die letzten Stricke in der Politik reißen ließ. Jeder hat begonnen, in derselben zerstörerischen Logik zu handeln wie die Al-Kaida bei den Attentaten auf die Twin-Towers, einer Logik, nach welcher der Mörder gleichzeitig auch Selbstmörder ist. Einerseits gibt es ein Häufung von Selbstmordattentaten durch Kamikaze-Fanatiker, oft junge Leute von 18 oder 20 Jahren, bei denen das einzige Ziel darin besteht, möglichst viele Leute mit sich in den Tod zu reißen. Diese terroristischen Taten sind von den verschiedenen Teilen der nationalistischen Bourgeoisie ferngesteuert, der Hamas, den Al-Aksa-Brigaden, der Hizbollah oder auch direkt durch den israelischen Geheimdienst Mossad manipuliert. Gleichzeitig gehen die Staaten auf ähnliche Weise vor, um ihre eigenen imperialistischen Interessen zu verteidigen, und stürzen sich in blinde kriegerische Abenteuer ohne Ende, die nur Tod und Verwüstung säen. Israel stützt sein aggressives und arrogantes Kriegsgehabe auf die USA ab. So braucht Sharon dieselben Argumente wie Bush um seine kriegerische Flucht nach vorne und den „Kreuzzug gegen den Terrorismus“ zu legitimieren. Dies zeigt sich in der Besetzung und Zerstörung von Städten im Westjordanland mit Panzern, in den Rundumschlägen der israelischen Armee, welche auf alles schießt, was sich bewegt, Ambulanzfahrzeuge unter Beschuss nimmt, Flüchtlingslager bombardiert, ein Haus nach dem anderen durchkämmt, Quartiere vermint, die lebenswichtige Infrastruktur zerstört und die Bevölkerung aushungert und terrorisiert.

Alle Staaten, und vor allem die großen Rivalen der USA, versuchen die Situation möglichst zu ihren Gunsten zu nutzen oder die Pläne der imperialistischen Gegenspieler zu durchkreuzen und zu sabotieren. Die angeblich entrüsteten Reaktionen, die „pazifistischen“ Maskeraden und Vermittlerspielchen vor allem der europäischen Länder schütten nur noch mehr Öl ins Feuer.

Dies trifft vor allem auf diejenigen Teile der herrschenden Klasse zu, welche die Kriegs- und Rüstungsspirale der Politik der kapitalistischen „Falkenfraktion“ von Sharon, Bush und Konsorten in die Schuhe schieben, denen das „humanitäre Völkerrecht“ entgegenzustellen sei. Die weltweit groß eingefädelten Kundgebungen für oder gegen die Politik Sharons oder Bushs, welche Absichten auch immer dahinter stehen mögen, führen immer nur dazu, die Bevölkerung für das eine oder andere Lager zu mobilisieren, die Spannungen zu verschärfen und ein Klima des Hasses zwischen den verschiedenen Interessensgemeinschaften aufrecht zu erhalten.

Die herrschende Klasse will glaubhaft machen, die Verantwortung liege bei diesem oder jenem Staatschef, einer Nation, einem bestimmten Lager oder einer Bevölkerung. Jede nationale herrschenden Klasse behauptet mit größter Heuchelei, sie stehe „im Dienste des Friedens“ und  „verteidige die Demokratie und die Zivilisation“. Dies nur, um die eigenen kriminellen Unterfangen zu vertuschen und sich reinzuwaschen.

Bei jeder sich bietenden Gelegenheit erlauben sie sich zu richten und Einzelne aus ihren Reihen vor der Geschichte als „Kriegsverbrecher“ zu verurteilen. Schon die Nürnberger Prozesse, welche die Sieger zwischen 1945 und 1949, nach der zweiten imperialistischen Weltschlächterei, gegen die Naziführer inszenierten, dienten dazu, die monströsen Verbrechen der großen Demokratien in Dresden, Hamburg, Hiroshima und Nagasaki zu rechtfertigen. Um die Bombardierungen in Serbien und dem Kosovo zu legitimieren sowie die direkte Komplizenschaft der Großmächte an den Gräueltaten des Krieges in Ex-Jugoslawien zu vertuschen, wird heute Milosevic vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt.

In gleicher Weise versucht die „internationale Gemeinschaft“ den Krieg in Afghanistan als Mission darzustellen, mit der das Land vom Joch der Taliban befreit werde: angebliche Befreiung der Frauen, Wiederherstellung der Handelsfreiheit und der Freizeitvergnügen (Fernsehen, Radio, Sport, ...). Diese Argumente sich besondern lächerlich, wenn sich gleichzeitig die Konflikte zwischen den zahlreichen Fraktionen und Cliquen zuspitzen, welche seit dem Sturz der Taliban die Zügel des Landes in die Hände genommen haben.

Die Behauptungen der Bourgeoisie, im Dienste des Friedens zu stehen, sind nichts als Lügen.

Wie auch immer die Bourgeoisie handelt, sie verschlimmert nur das weltweite Chaos und die kriegerische Barbarei. Dies ist eines der bezeichnendsten Resultate der historischen Niederlage des Kapitalismus, seines Verfaulens auf der Stelle und der drohenden Zerstörung, die der Menschheit dadurch auferlegt wird. Der Kapitalismus als Ganzes ist dafür verantwortlich, dass der Krieg Alltag geworden ist.

Die einzig Kraft, welche der Menschheit eine Zukunft bieten kann, ist die Arbeiterklasse. Trotz aller Hindernisse, die ihr heute im Wege liegen, ist sie die einzige Klasse, die dem Chaos und der kapitalistischen Barbarei ein Ende bereiten und ein neues System im Dienste der Menschheit errichten kann.

Der Kapitalismus versucht seine krassesten Widersprüche und die Auswirkungen der ökonomischen Krise auf die Peripherie abzuschieben. Das Beispiel von Argentinien zeigt, wie umfangreich die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse sind, ihr Bewusstsein als Klasse zu finden und sich nicht in interklassistischen Sackgassen zu verlieren. Auch ist die Arbeiterklasse heute auf einer breiten Ebene mit der Falle des Pazifismus konfrontiert, welcher dieselben interklassistischen Illusionen verstreut, vornehmlich im Gewand der „Antiglobalisierer“ auftritt und nichts anderes als eine Mobilisierung hinter die nationalen Interessen der Bourgeoisie darstellt. Das Proletariat steht angesichts der Angriffe der herrschenden Klasse vor der wichtigen Aufgabe, in seinen Kämpfen ein Bewusstsein über die historischen Ereignisse und die für die Menschheit tödliche Gefahr des Chaos und der kriegerischen Barbarei zu entwickeln. Dies wird seine Entschlossenheit vorwärts zu schreiten und seine Klassenkämpfe zu vereinigen, stärken: „Das kommende Jahrhundert wird entscheidend sein für die Geschichte der Menschheit. Wenn der Kapitalismus seine Herrschaft über den Planeten weiterführen kann, wird die Gesellschaft noch vor dem Jahr 2100 in der totalen Barbarei versinken. Eine Barbarei, neben der diejenige des 20. Jahrhunderts nur wie ein kleiner Kopfschmerz erscheint, eine Barbarei die uns ins Steinzeitalter zurückwirft oder gar zerstört. Wenn es für die Menschheit eine Zukunft gibt, so liegt sie alleine in den Händen des Weltproletariates. Nur die Revolution kann die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise aufheben, welche aufgrund ihrer historischen Krise verantwortlich ist für die gegenwärtige Barbarei.“[i] [11]        GF 7.4.02


 

[i] [12] aus International Review Nr. 104, engl./franz./span. Ausgabe, „Der Beginn des 21. Jahrhunderts... Weshalb hat das Proletariat den Kapitalismus noch nicht überwunden?“

Geographisch: 

  • Naher Osten [13]

Aktuelles und Laufendes: 

  • Irak [14]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [15]

Pearl Harbor 1941, Twin Towers 2001

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Der Machiavellismus der herrschenden Klasse

Vom ersten Augenblick an hat die Propaganda der amerikanischen Bourgeoisie den schrecklichen terroristischen Angriff gegen das World Trade Center in New York am 11.September mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7.Dezember 1941 verglichen. Dieser Vergleich hat ein beträchtliches psychologisches, historisches und politisches Gewicht, denn Pearl Harbor markierte den direkten Eintritt des amerikanischen Imperialismus in den Zweiten Weltkrieg. Geht es nach der gegenwärtigen ideologischen Kampagne, die von der amerikanischen Bourgeoisie, insbesondere von ihren Massenmedien, präsentiert wird, sind die Parallelen einfach, offen und selbstverständlich.

1)       In beiden Fällen seien die überrumpelten USA Opfer eines hinterhältigen Überraschungsangriffs gewesen. Im ersten Fall täuschte der japanische Imperialismus heimtückischerweise Verhandlungen mit Washington zur Vermeidung eines Krieges vor, um ohne jegliche Vorwarnung einen Angriff auszuhecken und zu verüben. Im aktuellen Fall seien die USA das Opfer fanatischer, islamistischer Fundamentalisten, die von der Offenheit und Freiheit der amerikanischen Gesellschaft profitierten, um eine Gräueltat von bisher nie gekannten Ausmaßes zu begehen, und deren Schlechtigkeit sie außerhalb der Grenzen einer zivilisierten Gesellschaft stelle.

2)       In beiden Fällen waren die von dem Überraschungsangriff verursachten Verluste groß und provozierten Ausschreitungen in der Bevölkerung. Pearl Harbor erforderte 2.043 Todesopfer, zumeist amerikanisches Militärpersonal. In den Twin Towers war der Blutzoll noch höher: nahezu 3.000 unschuldige Zivilisten verloren ihr Leben.

3)       In beiden Fällen schlugen die Angriffe auf ihre Täter zurück. Weit entfernt davon, die amerikanische Gesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzen oder sie in den Defätismus und die passive Unterwerfung zu treiben, versetzten Pearl Harbor und die Twin Towers die Bevölkerung, einschließlich des Proletariats, in den größten nationalen Taumel und erlaubten somit die Mobilisierung der Bevölkerung hinter dem Staat und für einen sich lang hinziehenden imperialistischen Krieg.

4)       Letztendlich behalte das Gute des demokratischen, amerikanischen Way of Life und seine Militärmacht die Oberhand über das Böse.

Wie alle ideologischen Mythen der Bourgeoisie ist dieses Märchen der beiden, 60 Jahre auseinander liegenden Tragödien, welche Teilwahrheiten auch immer ihm oberflächliche Glaubwürdigkeit verleihen, mit Halbwahrheiten, Lügen und zweckdienlichen Verzerrungen gespickt. Aber dies ist keine Überraschung. Die Politik der bürgerlichen Klasse fußt auf Lügen, Täuschung, Manipulationen und Manövern. Dies trifft besonders zu, wenn es um die schwierige Aufgabe geht, die Gesellschaft für den totalen Krieg moderner Zeiten zu mobilisieren. Die wesentlichen Elemente der ideologischen Kampagne der Bourgeoisie stehen in völligem Gegensatz sowohl zur historischen als auch zur aktuellen Wirklichkeit. Es gibt offenkundige Anzeichen dafür, dass die Bourgeoisie in keinen der beiden Fälle überrascht worden war, dass sie die massiven Todesraten in beiden Fällen für den Zweck politischer Ziele, für die Verwirklichung ihrer imperialistischen Kriegsziele und anderer weitreichender politischer Ziele, willkommen geheißen hat.

Die verschiedenen Merkmale des Krieges  in der Aufstiegs- und Dekadenzperiode

Da sowohl Pearl Harbor als auch das World Trade Center von der Bourgeoisie dazu benutzt wurden, die US-Bevölkerung auf den Krieg einzustimmen, ist es notwendig, kurz die politischen Aufgaben zu untersuchen, die sich der Bourgeoisie bei der Vorbereitung eines imperialistischen Krieges im Zeitalter der kapitalistischen Dekadenz stellten. In der Dekadenz hat der Krieg im Vergleich zum Krieg in jener Periode, als der Kapitalismus noch ein aufstrebendes, historisch fortschrittliches System gewesen war, unterschiedliche Merkmale angenommen. In der Aufstiegsperiode konnte der Krieg eine fortschrittliche Rolle annehmen in dem Sinne, dass er die Weiterentwicklung der Produktivkräfte ermöglicht hatte. In diesem Sinne können der amerikanische Bürgerkrieg, der der Zerstörung des anachronistischen Sklavensystems in den Südstaaten gedient und die Industrialisierung der USA in vollem Umfang ausgelöst hatte, und die verschiedenen nationalen Kriege in Europa, die in der Schaffung moderner, vereinigter Nationalstaaten in jedem Land mündeten, die ihrerseits den optimalen Rahmen für die Entfaltung des nationalen Kapitals schufen, als historisch fortschrittlich betrachtet werden. Im Allgemeinen beschränkten sich diese Kriege größtenteils auf das im Konflikt verwickelte Militärpersonal und hatten keine massenhafte Zerstörung der Produktionsmittel, der Infrastrukturen, der Bevölkerungen der einzelnen Krieg führenden Mächte zur Folge.

Der imperialistische Krieg in der kapitalistischen Dekadenz zeichnet sich durch völlig andere Züge aus. Während Nationalkriege in der Aufstiegsperiode die Basis für ein qualitatives Voranschreiten bei der Entwicklung der Produktivkräfte schufen, hat in der Dekadenz das kapitalistische System den Zenit seiner historischen Entwicklung längst überschritten, womit dieser fortschrittliche Gesichtspunkt verschwunden ist. Der Kapitalismus hat die Ausweitung des Weltmarkts beendet, d.h. sämtliche außerkapitalistischen Märkte, die die Ausdehnung des globalen Kapitalismus gefördert hatten, sind in das kapitalistische System integriert worden. Für die vielen nationalen Kapitalien gibt es nur eine Möglichkeit der weiteren Ausdehnung, und die geht auf Kosten ihrer Rivalen – indem sie von Territorien oder Märkten Besitz ergreifen, die von ihren Gegnern kontrolliert werden. Die Verstärkung der imperialistischen Rivalitäten führt zur Entwicklung von imperialistischen Bündnissen, die die Bühne des allgemeinen imperialistischen Krieges bereiten. Weit entfernt davon, sich auf eine Auseinandersetzung zwischen Berufsarmeen zu beschränken, erfordert der Krieg in der Dekadenz die totale Mobilisierung der Gesellschaft, was umgekehrt eine neue Form des Staates zum Aufstieg verhilft, den Staatskapitalismus. Dessen Funktion ist es, die totale Kontrolle über die Gesellschaft bis in ihren letzten Winkel auszuüben, um die Klassenkonfrontationen zu zügeln, die die Gesellschaft zum Zerbersten zu bringen drohen, und um gleichzeitig die Mobilisierung der Gesellschaft für einen modernen, totalen Krieg zu koordinieren.

Gleichgültig, wie erfolgreich sie dabei war, die Bevölkerung ideologisch auf den Krieg vorzubereiten – die Bourgeoisie der Dekadenz bemäntelt ihre imperialistischen Kriege stets mit dem Mythos des Opferseins und der Selbstverteidigung gegen Aggression und Tyrannei. Die Realität der modernen Kriegführung, mit ihrer massiven Zerstörung und ihren enormen Opferzahlen, mit all den Facetten der Barbarei, die auf die Menschheit losgelassen wird – all dies ist so entsetzlich, so grauenhaft, dass selbst ein ideologisch geschlagenes Proletariat nicht leichtherzig in das Gemetzel zieht. Die Bourgeoisie ist daher wesentlich auf die Manipulation der Realität angewiesen, um die Illusion zu erzeugen, dass sie Opfer einer Aggression sei, das keine andere Wahl habe, als zu seiner Selbstverteidigung zurückzuschlagen. So wird zur Rechtfertigung des Konflikts die Notwendigkeit, das Vater- oder Mutterland gegen etwaige Aggressoren oder ausländische Tyrannen zu verteidigen, herangezogen, und nicht etwa die wahren imperialistischen Motive, die den Kapitalismus zum Krieg bringen. Denn der Versuch, die Bevölkerung hinter der Parole „Auf zur Unterdrückung der Welt unter unserer Fuchtel und unter allen Umständen“ zu mobilisieren, ist zum Scheitern verurteilt. Die staatliche Kontrolle über die Massenmedien erleichtert mit all ihren Abarten der Propaganda und Lügen die Gehirnwäsche der Bevölkerung.

Die amerikanische Bourgeoisie ist in ihrer ganzen Geschichte, auch vor dem Beginn der kapitalistischen Dekadenz im frühen 20.Jahrhundert, stets ein Experte im Opfersein gewesen. So lautete zum Beispiel im Krieg gegen Mexiko 1845-48 die Parole „Erinnert euch an Alamo“. Dieser Schlachtruf verewigte das ‚Massaker‘ an 136 amerikanischen Rebellen 1836 in San Antonio, Texas, damals Teil Mexikos, durch die von General Santa Ana geführten Streitkräfte. Natürlich hinderte die Tatsache, dass die „blutrünstigen“ Mexikaner wiederholt ihr Entgegenkommen bei der Aufgabe anboten und Frauen und Kindern vor der letzten Schlacht die Evakuierung aus Fort Alamo gestatteten, die herrschende Klasse der USA nicht daran, die Verteidiger Alamos in den Heiligenschein des Märtyrertums zu rücken. Denn der Zwischenfall war gut geeignet, Unterstützung für einen Krieg zu mobilisieren, der in der US-amerikanischen Annexion eines Teils dessen, was heute den Südwesten der USA bildet, seinen Höhepunkt fand.

Ähnlich diente auch die mysteriöse Explosion an Bord des US-Schlachtschiffes Maine 1898 in Havanna als Voraussetzung für den spanisch-amerikanischen Krieg 1989 und rief die Parole „Erinnert euch an Maine“ ins Leben. In jüngerer Zeit (1964) wurde der angebliche Angriff auf zwei US-Kanonenboote außerhalb vietnamesischer Küstengewässer als Grundlage für die Golf von Tonking-Resolution benutzt, die vom amerikanischen Kongress im Sommer 1964 verabschiedet wurde und die, wenngleich sie keine formelle Kriegserklärung war, den legalen Rahmen für die amerikanische Intervention in Vietnam schuf. Ungeachtet der Tatsache, dass die Johnson-Administration binnen Stunden erfuhr, dass die berichteten „Angriffe“ auf die Maddox und die Turner Joy sich nie ereignet hatten, sondern die Folge eines Irrtums nervöser junger Radaroffiziere gewesen waren, wurde das Kriegsermächtigungsverfahren durch den Kongress gepeitscht, um einen legalen Anlass für einen Krieg zu schaffen, der sich bis zum Fall Saigons 1975 an die stalinistischen Streitkräfte hinziehen sollte.

Es ist offensichtlich, dass die Bourgeoisie den Angriff auf Pearl Harbor benutzte, um eine widerstrebende Bevölkerung hinter die Kriegsbemühungen zu sammeln, genauso wie die Bourgeoisie heute die Gräueltat des 11.Septembers dazu benutzt, Unterstützung für ein neues kriegerisches Unternehmen zu mobilisieren. Doch die Frage bleibt, ob die USA in jeder Beziehung „überrascht“ worden ist und inwieweit der Machiavellismus der US-Bourgeoisie, ob durch Provozierung oder durch ihre eigene Erlaubnis, in diese Angriffe verwickelt war, um einen politischen Nutzen aus dem daraus folgenden öffentlichen Zorn zu ziehen.

 Der Machiavellismus der Bourgeoisie

Allzu oft, wenn die IKS den Machiavellismus der Bourgeoisie enthüllt, beschuldigen unsere Kritiker uns, in eine verschwörerische Sichtweise der Geschichte abzugleiten. Jedoch ist ihr Unverständnis in diesem Zusammenhang nicht einfach ein Missverständnis unserer Analyse, sondern schlimmer noch: Sie fallen dem ideologischen Gewäsch der bürgerlichen Apologeten in den Medien und Akademien zum Opfer, deren Job es ist, diejenigen, die versuchen, die Strickmuster und Prozesse innerhalb des politischen, ökonomischen und sozialen Lebens der Bourgeoisie zu ermitteln, als irrationale Verschwörungstheoretiker zu verunglimpfen. Doch ist es nicht einmal kontrovers zu behaupten, dass „Lügen, Terror, Zwang, Doppelspiel, Korruption, Komplotte und politische Attentate“ zum Rüstzeug der ausbeuterischen, herrschenden Klassen in der gesamten Geschichte gehören, ob im Altertum, im Feudalismus oder im modernen Kapitalismus. „Der Unterschied liegt darin, dass Patrizier und Aristokraten ‚Machiavellismus praktizierten, ohne es zu wissen‘, während die Bourgeoisie machiavellistisch ist und es auch weiß. Sie verwandelt den Machiavellismus in eine ‚ewige Wahrheit‘, weil dies ihre Art zu leben ist: Sie hält die Ausbeutung für immerwährend.“ („Warum die Bourgeoisie machiavellistisch ist“, International Review, Nr.31, S.10, 1982) In diesem Sinne ist das Lügen und die Manipulation - ein Mechanismus, der von allen vorhergehenden ausbeutenden Klassen bedient worden war - zum zentralen Merkmal der politischen Funktionsweise der Bourgeoisie geworden, die, indem sie unter den Bedingungen des Staatskapitalismus die gewaltigsten, ihr zur Verfügung stehenden Werkzeuge zur gesellschaftlichen Kontrolle verwenden kann, den Machiavellismus auf eine qualitativ höhere Stufe hebt.

Das Auftreten des Staatskapitalismus in der Epoche der kapitalistischen Dekadenz - einer Staatsform, die die Macht in den Händen der Exekutive, besonders in jenen der permanenten Bürokratie, konzentriert und die dem Staat eine wachsende totalitäre Kontrolle aller Aspekte des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens ermöglicht - hat der Bourgeoisie noch wirkungsvollere Mechanismen zur Durchführung ihrer machiavellistischen Schemata verschafft. „Bei der Organisierung ihres eigenen Überlebens, ihrer Selbstverteidigung hat die Bourgeoisie eine immense Fähigkeit an den Tag gelegt, Techniken zur ökonomischen und sozialen Kontrolle zu entwickeln, die weit außerhalb der Vorstellungskraft der Herrscher im 19.Jahrhundert lag. In diesem Sinne ist die Bourgeoisie im Umgang mit der historischen Krise ihres sozio-ökonomischen Systems ‚intelligent‘ geworden.“ („Bemerkungen über das Bewusstsein der dekadenten Bourgeoisie“, International Review, Nr.31, S.14, IV.Quartal 1982) Die Entwicklung der Massenmedien, die vollständig der staatlichen Kontrolle unterworfen sind, ob in Form formaler, juristischer Mittel oder etwas flexiblerer, informeller Methoden, ist ein zentrales Element im machiavellistischen Ränkeschmieden der Bourgeoisie. „Die Propaganda – also die Lüge – ist eine wichtige Waffe der Bourgeoisie. Und die Bourgeoisie ist sehr gewitzt dabei, Ereignisse zu provozieren, die diese Propaganda füttern, wenn es notwendig sein sollte.“ („Warum die Bourgeoisie machiavellistisch ist“, S.11) Die amerikanische Geschichte ist vollgestopft mit einer Unzahl von Beispielen, die von verhältnismäßig prosaischen, alltäglichen Benebelungen bis hin zu historisch bedeutsamerer Manipulationen reichen. Als ein Beispiel für erstgenannten Typus mag ein Vorfall aus dem Jahre 1955 gelten, als der Pressesprecher des Präsidenten, James Haggerty, ein Scheintreffen inszenierte, um die Arbeitsunfähigkeit von Präsident Eisenhower zu verbergen, der nach einer Herzattacke in einem Krankenhaus in Denver, Colorado, lag. Haggerty traf Vorkehrungen für eine 2000 Meilen lange Reise des gesamten Kabinetts von Washington nach Denver, um die Illusion zu nähren, dass es dem Präsidenten gut genug ginge, um eine Kabinettssitzung zu leiten, obwohl solch ein Treffen nie stattfand. Ein Beispiel für letztgenannten Typus ist die Manipulierung Saddam Husseins im Jahre 1990, als die amerikanische Botschafterin im Irak Saddam mitteilte, dass die USA nicht in den Grenzstreitigkeiten zwischen dem Irak und Kuwait eingreifen würden, und sie ihm weismachte, dass er vom US-Imperialismus grünes Licht für eine Invasion Kuwaits erhalten habe. Stattdessen wurde die Invasion von den USA als Vorwand für den Krieg von 1991 am Persischen Golf benutzt, als ein Mittel, um ihren Status als einzig verbliebene Supermacht nach dem stalinistischen Zusammenbruch und der darauffolgenden Auflösung des westlichen Blocks geltend zu machen.

Dies soll nicht heißen, dass alle Ereignisse in der heutigen Gesellschaft notwendigerweise von den geheimen Entscheidungen eines kleinen Kreises kapitalistischer Führer im Voraus bestimmt werden. Natürlich sind die auftretenden fraktionellen Streitigkeiten innerhalb der führenden Kreise der kapitalistischen Staaten und die Folgen solcher Streitigkeiten keine a priori gefassten Schlussfolgerungen. Genauso wenig sind die Folgen der Konfrontationen mit dem Proletariat in der Hitze des Klassenkampfes stets unter der Kontrolle der Bourgeoisie. Und trotz all der Pläne und Manipulationen können sich auch historische Unfälle ereignen. Doch es geht darum zu begreifen, dass, selbst wenn die Bourgeoisie als ausbeutende Klasse unfähig ist zu einem kompletten, kohärenten Bewusstsein und zu einem akkuraten Verständnis der Funktionsweise ihres Systems und der historischen Sackgasse, die sie der Menschheit anbietet, sie sich dennoch über die sich vertiefende gesellschaftliche und ökonomische Krise im Klaren ist. „Für die Spitzen der Staatsmaschinerie, die das Zepter in der Hand halten, ist es durchaus möglich, zu einer Art Gesamtbild der Lage und der Optionen zu gelangen, die ihnen realistischerweise offenstehen, um ihr zu begegnen.“ („Bemerkungen über das Bewusstsein...“, S.14) Selbst mit einem lückenhaften Bewusstsein ist die Bourgeoisie mehr als fähig, Strategien und Taktiken zu entwickeln sowie die totalitären Mechanismen des Staatskapitalismus zu nutzen, um Erstere einzusetzen. Es liegt in der Verantwortung revolutionärer Marxisten, das machiavellistische Manövrieren und Lügen zu entlarven. Die Augen vor diesem Aspekt der Offensive der herrschenden Klasse bei der Kontrolle der Gesellschaft zu verschließen ist unverantwortlich und spielt in die Hände unserer Klassenfeinde.

 Der Machiavellismus der herrschenden Klasse Amerikas in Pearl Harbor

Pearl Harbor stellt ein exzellentes Beispiel für das Treiben des bürgerlichen Machiavellismus dar. Wir nutznießen dabei von mehr als einem halben Jahrhundert historischer Untersuchungen und einer Reihe von Nachforschungen durch das Militär und oppositionelle Parteien. Gemäß der offiziellen Version der Realität war der 7.Dezember 1941 „ein Tag der Niedertracht“, wie Präsident Roosevelt ihn bezeichnete. Er wurde als Mittel zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung für den Krieg benutzt. Und er wird immer noch auf diese Weise von den kapitalistischen Medien, den Schulbüchern und in der Popkultur dargestellt, trotz beträchtlicher historischer Beweise dafür, dass der japanische Angriff bewusst von der amerikanischen Politik provoziert worden war. Der Angriff kam nicht aus heiterem Himmel über die amerikanische Regierung, ja, es war eine bewusste politische Entscheidung auf höchster Ebene, das Zustandekommen dieses Angriffs zu erlauben und den massiven Verlust an Menschenleben und Marineinventar hinzunehmen, um einen Vorwand zu haben, Amerikas Eintritt in den Zweiten Weltkrieg sicherzustellen. Eine Anzahl von Büchern und enormes Material im Internet ist über diese Geschichte veröffentlicht worden (1). Wir wollen hier einen Überblick über einige Highlights geben, um die operativen Aspekte des Machiavellismus zu veranschaulichen.

Die Ereignisse von Pearl Harbor fanden statt, als die USA immer mehr auf eine Intervention in den II.Weltkrieg auf Seiten der Alliierten zustrebten. Die Roosevelt-Administration war ganz erpicht darauf,  in den Krieg gegen Deutschland zu treten, doch trotz der Tatsache, dass die amerikanische Arbeiterklasse fest im Griff des Gewerkschaftsapparates (in dem die stalinistische Partei eine wichtige Rolle spielte) war, der unter Staatsautorität gestellt wurde, um in allen Schlüsselindustrien den Klassenkampf in Schranken zu halten, und dass sie von der Ideologie des Antifaschismus durchdrungen war, sah sich die amerikanische Bourgeoisie immer noch einer starken Anti-Kriegs-Opposition innerhalb der Bevölkerung gegenüber, einschließlich nicht nur der Arbeiterklasse, sondern auch großer Teile der Bourgeoisie selbst. Meinungsumfragen ermittelten, dass 60 Prozent der Befragten vor Pearl Harbor gegen den Kriegseintritt waren. Und die „America First“-Kampagne sowie andere isolationistische Gruppen erhielten beträchtliche Unterstützung innerhalb der Bourgeoisie. Entgegen ihrer demagogischen demokratischen Gelöbnisse, Amerika aus dem Krieg in Europa rauszuhalten, suchte die Roosevelt-Administration heimlich nach einem Vorwand, um in den Kampf zu treten. Die USA verletzten in steigendem Maße ihre eigene, selbsterklärte Neutralität, indem sie den Alliierten Hilfe anboten und riesige Mengen Rüstungsmaterial im Rahmen des Leih-und-Pacht-Programms verschifften. Die Administration hoffte so, die Deutschen dazu zu provozieren, einen Angriff gegen die amerikanischen Streitkräfte im Nordatlantik zu führen, was als Vorwand für Amerikas Kriegseintritt hätte dienen können. Als der deutsche Imperialismus nicht auf den Köder hineinfiel, rückte Japan in den Mittelpunkt des Interesses. Die Entscheidung, ein Ölembargo gegen Japan zu verhängen, und die Verlegung der Pazifikflotte von der Westküste der USA an einer etwas vorgeschobeneren Position in Hawaii diente dazu, Japan ein Motiv und eine Gelegenheit zu verschaffen, den ersten Schuss gegen die USA abzufeuern und so den Vorwand für eine direkte Intervention in den imperialistischen Krieg zu schaffen. Im März 1941 sagte ein Geheimbericht des Marineministeriums voraus, dass, falls Japan sich dazu entschließe, die USA anzugreifen, es zu einem frühmogendlichen Überfall durch Kampfflugzeuge gegen Pearl Harbor kommen werde. Im Juni 1941 skizzierte der Präsidentenberater Harold Ickes dem Präsidenten in einem Memorandum, dass, wenn Deutschland zunächst Russland angreift, „sich aus dem Ölembargo gegen Japan eine Lage entwickeln könnte, die es nicht nur möglich, sondern auch leichter macht, wirksam in diesen Krieg zu gelangen.“ Im Oktober schrieb Ickes: „Seit langem war ich davon überzeugt, dass unser bester Eintritt in den Krieg die Japan-Schiene ist.“ Kriegssekretär Stimson notierte über den Diskussionsstand mit dem Präsidenten in seinem Tagebuch Folgendes: „Die Frage war, wie wir sie in eine Position manövrieren können, wo sie ohne größere Gefahr für uns den ersten Schuss abgeben. Trotz der Risiken, die zweifellos vorhanden sind, wenn wir die Japaner den ersten Schuss abgeben lassen, machten wir uns klar, dass, um die volle Unterstützung des amerikanischen Volkes zu haben, es wünschenswert war, sicher zu stellen, dass die Japaner dies auch tun, so dass kein Zweifel darüber aufkommt, wer der Aggressor war.“

Der Bericht des Pearl Harbor-Ausschusses der Armee (20.Oktober 1944) behandelte ausführlich diese bewusste, machiavellistische Entscheidung, Menschenleben und Ausrüstung in Pearl Harbor zu opfern, und schlussfolgerte, dass während „der verhängnisvollen Zeitspanne zwischen dem 27.November und dem 6.Dezember 1941... zahlreiche Informationen in die Hände der Spitzen des Staates, der Kriegs- und Marineressorts gelangten, die präzise die Absichten der Japaner anzeigten, einschließlich des exakten Zeitpunkts und Datums des Angriffs.“ (Armeeausschussbericht, Pearl Harbor, Teil 39, 221-230 pp.)

-          US-Geheimdienstquellen erfuhren am 24.November, dass „offensive Militäroperationen der Japaner“ in Gang gesetzt worden waren.

-          Am 26.November erhielten die US-Geheimdienste „definitiven Beweis für die japanischen Absichten, einen offensiven Krieg gegen Großbritannien und die Vereinigten Staaten zu führen.“

-          Auch wurde am 26.November von „einer Konzentration von Einheiten der japanischen Flotte in einem unbekannten Hafen, bereit für offensive Aktionen,“ berichtet.

-          Am 1.Dezember kamen „von drei unabhängigen Quellen (...) definitive Informationen, dass Japan dabei ist, Großbritannien und die Vereinigten Staaten anzugreifen, und dafür mit Russland Frieden halte“.

-          Am 3.Dezember wurde „mit der Nachricht, dass die Japaner ihre Codes löschten und die Kodiermaschinen zerstörten, endgültig Aufschluss über die kriegerischen Angriffsabsichten Japans gegeben. Dies wurde gedeutet... als Anzeichen für einen unmittelbar bevorstehenden Krieg.“

Diese Geheimdienstinformationen wurden an hochrangige Beamte im Kriegsressort und State Department weitergegeben und dem Weißen Haus mitgeteilt, wo Roosevelt persönlich zweimal täglich Briefings über abgefangene japanische Funksprüche erhielt. Trotz des verzweifelten Drängens von Geheimdienstbeamten, eine „Kriegswarnung“ an die militärischen Befehlshaber auf Hawaii zu schicken, um sich auf einen unmittelbar bevorstehenden Angriff vorzubereiten, entschieden sich die zivilen und militärischen Spitzen gegen ein solches Vorgehen und schickten ihnen stattdessen das zu, was die Behörden eine „harmlose“ Nachricht nannten. Diese Beweise für das Vorab-Wissen vom japanischen Angriff ist von zahlreichen Quellen bestätigt worden, einschließlich journalistischer Berichte und den Memoiren von Beteiligten. Zum Beispiel beinhaltete ein Bericht der United Press, der am 8.Dezember in der New York Times veröffentlicht wurde, folgenden Untertitel: „Angriff wurde erwartet: Es ist jetzt möglich zu enthüllen, dass die Streitkräfte der Vereinigten Staaten eine Woche zuvor erfahren hatten, dass ein Angriff bevorstand, und dass sie nicht unvorbereitet überrascht wurden“ (New York Times, 8.Dezember 1941, S.13). In einem Interview offenbarte die First Lady, Eleanor Roosevelt, 1941, dass „der 7.Dezember (...) überhaupt nicht der Schock war, als der er sich für das Land im Allgemeinen erwies. Wir hatten etwas in dieser Art schon seit langem erwartet“ (New York Times Magazine, 8.Oktober 1944, S.41). Am 20.Juni 1944 teilte der britische Kabinettsminister Sir Oliver Lyttelton der amerikanischen Handelskammer mit, „Japan wurde zum Angriff gegen die Amerikaner auf Pearl Harbor provoziert. Es spricht der Geschichte Hohn, wenn man sagt, dass die Amerikaner in den Krieg gezwungen wurden. Jeder weiß, wem die amerikanischen Sympathien galten. Es ist unrichtig zu sagen, dass Amerika jemals richtig neutral gewesen war, selbst bevor Amerika mit Kampfmitteln in den Krieg trat“ (Prang, „Pearl Harbor: Verdict of History“, S.39-40). Winston Churchill bestätigte das Doppelspiel der amerikanischen Regierenden beim Angriff gegen Pearl Harbor in folgender Passage seines Buches The Grand Alliance: „1946 veröffentlichte eine erstaunliche Kongressuntersuchung ihre Funde, in denen jedes Detail jener Ereignisse enthüllt wurde, die den Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Japan und auf das Nichterfolgen einer Alarmierung der Flotte und Garnisonen in exponierten Lagen durch das Militärressort einleiteten. In 40 Bänden wurde jedes Detail, einschließlich der Entschlüsselung geheimer japanischer Depeschen und ihrer aktuellen Nachrichten, der Welt enthüllt. Die Stärke der Vereinigten Staaten reichte aus, um im Geiste der amerikanischen Verfassung diese harte Feuerprobe zu bestehen. Ich habe auf diesen Seiten nicht die Absicht, ein Urteil über diese schreckliche Episode in der amerikanischen Geschichte zu fällen. Wir wissen, dass all die großen Amerikaner um den Präsidenten, die sein Vertrauen genossen, genauso scharfsinnig wie ich die furchtbare Gefahr fühlten, dass Japan britische oder holländische Besitzungen im Fernen Osten attackiert und die Vereinigten Staaten wohlweislich unbehelligt lässt und dass infolgedessen der Kongress eine amerikanische Kriegserklärung nicht sanktioniert (...) Der Präsident und seine vertrauten Freunde waren sich schon seit langem über die schwerwiegenden Risiken der Neutralität der Vereinigten Staaten im Krieg gegen Hitler und wofür er stand im Klaren und haben unter den Einschränkungen eines Kongresses gelitten, dessen Repräsentantenhaus einige Monate zuvor mit nur einer Stimme Mehrheit der Notwendigkeit einer Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht zugestimmt hatte, ohne die die Armee sich inmitten weltweiter Erschütterungen nahezu aufgelöst hätte. Roosevelt, Hull, Stimson, Knox, General Marshall, Admiral Stark und, als Verbindungsmann zwischen ihnen, Harry Hopkins waren einer Meinung... Ein japanischer Angriff gegen die Vereinigten Staaten bedeutete eine große Erleichterung ihrer Probleme und ihrer Pflicht. Wie können wir uns darüber wundern, dass sie die tatsächliche Form des Angriffs, ja, sogar sein Ausmaß, als unvergleichlich weniger wichtig betrachteten als die Tatsache, dass die ganze amerikanische Nation wie ein Mann und wie nie zuvor für ihre eigene Sicherheit eintreten würde?“ (Winston Churchill, „The Grand Allianz“, S.603)

Roosevelt mag das Ausmaß und die Verluste, die die Japaner auf Pearl Harbor verursacht hatten, nicht geahnt haben, aber er war offenkundig bereit, Schiffe und Menschenleben zu opfern, um die Bevölkerung zu Wut und Krieg aufzustacheln.

 Das Attentat gegen die Twin Towers und der Machiavellismus der Bourgeoisie

Gewiss ist es viel schwieriger, das Ausmass des Machiavellismus der amerikanischen Bourgeoisie im Fall des Attentats gegen das World Trade Center abzuschätzen, das im Augenblick der Abfassung dieses Artikels erst gerade ein wenig mehr als drei Monate zurückliegt. Wir profitieren von keinerlei Ergebnissen von seither geführten Untersuchungen, die allenfalls geheime Beweise enthüllen könnten, dass Elemente der herrschenden Klasse auf welche Art auch immer ihre Finger bei diesem Attentat im Spiel oder zumindest davon Kenntnis oder es sogar provoziert hatten. Wie jedoch die Geschichte der herrschenden Klasse, insbesondere die Ereignisse von Pearl Harbor, aufzeigen, ist eine solche Möglichkeit durchaus vorhanden. Wenn wir die jetzigen Ereignisse einzig auf der Grundlage von Medienberichten überprüfen - die wie zufällig allesamt in der gegenwärtigen politischen und imperialistischen Offensive der Regierung eingespannt sind, und der sie auch ihre volle Unterstützung entbieten - können wir eine solche Vermutung gewiss unterstützen.

Stellen wir uns zuerst einmal die Frage, wer denn auf politischer Ebene von diesem Verbrechen profitiert: Das ist zweifellos die amerikanische Bourgeoisie: Diese Feststellung allein genügt, um einigen Argwohn bezüglich des Attentats auf das World Trade Center zu entwickeln. Die amerikanische Bourgeoisie hat denn auch prompt und ohne das geringste Zögern die Ereignisse vom 11. September zu ihrem eigenen Nutzen verwendet, um ihre Projekte sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene voranzutreiben: Mobilisierung der Bevölkerung hinter dem kriegführenden Staat, Verstärkung des staatlichen Repressionsapparates, Behauptung der amerikanischen Supermacht gegenüber der allgemeinen Tendenz aller gegen alle in der internationalen Arena.

Unmittelbar nach dem Attentat haben der politische Apparat Amerikas und die Medien die Mobilisierung der amerikanischen Bevölkerung für den Krieg begonnen. In einer konzertierten Aktion zielten sie darauf ab, das sog. Vietnam-Syndrom, das seit dreissig Jahren die Kriegführung des amerikanischen Imperialismus beeinträchtigt hatte, zu überwinden. Diese "massenpsychologische Fehlfunktion" beinhaltete in allererster Linie eine Abwehr insbesondere der Arbeiterklasse gegenüber der Mobilisierung hinter dem Staat für einen länger andauernden imperialistischen Krieg und war für ein Grossteil dafür verantwortlich, dass die USA den Konflikt mit dem russischen Imperialismus in den 70er und 80er Jahren mittels zwischengeschalteter Länder in lokalen Kriegen austrugen oder aber eher kurzfristige und begrenzte Interventionen mit Luftschlägen und Raketen bevorzugten als Bodenangriffe. Wir haben diese Methode im Golfkrieg oder im Kosovo mitverfolgen können. Diese Widerspenstigkeit ist sicher keine psychologische Fehlfunktion, sondern widerspiegelt eher die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, dem Proletariat eine ideologische und politische Niederlage beizufügen, die gegenwärtige Arbeitergeneration hinter dem Staat für den imperialistischen Krieg zu mobilisieren, wie dies bei der Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs der Fall gewesen war. Das Editorial einer Spezialausgabe des Magazins Time, unmittelbar nach dem Attentat herausgegeben, zeigt sehr gut auf, wie die gegenwärtige Kampagne einer Kriegspsychose orchestriert worden ist. Der Titel dieser Nummer lautete: "Tag der Gemeinheit" und verleitete von Beginn weg zum Vergleich mit Pearl Harbor. Ein Artikel von Lance Morrow mit dem Titel "Zorn und Züchtigung" unterstrich die Einzelheiten der folgenden ideologischen Kampagne. Obwohl dieser Artikel in einer Publikation erschien, die an den Propagandaanstrengungen teilnahm, illustriert Morrow, wie die Propagandisten der herrschenden Klasse alle Vorteile begriffen hatten, die sie aus dem Attentat auf das World Trade Center ziehen konnten. Um die Bevölkerung hinsichtlich des Krieges mit der hohen Anzahl von Opfern und den dramatischen Bildern zu manipulieren: "Wir können keinen weiteren Tag der Gemeinheit mehr leben, ohne dass in uns ein Gefühl des Zorns entsteht. Befreien wir unseren Zorn!

Wir benötigen ein Gefühl der Wut, das derjenigen gleicht, die auf Pearl Harbor folgte! Eine Entrüstung ohne Mitleid, die sich nicht nach ein oder zwei Wochen in Luft auflöst...

Es handelte sich um Terrorismus nahe der dramatischen Perfektion. Niemals wird das Schauspiel des Bösen eine Produktion von einem solchen Wert produziert haben. Normalerweise sieht das Publikum nur die rauchenden Ergebnisse: Die von einer Explosion zerstörte Botschaft, Kasernen in Ruinen, das schwarz klaffende Loch im Bug eines Schiffes. Diesmal hat aber bereits das erste in den einen Turm einschlagende Flugzeug die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es hat die Medien in Alarm versetzt, hat die Kameras in Bereitschaft gebracht, um die zweite Explosion des Surrealismus festzuhalten...

Gleichzeitig hat der politische Apparat der Bourgeoisie seinen Plan zur Verstärkung des staatlichen Repressionsapparats entrollt. Eine neue "Sicherheitsgesetzgebung" stellte die gesetzgeberische Praxis wieder her, die in der Folge des Vietnam-Kriegs und des Watergate-Skandals diskreditiert worden war. Ebenso wurde eine ganze Reihe von repressiven Massnahmen vorbereitet, debattiert, angenommen und vom Präsidenten in Rekordzeit unterschrieben. Wir haben guten Grund anzunehmen, dass diese Gesetzgebung bereits langfristig vorbereitet worden war, um zum gegebenen Zeitpunkt nur noch in Kraft gesetzt zu werden. Mehr als 1000 Verdächtige, die lediglich arabische Namen oder Kleider trugen, wurden ohne genaue Anklage für unbestimmte Zeit verhaftet. Die Guthaben von der Sympathie mit Bin Laden verdächtigten Organisationen wurden ohne gerichtliches Prozedere eingefroren. Die Einwanderung wurde insbesondere aus den islamischen Ländern eingeschränkt. Dies geschah mehr als eine Antwort auf die ständige Sorge der Bourgeoisie über den ununterbrochenen Strom von Immigranten, die den schrecklichen Bedingungen des Zerfalls und der Barbarei in ihren unterentwickelten Nationen entfliehen.

Unvermittelt ist der Terrorismus die Entschuldigung für die Verschärfung der Wirtschaftskrise und eine Rechtfertigung für die Einschnitte in den Budgets der Sozialprogramme geworden. Die verfügbaren Guthaben wurden jetzt in den Krieg und in die nationale Sicherheit umgeleitet. Die Geschwindigkeit, mit der all diese Massnahmen präsentiert wurden, zeigt sehr gut, dass sie nicht auf die Schnelle erstellt worden sind, sondern dass sie vorbereitet, diskutiert und geplant worden sind, um für alle Fälle gerüstet zu sein.

Auf internationaler Ebene ist das Ziel des Kriegs gegen den Terrorismus nicht so sehr dessen Zerstörung, sondern die gewaltsame Unterstreichung der imperialistischen Vorherrschaft durch die USA, die die einzige Supermacht in einer internationalen Arena bleiben, die von einer zunehmenden Herausforderung für die US-Hegemonie geprägt ist. Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 führte zu einer schnellen Auflösung des Westblocks, weil das Kohäsionsmittel für dessen Zusammenhalt durch den Zusammenbruch des imperialistischen Blocks der UdSSR verschwunden war. Der amerikanische Imperialismus sah sich trotz des offensichtlichen Sieges im Kalten Krieg nun plötzlich einer neuen globalen Situation gegenüber: Die Grossmächte, die ihre ehemaligen Alliierten waren, und auch eine Anzahl von Ländern geringerer Bedeutung begannen nun, die Vorherrschaft der USA herauszufordern und die eigenen imperialistischen Ambitionen zu verfolgen. Die USA haben im vergangenen Jahrzehnt drei grossangelegte Militäraktionen unternommen, um ihre ehemaligen Verbündeten wieder auf ihre Ränge zu verweisen und ihre Vorherrschaft anzuerkennen: gegen den Irak, gegen Serbien und jetzt gegen Afghanistan und das Al-Kaida-Netz. In jedem dieser drei Fälle zwang die Entfaltung des US-Militärapparates die "Verbündeten", also Frankreich, Grossbritannien und Deutschland, sich in die Allianzen einzureihen, die die USA lenkten, oder aber vollständig das Gesicht zu verlieren und aus dem globalen imperialistischen Spiel rauszukippen.

Zweitens ist es bereits jetzt, da die offiziell autorisierte Version der Realität behauptet, dass die USA auf keinen Fall auf diese Attentate gefasst waren, möglich, einzig auf die bürgerlichen Medien bezugnehmend Beweiselemente für den Machiavellismus der amerikanischen Bourgeoisie zu sammeln:

-          Die Kräfte, die anscheinend das Attentat gegen das World Trade Center verübten, standen vielleicht nicht unter der Kontrolle des amerikanischen Imperialismus, jedoch waren sie den amerikanischen Geheimdiensten gewiss bekannt. Tatsächlich rekrutierte die CIA schon zu Beginn des Konflikts zwischen afghanischen Klicken und dem russischen Imperialismus 1979 Tausende von islamischen Fundamentalisten, bildete sie aus, bewaffnete sie und gebrauchte sie, um einen heiligen Krieg - den Dschihad - gegen die Russen zu führen. Das Konzept des Dschihad ruhte in der islamischen Theologie, bis es der amerikanische Imperialismus vor zwanzig Jahren erweckte, um es seinen eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Militante Islamisten wurden quer durch die ganze islamische Welt rekrutiert, in Pakistan ebenso wie in Saudi-Arabien. Dort hat man erstmals von Bin Ladin als einem Agenten des amerikanischen Imperialismus gehört. Nach dem Rückzug des russischen Imperialismus aus Afghanistan 1989 und dem Zusammenbruch der Regierung in Kabul 1992 hat sich auch der amerikanische Imperialismus zurück gezogen und sich auf den Nahen Osten und den Balkan konzentriert. Als die islamischen Fundamentalisten gegen die Russen kämpften, bezeichnete sie Ronald Reagan als Freiheitskämpfer. Wenn sie heute mit derselben Brutalität gegen den amerikanischen Imperialismus vorgehen, sind sie für den Präsidenten Bush fanatische Barbaren, die ausgelöscht werden müssen. Ganz wie Timothy Mac Veigh, dem fanatischen rechtsextremen, für das Bombenattentat von Oklahoma City 1995 verantwortlichen Amerikaner, der mit der Ideologie des Kalten Kriegs und im Hass gegen die Russen aufgewachsen und von der amerikanischen Armee rekrutiert worden war, genau so haben die von der CIA für den Dschihad angeworbenen jungen Leute niemals in ihrem Leben etwas anderes gekannt als Hass und Krieg. Beide fühlten sich vom amerikanischen Imperialismus nach dem Ende des Kalten Kriegs verraten und richteten ihre Gewalt fortan gegen ihre ehemaligen Lehrmeister.

-          - Seit 1996 verfolgte das FBI die Spur einer möglichen Benutzung von amerikanischen Pilotenschulen durch Terroristen, um Jumbo Jets fliegen zu lernen. Die Vorgehensweise der Terroristen war also von Behörden vorweggenommen worden (The Guardian, "FBI failed fo find suspects named before hijackings", 25.9.2001)

-          Die deutsche Polizei überwachte das Appartement in Deutschland, in dem das Attentat geplant und koordiniert worden war, während dreier Jahre.

-          Das FBI und andere amerikanische Spionageabwehr-Agenturen hatten Warnungen erhalten und Nachrichten abgefangen, gemäss denen am Jahrestag der Zeremonie im Weissen Haus zwischen Clinton, Rabin und Arafat ein Terrorattentat vorgesehen war. Die israelischen und französischen Geheimdienste hatten die Amerikaner gewarnt. Die Amerikaner hatten also gewiss eine Vorstellung über das Bevorstehende. Vielleicht wusste man nicht, dass das World Trade Center das Ziel sein würde, jedoch war es ja bereits 1993 von islamistischen Terroristen als Symbol des amerikanischen Kapitalismus ins Visier genommen worden.

-          Das FBI hat im August Zacarias Moussaoui verhaftet, der Verdacht erweckt hatte, weil er in einer Pilotenschule in Minnesota eine Ausbildung beginnen wollte und erklärt hatte, dass er weder am Starten noch am Landen interessiert sei. Anfangs September hatten die französischen Behörden gewarnt, dass Verbindungen zwischen Moussaoui und den Terroristen bestünden. Im November änderte das FBI plötzlich seine Meinung und dementierte eine Verstrickung Moussaouis im Attentat. Auf jeden Fall hat die Tatsache, dass sich die Piloten weder für den Start noch für die Landung interessiert hatten, die Verdachtsmomente erneuert.

-          Mohammed Atta, der vermutete Organisator vom 11. September und vermutliche Pilot des ersten in die Zwillingstürme donnernden Flugzeugs, war bei den Behörden wohl bekannt. Er schien aber ein ruhiges Leben geführt zu haben und durfte sich auch frei in den USA bewegen. Obwohl er seit Jahren auf der Liste der durch den Staat zu überwachenden Terroristen figurierte, da der Verstrickung in ein Bombenattentat gegen einen Bus in Israel im Jahr 1986 verdächtigt, war ihm in den letzten zwei Jahren mehrmals die Erlaubnis zur Ein- und Ausreise aus bzw. in Amerika erteilt worden. Von Januar bis Mai 2001 ist er von den Einwanderungsbehörden auf dem internationalen Flughafen in Miami während 57 Minuten festgehalten worden, weil sein Visum abgelaufen und für eine Einreise in die USA nicht mehr gültig gewesen war. Und obwohl er auf der Überwachungsliste der Behörden stand und trotz des Verdachts des FBI, dass Terroristen in den USA Flugschulen besuchen könnten, war es für ihn möglich, in die USA einzureisen und sich in einer Flugschule einzuschreiben. Im April 2001 wurde Atta wegen Fahrens ohne Führerschein angehalten. Da er im Mai nicht vor dem Gericht erschien, ist ein Haftbefehl ausgestellt worden, aber er ist nie ausgeführt worden. Er ist zweimal wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand angehalten worden. Atta ist während seines Aufenthalts in den USA niemals unter einem Pseudonym aufgetreten, er reiste, lebte und studierte das Pilotieren unter seinem wirklichen Namen. War das FBI wirklich so inkompetent oder fehlten ihm das nötige Personal oder die Arabischübersetzer, wie es behauptete, oder gibt es eine mehr machiavellistische Erklärung für dieses Verhalten in die Richtung einer konstanten und ständigen Bewahrung seiner Freiheit? Wurde er "Beschützt" oder diente er als Sündenbock ("Terroristen unter uns", Atlanta Journal Constitution, 16.9.2001; The Guardian, 25.9.2001)

-          Am 23. August 2001 liess die CIA eine Liste mit 100 vermutlichen Mitgliedern des Neztes um Bin Ladin auftauchen, unter ihnen auch Khalid Al Midhar und Nawaq Alhamzi, die sich an Bord desjenigen Flugzeuges befanden, das auf das Pentagon stürzte.

Bereits drei Jahre vor den angeblich unerwarteten Attentaten vom 11. September haben die Vereinigten Staaten im Geheimen begonnen, den Boden für einen Krieg in Afghanistan zu ebnen. In der Folge der Attentate auf die amerikanischen Botschaften in Dar-es-Salaam in Tansania und in Nairobi in Kenia 1998 hatte Präsident Clinton die CIA beauftragt, mögliche Aktionen gegen Bin Ladin, der jeglicher Kontrolle entglitten war, vorzubereiten. Deswegen waren auch geheime Verhandlungen mit den ehemaligen Sowjetrepubliken Usbekistan und Tadschikistan aufgegleist worden, um dort Militärbasen zu errichten, logistischen Nachschub zu liefern und Informationen zu sammeln. All das hat nicht nur eine militärische Intervention in Afghanistan vorbereitet, sondern erlaubte auch ein beträchtliches Eindringen der USA in die russische Einflusszone in Zentralasien. Deshalb kann man auch sagen, dass die Vereinigten Staaten trotz aller Gegenbeteuerungen nach der durch das Attentat gegen die Twin Towers sich bietende Gelegenheit für eine unverzügliche Intervention bereit waren, eine gewisse Anzahl von strategischen und taktischen Massnahmen umzusetzen, die bereits von langer Hand vorbereitet worden waren.

Es ist durch aus plausibel, dass die USA Bin Ladin quasi dazu gedrängt haben, eine Attacke gegen sie zu lancieren. The Guardian vom 22. September verleitet uns zu dieser Annahme: "Eine Untersuchung unserer Zeitung hat festgestellt, dass Bin Ladin und die Taliban zwei Monate vor den Terrorattentaten gegen New York und Washington Drohungen über eine mögliche militärische Attacke der USA erhalten hatten. Pakistan warnte das Regime in Afghanistan vor dieser Kriegsgefahr, falls sie Bin Ladin nicht ausliefern würden (...) Die Taliban verweigerten eine Unterwerfung, jedoch besteht auf Grund des Ausmasses der Warnungen die Möglichkeit, dass die Attentate Bin Ladins gegen das World Trade Center in New York und gegen das Pentagon in Washington tatsächlich eine präventive Attacke als Antwort auf die angeblichen Drohungen der USA gedacht waren und keinesfalls aus dem Nichts heraus stattfanden. Die Warnungen an die Taliban stammten von einer viertägigen Versammlung von Amerikanern, Russen, Iranern und Pakistani in einem Hotel in Berlin Mitte Juli. Diese Konferenz war die dritte in einer Serie unter dem Titel 'Brainstorming über Afghanistan' und gehört zu einer klassischen diplomatischen Methode unter dem Namen 'Schiene Nr. 2'." Mit anderen Worten ist es durchaus möglich, dass die USA die durch Bin Ladin begangenen Attentate nicht wirklich zu verhindern suchten, sondern sie über diesen halboffiziellen 'diplomatischen Kanal' sogar zu provozieren versuchte, um somit eine Legitimation für die militärische Antwort in die Hände zu bekommen.

-          Die gewaltigen Zerstörungen und die Anzahl der Opfer bildeten den Dreh- und Angelpunkt der unmittelbar auf das Desaster folgenden ideologischen Kampagne. Während Wochen haben uns die amerikanische Regierung und die Medien immer wieder eingehämmert, dass die 6000 im World Trade Center umgekommenen Menschen doppelt so viele waren wie in Pearl Harbor. Der Chef des Generalstabs hat diese Zahlen anfangs November in einem Interview mit einer nationalen Fernsehkette wiederholt (NBC am 4.11.2001). Jedoch bestehen berechtigte Zweifel, dass diese wegen ihres emotionalen Gewichts die Propaganda unterstützenden Zahlen masslos übertrieben sind. Zählungen von unabhängigen Presseagenturen haben die Zahl von weniger als 3000 Toten ergeben, was auch den Opfern von Pearl Harbor entspricht. Die New York Times fixiert die Opferzahl bei 2943, die Agentur Associated Press bei 2626 und USA Today bei 2680. Das amerikanische Rote Kreuz, das den Opferfamilien Finanzhilfen entrichtet, hat 2563 Anfragen erhalten. Die Regierung hat dem Roten Kreuz die Herausgabe einer Kopie der offiziellen Opferliste verweigert. Indessen nutzen die Politiker und die Medien aus propagandistischen Zwecken noch immer die Zahl von 5000 bis 6000 Toten oder Vermissten. Diese Zahl ist jetzt auch im öffentlichen Bewusstsein verankert.

-          Die amerikanische Regierung hat bis anhin niemals öffentlich die Beweise für die Schuld Bin Ladins an den Attentaten enthüllt. Kürzlich, als die militärischen Operationen noch voll im Gang waren, hat Bush angekündigt, dass Bin Ladin im Falle einer Verhaftung vor ein Militärgericht hinter geschlossenen Türen gestellt würde. So müssen die Ursprünge der Beweise gegen ihn auch nicht veröffentlicht werden. Der Verteidigungsminister Rumsfeld hat klar gesagt, dass er einem toten Bin Ladin den Vorzug vor seiner Verhaftung gebe. So soll ein Prozess verhindert werden. Man muss sich also die Frage stellen, weshalb die USA so sehr darauf bestehen, dass diese sog. offensichtlichen Beweise geheim gehalten werden.

All diese Argumente sind kein Beweis dafür, dass die amerikanische Regierung oder vielleicht die CIA im Voraus über die Attentate auf die Twin Towers auf dem Laufenden waren oder sie gar provoziert haben, jedoch muss man kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein, um einen solchen Verdacht zu schöpfen. Wir überlassen die Sorge einer vertieften Erforschung den Historikern, jedoch werden wir weder überrascht noch schockiert sein, wenn wir erfahren, dass die amerikanische Bourgeoisie die Opfer des Attentats auf das World Trade Center in Kauf genommen hat, um ihren politischen Interessen gerecht zu werden.

 Ist das Attentat auf die Twin Towers ein neues Pearl Harbor?

Auf historischer Ebene kann entgegen den Behauptungen der Medien bei der aktuellen Situation kein Vergleich zu Pearl Harbor gezogen werden. Pearl Harbor fand nach zwanzig Jahren politischer Niederlagen des Proletariats statt, die es politisch, ideologisch und selbst physisch besiegt hatten. Somit wurde der historische Kurs in Richtung Krieg eröffnet. Diese Niederlagen drückten mit einem kapitalen historischen Gewicht auf das Proletariat: Die Niederlage der russischen Revolution und der revolutionären Welle; die Degeneration des revolutionären Regimes in Russland und der Triumph des Staatskapitalismus unter Stalin; die Degeneration der Kommunistischen Internationale, die eine Waffe des russischen Staates in der Aussenpolitik wurde, was auch einen beträchtlichen Rückfluss der revolutionären Positionen seit dem Gipfel der revolutionären Welle beinhaltete; die Integration der kommunistischen Parteien in ihren jeweiligen Staatsapparaten; die politische und physische Niederlage der Arbeiterklasse durch den Faschismus in Italien, in Deutschland und in Spanien; der Triumph der antifaschistischen Ideologie in den sog. demokratischen Ländern.

Die Auswirkungen dieser Niederlagen haben die historischen Möglichkeiten der Arbeiterbewegung tiefgreifend beeinträchtigt. Die Revolution, die seit den Jahren nach 1917 auf der Tagesordnung, ist niedergeschlagen worden. Das Kräfteverhältnis hatte sich definitiv zu Gunsten der Bourgeoisie verschoben, die nun ihre "Lösung" für die historische Krise des globalen Kapitalismus - den Weltkrieg - durchsetzen konnten. Indessen bedeutete die Tatsache, dass sich das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten verschoben hatte, nicht notwendigerweise, dass die Bourgeoisie nun freie Hand hatte, um ihren politischen Willen durchzusetzen. Selbst wenn der historische Kurs in Richtung Krieg ging, hiess dies nicht, dass die amerikanische Bourgeoisie zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt hätte den Krieg auslösen können. Die Bourgeoisie musste erst noch den Widerstand gegen den Krieg von Seiten des amerikanischen Proletariats in den Jahren 1939-1941 brechen. Dieser Widerstand reflektierte teilweise die zögerliche Haltung der stalinistischen Partei, die insbesondere in den CIO-Gewerkschaften einen beträchtlichen Einfluss ausübte. Diese Haltung war auf die unentschiedene Haltung Moskaus in der Zeit des Nichtangriffspakts mit dem nationalsozialistischen Deutschland zurückzuführen. Die herrschende Fraktion der amerikanischen Bourgeoisie sollte auch auf die aufsässigen Elemente ihrer eigenen Klasse zählen können. Einige hegten Sympathien für die Achsenmächte, andere setzten sich für eine isolationistische Politik ein. Wir haben gesehen, dass der "überraschende" Angriff Japans den Vorwand bot, um die zögernden Elemente hinter dem Staat und den Kriegsanstrengungen zu sammeln. In diesem Sinne kann man sagen, dass Pearl Harbor den letzten Nagel in den  politischen und ideologischen Sarg trieb.

Heute ist die Situation ganz anders. Es ist wahr, dass das Desaster mit den Twin Towers nach mehr als einem Jahrzehnt politischer Orientierungslosigkeit und Verwirrung geschehen ist, die sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und den ideologischen Kampagnen der Bourgeoisie über den Tod des Kommunismus breit gemacht haben. Diese Verwirrungen bergen jedoch nicht dasselbe politische Gewicht in sich, wie die Niederlagen der 20er und 30er Jahre, und beeinträchtigen also auch das politische Bewusstsein des Proletariats auf historischer Ebene nicht dermassen. Auch haben sie den historischen Kurs in Richtung zunehmender Klassenkonfrontationen nicht geändert. Die Arbeiterklasse hat trotz dieser Desorientierung für die Rückeroberung ihres Terrrains gekämpft. Auch fehlen nicht Zeichen einer unterirdischen Reifung des Bewusstseins. Desweiteren tauchen Elemente auf der Suche nach politischer Klärung auf, die das proletarische Milieu um die bestehenden revolutionären Gruppen anwachsen lassen. Wir wollen hier keineswegs die seit 1989 in der Arbeiterklasse herrschende politische Orientierungslosigkeit verharmlosen, die durch den Zerfall, der für das vollständige Abgleiten in die Barbarei nicht mehr notwendigerweise einen neuen Weltkrieg benötigt, zusätzlich verschärft wird. Auch wenn die amerikanische Bourgeoisie mit ihrer ideologischen Offensive einen beträchtlichen Erfolg einheimst, auch wenn die Arbeiter in einer kriegerischen Psychose von alarmierendem Ausmass gefangen sind, so wird das globale Kräfteverhältnis nicht von der Situation in einem Land bestimmt, selbst wenn es von der Bedeutung der USA ist. Auf internationaler Ebene ist das Proletariat noch nicht besiegt worden und die Perspektive in Richtung Klassenkonfrontation ist offen. Selbst der zweiwöchige Streik von 23`000 Arbeitern des öffentlichen Sektors in Minnesota in den USA vom Oktober ist Ausdruck der Fähigkeit der Arbeiterklasse, ihren Kampf fortzuführen. Obwohl diese Arbeiter als Vaterlandsverräter hingestellt worden waren, weil sie diesen Streik in einer nationalen Krisensituation begonnen hatten, haben diese Arbeiter ihr Terrain nicht verlassen und haben für Verbesserungen bei den Löhnen und Gratifikationen gekämpft. Während also Pearl Harbor den Abschluss eines Prozesses hin zum imperialistischen Krieg bedeutete, stellt das Attentat auf das World Trade Center für die insbesondere amerikanische Arbeiterklasse lediglich einen Schritt zurück dar. Dieser Rückschritt  steht aber im Kontext einer historischen Situation, die nach wie vor günstig für die Klasse ist.

JG

 

Aktuelles und Laufendes: 

  • 11. September [16]

Historische Ereignisse: 

  • Zweiter Weltkrieg [17]

Theoretische Fragen: 

  • Terrorismus [18]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [19]

Polemik mit dem IBRP

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Der Krieg in Afghanistan: Strategie oder Ölprofite?

Der Krieg in Afghanistan: Strategie oder Ölprofite?Inmitten des Tobens des imperialistischen Orkans in Afghanistan haben winzige Gruppen von Internationalisten ihre Ablehnung aller miteinander ringenden Imperialismen verkündet und jede Illusion in die Pazifizierung des Kapitalismus oder in eine Unterstützung irgendwelcher Agenturen mit diesem Ziel denunziert sowie zur Aufnahme des Klassenkampfes aufgerufen, der allein das weltweite kapitalistische System, die Hauptquelle imperialistischer Kriege, überwinden kann.

Diese Gruppen leiten ihre Ursprünge aus dem Erbe der Italienischen und Deutsche Linken her, den einzigen internationalistischen Strömungen, die den Niedergang der Dritten Internationale überlebt hatten, indem sie die internationalistischen Positionen des Proletariats im Sturm des II. Weltkriegs hoch gehalten hatten. Sie sind Teil dessen, was die IKS als das politische Milieu des Proletariats bezeichnet.[i] [20]

Als Beitrag zur Stärkung dieses Milieus untersuchen wir die Stärken und Schwächen ihrer aktuellen Antwort auf den Krieg, so wie wir dies stets tun, wenn solche Ereignisse das eigentliche Dasein revolutionärer Organisationen auf die Probe stellen.

Wir wollen uns hier nicht mit der allgemeinen Herangehensweise der verschiedenen Gruppen befassen: Die IKS hat in ihrer territorialen Presse den Klassencharakter ihrer Antwort bereits anerkannt und aufgezeigt.[ii] [21] Wir streben angesichts der gebotenen Kürze auch nicht an, dabei allumfassend zu sein. Wir werden stattdessen einige bedeutsame Elemente der Erklärung der imperialistischen Barbarei durch eine dieser Gruppen – das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP)[iii] [22] – diskutieren.

Die Suche nach den materiellen Wurzeln

Es reicht für revolutionäre Organisationen nicht aus zu wissen, dass der US-Staat und die anderen imperialistischen Großmächte dem Terrorismus nicht feindlich gegenüber stehen, wie sie das in den letzten vier Monaten behauptet haben, oder in Kenntnis darüber zu sein, dass sie nicht durch die Interessen der Zivilisation und Humanität geleitet werden, wenn sie einen Krieg auslösen, der Tod und Verderben auf Weltebene verursacht. Die Revolutionäre müssen auch erklären können, was der wahre Grund dieser Barbarei ist, worin die Interessen der imperialistischen Mächte und insbesondere der USA bestehen und ob dieser Alptraum für die Arbeiterklasse irgendwann ein Ende findet.

Das IBRP bietet folgende Erklärung für den Krieg in Afghanistan an: Die USA wollen den Dollar als Weltwährung erhalten und so ihre Kontrolle über die Erdölindustrie bewahren: „... die USA brauchen den Dollar als gültige Währung im internationalen Handel, wenn sie ihre Stellung als globale Supermacht bewahren wollen. Vor allem sind die USA verzweifelt darum bemüht sicherzustellen, dass der internationale Ölhandel auch weiterhin primär in Dollars abgewickelt wird. Dies bedeutet, bei der Bestimmung der Routen für die Öl- und Gaspipelines und vor allem bei der Beteiligung von kommerziellen US-Interessen an der Ausbeutung der Quellen das letzte Wort zu haben. Dies steckt dahinter, wenn offen kommerzielle Entscheidungen durch die sie überwölbenden Interessen des US-Imperialismus als Ganzes gemäßigt werden, wenn der amerikanische Staat politisch und militärisch für langfristige Ziele eingespannt wird, Ziele, die sich oft gegen die Interessen anderer Staaten und in steigendem Maße gegen jene ihrer europäischen ‚Verbündeten‘ richten. Mit anderen Worten, dies ist der Kern der imperialistischen Konkurrenz im 21. Jahrhundert.“ (...)

„Eine gewisse Zeitlang haben sich die europäischen Ölgesellschaften, unter ihnen die italienische ENI, in zahllosen Projekten engagiert, um Öl direkt aus der Region des Kaspischen Meeres und des Kaukasus in europäische Raffinerien zu leiten, und es ist offensichtlich, dass ab dem 1. Januar (als der Euro legales Zahlungsmittel in den Ländern der Europäischen Union wurde) die Projekte für einen alternativen Ölmarkt Gestalt anzunehmen begannen, doch die Vereinigten Staaten denken angesichts der vielleicht schlimmsten Krise, die sie seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben, nicht daran, von ihrer eigenen ökonomischen und finanziellen Macht abzulassen“ („Imperialismus, Erdöl und die nationalen Interessen der USA“, Seite 8, Revolutionary Perspectives, Nr. 23, vierteljährliche Zeitung der Communist Workers Organisation, die britische Zweigorganisation des IBRP).

Der Krieg ist angeblich darauf hinaus, die potenziellen, vom Taliban-Regime und seinen Al-Qaida-Helfern gebildeten Barrieren zu entfernen, um quer durch Afghanistan eine Route für eine Ölpipeline zu schaffen, durch die ein Teil der Förderung aus den Ölfeldern in Kasachstan transportiert werden soll – all dies Teil einer weiter gefassten Strategie der USA, um den Erdöltransport zu kontrollieren. Die USA wollen sichere und verschiedene Transportwege für die Weltölvorkommen. Hinter diesem Imperativ, so das IBRP, stehe das Schicksal des Dollars und hinter dem Schicksal des Dollars der Supermacht-Status  der Vereinigten Staaten. Die Europäer ihrerseits seien an der Verbesserung des Status‘ ihrer soeben flügge gewordenen Währung, den Euro, auf den Ölmärkten interessiert und widersetzten sich aus diesem Grund den USA.

Das eigentliche Ziel der USA im Afghanistan-Krieg sei es, wie das IBRP sagt, ihre Stellung als ‚Weltsupermacht‘ zu erhalten, worunter wir ihre überwältigende militärische, ökonomische und politische Überlegenheit über alle anderen Länder auf diesem Planeten verstehen. Ihre Opponenten wollen diese Stellung begrenzen oder eventuell untergraben. Mit anderen Worten, im Gegensatz zu den Märchengeschichten, die uns von den bürgerlichen Medien präsentiert werden, wonach dies ein Krieg zwischen Gut und Böse, zwischen Demokratie und Terror sei, enthüllen die Revolutionäre des IBRP die imperialistischen Interessen der Protagonisten. Hinter den imperialistischen Konflikten stecken die rivalisierenden kapitalistischen Mächte, die von der Wirtschaftskrise angetrieben werden.

Hinzu kommt, dass das IBRP Abstand nimmt von seinem Versuch, den gegenwärtigen Krieg (und die wachsende Zuspitzung der imperialistischen Konflikte) als das Resultat des Strebens nach unmittelbaren wirtschaftlichen Vorteilen zu erklären. Zehn Jahre zuvor sagte das IBRP über den bevorstehenden Golfkrieg, dass „... die Krise am Golf sich wirklich ums Öl und darum dreht, wer es kontrolliert. Ohne billiges Öl fallen die Profite. Die Profite des westlichen Kapitalismus sind bedroht, und aus diesem (und keinem anderen) Grund bereiten die USA ein Blutbad im Nahen Osten vor“. (CWO-Flugblatt, zitiert in International Review Nr. 64).

Der Sieg der USA im Golfkrieg bewirkte jedoch keinerlei signifikante Steigerung der Ölprofite und auch keine bedeutsamen Ölpreisänderungen. Das IBRP scheint dies und auch die Tatsache realisiert zu haben, dass Ex-Jugoslawien keinerlei profitable Märkte für die imperialistischen Mächte bot, die sich dort gegenseitig bekämpften, wie es zunächst annahm, und es scheint nun zu einer breiteren Erklärung der Situation gelangt zu sein. Solch eine Herangehensweise kann nur begrüßt werden, da die Glaubwürdigkeit der Marxisten von ihrer Fähigkeit abhängt, den Imperialismus auf der Grundlage einer globalen und historischen Analyse zu begreifen, die die unmittelbaren ökonomischen Faktoren nicht als Kriegsgrund betrachten. [iv] [23]

Doch trotz dieses Schritts vorwärts sieht das IBRP die imperialistischen Ziele am Schicksal von Währungen hängen, mit anderen Worten: an spezifisch ökonomischen Faktoren. Und es misst der Frage des Erdöls und der Ölpipelines ein entscheidendes Gewicht bei der Rolle des Dollars und der seines neuen Rivalen, des Euros, bei. Beim Öl geht’s für das IBRP so ziemlich‚ „um den Kern der imperialistischen Konkurrenz im 21. Jahrhundert“.

Doch ist die Bewahrung des Status‘ der Vereinigten Staaten als hegemoniale Weltmacht so direkt und so entscheidend von der Rolle des Dollars abhängig, wie das IBRP sagt? Und hängt die Stellung des Dollars als Weltwährung wirklich so direkt von der Kontrolle des Öls durch die USA ab?

Das Erdöl und der Dollar

Auch wenn ein wichtiges Wörtchen bei der kommerziellen Kontrolle der Ölförderung – die meisten der wichtigsten globalen Erdölgesellschaften sind zum Beispiel im Besitz der Amerikaner – den Vereinigten Staaten sicherlich dabei hilft, ihre Wirtschaftsmacht aufrechtzuerhalten, und dies somit ein Faktor der Vorherrschaft des Dollars ist, erklärt dies nicht grundsätzlich die Mittel, durch die der Dollar seine Rolle als Weltwährung erlangte und sie noch heute behauptet.

Der Dollar erreichte seine vorrangige Stellung, bevor das Erdöl zum Haupttreibstoff auf dem Planeten wurde. In der Tat gründet sich die Stärke einer Währung nicht auf der Kontrolle der Rohstoffe.

Japan zum Beispiel kontrolliert praktisch keine Rohstoffe, doch der Yen ist trotz der gegenwärtigen Stagnation der japanischen Wirtschaft eine starke Währung. Umgekehrt hatte die frühere UdSSR riesige Mengen an Erdöl unter ihrer Gewalt, doch verhinderte dies nicht ihren ökonomischen Zusammenbruch; auf sich gestellt, war der Rubel unfähig, eine Weltwährung zu werden.[v] [24] Es war nicht die Kontrolle über die Kohle oder die Baumwollversorgung, die das englische Pfund im 19. Jahrhundert zur Hauptwährung machte.Es ist vielmehr das Übergewicht der Wirtschaft eines Landes im Bereich der Weltproduktion und des Handels sowie sein relatives politisches und militärisches Gewicht, was erklärt, warum gewisse Währungen zur Standardleitwährung für den Weltkapitalismus werden. Das Pfund erlebte einen Höhenflug, weil Großbritannien das erste moderne kapitalistische Land war. Die größere Produktivität seiner Industrien versetzte seine Produkte in die Lage, jene des Rests der Welt, was Preis und Menge anging, zu ersetzen, da anderswo die kapitalistische Produktion erst im Begriff war, Fuß zu fassen. Die ganze Welt verkaufte Rohstoffe an Großbritannien. Und Großbritannien war – wie ein berühmtes Zitat besagt – die „Werkstatt der Welt“. Die Stärke des britischen Militärs, insbesondere der Flotte, und seine Anhäufung von kolonialen Besitzungen vergrößerte noch die Überlegenheit des Pfunds und die Stellung Londons als Finanzzentrum der Welt.

Die Entwicklung des Kapitalismus in anderen Ländern begann die Überlegenheit des britischen Kapitalismus zu untergraben, und seine Konkurrenten begannen, es in Sachen Produktivität zu überholen. Die neuen, durch den Ersten Weltkrieg enthüllten Bedingungen läuteten das Ende des Pfunds ein, und der Zweite Weltkrieg besiegelte sein Schicksal endgültig. In einer Welt, wo rivalisierende kapitalistische Nationen den Weltmarkt bereits unter sich aufgeteilt hatten und sie nur noch danach trachten, durch eine Neuaufteilung des Weltmarkts zu ihren Gunsten zu expandieren, neigt sich in der Frage der militärischen Konkurrenz – des Imperialismus – die Gunst Ländern mit kontinentalen Ausmaßen wie die Vereinigten Staaten mehr zu als den europäischen Ländern, deren relativ kleine Größe einer früheren Phase im kapitalistischen Wachstum entsprachen. Die Auszehrung aller europäischen Mächte einschließlich der Sieger wie Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg steigerte das relative Gewicht der US-Produktion und ihres Anteils am Welthandel enorm und erhöhte daher auch die internationale Nachfrage nach dem Dollar. Und nach der Verwüstung Europas im Zweiten Weltkrieg erreichten die Vereinigten Staaten, stimuliert durch eine phänomenale Steigerung der Rüstungsproduktion, eine haushohe wirtschaftliche Überlegenheit auf Weltebene. Um 1950 bestritten die USA die Hälfte der gesamten Weltproduktion! Der Marshall-Plan von 1947 versorgte die Europäer mit den Dollars, die sie verzweifelt brauchten, um ihre Wirtschaft mit amerikanischen Gütern wieder aufzubauen. Die Dollarüberlegenheit wurde durch das Bretton-Woods-Abkommen und die Gründung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds unter der Ägide der USA global institutionalisiert.

1968 gelangte die Wiederaufbauperiode zu ihrem Ende, und die europäischen sowie japanischen Ökonomien hatten ihre Stellung gegenüber den USA verbessert. Doch trotz der relativen Schwächung der US-Wirtschaft, die zu einer effektiven Abwertung des Dollars führte, bedeutete dies nicht das unmittelbare Ende ihrer vorrangigen Stellung. Weit entfernt davon. Die USA besaßen etliche Mittel, um die neuen Bedingungen zu ihren Gunsten auszunutzen. Die Abkoppelung des Dollars vom Gold 1971 durch Washington ermöglichte es den USA, die Macht des Dollars und die Konkurrenzfähigkeit der amerikanischen Produktion durch die Manipulation des Devisenkurses aufrechtzuerhalten, welche ihre wachsende Auslandsverschuldung niedrig hielt (eine Methode, die Großbritannien in den 30er Jahren benutzt hatte, um die Stellung des Pfunds selbst nach dem Niedergang seiner Wirtschaft und dem Aufstieg der US-Wirtschaft aufrechtzuerhalten). Zu Beginn der 80er Jahre halfen die steigenden Zinssätze und die Deregulierung der Kapitalströme - mit der Konsequenz, dass Finanzspekulationen wie Pilze aus dem Boden wuchsen - dabei mit, die Auswirkungen der Krise auf andere Länder abzuwälzen. Hinter diesen Maßnahmen steckte die militärische Überlegenheit der USA, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unangreifbar geworden war und sicherstellte, dass König Dollar auf seinem Thron bleibt.

Die Rolle des Erdöls bezüglich der Vorrangstellung des Dollars ist daher relativ unbedeutend. Auch wenn es zutrifft, dass es in der ‚ersten Ölkrise‘ 1971–72 den USA durch ihren Einfluss auf die Ölpreispolitik der OPEC gelang, enorme Vermögen von den europäischen und japanischen kapitalistischen Mächten via Saudi-Arabien in die eigenen Taschen zu schleusen, so sind solche Manipulationen kaum die Hauptinstrumente der Dollarüberlegenheit. Was für die Hegemonie des Dollars wirklich zählt, ist die ökonomische, politische und militärische Vorherrschaft der USA auf dem Weltmarkt, auf dem Öl und andere Rohstoffe gekauft und verkauft werden, und diese Dominanz wird hauptsächlich von Faktoren von allgemeinerer und historischer Tragweite bestimmt als von der Kontrolle über das Erdöl.

Das IBRP glaubt jedoch, dass die Zuspitzung der militärischen Abenteuer der USA in Zentralasien Teil langfristiger Vorbeugemaßnahmen zur Besetzung der Ölzentren und der Transportwege des Öls ist, um die europäischen Mächte an der Kontrolle derselben zu hindern, die ihrerseits ins Auge gefasst haben, den Euro zur Hauptwährung in der Ölförderung und im Erdölhandel zu machen. Das angebliche Ziel der USA sei es, den Euro, die gerade flügge gewordene Währung der Europäischen Union, zu stoppen, der nach der Krone des Dollars greife und so die USA als rivalisierender imperialistischer Block überholen wolle.

Doch wenn diese Erklärung richtig ist, müssten die europäischen Mächte sehr viel mehr tun, als ihren Einfluss auf die Erdölindustrie zu steigern, um den Dollar durch den Euro zu ersetzen. Selbst wenn die Europäische Union eine wirklich vereinigte politische und wirtschaftliche Gesamtheit wäre, so betrüge ihr gesamtes BSP nur zwei Drittel desjenigen der Vereinigten Staaten. Obwohl die EU nun eine gemeinsame Währung besitzt, ist sie dennoch in etliche konkurrierende national-kapitalistische Einheiten zersplittert, die ihre wirtschaftliche Stärke gegenüber den Vereinigten Staaten untergraben. Der Europäischen Zentralbank mangelt es im Vergleich zur Federal Reserve der USA an Einigkeit über die Absichten in der Währungs- und Steuerpolitik, was daran liegt, dass sie, bis jetzt zumindest, dazu tendierte, im Kielwasser der Politik der Einzelstaaten zu folgen. Die Wirtschaft Deutschlands, dem stärksten politischen Pol in der Euro-Zone, folgt in der Rangliste den USA und Japan erst auf Platz drei, und dies aus anderen Gründen als wegen des Mangels an Kontrolle über das Öl und die Pipelines.

Auf der politischen und militärischen Ebene ist die Spaltung noch größer. Die EU umfasst mehrere imperialistische Mächte, die sowohl gegeneinander als auch gegen die USA konkurrieren. Europas größte Wirtschaftsmacht, Deutschland, bleibt ein militärischer Pygmäe im Vergleich zu Großbritannien und Frankreich, seinen Hauptrivalen (und dabei muss betont werden, dass eine der größten Militärmächte Europas – Großbritannien – nicht einmal in der Euro-Zone ist). Deutschland ist dabei, seine militärischen Kräfte zu stärken; seine Truppen haben zum ersten Mal seit dem II. Weltkrieg außerhalb der eigenen Grenzen interveniert (Kosovo). Nichtsdestotrotz reicht die Reichweite seiner militärischen Macht nicht weiter als bis zu seinen unmittelbaren Nachbarn in Osteuropa.

Wie die Währungsexperten der Bourgeoisie hervorheben, stellt diese militärische Schwäche und die divergierenden Interessen innerhalb der EU eine ernsthafte Gefahr für den Euro dar: „Glyn Davies, Autor von ‚A History of Money from Ancient Times to the Present Day‘, sagte: ‚die größte langfristige Bedrohung für die Währungsunion in Europa seien die Kriege oder‚ als Kontroverse angesehene Verhaltensweisen von Ländern, die sich im Krieg befinden. Es geht allein um den politischen Aspekt. Wenn man eine starke politische Union hätte, dann kann sie vielen Angriffen widerstehen. Doch wenn es politische Differenzen gibt, kann dies die Währungsunion beträchtlich schwächen.‘“ (International Herald Tribune, 29.12.01)

Daher und aus anderen Gründen wird es der Euro schwer haben, dem Dollar das Vertrauen der Weltwirtschaft streitig zu machen.

Von diesem Standpunkt aus betrachtet, kann der Schutz der Vorherrschaft des Dollars nicht als glaubwürdiger Grund für die riesige Militärkampagne, die in Afghanistan ausgetragen wird, angesehen werden. Wie wir auf unserem letzten internationalen Kongress gesagt haben: „Die USA wollen diese Region wegen des Erdöls kontrollieren – nicht aus rein ökonomischen Gründen, sondern vor allem, weil sie sicherstellen wollen, dass Europa nicht in die Lage versetzt wird, diese Ölquellen im Falle eines Krieges zu nutzen. Wir sollten uns dabei in Erinnerung rufen, dass während des Zweiten Weltkrieges deutsche Truppen 1942 eine Offensive gegen Baku durchführten, um die Kontrolle über diese Ölvorräte zu erlangen, was überlebenswichtig für die Kriegführung war. Heute ist die Situation bezüglich Aserbeidschan und der Türkei etwas anders, für die die Frage des Erdöls mehr eine Frage des unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzens ist. Aber die wahren Einsätze werden nicht auf diesem Feld getätigt.“ („Bericht über die imperialistischen Spannungen“ in International Review Nr. 107)[vi] [25]

Hängt die US-Hegemonie vom Dollar ab?

Die zweite Frage, die vom IBRP gestellt wird, lautet: Hängt der Status der Supermacht der USA von der außergewöhnlichen Rolle des Dollars ab? Nein, würden wir sagen, jedenfalls nicht auf entscheidende Weise, wie das IBRP meint. Wie wir argumentiert haben, ist die militärische Überlegenheit genauso sehr eine Ursache wie auch ein Effekt des Dollarstatus‘. Natürlich ist die ökonomische und monetäre Vorherrschaft der USA in der Weltwirtschaft ein wichtiger Faktor bei ihrer militärischen Überlegenheit. Doch militärisches und strategisches Vermögen rührt nicht automatisch, mechanisch und unmittelbar oder proportional aus der Wirtschaftsmacht her. Es gibt zahllose Beispiele, die dies beweisen. Japan und Deutschland sind nach den Vereinigten Staaten die stärksten Wirtschaftsmächte der Welt, aber immer noch militärische Zwerge, verglichen mit Großbritannien und Frankreich, die, wirtschaftlich zwar schwächer, Nuklearwaffen besitzen. Die UdSSR war wirtschaftlich äußerst schwach, doch auf militärischer Ebene bot sie der amerikanischen Macht 45 Jahre lang die Stirn. Und trotz der relativen wirtschaftlichen Schwächung der USA seit 1969 ist ihre militärische und strategische Macht gegenüber ihren nächsten Rivalen erheblich gewachsen.

Wie jedes andere Land können sich auch die USA nicht auf die Leistungsfähigkeit ihrer Währung verlassen, um ihre imperialistische Stellung automatisch zu garantieren. Im Gegenteil, die USA müssen damit fortfahren, enorme, kostspielige Ressourcen ihren militärischen und strategischen Interessen zu widmen, um zu versuchen, ihre imperialistischen Hauptrivalen zu überlisten und deren Anspruch, die Führung der USA anzufechten, zu dämpfen. Die antiterroristische Kampagne seit dem 11. September hat der USA bemerkenswerte Erfolge in diesem imperialistischen Kampf erbracht. Sie hat die anderen Hauptmächte dazu gezwungen, ihre militärischen und strategischen Ziele zu unterstützen, ohne es ihnen zu erlauben, mehr als nur ein paar Krümel des Prestiges aus ihrer Unterstützung für den schnellen militärischen Erfolg der amerikanischen Streitkräfte über das afghanische Taliban-Regime zu erhalten. Gleichzeitig haben die USA ihr strategisches Gewicht in Zentralasien verstärkt. Die Zurschaustellung ihrer militärischen Überlegenheit war so niederschmetternd, dass ihr Rückzug aus dem ABM-Vertrag mit Russland nur leise Kritik unter ihren früher lautstarken Gegnern in den europäischen Hauptstädten hervorrief. Die USA können nun mühelos die Expansion ihres ‚antiterroristischen‘ Kreuzzuges gegen andere Länder in Angriff nehmen.

Dennoch wäre es schwer zu ermessen, ob die amerikanische Offensive in den letzten drei Monaten die Erdölversorgung für die USA sicherer als zuvor gemacht hat oder die erdrückende Überlegenheit des Dollars über den Euro bedeutend gesteigert hat. Der wirkliche Sieg der USA ergibt sich auf der militärstrategischen Ebene, wie schon im Golfkrieg. Die wirtschaftlichen Nutzeffekte sind genauso schwer fassbar wie in diesem früheren Konflikt.

Die Kontrolle des Erdöls um ökonomischer Vorteile willen war nicht die entscheidende Frage, die die USA dazu veranlasste, Milliarden von Dollar für einen Monat Krieg in Afghanistan auszugeben und die Stabilität Pakistans zu riskieren, wo die beabsichtigten Pipelines weiter verlaufen sollen, nachdem sie Afghanistan verlassen haben.

Die CWO zeigte schon 1997 in einem Artikel („Behind the Talibans stands the US imperialism“), dass das Taliban-Regime die Erdölinteressen der USA nicht wirklich bedroht hatte. Im Gegenteil, die USA betrachteten das Regime als einen Stabilitätsfaktor, verglichen mit den Vorgängern der Taliban. Obgleich es Osama Bin Laden bei sich beherbergte, stellte das Regime kein unüberwindbares Hindernis für eine Verständigung mit den USA und ihren Interessen dar.[vii] [26]

Die Rolle des imperialistische Krieges heute

Die Ära, in der kapitalistische Mächte in den Krieg zogen, um unmittelbare, direkte wirtschaftliche Vorteile zu erlangen, war die Embryonalphase in der Entwicklung des Kapitalismus, eine Phase, die kaum das 19. Jahrhundert überdauerte. Sobald die kapitalistischen Hauptmächte die Welt in Form von Kolonien oder Einflusssphären unter sich aufgeteilt hatten, wurde die Möglichkeit der Erlangung direkter wirtschaftlicher Vorteile aus dem Krieg immer ungewisser. Als der Krieg zu einer Frage des militärischen Konflikts mit anderen imperialistischen Mächten wurde, traten weiterreichende strategische Fragen in den Vordergrund, die die industrielle Vorbereitung und eine Explosion der Kosten zur Folge hatten. Der Krieg wurde weniger zur Frage wirtschaftlicher Vorteile als zu einer Frage des Überlebens eines jeden Staates auf Kosten seiner Rivalen. Die Ruinierung der meisten kämpfenden kapitalistischen Mächte in den beiden Weltkriegen dieses Jahrhunderts bezeugt, dass der Imperialismus nicht die „höchste Stufe“ des Kapitalismus ist, wie Lenin dachte, sondern Ausdruck seiner dekadenten Periode, in der der Kapitalismus in wachsendem Maße durch die nationalen Grenzen seines eigenen Systems dazu gezwungen ist, Mensch und Maschine auf den Schlachtfeldern zu verdampfen, statt sie im Produktionsprozess zu verwerten.[viii] [27]

Nicht der Krieg dient den Bedürfnissen der Wirtschaft, sondern die Wirtschaft dient den Bedürfnissen des Krieges, und auch Rohstoffe können diesem allgemeinen Gesetz nicht entkommen. Wenn die imperialistischen Mächte die Rohstoffe kontrollieren wollen, besonders solch wichtige wie Erdöl, dann nicht deshalb, weil die Bourgeoisie, wie das IBRP sagt, glaubt, dass dies dem Wohle ihrer Profite oder Währungen dient, sondern wegen ihrer militärischen Bedeutung.

„Das größte militärische Aufbauprogramm zu Friedenszeiten in der amerikanischen Geschichte wurde vom Haushaltsausschuss für die bewaffneten Streitkräfte gebilligt. Der Haushaltsausschuss für außenpolitische Angelegenheiten nannte die strategische Bedeutung des östlichen Mittelmeerraums und des Nahen Ostens fast ebenbürtig mit jener der Region des Nordatlantikpakts. Stützpunkte in den arabischen Staaten und in Israel seien notwendig, um See- und Flugwege zu schützen. Der Schutz dieser Region sei entscheidend, wie der Bericht aussagt, da in dieser Region gewaltige Ölressourcen liegen, die die freie Welt nun für ihre enorm ausgeweiteten Wiederaufrüstungsbemühungen benötigen.“ (International Herald Tribune, 1951)

Der US-Imperialismus war ganz freimütig gewesen: Die Kontrolle des Erdöls ist zuallererst aus militärischen Gründen wichtig, da sie garantiert, dass das Erdöl in Kriegszeiten zu den eigenen Truppen fließt und die feindlichen Armeen der rivalisierenden Länder von ihm abgeschnitten werden.

Die Enthüllung der wahren Einsätze durch den Afghanistan-Krieg

Obwohl das IBRP anerkennt, dass der Kapitalismus sich in seiner historischen Niedergangsperiode befindet, lässt es diesen theoretischen Rahmen bei seinem Verständnis des imperialistischen Krieges von heute vermissen. Das grundlegende Bedürfnis des Kapitalismus ist immer noch die Akkumulation von Kapital, doch die Produktionsverhältnisse, die einst seine phantastische Entwicklung sicherstellten, hindern ihn nun daran, ausreichende Expansionsfelder zu finden. Die Produktion wird vermehrt ihrer Zerstörung zugeführt, statt zur Reproduktion von Reichtum beizutragen. Die Erkenntnis, dass der Krieg aufgehört hat, für das kapitalistische System als Ganzes profitabel zu sein, auch wenn er immer notwendiger für die Bourgeoisie wird, ist daher keine Verleugnung des marxistischen Materialismus, sondern ein Ausdruck der Fähigkeit, die verschiedenen Phasen, durch welche ein Wirtschaftssystem schreitet, und insbesondere den Übergang von seiner aufsteigenden zu seiner dekadenten Phase zu verstehen. In der letztgenannten Phase und um so mehr in den Perioden der offenen Krise drängt der ökonomische Imperativ die Bourgeoisie immer mehr statt in Richtung eines Krieges aus unmittelbar ökonomischen Gründen in Richtung eines globalen und äußerst selbstmörderischen Kampfes um militärische Überlegenheit unter den rivalisierenden nationalen Einheiten.

Nur wenn wir die Folgen der kapitalistischen Dekadenz auf die heutigen imperialistischen Konflikte deutlich machen, können wir die Arbeiterklasse auf die beträchtlichen Gefahren hinweisen, die im Afghanistan-Krieg und in jenen Kriegen zum Ausdruck kommen, die ihm unvermeidlich folgen werden. Das IBRP neigt dagegen dazu, dem Proletariat ein falsches, tröstliches Bild eines Systems zu vermitteln, das, wie in seiner Jugendzeit, immer noch in der Lage sei, seine militärischen Ziele den Bedürfnissen der wirtschaftlichen Expansion unterzuordnen. Darüber hinaus vermittelt das IBRP mit seiner fehlerhaften Auffassung über den europäischen Imperialismus, der rund um den Euro vereinigt sei, den Eindruck einer relativ stabilen Entwicklung des Weltkapitalismus zu zwei neuen imperialistischen Blöcken. Dabei weisen im Gegenteil die widersprüchlichen und antagonistischen Interessen der europäischen Mächte untereinander wie auch gegenüber den USA auf einen weiteren Schritt im Zerfall des Kapitalismus hin. Sie kündigen das Finale im Zerfall des Kapitalismus an, wo trotz der Versuche Deutschlands, sich als alternativer Pol zu den USA aufzustellen, das imperialistische Chaos die Oberhand gewinnt, wo militärische Konflikte sich katastrophal zu verallgemeinern drohen. Es ist ganz richtig, dass es im Afghanistan-Krieg um die Aufrechterhaltung und Wiederverstärkung der Stellung Amerikas als der Welt einzige Supermacht geht. Doch dieser Status wird nicht von spezifisch wirtschaftlichen Faktoren wie die Kontrolle über das Erdöl bestimmt, wie es sich das IBRP vorstellt. Er ist vielmehr von geostrategischen Fragen abhängig, von der Fähigkeit der USA, eine militärische Vorherrschaft in den Schlüsselregionen der Welt zu erreichen und ihre Rivalen daran zu hindern, ihre Stellung ernsthaft anzufechten. Weltregionen wie Afghanistan hatten lange, bevor das Öl als ‚schwarzes Gold‘ begehrt wurde, ihren strategischen Wert für die imperialistischen Mächte bewiesen. Es ging nicht ums Öl, als der britische Raj zweimal Armeen nach Afghanistan entsandte, bis es ihm schließlich gelang, ein Marionettenregime dort zu installieren. Die Bedeutung Afghanistans liegt nicht darin begründet, dass es ein potenzielles Transitland für die Ölpipelines ist, sondern darin, dass es der geographische Mittelpunkt der imperialistischen Hauptmächte des Nahen und Fernen Ostens sowie Südasiens ist. Seine Kontrolle würde die US-Macht nicht nur in dieser Region, sondern auch in ihrem Verhältnis zum europäischen Imperialismus beträchtlich steigern.

Die Vereinigten Staaten erreichten ihre dominante imperialistische Position im Wesentlichen aufgrund ihres siegreichen Hervorgehens aus zwei Weltkriegen. Auch der Schlüssel zu ihrer Fähigkeit, diese Stellung zu halten, liegt auf der militärischen Ebene.          

                                                Como

 

[i] [28] 1 s. das IKS-Buch The Italian Communist Left und The Dutch-German Communist Left;

[ii] [29] 2 s. zum Beispiel “Revolutionaries denounce imperialist war” in World Revolution 249, November 2001;

[iii] [30] 3 s. www.leftcom.org [31]

[iv] [32] 4 In der Internationalist Communist Review Nr. 10 erkennt das IBRP sogar die Bedeutung der militärstrategischen Fragen  über die Wirtschaft an: „Es liegt dann an der politischen Führung und an der Armee, die politische Richtung jedes Staates nur nach einem Imperativ zu etablieren: einer Einschätzung, wie man einen militärischen Sieg erreichen kann, denn dies überwiegt heute den wirtschaftlichen Erfolg.“ („End of the cold war: a new step towards a new imperialist line-up“.

[v] [33] 5 In der Tat war die Rolle des Rubels als dominante Währung in den Ex-Comecon-Ländern des Ostblocks gänzlich abhängig  von der militärischen Besetzung ihres Territoriums durch die UdSSR.

[vi] [34] 6 Wir sollten auch betonen, dass das IBRP  auch auf Faktenebene falsch liegt, wenn es behauptet,  dass “die Region um das Kaspische Meer... das Gebiet mit den größten bekannten Reserven an nicht angezapften Erdöl (ist)”. Die nachgewiesenen Ölreserven der gesamten Ex-UdSSR betragen in etwa 63 Mrd. Barrel, jene  der fünf Hauptproduzenten des Nahen Ostens betragen mehr als zehnmal soviel, wobei Saudi-Arabien allein 25% der nachgewiesenen weltweiten Reserven  besitzt. Hinzuzufügen ist, dass das

saudische Öl weitaus profitabler ist (in rein ökonomischen Begriffen, von denen das IBRP so angetan ist); seine Förderung kostet nur 1$ pro Barrel und ist frei von den gigantischen Kosten für den Bau von Pipelines über die Gebirge Afghanistans und des Kaukasus.

[vii] [35]  Das kürzlich veröffentlichte über Buch Bin Laden, La verité interdit von Jean-Charles Brisard und Guillaume Dasqié (Editions Denoel und in Deutscher Sprache im Pendo Verlag, 2001) enthüllt die inoffizielle Diplomatie zwischen der amerikanischen Regierung und dem Taliban-Regime bis zum 11. September und deutet eine andere Schlussfolgerung über das Verhältnis zwischen den Ölinteressen der USA und der Entwicklung von militärischen Feindseligkeiten mit Afghanistan an als das IBRP. Bis zum 17. Juli 2001 versuchten die USA, die anstehenden Probleme mit dem Taliban-Regime diplomatisch zu lösen, wie die Ausweisung von Osama Bin Laden wegen des Angriffs auf die USS Cole und die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Dar-es-Salaam. Und die Taliban waren keineswegs abgeneigt, über solche Fragen zu verhandeln. In der Tat hatten die Taliban nach der Inthronisierung von Bush als US-Präsident eine Wiederaussöhnung vorgeschlagen, die, wie sie hofften, zu einer diplomatischen Anerkennung führen würde. Doch nach dem Juli 2001 brachen die USA effektiv die diplomatischen Beziehungen, indem sie eine brutale, provokative Botschaft an die Taliban gesandt hatten: Sie drohten mit militärischen Aktionen, um Bin Laden zu fassen, und kündigten an, dass sie sich in Diskussion mit dem ehemaligen König Sahir Schah  befänden, um die Macht in Kabul wieder zu übernehmen! Dies legt nahe, dass die Kriegsziele der USA bereits vor dem 11. September festgelegt worden waren und dass alles, was es  bedurfte,  um die Feindseligkeiten zu eröffnen, der Vorwand der terroristischen Gräueltat an diesem Tag war. Es legt ebenfalls nahe, dass nicht die Taliban einen diplomatischen Prozess verhinderten, der möglicherweise zu einem stabilen Afghanistan für die US-Ölinteressen geführt hätte, sondern die US-Regierung, die andere Pläne hatte. Statt der Formel des IBRP: ein Krieg zur Stabilisierung Afghanistans für eine Erdölpipeline, weisen die Zeichen  auf einen Krieg hin, der die gesamte Region destabilisiert für das höhere Ziel der militärischen und geostrategischen Überlegenheit Amerikas.

[viii] [36] 8 Das Kapital wird  akkumuliert oder verwertet durch die Auspressung von Mehrarbeit der Arbeiterklasse.

Aktuelles und Laufendes: 

  • Afghanistan [37]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Internationales Büro für die Revolutionäre Partei [38]

Theoretische Fragen: 

  • Krieg [39]

Internationale Revue 30

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14. Kongress der IKS: Bericht über den Klassenkampf: Die revolutionäre Bewegung und das Konzept des Historischen Kurses, Teil 2

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In der letzten Ausgabe der Internationalen Revue veröffentlichten wir den 1. Teil dieses Artikels. Er umfasst die Entwicklung des Konzepts des Historischen Kurses in der Zeit von 1848 bis 1952. 

 

Teil 2: 1968-2000

 

Das Ende der Konterrevolution

Trotz der Fehler, die sie in den 40er und 50er Jahren begangen hatte – insbesondere die Schlussfolgerung, dass ein dritter Weltkrieg bevorstand -, versetzte die prinzipielle Loyalität der GCF gegenüber den Methoden der Italienischen Linken ihren unmittelbaren Nachfolger, die Gruppe Internacionalismo in Venezuela, Ende der 60er Jahre in die Lage zu erkennen, dass sowohl der Wiederaufbauboom der Nachkriegszeit als auch die lange Periode der Konterrevolution sich ihrem Ende neigten. Die IKS hat mehr als einmal die Gelegenheit genutzt, die treffenden Worte aus Internacialismo Nr. 8 im Januar 1968 zu zitieren, aber es schadet nicht, sie noch einmal zu zitieren, da sie ein schönes Beispiel für die Fähigkeit des Marxismus sind, den allgemeinen Kurs der Ereignisse vorwegzunehmen, ohne sich dabei auf prophetische Gaben zu berufen: ”Wir sind keine Propheten, noch können wir behaupten vorherzusehen, wann und wie sich die Ereignisse in der Zukunft entwickeln werden. Doch über eins sind wir uns bewusst und sicher: Der Prozess, in den der Kapitalismus heute gedrängt ist, kann nicht gestoppt werden... und er führt direkt in die Krise. Und wir sind uns gleichfalls sicher, dass der entgegengesetzte Prozess einer sich entwickelnden Kampfbereitschaft der Klasse, dessen Zeuge wir heute sind, die Arbeiterklasse zu einem blutigen und direkten Kampf für die Zerstörung des bürgerlichen Staates führen wird.”

Hier drückte die venezuelanische Gruppe ihr Verständnis aus, dass nicht nur eine neue Wirtschaftskrise zum Vorschein gekommen war, sondern dass es ein Wiedersehen mit einer neuen und ungeschlagenen Generation von Proletariern geben wird. Die Ereignisse vom Mai 68 in Frankreich und die internationale Welle von Kämpfen in den folgenden vier, fünf Jahren waren eine klare Bestätigung dieser Diagnose. Natürlich war eine Komponente dieser Diagnose die Erkenntnis, dass die Krise die imperialistischen Spannungen zwischen den beiden Militärblöcken, die den Globus beherrschten, verschärfen würde; doch der enorme Schwung der ersten internationalen Welle von Kämpfen zeigte, dass das Proletariat nicht gewillt war, sich in einen neuen Holocaust hineinziehen zu lassen. Mit einem Wort, der historische Kurs wies nicht in Richtung Weltkrieg, sondern in Richtung massiver Klassenkonfrontationen.

Eine direkte Konsequenz aus der Wiederbelebung des Klassenkampfes war das Auftreten neuer proletarischer Kräfte nach einer langen Periode, in der revolutionäre Ideen mehr oder weniger aus dem Blickfeld verschwunden waren. Die Ereignisse vom Mai 68 und ihre Nachwirkungen erzeugten eine Fülle neuer politischer Gruppierungen, die durch einen Haufen Konfusionen gekennzeichnet, aber gewillt waren, zu lernen und sich eifrig die wahrhaften kommunistischen Traditionen der Arbeiterklasse wiederanzueignen. Das Beharren von Internacionalismo und ihrer Nachkommen – Révolution Internationale in Frankreich und Internationalism in den USA – auf der Notwendigkeit einer ‚Umgruppierung der Revolutionäre‘ fasste diesen Gesichtspunkt der neuen Perspektive zusammen. Diese Strömungen übernahmen also die Führung und drängten auf Debatten, Korrespondenzen und internationale Konferenzen. Diese Bemühungen ernteten ein großes Echo unter den klarsten der neuen politischen Gruppierungen, denen es nicht schwer fiel zu verstehen, dass eine neue Periode eröffnet war. Dies trifft besonders auf jene Gruppen zu, die sich der ‚internationalen Tendenz‘ angeschlossen hatten, aber es trifft auch auf Gruppen wie Revolutionary Perspectives zu, deren ursprüngliche Plattform das historische Wiedererwachen  der Klassenbewegung anerkennt:

”Parallel zur Erneuerung der Krise wurde 1968 mit den Massenstreiks in Frankreich, denen die Erhebungen in Italien, Großbritannien, Argentinien, Polen, etc. folgten, eine neue Periode des internationalen Klassenkampfes eröffnet. Die heutigen Arbeitergenerationen sind, anders als nach dem Ersten Weltkrieg, unbelastet vom Reformismus oder von der Niederlage, wie in den 30er Jahren, was uns Anlass zur Hoffnung in ihre Zukunft und in die der Menschheit gibt. All diese Kämpfe zeigen zur Verlegenheit der modernistischen Dilettanten, dass das Proletariat trotz 50 Jahren nahezu vernichtender Niederlagen nicht im Kapitalismus integriert ist: Mit diesen Kämpfen belebt es die Erinnerung an seine eigene vergangene Geschichte wieder und bereitet sich selbst auf seine wichtigste Aufgabe vor.” (Revolutionary Perspectives Nr. 1, alte Reihe, c. 1974)

Leider hatten die ‚etablierten‘ Gruppen der Italienischen Linken, denen es gelang, während der Nachkriegsperiode eine organisatorische Kontinuität aufrechtzuerhalten, dies nur um den Preis eines Skleroseprozesses erreicht. Weder Battaglia Comunista (Publikation der Partito Comunista Internazionalista) noch Programma Comunista (von der Internationalen Kommunistischen Partei in Italien veröffentlicht) trugen viel Erhellendes zu den Revolten Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre bei. Sie richteten ihr Augenmerk auf die Studenten und kleinbürgerlichen Gestalten, die sich zweifellos in diese Revolten gemischt hatten. Für die genannten Gruppen – die, man erinnere sich, einst aufgebrochen waren, um in einer Periode der schlimmsten Niederlage den Kurs zur Revolution anzusteuern – war nun die Nacht der Konterrevolution noch nicht zu Ende. Sie sahen wenig Anlass, sich aus der splendid isolation zu begeben, die sie so lange ‚geschützt‘ hatte. Die Programma-Strömung erlebte in den 70er Jahren durchaus eine Periode beachtlichen Wachstums, doch sie war ein Gebilde, das auf dem Sand des Opportunismus, besonders in der nationalen Frage, gegründet war. Die katastrophalen Konsequenzen dieser Art von Wachstum sollten mit dem Zerbrechen der IKP in den frühen 80er Jahren offensichtlich werden. Was Battaglia angeht, so schaute sie lange Zeit kaum einmal über die italienischen Grenzen. Es dauerte fast ein Jahrzehnt, ehe sie ihren eigenen Appell für internationale Konferenzen der Linkskommunisten formulierte, wobei ihre Beweggründe unklar blieben (die ”Sozialdemokratisierung der Kommunistischen Parteien”).

Die Gruppen, die mit der Bildung der IKS fortfuhren, waren zu dieser Zeit mit einer Auseinandersetzung an zwei Fronten konfrontiert. Zum einen mussten sie Stellung gegen den Skeptizismus unter den existierenden linkskommunistischen Gruppen  beziehen, die Alles beim Alten sahen. Zum anderen mussten sie auch den Immediatismus und die Ungeduld vieler neuer Gruppen kritisieren, von denen einige überzeugt davon waren, dass der Mai 68 die Frage der unmittelbar bevorstehenden Revolution gestellt habe (dies war besonders bei denjenigen der Fall, die von der Situationistischen Internationalen beeinflusst waren, welche keine Verbindung zwischen dem Klassenkampf und dem Zustand der kapitalistischen Wirtschaft sah, die gerade in eine neue Phase, die der offenen Krise, eintrat). Doch so wie der ‚Geist von 68‘, die studentischen, rätekommunistischen oder anarchistischen Vorurteile in Bezug auf die Aufgaben und Funktionsweise einer revolutionären Organisation ein beträchtliches Gewicht auf die junge IKS ausübten, so drückten sich diese Einflüsse auch auf ihre Auffassung über den neuen historischen Kurs aus. Die absolut notwendige Verkündung eines neuen historischen Kurses, den der proletarischen Wiedererweckung, tendierte dahin, mit einer Unterschätzung der immensen Schwierigkeiten zusammenzufallen, die vor der internationalen Arbeiterklasse lagen. Dies drückte sich auf vielerlei Weise aus:

- in der Neigung zu vergessen, dass die Entwicklung des Klassenkampfes per se ein unsteter Prozess ist, der Fortschritte und Niederlagen durchmisst, und somit eine mehr oder weniger ununterbrochene Entwicklung zu revolutionären Kämpfen zu erwarten – eine Aussicht, die in gewisser Weise im oben genannten Zitat von Internacionalismo enthalten ist;

- in der Unterschätzung der Fähigkeit der Bourgeoisie, den Verlauf der Krise stufenweise zu gestalten, vielfältige staatskapitalistische Mechanismen zu nutzen, um die Heftigkeit der Krisenfolgen besonders für die zentralen proletarischen Konzentrationen zu reduzieren;

- in der Definition des neuen Kurses als einen ”Kurs zur Revolution”, was beinhaltet, dass das Wiedererwachen der Klasse unvermeidlich in einer revolutionären Konfrontation mit dem Kapital kulminieren würde;

- damit verknüpft war die – im damaligen Milieu sehr starke – Konzentration auf die Frage der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus. Diese Debatte war keineswegs irrelevant, besonders da sie Teil der Bemühungen des neuen Milieus war, sich die Lehren und Traditionen der vergangenen Bewegung wiederanzueignen. Doch die Leidenschaft, mit der sie geführt wurde (was beispielsweise zu Spaltungen zwischen verschiedenen Elementen des Milieus führte), drückte auch eine gewisse Naivität über die Schwierigkeiten aus, eine solche Periode erst einmal zu erreichen, in der solche Fragen wie die Form des Übergangsstaates zu einem akuten Problem für die Arbeiterklasse werden.

In den nächsten Jahrzehnten wurden die Analysen der IKS verfeinert und weiterentwickelt. Es begann die Arbeit der Untersuchung der bürgerlichen Mechanismen zur ‚Kontrolle‘ der Krise und somit der Gründe, warum die Krise unvermeidbar ein lang hingezogener und unsteter Prozess sein wird. Gleichfalls wurde sie nach den Rückflüssen Mitte der 70er Jahre und Anfang der 80er dazu gezwungen anzuerkennen, dass innerhalb des Rahmens einer allgemein aufwärts weisenden historischen Kurve des Klassenkampfes es da und dort wichtige Phasen des Rückzugs geben wird. Ferner hat die IKS 1983 ausdrücklich anerkannt, dass der historische Kurs von keinem Automatismus geregelt wird; so hat sie auf ihrem 5. Kongress eine Resolution verabschiedet, welche den Begriff ”Kurs zur Revolution” kritisierte:

”Die Existenz eines Kurses zu Klassenkonfrontationen bedeutet, dass die Bourgeoisie die Hände nicht frei hat, um ein neues imperialistisches Gemetzel auszulösen: Zunächst muss sie die Arbeiterklasse konfrontieren und schlagen. Aber dies nimmt nicht das Ergebnis dieser Konfrontationen in der einen oder anderen Weise vorweg. Deshalb ist es vorzuziehen, über einen ‚Kurs zu Klassenkonfrontationen‘ zu sprechen statt über einen ‚Kurs zur Revolution‘.” (Resolution über die internationale Lage, veröffentlicht in International Review Nr. 35)

Innerhalb des Milieus verstärkten jedoch die Schwierigkeiten und Rückschläge, die das Proletariat erlitten hatte, die skeptischen und pessimistischen Ansichten, denen sich lange Zeit die ‚italienischen‘ Gruppen verschrieben hatten. Dies kam besonders während der internationalen Konferenzen Ende der 70er Jahre zum Ausdruck, als sich die Communist Workers‘ Organisation (Nachfolgerin der Gruppe um Revolutionary Perspectives) die Ansichten von Battaglia zu Eigen machte, indem sie die Auffassung der IKS ablehnte, dass der Klassenkampf eine Barriere zum Weltkrieg bildet. Die CWO schwankte in ihrer Erläuterung, warum denn der Krieg noch nicht ausgebrochen ist, von der Behauptung, die Krise sei noch nicht tief genug, in dem einen Moment zu der Idee im nächsten Moment, dass die Blöcke in jüngerer Vergangenheit nicht mehr der Vernunft der russischen Bourgeoisie entsprochen hätten, die erkannt habe, dass sie einen Krieg nicht gewinnen kann. Kurz: Alles, nur nicht der Klassenkampf!

Es gab auch innerhalb der IKS selbst ein Echo auf diesen Pessimismus; die spätere Tendenz GCI (2) und insbesondere RC (3), der ähnliche Ansichten übernahm, gingen durch eine Phase, in der sie ‚päpstlicher als Papst‘, sprich: Bilan, waren und argumentierten, dass wir uns auf den Kurs Richtung Krieg befänden.

Ende der 70er Jahre musste daher der erste wichtige Text der IKS über den historischen Kurs, der auf dem 3. Kongress angenommen und in International Review Nr. 18 veröffentlicht wurde, unsere Position gegen den Empirizismus und Skeptizismus definieren, die das Milieu zu beherrschen begannen.

Der Text kreuzte die Klinge mit allen Konfusionen innerhalb des Milieus:

- die im Empirizismus verwurzelte Idee, dass es unmöglich für Revolutionäre sei, allgemeine Voraussagen über den Kurs des Klassenkampfes zu treffen. Gegen diesen Einwand unterstrich der Text die Tatsache, dass ihre Fähigkeit, die künftige Perspektive – und nicht nur die allgemeine Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei – zu definieren, eines der erklärten Charakteristiken des Marxismus ist und stets gewesen war. Im Einzelnen beharrte der Text darauf, dass Marxisten ihre Arbeit stets auf die Fähigkeit gegründet haben, das besondere Kräfteverhältnis zwischen den Klassen in einem gegebenen Zeitraum zu erfassen, wie wir im ersten Teil dieses Berichts bereits sahen. Aus dem gleichen Grunde zeigt der Text auf, dass die Unfähigkeit, die Natur des Kurses zu erkennen, frühere Revolutionäre zu ernsthaften Irrtümern verleitet hatte;

- eine Steigerung dieser agnostischen Ansicht war das besonders vom IBRP vertretene Konzept eines ‚parallelen‘ Kurses zur Revolution und zum Krieg. Wir haben bereits gesehen, wie diese von Bilan und der GCF praktizierte Herangehensweise solch einen Begriff ausschloss; der Text des Dritten Kongresses fährt fort zu argumentieren, dass solch ein Konzept das Resultat des Außerachtlassens der marxistischen Methode selbst sei.

”Erst kürzlich sind noch andere Theorien aufgekommen, denen zufolge ‚mit der Entwicklung der Krise des Kapitalismus beide Ausdrücke des Widerspruchs gleichzeitig verstärkt wurden: Krieg und Revolution schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern entwickeln sich simultan und parallel, ohne dass es für uns möglich wäre zu wissen, welcher vor dem anderen seinen Höhepunkt erreicht‘. Der Hauptirrtum in dieser Konzeption ist, dass sie den Faktor des Klassenkampfes im gesellschaftlichen Leben vernachlässigt, so wie die Auffassung, die die Italienische Linke entwickelte (die Theorie der Kriegswirtschaft), auf einer Überschätzung dieses Faktors basierte. Ausgehend von der Formulierung im Manifest, wonach ‚die Geschichte aller bisher existierenden Gesellschaften die Geschichte von Klassenkämpfen‘ ist, wendete die Italienische Linke dies mechanisch auf die Analysen des imperialistischen Krieges an und erblickte im imperialistischen Krieg eine Antwort auf den Klassenkampf; sie vermochte nicht zu sehen, dass im Gegenteil der imperialistische Krieg nur dank der Abwesenheit oder Schwächung des Klassenkampfes stattfinden kann. Obwohl sie falsch war, ging diese Auffassung von richtigen Prämissen aus; der Fehler lag in der Weise, wie diese Voraussetzungen angewendet wurden. Im Gegensatz dazu räumt die Theorie von dem ‚parallelen und simultanen Kurs sowohl zum Krieg als auch zur Revolution‘ diese fundamentale marxistische Ausgangsbedingung völlig beiseite, da sie der Ansicht ist, dass beide prinzipiellen antagonistischen Klassen in der Gesellschaft ihre eigenen Antworten – imperialistischer Krieg für die eine, Revolution für die andere – völlig unabhängig voneinander, vom Kräfteverhältnis zwischen beiden, von den Konfrontationen und Zusammenstößen zwischen beiden vorbereiten können. Wenn es nicht zur Bestimmung der gesamten historischen Alternative für das gesellschaftliche Leben angewendet werden kann, dann hat das Schema des Kommunistischen Manifestes keinen Daseinsgrund, und wir können den Marxismus neben anderen aus der Mode gekommenen Produkten menschlicher Phantasie im Museum ausstellen.”

Schließlich greift der Text die Argumentation derjenigen auf, die offen über einen Kurs zum Krieg sprachen – ein Argument, das sich einer kurzen Beliebtheit erfreute, das aber seine Stoßkraft mit dem Zusammenbruch des einen der am Krieg beteiligten Blöcke verlor.

In vielerlei Hinsicht hat die Debatte innerhalb des proletarischen Milieus über den historischen Kurs keine großen Fortschritte gemacht, seitdem dieser Text verfasst worden war. 1985 verfasste die IKS eine weitere Kritik am Konzept des parallelen Kurses, das in einem vom 5. Kongress von Battaglia Comunista stammenden Dokument vertreten wurde (International Review Nr. 85: ”The 80s are not the 30s”). In den 90er Jahren wurde in Texten des IBRP erneut sowohl die ‚agnostische‘ Sichtweise, die die Fähigkeit der Marxisten zu allgemeinen Vorhersagen über die Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft anzweifelt, als auch der eng damit verknüpfte Begriff des parallelen Kurses bestätigt. So zitierte die CWO in einer Polemik über die Bedeutung vom Mai 68 in Revolutionary Perspectives Nr. 12 einen Artikel aus World Revolution Nr. 216, der eine Diskussion zusammenfasste, die auf einem unserer Londoner Foren über dieses Thema stattgefunden hat. Unserer Artikel hebt hervor, dass ”die offensichtliche Verneinung der Möglichkeit der Vorhersage des allgemeinen Verlaufs der Ereignisse durch die CWO auch eine Ablehnung der Arbeit bedeutet, die auf diesem überlebenswichtigen Gebiet von den Marxisten in der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung ausgeführt worden war”. Die Antwort der CWO ist äußerst lustig: ”Wenn dies der Fall wäre, dann hätten die Marxisten einen schlechten Ruf. Vergessen wir dabei einmal das gebräuchliche (aber irrelevante) Beispiel von Marx nach den Revolutionen von 1848 und schauen stattdessen auf die Italienische Linke in den 30er Jahren. Während sie manch gute Arbeit bei dem Versuch verrichtete, mit der fürchterlichen Niederlage der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg klar zu kommen, theoretisierte sie sich noch vor dem zweiten imperialistischen Gemetzel um ihre eigene Existenz.” ‚Vergessen‘ wir einmal das unglaublich gönnerhafte Verhalten gegenüber der gesamten marxistischen Bewegung: Was wirklich bemerkenswert ist, ist die Unfähigkeit der CWO zu begreifen, dass die Italienische Linke genau aus dem Grunde, weil sie ihre frühere Klarheit über den historischen Kurs verloren hatte, am Vorabend des Krieges ”sich um die eigene Existenz theoretisierte”, wie wir im ersten Teil des Berichts sahen.

Was die bordigistischen Gruppierungen anbetrifft, so ist es kaum ihr Stil, an Debatten zwischen den Gruppen des Milieus teilzunehmen, doch in einem kürzlichen Briefwechsel zwischen einem Kontakt in Australien und unseren beiden Organisationen wies die Gruppe Programma die Möglichkeit von der Hand, dass die Arbeiterklasse eine Barriere zum Weltkrieg sei. Ihre Spekulationen darüber, ob die Wirtschaftskrise in einem Krieg oder in einer Revolution endet, unterscheiden sich inhaltlich nicht von jenen des IBRP.

Wenn sich irgendetwas in der vom IBRP vorgestellten Position geändert hat, dann ist es die Bösartigkeit ihrer Polemik gegen die IKS. Während in der Vergangenheit unsere ”rätekommunistische” Sichtweise der Partei ein Vorwand für den Abbruch der Diskussionen mit der IKS war, konzentrieren sich in der jüngsten Zeit die Gründe für die Ablehnung jeglicher vereinter Bemühungen noch viel schärfer auf unsere Differenzen über den historischen Kurs. Unsere Ansichten in dieser Frage werden als Hauptbeweis für unsere idealistische Methode und für unsere Loslösung von der Realität betrachtet. Ferner sei, gemäß des IBRP, der Schiffbruch unserer historischen Perspektiven, unseres Konzeptes über die ‚Jahre der Wahrheit‘, der wahre Grund für die jüngste Krise in der IKS und die ganze Debatte über die Funktionsweise im Kern eine Ablenkung von dieser zentralen Frage.

Die Folgen des Zerfalls 

Auch wenn sich die Debatte innerhalb des Milieus nur wenig entwickelt hat – die Realität hat dies zweifellos getan. Der Eintritt des dekadenten Kapitalismus in seine Zerfallsphase hat die Art, sich der Frage des historischen Kurses zu nähern, zutiefst verändert.

Das IBRP hat uns lange vorgehalten, wir behaupteten, dass die ‚Jahre der Wahrheit‘ bedeuteten, dass die Revolution in den 80er Jahre ausbrechen würde. Was sagten wir wirklich? Im Originalartikel ”Die 80er Jahre – Jahre der Wahrheit” (Internationale Revue Nr.   ) argumentierten wir, dass angesichts einer tiefen Verschärfung der Krise und einer Intensivierung der imperialistischen Spannungen, die mit der russischen Invasion Afghanistans deutlich wurde, die kapitalistische Klasse mehr und mehr dazu gezwungen wurde, die Sprache des Trostes und der Illusionen über Bord zu werfen und stattdessen die ‚Sprache der Wahrheit‘, den Ruf nach Blut, Schweiß und Tränen zu gebrauchen, und wir legten uns auf die folgende Vorhersage fest: ”Im heute beginnenden Jahrzehnt wird über die historische Alternative entschieden werden: Entweder wird das Proletariat seine Offensive fortsetzen, mit der Lahmlegung des mörderischen Arms des Kapitalismus in seiner Agonie fortfahren und seine Kräfte zu sammeln, um das System zu zerstören, oder es wird von den Reden und der Repression in die Falle gelockt, ausgelaugt, demoralisiert werden, womit der Weg frei wäre für einen neuen Holocaust, der die Eliminierung der menschlichen Gesellschaft riskiert.”

Es gibt hier gewisse Zweideutigkeiten, besonders was die Suggestion betrifft, dass der proletarische Kampf sich bereits in der Offensive befindet, eine fehlerhafte Formulierung, die aus der bereits angesprochenen Neigung entspringt, die Schwierigkeiten zu unterschätzen, denen sich eine Arbeiterklasse gegenübersieht, die sich von einem defensiven zu einem offensiven Kampf (in anderen Worten: zur politischen Konfrontation mit dem kapitalistischen Staat) bewegt. Doch dessen ungeachtet verbirgt sich hinter dem Begriff der Jahre der Wahrheit eine tiefe Einsicht. Die 80er Jahre sollten sich als ein entscheidendes Jahrzehnt erweisen, aber nicht ganz in dem Sinn, wie der Text es sich vorstellt. Wofür dieses Jahrzehnt steht, war nicht ein entscheidender Fortschritt der einen oder anderen Hauptklasse, sondern eine gesellschaftliche Pattsituation, die in den Prozess des Zerfalls mündete, der eine zentrale und charakteristische Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung einnimmt. So begann dieses Jahrzehnt mit der russischen Invasion Afghanistans, die eine Verschärfung der imperialistischen Spannungen provozierte; doch diesem Ereignis folgten die Massenstreiks in Polen auf dem Fuß, die sehr deutlich demonstrierten, dass es dem russischen Block gleichsam unmöglich war, für den Krieg zu mobilisieren. Der polnische Kampf warf jedoch auch ein Schlaglicht auf die chronische politische Schwäche der Arbeiterklasse. Nicht nur die polnischen Arbeiter standen angesichts der tief sitzenden Mystifikationen, die vom Stalinismus (und der Reaktion gegen ihn) in die Welt gesetzt worden waren, vor besonderen Problemen bei der Politisierung ihres Kampfes in einem proletarischen Sinne; auch die Arbeiter im Westen erwiesen sich, obschon sie in ihren Kämpfen während der 80er Jahre beträchtliche Fortschritte gemacht hatten, als unfähig, eine klare politische Perspektive zu entwickeln. Ihre Bewegung wurde somit vom Zusammenbruch des Stalinismus ‚überwältigt‘;  etwas allgemeiner gefasst, sollte der endgültige Beginn der Zerfallsphase die Klasse vor gewaltige Probleme stellen, da Erstere bei fast jeder Wendung den Rückgang im Bewusstsein verstärkte, welcher aus den Ereignissen 1989-91 resultierte.

Mit einem Wort, der Beginn des Zerfalls ist ein Resultat des historischen Kurses, so wie ihn die IKS seit den 60er Jahren festgestellt hatte, da er z.T. durch die Unfähigkeit der Bourgeoisie bedingt ist, die Gesellschaft für den Krieg zu mobilisieren. Aber er hat uns gleichfalls dazu gezwungen, das Problem des historischen Kurses in einer neuen und unvorhergesehene Weise zu stellen:

- Zunächst einmal wurde die Auflösung der beiden imperialistischen Blöcke, die 1945 gebildet worden waren, und die in Gang gesetzte Dynamik des ‚Jeder für sich selbst‘ – sowohl Ausdruck als auch Resultat des Zerfalls – zu einem neuen Faktor, der die Möglichkeit eines Weltkrieges erschwert. Während sich die imperialistischen Spannungen verschärften, hat diese neue Dynamik der Tendenz zur Bildung neuer Blöcke entgegengewirkt. Ohne die Existenz von Blöcken, ohne ein neues Machtzentrum, das zur direkten Herausforderung der US-Hegemonie imstande wäre, ist eine Schlüsselbedingung für die Auslösung eines Weltkrieges nicht vorhanden.

- Gleichzeitig ist diese Entwicklung wenig tröstlich für die Sache des Kommunismus, da sie eine Situation geschaffen hat, in der die Basis einer neuen Gesellschaft auch ohne Weltkrieg und somit ohne die Notwendigkeit, das Proletariat für den Krieg zu mobilisieren, untergraben werden kann. Im ersten Szenario ist es der Nuklearkrieg, der die Möglichkeit des Kommunismus definitiv aufs Spiel setzt, indem er den Planeten oder zumindest einen großen Teil der globalen Produktivkräfte, einschließlich des Proletariats, zerstört. Das neue Szenario sieht die Möglichkeit eines langsameren, aber nicht weniger tödlichen Rutsches in einen Zustand vor, in dem das Proletariat irreparabel zersplittert ist und die natürlichen sowie wirtschaftlichen Fundamente für die gesellschaftliche Umwandlung durch die Zunahme von lokalen und regionalen militärischen Konflikten, von Umweltkatastrophen und durch den gesellschaftlichen Zusammenbruch gleichermaßen ruiniert werden. Ferner kann das Proletariat zwar auf seinem eigenen Terrain gegen den Krieg kämpfen, doch ist dies mit Blick auf die Auswirkungen des Zerfalls weitaus schwieriger.

Dies wird besonders am ‚ökologischen‘ Aspekt des Zerfalls deutlich: Obgleich die Zerstörung der natürlichen Umwelt für sich schon zu einer wirklichen Bedrohung für das Überleben der Menschheit geworden ist – eine Bedrohung, die teilweise von der Arbeiterbewegung bis in die letzten Jahrzehnte hinein nur flüchtig wahrgenommen worden war -, handelt es sich hierbei um einen Prozess, den das Proletariat kaum ‚blockieren‘ kann, ehe es die politische Macht auf Weltebene übernommen hat. Kämpfe in Bereichen wie die Umweltverschmutzung sind durchaus auf Klassenbasis möglich, doch sie gehören aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu den Hauptfaktoren zur Stimulierung des proletarischen Widerstandes.

Wir sehen also, dass der Zerfall des Kapitalismus die Arbeiterklasse in eine schlechtere Lage versetzt als zuvor. In der vorherigen Situation war eine frontale Niederlage der Arbeiterklasse erforderlich, ein Sieg der Bourgeoisie in einer Konfrontation Klasse gegen Klasse, ehe alle Bedingungen für den Weltkrieg vereint sind. Im Rahmen des Zerfalls kann die ‚Niederlage‘ des Proletariats allmählicher, heimtückischer und weitaus weniger zu widerstehen sein. Und ganz zuoberst haben die Auswirkungen des Zerfalls, wie wir oft festgestellt haben, eine zutiefst negative Auswirkung auf das Bewusstsein des Proletariats, auf seinen Sinn für sich selbst, da sie in all ihren verschiedenen Aspekten – die Bandenmentalität, Rassismus, Kriminalität, Drogenmissbrauch, etc. – dazu dienen, die Klasse zu atomisieren, die Spaltungen in ihren Reihen zu vergrößern und sie im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf aufzulösen.

Konfrontiert mit dieser äußerst bedeutenden Veränderung in der Weltlage, erweist sich die Antwort des proletarischen Milieus als völlig unzureichend. Obwohl sie die Auswirkungen des Zerfalls erkennen, sind die Gruppen des Milieus nicht in der Lage, seine Wurzeln – da sie den Begriff des Patts zwischen den Klassen ablehnen – oder seine tatsächliche Gefahr zu sehen. So tut das IBRP die Zerfallstheorie der IKS als nichts Anderes als eine Beschreibung des ”Chaos” ab, was praktisch darauf hinausläuft, nach Möglichkeiten für eine Stabilisierung des Kapitalismus zu suchen. Dies wird zum Beispiel an seiner Auffassung offensichtlich, dass das ”internationale Kapital” nach Frieden in Nordirland trachtet, um friedlich die Früchte der Ausbeutung genießen zu können, doch wird es ebenso deutlich in seiner Ansicht, dass um die Pole der wirtschaftlichen Konkurrenz (USA, Europäische Union, etc.) herum neue Blöcke im Entstehen begriffen sind. Obwohl diese Sichtweise (mit ihrer Weigerung, irgendeine langfristige ”Vorhersage” zu machen) durchaus die Idee eines nahenden Krieges enthalten kann, ist sie häufiger mit einem rührenden Glauben an die Vernunft der Bourgeoisie verknüpft: Da die neuen ”Blöcke” eher ökonomische denn militärische Gebilde sind und da wir nun in eine neue Periode der ”Globalisierung” eingetreten sind, ist die Tür zumindest halb offen für die Vorstellung, dass diese Blöcke, indem sie im Interesse des ”internationalen Kapitals” handeln, eine allseits nützliche Stabilisierung der Welt bis in eine unbestimmte Zukunft hinein erreichen könnten.

Die Ablehnung der Theorie des Zerfalls kann nur in eine Unterschätzung der Gefahren münden, denen die Arbeiterklasse gegenübersteht. Sie unterschätzt das Ausmaß der Barbarei und des Chaos‘, in der sich der Kapitalismus bereits befindet; sie neigt dazu, die Gefahr herunterzuspielen, dass das Proletariat durch die Auflösung des gesellschaftlichen Lebens fortschreitend unterminiert wird; und sie vermag nicht deutlich zu registrieren, dass die Menschheit auch ohne einen dritten Weltkrieg vernichtet werden kann.

Wo stehen wir? 

Der Beginn der Zerfallsperiode hat somit die Art und Weise verändert, in der wir die Frage nach dem historischen Kurs stellen. Aber sie hat sie nicht irrelevant gemacht – im Gegenteil. Tatsächlich ist man geneigt, sich noch schärfer auf die zentrale Frage zu konzentrieren: Ist es schon zu spät? Ist das Proletariat bereits besiegt worden? Gibt es irgendein Hindernis gegen den Abstieg in die totale Barbarei? Wie wir gesagt haben, ist eine Beantwortung dieser Fragen heute weniger leicht als in einer Periode, in der der Weltkrieg noch eine konkrete Option für die Bourgeoisie war. So war Bilan beispielsweise in der Lage, nicht nur auf die blutige Niederlage der proletarischen Erhebungen und den folgenden konterrevolutionären Terror in jenen Ländern, wo die Revolution am weitesten gediehen war, hinzuweisen, sondern auch auf die nachfolgende ideologische Kriegsmobilisierung und auf das ‚positive‘ Echo in der Arbeiterklasse gegenüber dem Säbelrasseln der herrschenden Klasse (Faschismus, Demokratie, etc.). Unter den gegenwärtigen Umständen, wo der kapitalistische Zerfall das Proletariat ohne eine einzige direkte Niederlage und ohne diese Art von ‚positiver‘ Mobilisierung verschlingen kann, sind die Zeichen einer unumkehrbaren Niederlage schwerer zu definieren. Nichtsdestotrotz liegt der Schlüssel zum Verständnis des Problems dort, wo er sich schon 1923 oder, wie wir in den Analysen der GCF sahen, 1945 befand – in den zentralen Konzentrationen des Weltproletariats und vor allem in Westeuropa. Haben diese Sektoren in den 80er Jahren (oder, wie es einige gern haben möchten, in den 70ern) ihr letztes Wort gesprochen, oder bergen sie noch genügend Kampfreserven und ein ausreichendes Potenzial für die Entwicklung des Klassenbewusstseins, um sicherzustellen, dass die wichtigen Klassenkonfrontationen noch auf der Tagesordnung der Geschichte stehen?

Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, eine vorläufige Bilanz des letzten Jahrzehnts zu ziehen – der Periode seit dem Kollaps des Ostblocks und dem endgültigen Beginn der Zerfallsphase.

Das Problem ist, dass die ‚Schnittmuster‘ des Klassenkampfes seit 1989 sich von jenen in der Periode nach 1968 unterscheiden. Während jener Periode gab es klar identifizierbare Wellen des Kampfes, mit ihrem Epizentrum in den kapitalistischen Hauptzentren, auch wenn die Schockwellen über den gesamten Globus gingen. Ferner war es möglich, diese Bewegungen zu analysieren und den Fortschritt kenntlich zu machen, den das Klassenbewusstsein in ihnen machte – zum Beispiel über die Gewerkschaftsfrage oder ihr Fortschritt bezüglich des Massenstreiks.

Ferner war es nicht allein die revolutionäre Minderheit, die diese Reflexionen anstellte. Während der verschiedenen Wellen des Kampfes war es offenkundig, dass Kämpfe in dem einen Land direkt Kämpfe in einem anderen Land anregen konnten (beispielsweise die Verbindung zwischen Mai 68 und Italien 69, zwischen Polen 1980 und den folgenden Bewegungen in Italien, zwischen den großen Bewegungen in Belgien in den 80ern und den Arbeiterreaktionen in den benachbarten Ländern). Gleichzeitig war ersichtlich, dass Arbeiter Lehren aus den vorausgegangenen Bewegungen zogen – zum Beispiel in Großbritannien, wo die Niederlage des Bergarbeiterstreiks ein Nachdenken in der Klasse über die Notwendigkeit auslöste, nicht in die Falle lang hingezogener und isolierter Streiks zu laufen, oder in Frankreich und Italien 1986 und 1987, wo verstärkt versucht wurde, sich außerhalb der Gewerkschaften zu organisieren.

Die Situation seit 1989 zeichnete sich nicht durch offen ersichtliche Fortschritte im Klassenbewusstsein aus. Dies soll nicht heißen, dass die Bewegung in den 90er Jahren völlig nichtssagend war. Im Bericht über den Klassenkampf auf dem 13. Kongress stellten wir die prinzipiellen Phasen heraus, die die Bewegung durchlaufen hat:

- der mächtige Einfluss des Zusammenbruchs des Ostblocks, der durch die pausenlosen Kampagnen der Bourgeoisie über den Tod des Kommunismus multipliziert wurde. Dieses historische Ereignis brachte die dritte Welle von Kämpfen zu einem plötzlichen Ende und leitete einen starken Rückgang sowohl im Bewusstsein als auch in der Klassenmilitanz ein, Auswirkungen, mit denen wir es immer noch tun haben, besonders in der Frage des Bewusstseins;

- die Tendenz zur Wiederbelebung der Militanz nach 1992, mit den Kämpfen in Italien, denen 1993 Kämpfe in Deutschland und Großbritannien folgten;

- die großen Manöver der Bourgeoisie in Frankreich 1995, die das Vorbild für ähnliche Operationen in Belgien und Deutschland waren. Hier fühlte sich die herrschende Klasse stark genug, um landesweite Bewegungen zu provozieren, in der Absicht, das Bild der Gewerkschaften aufzupolieren. In diesem Sinne waren diese Bewegungen ein Produkt sowohl der Unordnung innerhalb der Klasse als auch  der Erkenntnis der Bourgeoisie, dass diese Unordnung nicht ewig dauert und dass glaubwürdige Gewerkschaften ein sehr wichtiges Instrument zur Kontrolle künftiger Ausbrüche des Klassenwiderstands sind.

- die langsame, aber faktische Entwicklung von Unzufriedenheit und Militanz innerhalb der Arbeiterklasse angesichts der sich vertiefenden Krise wurde nach 1998, mit den massiven Streiks in Dänemark und Norwegen sowie einer Reihe von Kämpfen in den USA, Großbritannien und Frankreich so wie in peripheren Ländern wie Korea, China und Simbabwe, mit großem Nachdruck bekräftigt. Dieser Prozess ist ferner in den vergangenen Jahren durch die Demonstrationen der Transportarbeiter in New York, die Kämpfe der Postangestellten in Großbritannien und Frankreich und insbesondere durch den wichtigen Ausbruch von Kämpfen in Belgien im Herbst 2000 veranschaulicht worden, als wir so manch wirkliches Anzeichen nicht nur einer allgemeinen Unzufriedenheit, sondern auch einer Unzufriedenheit mit der gewerkschaftlichen Führung des Kampfes beobachten konnten.

Keine dieser Bewegungen hatte jedoch einen Einfluss bzw. ein Ausmaß erreicht, mit dem sie imstande gewesen wäre, den massiven ideologischen Kampagnen der Bourgeoisie über das Ende des Klassenkampfes wirklich etwas entgegenzusetzen oder den Arbeitern in der ganzen Welt neues Vertrauen in sich selbst und in ihre eigenen Kampfmethoden einzuflößen; keine von ihnen war vergleichbar mit den Ereignissen vom Mai 68 oder mit dem Massenstreik in Polen 1980 oder selbst mit den ständigen Kämpfen in den 80er Jahren. Selbst die wichtigsten Kämpfe ernteten nur ein geringes Echo innerhalb des Rests der Klasse: Das Phänomen, dass die Kämpfe in einem Land auf Bewegungen anderswo ‚antworten‘, scheint nahezu nichtexistent zu sein. Unter diesen Umständen ist es selbst für die Revolutionäre schwierig, ein klares Strickmuster oder definitive Anzeichen von Fortschritt im Klassenkampf der 90er Jahre zu erkennen. Für die Klasse im Allgemeinen trug die zersplitterte und separate Natur der Kämpfe – zumindest oberflächlich - wenig dazu bei, das Selbstvertrauen des Proletariats, sein Bewusstsein über sich selbst als eine besondere gesellschaftliche Kraft, als eine internationale Klasse mit dem Potenzial, die herrschende Ordnung herauszufordern, zu verstärken oder zu erneuern.

Diese Tendenz unter den desorientierten Arbeitern, den Blick für ihre spezifische Klassenidentität zu verlieren und angesichts einer immer schwierigeren Weltlage sich im Großen und Ganzen machtlos zu fühlen, ist das Ergebnis einer Reihe von miteinander verwobenen Faktoren. Zuunterst ist – und dies ist ein Faktor, der von den Revolutionären immer etwas unterschätzt wurde, eben weil er so elementar ist – die grundsätzliche Stellung der Arbeiterklasse als eine ausgebeutete Klasse, die unter dem Gewicht der gesamten Ideologie der herrschenden Klasse leidet. Zuoberst dieses ‚unveränderlichen‘ Faktors im Leben der Arbeiterklasse stehen die Auswirkungen des Dramas des 20. Jahrhunderts – die Niederlage der revolutionären Welle, die lange Nacht der Konterrevolution und das Beinahe-Verschwinden der organisierten proletarischen Bewegung während dieser Periode. Diese Faktoren bleiben wegen ihrer Natur auch in der Zerfallsphase äußerst mächtig; in der Tat, wenn überhaupt, dann verstärkten sie seine negativen Einflüsse, so wie die negativen Einflüsse sie verstärken. Dies wird besonders an den antikommunistischen Kampagnen deutlich: Historisch stammen sie aus den Erfahrungen der stalinistischen Konterrevolution, die als erste die Lüge verbreitete, Stalinismus ist gleich Kommunismus. Doch der Zusammenbruch des Stalinismus – ein Produkt des Zerfalls par excellence – wird nun seinerseits von der Bourgeoisie dazu benutzt, um auch weiterhin die Botschaft an den Mann  zu bringen, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt und dass es mit der Klasse vorbei ist.

Um jedoch die besonderen Schwierigkeiten zu begreifen, mit denen es das Proletariat in dieser Phase zu tun hat, ist es notwendig, sich auf die spezifischeren Auswirkungen des Zerfalls auf den Klassenkampf zu konzentrieren. Ohne in die Details zu gehen, über die wir in vielen anderen Texten zu diesem Problem bereits geschrieben haben, können wir sagen, dass diese Auswirkungen auf zwei Ebenen stattfinden: An erster Stelle gibt es die wirklichen materiellen Auswirkungen der Zerfallsphase, an zweiter Stelle steht die Art und Weise, wie die herrschende Klasse diese Auswirkungen benutzt, um die Desorientierungen der ausgebeuteten Klasse zu verstärken. Einige Beispiele:

- der Prozess der Desintegration, der durch die massive und andauernde Arbeitslosigkeit besonders unter den jungen Menschen, durch die Auflösung traditioneller militanter Arbeiterkonzentrationen im Herzen der Industrie hervorgerufen wurde, was die Atomisierung und die Konkurrenz unter den Arbeitern intensivierte. Dieser objektive Prozess, der direkt mit der Wirtschaftskrise verknüpft ist, wird schließlich durch die ideologischen Kampagnen über die ‚postindustrielle Gesellschaft‘ und über das Außer-Mode-kommen des Proletariats weiter verstärkt. Dieser Prozess ist von etlichen Elementen aus dem proletarischen Milieu oder dem Sumpf als ‚Neuzusammensetzung‘ des Proletariats bezeichnet worden; tatsächlich rührt solch eine Terminologie, ähnlich wie die Neigung, in der Globalisierung eine neue Stufe in der kapitalistischen Gesellschaft zu betrachten, aus einer ernsthaften Unterschätzung der Gefahren her, denen sich die Klasse gegenübersieht. Die Fragmentierung der Klassenidentität, die wir besonders im letzten Jahrzehnt erlebt haben, ist kein irgendwie gearteter Fortschritt, sondern eine Manifestation des Zerfalls, die immense Gefahren für die Arbeiterklasse in sich birgt.

- die Kriege, die sich in den Peripherien des Systems ausbreiteten und die sich immer mehr den Kernländern des Kapitals nähern, sind offenkundig eine klare Äußerung des Zerfallsprozesses und beherbergen eine direkte Drohung an das Proletariat in jenen Gebieten, die sie verwüsten, sowohl wegen des Gemetzels und der Zerstörung, die sie begleiten, als auch wegen der ideologischen Vergiftung der Arbeiter, die für diese Konflikte mobilisiert werden. Die Lage im Nahen Osten beweist Letzteres in aller Deutlichkeit. Doch die herrschende Klasse in den Hauptzentren des Kapitals schlägt auch aus diesen Konflikten einen Nutzen – nicht nur bei der Weiterverfolgung ihrer imperialistischen Interessen, sondern auch bei der Verstärkung ihrer Angriffe auf das Bewusstsein der zentralem Bataillone des Proletariats, indem sie Gefühle der Machtlosigkeit, der Abhängigkeit von den ‚demokratischen‘ und ‚humanitären‘ Staaten bei der Lösung der globalen Probleme usw. verstärkt.

- ein anderes wichtiges Beispiel ist der Prozess der ‚Kriminalisierung‘, der sich im letzten Jahrzehnt enorm ausgeweitet hat. Dieser Prozess schließt sowohl die höheren Ränge der herrschenden Klasse (die russische Mafia ist nur die Karikatur eines viel weiter verbreiteten Phänomens) als auch die niederen Schichten der Gesellschaft einschließlich einer beträchtlichen Menge proletarischer Jugendlicher mit ein. Dies ist überall der Fall, ob wir auf Länder wie Sierra Leone, wo Bandenrivalitäten Teil des interimperialistischen Konflikts sind, oder auf die Innenstädte in den entwickelten Ländern schauen, wo nur die Straßenbanden den am meisten marginalisierten Gesellschaftsbereichen ‚Gemeinschaft‘ und eine Quelle des Lebensunterhalts anzubieten scheinen. Gleichzeitig hat die herrschende Klasse, während sie diese Banden zur Organisierung der ‚gesetzwidrigen‘ Seite ihres Geschäfts (Waffen-, Drogenhandel, etc.) benutzt, nicht gezögert, die ‚Gangsta‘-Ideologie mit Musik, Film oder Mode zu verbinden und sie als eine Art falsche Rebellion zu kultivieren, die jeglichen Zugehörigkeitssinn zur Klasse auslöscht, indem die Identität der Bande, ob sie durch lokale, rassische, religiöse oder andere Kategorien bestimmt ist, überhöht wird.

Es könnten noch weitere Beispiele genannt werden; doch letztendlich geht es darum, die beträchtliche Reichweite und Wirkung jener Kräfte hervorzuheben, die in jüngster Zeit als Gegengewicht zur proletarischen Selbstkonstituierung als Klasse fungieren. Nichtsdestotrotz müssen Revolutionäre gegen all die Drangsalierungen, gegen alle Kräfte, die behaupten, das Proletariat sei tot und begraben, weiter darauf bestehen, dass die Arbeiterklasse nicht verschwunden ist, dass der Kapitalismus nicht ohne Proletariat existieren kann und dass das Proletariat nicht ohne den Kampf gegen das Kapital existieren kann. Dies ist elementar für jeden Kommunisten. Doch die Besonderheit der IKS besteht darin, dass sie bereit ist, sich der Analyse des historischen Kurses und des allgemeinen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen anzuvertrauen. Und an dieser Stelle muss festgestellt werden, dass das Weltproletariat zu Beginn des 21. Jahrhunderts trotz all der Widrigkeiten, denen es gegenübersteht, noch nicht sein letztes Wort gesprochen hat, noch immer die einzige Barriere gegen die vollständige Entwicklung der kapitalistischen Barbarei darstellt und noch immer das Potenzial in sich trägt, massive Klassenkonfrontationen gegen das Innerste des Systems auszulösen.

Dies ist kein abstrakter Glauben und auch keine ewige Wahrheit. Wir werden auch nicht davor zurückschrecken, in Zukunft unsere Analyse gegebenenfalls zu revidieren und anzuerkennen, dass eine fundamentale Verschiebung in diesem Kräfteverhältnis zum Schaden des Proletariats stattgefunden hat. Unsere Argumente basieren auf einer ständigen Beobachtung der Prozesse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die uns bisher zur Schlussfolgerung geleitet haben:

- dass trotz der Schläge gegen ihr Bewusstsein im letzten Jahrzehnt die Arbeiterklasse immer noch gewaltige Kampfreserven besitzt, die in einer beträchtlichen Zahl von Bewegungen in dieser Periode sichtbar geworden sind. Dies ist von enormer Bedeutung, denn obgleich man nicht Kampfgeist mit Bewusstsein verwechseln darf, ist die Entwicklung von offenem Widerstand gegen die Angriffe des Kapitals unter den heutigen Bedingungen wichtiger denn je für das Proletariat bei der Wiederentdeckung seiner Identität als Klasse, die eine Vorbedingung für eine allgemeinere Entwicklung des Klassenbewusstseins ist.

- dass sich der Prozess der unterirdischen Reifung fortgesetzt hat und unter anderem durch die Entstehung von ”suchenden Elementen” überall auf der Welt, von einer wachsenden Minderheit demonstriert wird, die ernsthafte Fragen über das herrschende System stellt und nach einer revolutionären Alternative sucht. Diese Elemente bestehen aus einer Mehrheit, die zum Sumpf, zu den mannigfaltigen Ausdrücken des Anarchismus und so weiter strebt. Die gegenwärtige Zunahme von ”antikapitalistischen” Protesten drückt auch – auch wenn von der herrschenden Klasse zweifellos manipuliert und ausgenutzt – eine massive Ausweitung des Sumpfes aus, jener hin und her schwankenden Übergangszone zwischen der Politik der Bourgeoisie und der Politik der Arbeiterklasse. Doch noch viel bedeutsamer in den letzten Jahren ist die beträchtliche Steigerung der Zahl jener Elemente, die direkt den Kontakt zu den existierenden revolutionären Gruppen, besonders zur IKS und dem IBRP, suchen. Dieser Zustrom von Elementen, die weiter gehen als der zweifelnde Sumpf und nach einem wirklichen kommunistischen Zusammenhang suchen, ist die ‚Spitze des Eisberges‘, Zeichen eines tieferen und weiterreichenden Prozesses innerhalb des Proletariats als Ganzes. Ihr Auftreten auf der Bühne wird erhebliche Auswirkungen auf das existierende proletarische Milieu haben, indem sie seine Physiognomie verändern und es dazu zwingen, mit althergebrachten sektiererischen Verhaltensweisen zu brechen.

- Die fortgesetzte Existenz einer proletarischen Bedrohung kann auch in einem gewissen Umfang an ”negativen” Parametern gemessen werden – durch die Untersuchung der Politik und Kampagnen der Bourgeoisie. Wir können dies auf etlichen miteinander verbundenen Ebenen sehen – ideologisch, ökonomisch und militärisch. Auf der ideologischen Ebene ist die Kampagne um den ”Antikapitalismus” solch ein Fall. Zu Beginn des letzten Jahrzehnts zielten die Kampagnen der Bourgeoisie darauf ab, das Durcheinander in der Klasse, die gerade erst durch den Zusammenbruch des Ostblocks einen Schlag erlitten hatte, zu vergrößern; und ihre Themen konnten damals noch offen bürgerlich sein: Die Dutroux-Affäre zum Beispiel bewegte sich völlig im Rahmen der Demokratie. Das Betonen des ”Antikapitalismus” heute ist dagegen ein Zeichen für die Erschöpfung der Mystifikation des ”Triumphs des Kapitalismus”, für die Notwendigkeit des Kapitalismus, dem Potenzial für eine wirkliche Infragestellung des Kapitalismus durch die Arbeiterklasse beizukommen und es zu entstellen. Die Tatsache, dass die antikapitalistischen Proteste die Arbeiter nur marginal als solche mobilisiert haben, vermindert nicht ihren allgemeinen ideologischen Einfluss. Dasselbe kann von der Taktik der Linken in der Regierung gesagt werden. Obwohl ein Großteil der Ideologie der linken Regierungen direkt von den Kampagnen über das Scheitern des Sozialismus und die Notwendigkeit für einen zweiten oder dritten Weg in die Zukunft übernommen wurde, sind diese Regierungen größtenteils nicht einfach zur Aufrechterhaltung der herrschenden Desorientierungen in der Klasse, sondern als Vorbeugemaßnahme installiert worden, um die Arbeiterklasse daran zu hindern, ihren Kopf zu heben, ihre Unzufriedenheit, die sich in ihren Reihen im letzten Jahrzehnt breitgemacht hat, freien Lauf zu lassen.

Auf der wirtschaftlichen Ebene, so haben wir stets argumentiert, wird die Bourgeoisie der Hauptzentren damit fortfahren, jedes zu ihrer Verfügung stehende Mittel zu nutzen, um ihre Ökonomie vor dem Kollaps und davor zu bewahren, dass sie auf ihr wahres Maß zurechtgestutzt wird. Die Logik dahinter ist sowohl ökonomisch als auch sozial. Sie ist ökonomischer Natur in dem Sinn, dass die Bourgeoisie koste es was es wolle ihre Wirtschaft auswringen muss, um ihre eigenen Illusionen über die Aussicht auf Expansion und Wohlstand aufrechtzuerhalten. Doch diese Logik ist auch gesellschaftlicher Natur in dem Sinn, dass die herrschende Klasse immer noch in Angst davor lebt, dass dramatische Abstürze der Wirtschaft massive Reaktionen im Proletariat hervorrufen, die einen viel klareren Blick auf den wahren Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise erlauben würden.

Was möglicherweise noch wichtiger ist – in allen großen militärischen Konflikten dieses Jahrzehnts, in denen die zentralen imperialistischen Mächte verwickelt waren (Golfkrieg, Balkan, Afrika) waren wir Zeuge einer extremen Vorsicht der herrschenden Klasse, ihres Widerstrebens, andere Soldaten außer den Berufssoldaten in diesen Operationen einzusetzen, und gar ihres Zauderns davor, das Leben dieser Soldaten aus Angst vor der Provozierung einer Reaktion ‚in der Heimat‘ zu riskieren.

Es ist sicherlich bedeutsam, dass mit der Bombardierung Serbiens durch die NATO der imperialistische Krieg einen weiteren Schritt zu den Kernländern des Systems gemacht hat. Doch Serbien ist nicht Westeuropa. Wir erblicken keinerlei Anzeichen dafür, dass die Arbeiterklasse der Hauptindustrieländer bereit ist, sich hinter ihren Nationalfahnen zu sammeln und direkt für die imperialistischen Hauptkonflikte (und selbst innerhalb solcher Länder wie Serbien sind die Grenzen der Opferbereitschaft in Sicht, auch wenn die massive Unzufriedenheit durch den demokratischen Karneval kanalisiert wurde) anzumustern. Der Kapitalismus ist immer noch dazu gezwungen, seine imperialistischen Spaltungen hinter der Fassade von Bündnissen für humanitäre Interventionen zu maskieren. Dies spiegelt teilweise die Unfähigkeit der zweitrangigen Mächte wider, die US-Vorherrschaft offen herauszufordern, aber es drückt auch die Tatsache aus, dass das System keine ernsthafte ideologische Grundlage für die Zementierung neuer imperialistischer Blöcke besitzt – eine Tatsache, die von den proletarischen Gruppen völlig missachtet wird, die solche Blöcke im Wesentlichen auf ökonomische Funktionen reduzieren. Imperialistische Blöcke sind in ihrer Funktion eher militärisch denn ökonomisch ausgerichtet, doch um auf militärischer Ebene zu operieren, müssen sie auch ideologisch begründet sein. Zurzeit ist es unmöglich abzusehen, welche ideologischen Themen benutzt werden könnten, um einen Krieg zwischen den imperialistischen Hauptmächten heute zu rechtfertigen – alle treten für dieselbe demokratische Ideologie ein, und keiner von ihnen ist in der Lage, mit dem Finger auf ein böses Reich zu zeigen, dass eine große Bedrohung für den eigenen Way of Life abgeben könnte: Der Antiamerikanismus, der in einem Land wie Frankreich gepflegt wird, ist ein müder Abklatsch früherer Ideologien wie der Antifaschismus oder der Antikommunismus. Wir haben geäußert, dass der Kapitalismus der Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern immer noch eine schwere und offene Niederlage zufügen muss, eher er die ideologischen Bedingungen für ihre offene Mobilisierung für den Weltkrieg schaffen kann. Doch es gibt starke Beweggründe für die Auffassung, dass dies auch auf die begrenzteren Konflikte zwischen den in der Entstehung begriffenen Blöcken zutrifft, die den Boden für einen allgemeineren Konflikt bereiten. Dies ist ein wirkliches Statement des ‚negativen‘ Gewichts, das das unbesiegte Proletariat auf die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft ausübt.

Wir haben natürlich erkannt, dass im Rahmen des Zerfalls die Arbeiterklasse ohne eine frontale Niederlage und ohne einen großen Krieg zwischen den Zentralmächten überwältigt werden könnte. Es könnte dem Fortschreiten der Barbarei in den zentralen Ländern, einem Prozess des sozialen, ökonomischen und ökologischen Zusammenbruchs unterliegen, vergleichbar, obwohl noch viel alptraumhafter, mit dem, was in Ländern wie Ruanda und dem Kongo bereits eingetroffen ist. Doch auch wenn er viel heimtückischer ist, solch ein Prozess kann kaum unsichtbar bleiben, und wir sind noch ein Stück weit entfernt von ihm – eine weitere Tatsache, die sich ‚negativ‘ in der jüngsten Kampagne über die ‚Asylanten‘ äußerte, welche sich zu einem großen Teil auf die Erkenntnis stützt, dass Westeuropa und Nordamerika Oasen des Wohlstands und der Stabilität sind im Verhältnis zu jenen Teilen Osteuropas und der ‚Dritten Welt‘, die viel direkter von den Schrecken des Zerfalls erfasst sind.

Es kann daher ohne Zögern festgestellt werden, dass der unbesiegte Charakter des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern eine Barriere gegen die vollständige Entfesselung der Barbarei in den Zentren des Weltkapitals bleibt.

Nicht nur, dass die Entwicklung der Weltwirtschaftskrise die Illusionen darüber zerbröckeln lässt, dass wir vor einer glänzenden neuen Zukunft stehen – eine Zukunft, die auf einer ‚neuen Wirtschaft‘ gegründet sei, wo jeder ein Aktionär ist. Hinzu kommt, dass diese Illusion weiter dahinschwindet, sobald die Bourgeoisie gezwungen wird, ihre Angriffe gegen die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu zentralisieren und zu vertiefen, um sie dem wahren Zustand ihrer Wirtschaft ‚anzupassen‘. Obwohl wir noch weit entfernt sind von einem offenen politischen Kampf gegen den Kapitalismus, sind wir wohl kaum ebenso weit entfernt von einer Reihe erbitterter und selbst weltweiter Verteidigungskämpfe, da die siedende Unzufriedenheit innerhalb des Proletariats die Form einer offenen Kampfbereitschaft annimmt. Und es sind diese Kämpfe, in denen die Saat für eine künftige Politisierung gesät wird. Es erübrigt sich fast zu sagen, dass die Intervention der Revolutionäre ein Schlüsselelement in diesem Prozess sein wird.

Somit können die Revolutionäre trotz ihres klaren Blicks für die fürchterlichen Schwierigkeiten und Gefahren für unsere Klasse fortfahren, mit Fug und Recht festzustellen, dass der historische Kurs sich nicht gegen uns gewendet hat. Die Aussicht auf massive Klassenkonfrontationen besteht weiterhin und wird unsere gegenwärtigen und künftigen Aktivitäten bestimmen.

 

Dezember 2000

 

1 – Mitchell starb 1945 in Folge seiner Inhaftierung im Konzentrationslager Buchenwald während des Krieges.

2  - Diese Tendenz verließ die IKS, um die Gruppe Communiste Internationliste, die eine Form des Anarcho-Bordigismus predigte und selbst in einer Reihe von kleineren Mini-Gruppen zerbrach.

3   - ein ehemaliger Militantrer der IKS;

4  - Internationale Büro für die Revolutionäre Partei, gegründet von Battaglia Comunista  und der CWO:

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • Mai 1968 in Frankreich [40]

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [3]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [41]

Außerordentliche Konferenz der IKS: Der Kampf für die Verteidigung der organisatorischen Prinzipien

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Der Kampf um die Verteidigung organisatorischer Prinzipien

Zu Beginn dieses Jahres beschloss die IKS, den 15. Kongress ihrer Sektion in Frankreich in eine Außerordentliche Internationale Konferenz umzuwandeln. Motiviert wurde der Beschluss durch den offenen Ausbruch einer Krise in der Organisation, die unmittelbar nach unserem 14. Internationalen Kongress im April 2001 folgte. Diese Krise hatte zu einer Abkehr mehrerer Militanter von unserer Organisation geführt, die sich gegenwärtig als, wie sie es nennen, „Interne Fraktion der IKS“ gesammelt haben. Wie wir sehen werden, stellte die Konferenz fest, dass diese Militanten sich selbst vorsätzlich außerhalb der Organisation gestellt haben, auch wenn sie heute jedem gegenüber, der ihnen zuzuhören bereit ist, behaupten, dass sie „ausgeschlossen“ worden seien.

Obwohl die Konferenz sich größtenteils auf organisatorische Fragen konzentrierte, wurde auch die Analyse der internationalen Situation diskutiert und eine Resolution verabschiedet, die in dieser Ausgabe der Internationalen Revue veröffentlicht ist.

Zweck dieses Artikels ist es, Rechenschaft abzulegen über die wichtigste Arbeit der Konferenz, über das Wesen ihrer Diskussionen und Beschlüsse zu organisatorischen Fragen, da dies ihr Hauptzweck war. Er soll ebenso unsere Analyse der selbsternannten „Internen Fraktion der IKS“ darlegen, die sich heute als wahre Vertretung der organisatorischen Errungenschaften der IKS präsentiert, doch in Wirklichkeit nichts anderes ist als eine neue parasitäre Gruppierung wie diejenigen, mit denen die IKS und andere Organisationen aus dem politischen Milieu des Proletariats bereits in der Vergangenheit konfrontiert waren. Bevor wir uns jedoch mit diesen Fragen beschäftigen, ist es notwendig, eine andere zu berücksichtigen, die  Gegenstand vieler Missverständnisse im heutigen proletarischen politischen Milieu gewesen war: die Bedeutung der Fragen der Funktionsweise von kommunistischen Organisationen.

Wir sagen dies, weil wir oft die Bemerkung gehört und gelesen haben, dass „die IKS besessen ist von Organisationsfragen“ oder dass „ihre Artikel über diese Frage von keinerlei Interesse und lediglich interne Angelegenheit der IKS sind“. Solcherlei Beurteilung ist bei jenen Nicht-Militanten, die mit den Positionen des Linkskommunismus sympathisieren, durchaus nachvollziehbar. Wenn man nicht Mitglied einer politischen Organisation des Proletariats ist, ist es natürlich schwierig, die Probleme voll zu erfassen, auf die eine Organisation bei ihrem Funktionieren stoßen kann. So weit, so gut. Dagegen ist es erstaunlich, auf solcherlei Kommentierung bei Mitgliedern von organisierten politischen Gruppierungen zu treffen. Dies ist einer der Ausdrücke der Schwäche des proletarischen politischen Milieus, die aus dem organischen und politischen Bruch zwischen den heutigen Organisationen und jenen der vergangenen Arbeiterbewegung infolge der Konterrevolution resultierte, welche die Klasse vom Ende der 1920er Jahre bis zum Ende der 1960er Jahre in Schach gehalten hatte.

Aus diesem Grund beginnen wir, bevor wir uns mit den die Konferenz betreffenden Fragen befassen, mit einer kurzen Erinnerung an einige organisatorische Lehren der vergangenen Arbeiterbewegung, und zwar auf der Grundlage zweier der bekanntesten: der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) bzw. der I. Internationale (in der Marx und Engels Mitglieder waren) und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), aus der die bolschewistische Partei hervorging, die die Führung der einzigen proletarischen Revolution inne hatte, ehe sie infolge ihrer internationalen Isolation degenerierte. Wir werden besonders auf die beiden Kongresse dieser Organisationen schauen, auf denen Organisationsfragen im Mittelpunkt standen: den Haager Kongress der IAA von 1872 und den Kongress der

SDAPR von 1903, bei dem es zur Entstehung der bolschewistischen und menschewistischen Fraktionen gekommen ist, welche in der Revolution 1917 eine direkt entgegengesetzte Rolle spielen sollten.

Die IAA wurde im September 1864 in London auf Initiative einer Reihe von französischen und englischen Arbeiter gegründet. Sie nahm von Anfang an eine zentralisierte Struktur an, mit einem Zentralrat, der nach dem Genfer Kongress 1866 als Generalrat bekannt wurde. Marx sollte eine führende Rolle innerhalb des Rats spielen, da es an ihm lag, eine große Zahl seiner elementarsten Texte zu verfassen, wie die Inauguraladresse der IAA, ihre Statuten, und die Adresse über die Pariser Kommune. Die IAA (oder die „Internationale“, wie die Arbeiter sie nannten) wurde schnell zu einer „Macht“ in den fortgeschrittenen Ländern (vor allem in Westeuropa). Bis zur Pariser Kommune von 1871 sammelte sie eine wachsende Zahl von Arbeitern um sich und war der ausschlaggebende Faktor bei der Entwicklung der beiden wesentlichen Waffen des Proletariats: ihrer Organisation und ihres Bewusstseins. Daher wurde die Internationale zur Zielscheibe wachsender brutaler Angriffe der Bourgeoisie: Presseverleumdung, Infiltration durch Informanten, Verfolgung ihrer Mitglieder, etc. Doch die größte Gefahr drohte der IAA von den Angriffen einiger ihrer Mitglieder gegen die eigentliche Organisationsweise der Internationalen.

 Bereits zum Zeitpunkt der Gründung der IAA wurden die provisorischen Regeln von den Pariser Sektionen, die stark von Proudhons föderalistischen Auffassungen beeinflusst waren, auf eine Weise übersetzt, die den zentralisierten Charakter der Internationalen erheblich schwächte. Doch die gefährlichsten Angriffe sollten später erfolgen, mit dem Eintritt der von Bakunin gegründeten Allianz der sozialistischen Demokratie in ihre Reihen. Ersterer sollte fruchtbaren Boden innerhalb wichtiger Sektionen der Internationalen finden; eine Folge ihrer eigenen Schwächen, die umgekehrt das Resultat der Schwächen des Proletariats zu jener Zeit waren, ein Merkmal seines frühen Entwicklungsstadiums.

Diese Schwächen äußerten sich besonders in den rückständigsten Bereichen des europäischen Proletariats, wo es sich gerade von den Klassen der Bauern und Handwerker gelöst hatte. Bakunin, der der Internationalen 1868 nach dem Zusammenbruch der Liga für Frieden und Freiheit beitrat, nutzte diese Schwächen aus, um zu versuchen, die Internationale seinen anarchistischen Auffassungen zu unterwerfen und sie unter seine Kontrolle zu bringen. Das Werkzeug für diese Operation sollte die Allianz der sozialistischen Demokratie sein, die er als eine Minderheit in der Liga für Frieden und Freiheit gegründet hatte.

Letztere war eine Organisation bürgerlicher Republikaner, gegründet auf Initiative von Garibaldi und Victor Hugo, deren Hauptziel es war, mit der IAA um die Unterstützung durch die Arbeiterklasse zu buhlen. Bakunin war ein Führungsmitglied der Liga für Frieden und Freiheit, der er, wie  er behauptete, den „revolutionären Impetus“ verliehen und dazu gedrängt habe, eine Fusion mit der IAA vorzuschlagen, die von der IAA auf ihrem Brüsseler Kongress 1868 verweigert wurde. Nach dem Scheitern der Liga für Frieden und Freiheit beschloss Bakunin, der IAA beizutreten, nicht als bloßer Militanter, sondern als Teil der Führung.

“Um sich als Haupt der Internationalen zur Geltung zu bringen, musste er als Haupt einer anderen Armee dastehen, deren absolute Ergebenheit gegen seine Person ihm durch eine geheime Organisation gesichert war. Hatte er seine Gesellschaft einmal offen in die Internationale eingepflanzt, dann rechnete er darauf, jene in alle Sektionen zu verzweigen und sich hierdurch deren absolute Leitung zu verschaffen. Zu diesem Zwecke gründete er in Genf die (öffentliche) Allianz der sozialistischen Demokratie. (...) Aber diese öffentliche Allianz barg in sich eine andere, die ihrerseits durch die noch geheimere Allianz der internationalen Brüder, der Hundert-Garden des Diktators Bakunin, geleitet wurde.“[i] (Ein Bericht über die Allianz, den Marx, Engels, Lafargue und andere Militante im Auftrag des Haager Kongresses der IAA verfassten.)

Die Allianz war also eine öffentliche und eine geheime Gesellschaft, die tatsächlich dazu neigte, eine Internationale innerhalb der Internationalen zu bilden. Ihre geheime Struktur und die geheimen Absprachen, die so ihren Mitgliedern ermöglicht wurden, bezweckten, ihren „Einfluss“ über so viel Sektionen der IAA wie möglich zu sichern, besonders jener, in denen anarchistische Auffassungen auf ein großes Echo stießen. Für sich genommen, stellte die Existenz von mehreren verschiedenen Gedankenrichtungen innerhalb der IAA kein Problem dar. Die Aktivitäten der Allianz, die auf die Ersetzung der offiziellen Strukturen der IAA abzielten, waren dagegen ein ernsthafter Faktor der Desorganisation und bedrohten die eigentliche Existenz Letzterer. Die Allianz versuchte zuerst auf dem Basler Kongress im September 1869, die Kontrolle über die Internationale zu übernehmen, indem sie versuchte, einen Antrag zugunsten der Abschaffung des Erbrechts gegen den vom Generalrat vorgeschlagenen Antrag durchzusetzen. Dieses Ziel vor Augen, unterstützten ihre Mitglieder, insbesondere Bakunin und James Guillaume, wärmstens eine administrative Resolution, die die Macht des Generalrats stärken sollte. Nachdem sie mit ihrem eigenen Anliegen gescheitert war, begann die Allianz (die selbst Geheimstatuten verabschiedet hatte, die auf einer extremen Zentralisierung beruhten) jedoch eine Kampagne gegen die „Diktatur“ des Generalrats, um damit zu erreichen, ihn auf die Rolle eines „Statistik- und Verbindungsbüros“, um den Begriff der Allianz zu benutzen, oder eines bloßen „Briefkastens“, wie Marx ihr entgegnete, zu reduzieren. Entgegen dem Prinzip der Zentralisierung als einem Ausdruck der internationalen Einheit des Proletariats predigte die Allianz den „Föderalismus“, die vollständige „Autonomie der Sektionen“ und die Unverbindlichkeit von Kongressbeschlüssen. In der Tat wollte die Allianz in den Sektionen, die unter ihre Kontrolle geraten waren, tun, was sie wollte. Der Weg zur vollständigen Desorganisation der IAA wäre offen gewesen.

Dies war die Gefahr, der sich der Haager Kongress von 1872 gegenübersah. Dieser Kongress war im Wesentlichen den Organisationsfragen gewidmet. Wie wir in der Internationalen Revue Nr. 19 geschrieben haben, „wurde es nach dem Fall der Pariser Kommune zur absoluten Priorität für die Arbeiterbewegung, den Ballast ihrer eigenen sektiererischen Vergangenheit abzuschütteln, den Einfluss des kleinbürgerlichen Sozialismus zu überwinden. Dieser politische Rahmen erklärte die Tatsache, dass die zentrale Frage, die auf dem Haager Kongress behandelt wurde, nicht die Pariser Kommune selbst war, sondern die Verteidigung der Statuten der Internationalen gegen die Komplotte Bakunins und seiner Anhänger.“ (Der Haager Kongress von 1872: Der Kampf gegen den politischen Parasitismus, MEW 18)

Nach der Bestätigung der Beschlüsse der Londoner Konferenz, die ein Jahr zuvor abgehalten worden war, insbesondere derjenigen, die die Notwendigkeit für die Arbeiterklasse betreffen, ihre eigene politische Partei zu schaffen, und jener über die Stärkung der Autorität des Generalrats, debattierte der Kongress auf der Grundlage eines Berichts einer Untersuchungskommission die Frage der Allianz und beschloss letztendlich den Ausschluss von Bakunin und James Guillaume, der Führer der Jura-Föderation der IAA, die völlig unter der Kontrolle der Allianz  stand. Es lohnt sich, gewisse Aspekte im Verhalten von Mitgliedern der Allianz am Vorabend des Kongresses zu beleuchten:

–             Mehrere von der Allianz kontrollierte Sektionen (insbesondere die Jura-Föderation sowie bestimmte Sektionen in Spanien und in den Vereinigten Staaten) weigerten sich, ihren Beitrag an den Generalrat zu zahlen, und ihre Delegierten beglichen ihre Schulden (der ausstehenden Beiträge) erst, als sie die Gültigkeit ihres Mandats gefährdet sahen.

–             Die Delegierten der von der Allianz kontrollierten Sektionen erpressten den Kongress regelrecht, forderten, dass er seine eigenen Regeln verletze, indem er allein die auf einem imperativen Mandat beruhenden Stimmen berücksichtige, und drohten mit ihrem Rückzug, falls der Kongress nicht ihren Forderungen entspreche.[ii]

–             Bestimmte Mitglieder der Allianz weigerten sich, mit der vom Kongress ernannten Untersuchungskommission zu kooperieren oder sie überhaupt anzuerkennen, indem sie diese der „Heiligen Inquisition“ beschuldigten.[iii]

Dieser Kongress war ein Höhepunkt im Leben der IAA (es war der einzige Kongress, an dem Marx und Engels teilnahmen, was erahnen lässt, wie wichtig sie ihn nahmen), aber auch ihr Schwanengesang auf die vernichtende Niederlage der Pariser Kommune und die Demoralisierung, die diese innerhalb des Proletariats ausgelöst hatte. Marx und Engels waren sich dieser Realität bewusst. Daher schlugen sie neben den Maßnahmen, um die IAA vor den Händen der Allianz fernzuhalten, auch vor, dass der Generalrat nach New York umzieht, weit entfernt von den Konflikten, die die Internationale spalteten. Es war zugleich ein Mittel, um der Internationalen zu erlauben, einen natürlichen Tod zu sterben (der auf der Konferenz von Philadelphia 1876 bestätigt wurde), ohne dass ihr Prestige von den bakunistischen Intriganten gefleddert wurde.

Sie und die Anarchisten haben (wenn sie nicht gerade den Konflikt zwischen Marx und Bakunin als persönliche Frage erklärten) die Legende fortleben lassen, dass Marx und der Generalrat Bakunin und Guillaume wegen ihrer unterschiedlichen Vision in der Frage des Staates ausgeschlossen hätten. Kurz, Marx wurde unterstellt, Meinungsverschiedenheiten über allgemeine, theoretische Fragen mit administrativen Mitteln regeln zu wollen. Nichts liegt der Wahrheit ferner.

Der Haager Kongress ergriff keine Maßnahmen gegen die Mitglieder der spanischen Delegation, die Bakunins Ideen teilten und der Allianz angehörten, aber erklärten, dass dies nicht mehr der Fall sei. Auch bestand die „Antiautoritäre IAA“, die nach dem Haager Kongress von den Föderationen gegründet wurde, welche sich weigerten, seine Beschlüsse zu akzeptieren, nicht allein aus Anarchisten, da sie auch die deutschen Lassalleaner umfasste, die eifrige Vertreter des „Staatssozialismus“ waren, um in den Worten von Marx zu sprechen. In der Tat fand der wahre Kampf innerhalb der IAA zwischen denjenigen, die für die Einheit der Arbeiterbewegung (und damit für den bindenden Charakter der Kongressbeschlüsse) standen, und denjenigen statt, die das Recht forderten zu tun, was immer sie wollten, jeder isoliert von den anderen, mit einem Kongress als Versammlung, auf der jeder seine „Ansichten“ mit den Anderen austauschen kann, ohne einen Beschluss zu fassen. Mit dieser informellen Organisationsart wäre es der Allianz leicht gefallen, insgeheim eine wirkliche Zentralisierung der Föderationen durchzuführen, wie Bakunins Korrespondenz ausdrücklich feststellt. Diese „antiautoritären“ Auffassungen in der Internationalen wirken zu lassen wäre der beste Weg gewesen, sie den Intrigen, der versteckten und unkontrollierten Macht der Allianz, mit anderen Worten: den Abenteurern, die sie anführten, auszuliefern.

Der 2. Kongress der SDAPR war Anlass einer ähnlichen Konfrontation zwischen den Vertretern einer proletarischen Auffassung der revolutionären Organisation und jenen einer kleinbürgerlichen Auffassung.

Es gibt Ähnlichkeiten zwischen der Situation der westeuropäischen Arbeiterbewegung zur Zeit der IAA und der Bewegung in Russland zur Jahrhundertwende. In beiden Fällen befand sich die Arbeiterbewegung immer noch im jugendlichen Stadium, wobei der Zeitunterschied zwischen beiden der verspäteten industriellen Entwicklung Russlands entsprach. Die Absicht der IAA war es, die verschiedenen Arbeitervereinigungen, die die Entwicklung des Proletariats geschaffen hatte, in einer vereinten Organisation zu sammeln. Ähnlich war es das Ziel des 2. Kongresses der SDAPR, die verschiedenen Komitees, Gruppen und Zirkel der Sozialdemokratie, welche sich in Russland und im Exil entwickelt hatten, zu vereinen. Nach dem Verschwinden des Zentralkomitees, das auf dem 1. Kongress der SDAPR 1897 gebildet worden war, gab es fast keine formellen Verbindungen mehr zwischen diesen verschiedenen Formationen. Der 2. Kongress sah sich somit wie die IAA einer Konfrontation zwischen der Auffassung einer die Vergangenheit der Bewegung repräsentierenden Organisation, jener der „Menschewiki“ („Minderheit“), und einer Auffassung gegenüber, die die Erfordernisse der neuen Situation ausdrückte, jene der „Bolschewiki“ („Mehrheit“).

Die menschewistische Vorgehensweise war, wie später deutlich wurde (sehr schnell in der Revolution von 1905 und natürlich noch mehr während der Revolution von 1917, als die Menschewiki auf der Seite der Bourgeoisie standen), von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologien durchdrungen, insbesondere von der anarchistischen Vielfalt innerhalb der russischen Sozialdemokratie. Insbesondere bestand, wie Lenin bemerkte, „die Opposition [d.h. die Menschewiki] in ihrer Mehrheit aus den intellektuellen Elementen der Partei“, die somit zu Trägern kleinbürgerlicher Auffassungen in der Organisationsfrage wurden. Diese Elemente erhoben infolgedessen „das Banner der Rebellion gegen die unabdingbaren Einschränkungen durch die Organisation, und sie errichteten ihren spontanen Anarchismus zum Kampfprinzip, indem sie mehr ‚Toleranz‘ forderten, etc.“ (Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, LW Bd. 7, S. 197ff) Und in der Tat gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen dem Verhalten der Menschewiki und jenem der Anarchisten in der IAA (Lenin sprach bei mehreren Gelegenheiten vom menschewistischen „Edelanarchismus“).

Wie die Anarchisten nach dem Haager Kongress, so weigerten sich die Menschewiki, die Beschlüsse des 2. Kongresses der SDAPR anzuerkennen und anzuwenden, indem sie erklärten, dass „der Kongress nicht göttlich ist“ und dass „seine Beschlüsse nicht heilig sind“. Insbesondere war – genauso wie bei den Anarchisten, die zum Krieg gegen das Prinzip der Zentralisierung und gegen die „Diktatur des Generalrats“ übergingen, als sie daran gescheitert waren, die Kontrolle über ihn zu erlangen - ein Grund, warum die Menschewiki begannen, nach dem Kongress die Zentralisierung abzulehnen, die Tatsache, dass einige von ihnen aus den vom Kongress gewählten Zentralorganen herausgewählt wurden. Es gibt sogar Ähnlichkeiten in der Art und Weise, wie die Menschewiki ihre Kampagne gegen Lenins „persönliche Diktatur“ und „eiserne Faust“ führten; sie war ein Widerhall auf Bakunins Beschuldigungen gegen die „Diktatur“ Marx‘ über den Generalrat.

„Betrachte ich das Verhalten der Martow-

leute nach dem Parteitag, (...) so kann ich nur sagen, dass das ein irrsinniger, eines Parteimitglieds unwürdiger Versuch ist, die Partei zu sprengen ... und weshalb? Nur weil man unzufrieden ist mit der Zusammensetzung der Zentralstellen, denn objektiv war das die einzige Frage, in der wir uns trennten, die subjektiven Urteile aber (wie Kränkung, Beleidigung, Hinauswurf, Beseitigung, Verunglimpfung etc. etc.) sind die Frucht gekränkter Eigenliebe und krankhafter Phantasie. Diese krankhafte Phantasie und diese gekränkte Eigenliebe führen geradewegs zu schändlichen Klatschereien, nämlich dazu, dass man, ohne die Tätigkeit der neuen Zentralstellen kennengelernt und ohne sie gesehen zu haben, Gerüchte verbreitet über ihre ‚Arbeitsunfähigkeit‘, über die ‚eiserne Hand‘ eines Iwan Iwanowitsch, die ‚Faust‘ eines Iwan Nikiforowitsch usw. (...) Die russische Sozialdemokratie muss den letzten schwierigen Übergang vollziehen vom Zirkelwesen zum Parteiprinzip, vom Spießertum zur Erkenntnis der revolutionären Pflicht, vom Handeln auf Grund von Klatschereien und Zirkeleinflüssen zur Disziplin.“ (Lenin, Schilderung des II. Parteitags der SDAPR, LW Bd. 7, S. 20)

Es ist bemerkenswert, dass die Waffe der Erpressung, die damals von Guillaume und der Allianz benutzt worden war, auch Teil des menschewistischen Arsenals war. Martow, einer der Führer der Menschewiki, weigerte sich, am Redaktionskomitee der Parteipublikation Iskra teilzunehmen, in das er durch den Kongress gewählt worden war, weil seine Freunde Axelrod, Potressow und Sassulitsch nicht ernannt worden waren.

Aus den Beispielen der IAA und des 2. Kongresses der SDAPR können wir die Bedeutung der Fragen ersehen, die mit der Organisationsweise revolutionärer Formationen zusammenhängen. In der Tat waren dies die Fragen, die die erste Scheidung zwischen der proletarischen Strömung einerseits und bürgerlichen sowie kleinbürgerlichen Strömungen andererseits bewirkten. Diese Bedeutung ist kein Zufall. Sie entspringt exakt der Tatsache, dass einer der Hauptkanäle für die Infiltration von dem Proletariat fremden Ideologien – bürgerlich oder kleinbürgerlich – sich just in ihrer Funktionsweise befindet.

Marxisten haben der Organisationsfrage stets die höchste Aufmerksamkeit geschenkt. Innerhalb der IAA übernahmen Marx und Engels die Führung im Kampf für die Verteidigung proletarischer Prinzipien. Und es war kein Zufall, dass sie eine entscheidende Rolle beim Beschluss des Haager Kongresses spielten, den größten Teil seiner Arbeit der Organisationsfrage zu widmen und dagegen zwei der wichtigsten Ereignisse dieser Periode, mit denen die Arbeiterklasse damals konfrontiert wurde, weitaus weniger Aufmerksamkeit zu schenken: der deutsch-französische Krieg und die Pariser Kommune. Diese Priorität hat die meisten bürgerlichen Historiker dazu verleitet, diesen Kongress als weniger wichtig in der Geschichte der IAA zu betrachten, wohingegen er in Wahrheit der wichtigste war, da er es der späteren 2. Internationalen ermöglichte, neue Fortschritte in der Entwicklung der Arbeiterbewegung zu erzielen.

Auch innerhalb der 2.Internationalen wurde Lenins Beschäftigung mit der Organisationsfrage als „Obsession“ betrachtet. Die Streits, die die russische Sozialdemokratie vom Zaun brach, waren für die anderen sozialistischen Parteien unverständlich, und Lenin wurde als ein „Sektierer“ betrachtet, der nichts anderes als Spaltungen im Kopf habe. Tatsächlich war Lenin stark vom Kampf von Marx und Engels gegen die Allianz inspiriert. Die Gültigkeit dieser Auseinandersetzung sollte durch die Fähigkeit seiner Partei brillant demonstriert werden, die Führung in der Revolution von 1917 zu übernehmen.

Was die IKS angeht, so ist sie der Tradition von Marx und Lenin gefolgt, indem sie den Organisationsfragen die größte Aufmerksamkeit gewidmet hat. Im Januar 1982 widmete die IKS diesen Fragen infolge der Krise von 1981 eine Außerordentliche Konferenz.[iv] Schließlich führte unsere Organisation zwischen 1993 und 1996 eine grundsätzliche Auseinandersetzung, um ihre organisatorischen Belange zu stärken, gegen den „Zirkelgeist“ und für den „Partei-

geist“, wie Lenin sie 1903 definierte. Unsere Internationale Revue Nr. 16 liefert Rechenschaft über den 11. Kongress der IKS, der im Wesentlichen den Organisationsfragen gewidmet war, denen wir damals gegenüberstanden.[v] Wir verfolgten dies weiter durch eine Reihe von Artikeln über Organisationsfragen, die den Kämpfen innerhalb der IAA gewidmet waren (Internationale Revue, Nr. 17-20), und in Form von zwei Artikeln mit dem Titel „Sind wir ‚Leninisten‘ geworden?“ (Internationale Revue, Nr. 23-24) über den Kampf Lenins und der Bolschewiki in der Organisationsfrage. Und endlich publizieren wir in der vorliegenden Ausgabe große Auszüge aus einem internen Dokument über die Frage der Funktionsweise innerhalb der IKS, der als Orientierungstext für den Kampf von 1993–96 diente.

Ein transparentes Verhalten im Angesicht der Schwierigkeiten, auf die unsere Organisation stößt, hat nichts mit irgendeinem „Exhibitionismus“ unsererseits zu tun. Die Erfahrung kommunistischer Organisation ist ein integraler Bestandteil der Erfahrungen der Arbeiterklasse. Daher widmete Lenin dem 2. Kongress der

SDAPR ein ganzes Buch – Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Indem sie Rechenschaft über ihr Organisationsleben ablegt, tut die IKS nichts anderes, als ihre Verantwortung im Angesicht der Arbeiterklasse zu erfüllen.

Wenn eine revolutionäre Organisation ihre Probleme und internen Diskussionen veröffentlicht, ist dies natürlich ein gefundenes Fressen für all ihre Feinde, die darauf lauern, sie zu verunglimpfen. Dies ist auch und besonders bei der IKS der Fall. Wie wir auf unserem 11. Kongress gesagt haben: „Natürlich werden wir kein Lob in der bürgerlichen Presse ernten aufgrund der Schwierigkeiten, mit denen unsere Organisation jetzt kämpft. Die IKS ist noch zu klein – sowohl was Größe und Einfluss innerhalb der Arbeiterklasse angeht, so dass die Bourgeoisie noch kein Interesse daran hat, von uns zu sprechen und uns diskreditieren will. Die Bourgeoisie zieht es vor, eine Mauer des Schweigens aufzubauen um unsere Positionen und die Existenz revolutionärer Organisationen überhaupt. Deshalb sind die Verleumdung und die Sabotage unserer Intervention das Steckenpferd einer ganzen Reihe von Gruppen und parasitären Elementen, deren Funktion darin besteht, diejenigen abzuschrecken, die sich auf Klassenpositionen zubewegen, damit in ihnen das Gefühl der Abscheu gegenüber der Mitarbeit an der Entwicklung des proletarischen Milieus entsteht.

(...) Innerhalb der parasitären Bewegung gibt es heute voll entwickelte Gruppen wie die ‚Groupe Communiste Internationliste‘ (GCI) und ihre Abspaltung (wie ‚Gegen den Strom‘), die jetzt aufgelöste ‚Communist Bulletin Group‘ (CBG) aus Großbritannien und die Abspaltung der ehemaligen ‚Externen Fraktion der IKS‘, die alle aus Abspaltungen von der IKS hervorgingen. Aber das Parasitentum ist nicht auf solche Gruppen beschränkt. Es wird auch von unorganisierten Elementen getragen, die sich von Zeit zu Zeit zu Diskussionen treffen und deren Hauptsorge darin besteht, alles mögliche Gerede über unsere Organisation in Umlauf zu bringen.[vi] Zu diesen Leuten gehören oft ehemalige Mitglieder der IKS, die sich dem Druck der kleinbürgerlichen Ideologie ergeben und sich als unfähig erwiesen haben, ihr Engagement in der Organisation aufrechtzuerhalten, oder die darüber frustriert sind, dass die Organisation ihnen nicht die ‚Anerkennung‘ liefert, die sie meinten zu ‚verdienen‘. Oder sie hielten es nicht aus, sich der Kritik der Organisation zu stellen (...) Offensichtlich sind diese Leute völlig unfähig, irgendetwas Konstruktives aufzubauen. Dagegen sind sie sehr wirksam, wenn es darum geht, ihr Gerede zu verbreiten und das mit Schmutz zu besudeln, das zu zerstören und zu diskreditieren, was die Organisation dabei ist aufzubauen.“ (Internationale Revue Nr. 16, deutsche Ausgabe)

Dennoch wird das Gewese der Parasiten die IKS nicht daran hindern, dem gesamten proletarischen Milieu die Lehren seiner eigenen Erfahrung preiszugeben. Im Vorwort zu Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, 1904, schrieb Lenin: „Sie (die Feinde, die Red.) feixen und sind schadenfroh über unsere Streitigkeiten; sie werden sich natürlich bemühen, einzelne Stellen aus meiner Broschüre, die den Mängeln und Unzulänglichkeiten unserer Partei gewidmet sind, für ihre Zwecke aus dem Zusammenhang zu reißen. Die russischen Sozialdemokraten haben bereits genügend im Kugelregen der Schlachten gestanden, um sich durch diese Nadelstiche nicht beirren zu lassen, um dessenungeachtet ihre Arbeit der Selbstkritik und rücksichtslosen Enthüllung der eigenen Mängel fortzusetzen, die durch das Wachstum der Arbeiterbewegung unbedingt und unvermeidlich ihre Überwindung finden werden. Die Herren Gegner aber mögen versuchen, uns ein Bild der wahren Sachlage in ihren ‚Parteien‘ zu zeigen, das auch nur im entferntesten dem Bild ähnelt, das die Protokolle unseres zweiten Parteitags bieten.“

Wir haben vor, dieselbe Vorgehensweise zu verfolgen, indem wir Rechenschaft über die Probleme der Funktionsweise ablegen, die im Mittelpunkt der Arbeit der Konferenz standen.

Die Ursprünge der jüngsten organisatorischen Schwierigkeiten der IKS

Der 11. Kongress der IKS nahm eine Resolution über ihre Aktivitäten an, die die Hauptlehren aus der 1993 durchlittenen Krise unserer Organisation und aus dem Kampf für ihre Genesung gezogen hatte. Wir veröffentlichten lange Auszüge in der Internationalen Revue Nr. 16, und wir zitieren sie hier erneut, da sie ein Licht auf unsere jüngsten Schwierigkeiten werfen.

„Der Rahmen für das Begreifen des Ursprungs der Schwächen ist eingebettet in den vom Marxismus geführten historischen Kampf gegen den Einfluss der kleinbürgerlichen Ideologie, der in den Organisationen des Proletariats zu spüren ist (...) Insbesondere ging es darum, dass die Organisation in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten genau wie die Bolschewiki von 1903 an den Kampf gegen den Zirkelgeist und für den Aufbau des Parteigeistes stellt (...) Deshalb war die Feststellung des Vorhandenseins eines starken Zirkelgeistes in unserer Anfangsphase ein Teil unserer allgemeinen Analyse, die wir seit langem erarbeitet hatten und die die Wurzeln unserer Schwächen auf den organischen Bruch der kommunistischen Organisationen zurückführte, welcher durch die Konterrevolution seit dem Ende der 20er Jahre entstanden war. Diese Feststellung erlaubte uns jedoch, einen Schritt weiterzugehen als die früheren Ergebnisse und tiefer an die Wurzeln unserer Schwächen heranzukommen. Dadurch haben wir besser das Phänomen verstanden, dass wir früher schon aufgedeckt, aber unzureichend angepackt hatten, nämlich die Bildung von Clans innerhalb der Organisation. Diese Clans waren tatsächlich das Ergebnis des grassierenden Zirkelgeistes, der sich länger am Leben hielt als die Phase, in der die Zirkel eine unvermeidbare Etappe bei der Neugründung der kommunistischen Avantgarde gewesen waren.“

In der Frage der Clans erwähnte unser Artikel über den 11. Kongress folgenden Punkt: „Diese Analyse stützte sich auf die Erfahrung der Arbeiterbewegung (z.B. die Haltung der alten Redakteure der Iskra, auf die Gruppe um Martow, welcher aus Unzufriedenheit mit den Entscheidungen des 2. Kongresses der SDAPR die menschewistische Fraktion gebildet hatte), aber auch auf Erfahrungen in der IKS. Wir können hier nicht in Einzelheiten gehen, aber hervorheben, dass die ‚Tendenzen‘ , die es in der IKS gegeben hat (...) viel eher auf eine jeweilige Clandynamik zurückzuführen waren als auf eine wirkliche Tendenz, die sich auf eine alternative positive Orientierung stützten. Die Haupttriebkraft dieser ‚Tendenzen‘ wurden nicht aufgrund von Divergenzen ihrer Mitglieder mit den Orientierungen der Organisation gebildet (...), sondern eher durch einen Zusammenschluss der Unzufriedenen und der Frustrierten mit den Zentralorganen und die persönliche Gefolgschaft gegenüber den Elementen, die sich als ‚Verfolgte‘ oder als unzureichend ‚anerkannt‘ ansahen.“

Dieser Artikel unterstrich, dass die gesamte IKS (einschließlich jener Militanter, die besonders stark darin verwickelt waren) erkannte, dass sie es mit einem Clan zu tun hatte, der sich einer besonders wichtigen Position in der Organisation bemächtigt hatte und der, obwohl er nicht einfach ein organisches Produkt der Schwächen der IKS war, „eine Vielzahl der gefährlichen Merkmale in sich konzentrierte und bündelte, mit denen die Organisation zu kämpfen hatte und deren gemeinsamer Nenner der Anarchismus war“ (Aktivitätenresolution des 11. IKS-Kongresses, Punkt 5). Die Resolution fuhr fort: „... haben wir nach Begreifen des Phänomens der Clans eine Reihe von schlechten Funktionsweisen aufdecken können, unter denen die meisten territorialen Sektionen litten“ (ebenda).

Sie zog eine Bilanz unserer Organisationsarbeit: „... der Kongress stellt den globalen Erfolg des von der IKS im Herbst 1993 begonnenen Kampfes fest (...) Die manchmal spektakuläre Genesung der von den organisatorischen Schwierigkeiten seit 1993 betroffenen Sektionen (...), die von zahlreichen Teilen der IKS eingebrachten Vertiefungen (...), all diese Tatsachen bestätigen die uneingeschränkte Gültigkeit des begonnenen Kampfes, seiner Methode, seiner theoretischen Grundlagen wie auch seiner konkreten Aspekte.“

Jedoch warnte die Resolution ebenfalls vor jeglicher Art von Triumphalismus: „Das heißt nicht, dass der von uns geführte Kampf aufhören müsse (...) Die IKS muss ihn jederzeit mit der größten Wachsamkeit fortsetzen, mit der Entschlossenheit, jede Schwäche aufzudecken und sie ohne zu zögern anzupacken (...) Tatsächlich zeigt uns die Geschichte der Arbeiterbewegung und auch der IKS, wie die jetzt abgeschlossene Debatte einleuchtend verdeutlicht hat, dass der Kampf für die Verteidigung der Organisation ein ständiger, pausenloser Kampf ist. Insbesondere muss sich die IKS vor Augen halten, dass der von den Bolschewiki geführte Kampf gegen den Zirkelgeist für die Einführung des Parteigeistes Jahre gedauert hat. Das gleiche trifft für unsere Organisation zu, die jede Demoralisierung überwinden und jedem Gefühl der Hilflosigkeit infolge der Dauer des Kampfes entgegentreten muss.“ (ebenda, Pkt. 13)

Und gerade die jüngste Konferenz der IKS hob hervor, dass eine der Hauptursachen unserer organisatorischer Probleme während des letzten Jahrzehnts ein Nachlassen unserer Wachsamkeit angesichts des Wiederauftauchens der Schwierigkeiten und Schwächen war, die die Organisation bereits in der Vergangenheit betroffen hatten. In Wirklichkeit verlor der größere Teil der Organisation die Warnung aus dem Blick, die als Schlussfolgerung in die Resolution des 11. Kongresses aufgenommen worden war. Sie hatte deshalb die größten Schwierigkeiten bei der Identifizierung des wiederauflebenden Clanwesens innerhalb der Pariser Sektion und innerhalb des Internationalen Sekretariats (IS)[vii]; mit anderen Worten: in den beiden Teilen der Organisation, die bereits 1993 am stärksten von dieser Krankheit betroffen waren.

Die Entwicklung der Krise inmitten der IKS und die Bildung der „internen Fraktion“

Das Abgleiten in das Clanwesen vollzog sich im März 2000, als das IS ein Dokument über Fragen der Funktionsweise verabschiedete, das von einer kleinen Zahl von Genossen kritisiert wurde. Während sie die allgemeine Gültigkeit der meisten Gedanken im Text guthießen, besonders über die Notwendigkeit eines größeren Vertrauens unter den verschiedenen Teilen der Organisation, meinten sie, dass das Dokument gewisse Zugeständnisse an demokratistische Illusionen mache und dazu neige, unsere Auffassung über die Zentralisierung in Frage zu stellen. Alles in allem, meinten sie, verleite das Dokument zur Idee, dass „mehr Vertrauen weniger Zentralisierung“ bedeute. Es war nie ein Problem für die IKS gewesen, dass einige Teile der Organisation einen vom Zentralorgan verabschiedeten Text kritisieren. Im Gegenteil, die IKS und ihre Zentralorgane haben stets darauf bestanden, dass jede Meinungsverschiedenheit oder jeder Zweifel offen innerhalb der Organisation ausgedrückt wird, um größtmögliche Klarheit zu erzielen. Das Verhalten des Zentralorgans gegenüber Meinungsverschiedenheiten bestand stets darin, ihnen so ernsthaft wie möglich zu antworten. Doch im Frühjahr 2000 nahm die Mehrheit des IS eine völlig andere Haltung an, als es in der Vergangenheit der Fall gewesen war. Für diese Mehrheit konnte die Tatsache, dass eine kleine Minderheit von Genossen einen Text des IS kritisiert, nur aus einem Geist der Opposition um der Opposition willen oder aus der Tatsache herrühren, dass einer von ihnen von familiären Problemen betroffen sei oder ein anderer an Depressionen leide. Ein Argument, dass von IS-Mitgliedern benutzt wurde, lautete, dass der Text von einem besonderen Militanten verfasst worden sei und eine andere Aufnahme gefunden hätte, wäre dies das Werk eines anderen Genossen gewesen. Die Antwort auf die Argumente jener Genossen, die anderer Auffassung waren, bestand also nicht darin, Gegenargumente zu suchen, sondern darin, die Genossen zu verunglimpfen oder gar zu versuchen, die Veröffentlichung ihrer Texte mit der Begründung zu verhindern, dass sie „Scheiße in der Organisation verbreiten“ würden, oder dass eine der GenossInnen, die unter dem Druck, der ihr gegenüber ausgeübt wurde, litt, die Antworten, die die anderen Genossen der IKS ihren Texten erteilen würden, nicht „aushalte“. Kurz, das IS betrieb eine völlig heuchlerische Politik, um im Namen der Solidarität die Debatte zu ersticken.

Dieses politische Verhalten, dass den bis dahin geltenden Methoden der IKS völlig fremd ist, erlebte plötzlich eine weitere Degeneration, als ein Mitglied des IS seinerseits begann, einigen der Kritiken beizupflichten, die an dem von der Kommission im März 2000 angenommenen Dokument geübt worden waren. Nachdem er bis dahin von Verleumdungen verhältnismäßig unbehelligt geblieben war, wurde dieser Genosse nun selbst zur Zielscheibe einer Kampagne, die darauf abzielte, ihn zu diskreditieren: Wenn er die eine oder andere Position eingenommen habe, so sei dies deshalb geschehen, weil er „von jemandem manipuliert sei, der ihm nahesteht“. Gleichzeitig bestand die Haltung des IS darin, die Diskussionen über die Frage so weit wie möglich auf Banalitäten zu reduzieren, indem erklärt wurde, dies sei keine „Jahrhundertdebatte“. Und als nachdrücklichere und kritischere Beiträge aufzutauchen begannen, versuchte die Mehrheit des IS, sämtliche Zentralorgane der IKS dahin zu drängen, die Debatte für beendet zu erklären. Das Internationale Büro weigerte sich, dem IS zu folgen. Es beschloss zugleich gegen den Willen der Mehrheit des IS, eine Informationsdelegation zu bilden, die – zum größten Teil aus Mitgliedern zusammengesetzt, die nicht dem IS angehörten – es damit beauftragte, die Probleme der Arbeitsweise zu untersuchen, die in und um das IS herum entstanden waren.

Diese Beschlüsse bewirkten eine weitere „Radikalisierung“ unter der Mehrheit der IS-Mitglieder. Diese erhoben gegenüber der Informationsdelegation alle möglichen Beschuldigungen gegen die andersdenkenden Genossen, hoben alle möglichen besonders ernsthaften „organisatorischen Versagen“ hervor, „warnten“ die Delegation vor dem „dubiosen“ oder „unwürdigen“ Verhalten eines dieser Militanten. Kurz, jene Mitglieder des IS, die die Bildung der Delegation zunächst als Zeitverschwendung angesehen hatten, informierten diese nun über einen schlauen und zerstörerischen Angriff gegen die IKS, was sie eigentlich dazu hätte veranlassen müssen, als erste die Schaffung einer solchen Delegation zu fordern, um eine Untersuchung über diese Militanten einzuleiten. Ein Mitglied des IS – Jonas – sträubte sich nicht nur dagegen, vor der Delegation zu erscheinen, sondern weigerte sich auch von Anfang an, sie überhaupt anzuerkennen.[viii] Gleichzeitig begann er hinter den Kulissen den Gedanken zu verbreiten, dass einer der andersdenkenden Militanten ein staatlicher Agent sei, der die Leute um ihn herum in der Absicht manipuliere, „die IKS zu zerstören“. Andere IS-Mitglieder versuchten anfang Mai 2001, unmittelbar vor dem 14. Kongress der IKS, auf entschiedene Weise, die Informationsdelegation einzuschüchtern mit dem Ziel, dass diese darauf verzichte, dem Kongress einen „vorläufigen Bericht“ vorzulegen, der einen Rahmen für das Verständnis der Probleme, die des IS und der Pariser Sektion betrefen, geliefert hätte.[ix] Am Morgen des Kongresses, kurz vor seinem Beginn, versuchte die Mehrheit des IS ein letztes Manöver: Sie forderte, dass sich das Internationale Büro trifft, um eine Resolution zu verabschieden, die die Arbeit der Informationsdelegation desavouieren sollte. Letztere war da bereits von der Existenz einer Clandynamik innerhalb des IS überzeugt, und zwar weitaus mehr aufgrund des Verhaltens der Mehrheit der IS-Mitglieder als durch das Zeugnis der Genossen, die die Politik des IS kritisiert hatten. Auch die Mehrheit des IB war im Wesentlichen durch die Haltung der IS-Mitglieder auf diesem letzten Treffen vor dem Kongress von der Existenz derselben Dynamik überzeugt worden. Zu diesem Zeitpunkt rechnete das IB aber noch mit der Fähigkeit dieser Militanter, zu Sinnen zu kommen, wie dies bereits für eine wesentliche Anzahl von Militanten der Fall gewesen war, die 1993 von dieser Clandynamik erfasst worden waren. Daher schlug das IB vor, dass alle Militanten, die dem alten IS angehört hatten, wieder in das Zentralorgan gewählt werden sollten. Gleichzeitig schlug es vor, dass die alte Informationsdelegation durch die Einbeziehung anderer Genossen gestärkt und in eine Untersuchungskommission umgewandelt werden sollte. Schließlich schlug es dem Kongress vor, dass dieser sich noch nicht mit den der IS vorauseilenden Schlussfolgerungen befasst, und bat ihn, der neuen Untersuchungskommission sein Vertrauen auszusprechen. Der Kongress ratifizierte einmütig diese Vorschläge.

Zwei Tage nach dem Kongress verletzte ein Mitglied des alten IS die Beschlüsse des Kongresses, indem es in der Pariser Sektion die Information preisgab, wonach das IB mit der Zustimmung des Kongresses beschlossen hatte, sich zurückzuhalten, bis es sich in Gänze und in einem geeigneten Rahmen damit befassen könne. Absicht dieses Mitglieds war es, die Pariser Sektion gegen den Rest der IKS und gegen das Internationale Büro zu stellen. Die anderen Mitglieder der alten IS-Mehrheit unterstützen ihn und weigerten sich, diese offene Verletzung der Organisationsstatuten zu verurteilen.

In Anbetracht der Tatsache, dass der Kongress das souveräne Organ der Organisation ist, ist die bewusste Verletzung seiner Beschlüsse (wie bei den Menschewiki 1903) ein besonders schweres Vergehen. Damals wurde der Militante jedoch nicht mit Sanktionen belegt, abgesehen von einer verbalen Verurteilung seiner Handlung: Die Organisation rechnete auch weiterhin mit der Fähigkeit der Clanmitglieder, sich selbst in den Griff zu bekommen. Tatsächlich war diese Verletzung der Statuten aber nur der erste einer langen Kette von Verstößen durch Mitglieder des alten IS oder jene, die sie überzeugten, ihnen in ihrem offenen Krieg gegen die Organisation zu folgen. Wir haben nicht den Platz, all diese Verstöße hier detailliert aufzulisten und werden uns auf einige charakteristische Beispiele beschränken, für die die Mitglieder der jetzigen „internen Fraktion“ in unterschiedlichem Ausmaß verantwortlich sind:

–          der Gebrauch und die Publizierung der Protokolle der Zentralorgane ohne deren Zustimmung;

–          Verleumdungskampagnen gegen Mitglieder der Informationskommission, die beschuldigt wurden, „Lügner“ und „Torquemadas“ (nach einem Führer der spanischen Inquisition, was an Alerinis Beschimpfung der Untersuchungskommission des Haager Kongresses als „Heilige Inquisition“ erinnert) zu sein;

–          systematische und verleumderische Kampagnen hinter den Kulissen gegen ein Mitglied der Organisation, das ohne den Schatten eines Beweises beschuldigt wurde, ein Abenteurer, ja, ein staatlicher Agent zu sein (die letztgenannte Beschuldigung wurde ausdrücklich von Jonas und einem anderen Mitglied der jetzigen „Fraktion“ genannt, aber auch von anderen, ihnen nahestehenden Militanten suggeriert), mit dem Zweck, andere zu manipulieren, um die IKS zu zerstören;

–          ein geheimer Briefwechsel von Mitgliedern des Zentralorgans der IKS mit Militanten in anderen Ländern, um gegen diejenigen Verleumdungen zu verbreiten, die sie nun als „liquidatorische Fraktion“ bezeichnen, und um die Angeschriebenen gegen das Internationale Büro aufzubringen (mit anderen Worten: dieselbe Politik, die Bakunin betrieb, um für seine „Allianz“ zu werben);

–          das Abhalten geheimer Treffen im August und September 2001, deren Zweck es war, nicht politische Analysen auszuarbeiten, sondern ein Komplott gegen die IKS auszuhecken. Als die an diesem Treffen beteiligten Militanten die Bildung eines „Arbeitskollektivs“ ankündigten, erklärten sie unter anderem, dass „wir keine Geheimtreffen abhalten“.

Nur durch Zufall und infolge der Ungeschicklichkeit eines dieser Bruderschaftsmitglieder kam das Protokoll eines dieser Geheimtreffen in die Hände der Organisation.

Kurz darauf verabschiedete die Vollversammlung des Internationalen Büros einmütig (das heißt, einschließlich der Stimmen zweier Mitglieder der aktuellen „internen Fraktion“) eine Resolution, deren Hauptpassagen wir hier zitieren:

„1. Nach dem Studium (...) des Protokolls vom Treffen am 20.8. zwischen den sieben Genossen, die das so genannte ‚Arbeitskollektiv‘ gebildet haben, und nach Untersuchung seines Inhalts, wo zum Ausdruck kommt:

–          ein offen zur Schau getragenes Bewusstsein darüber, dass sie außerhalb der Statuten handeln und nichts Wichtigeres im Sinn haben, als diese Tatsache vor dem Rest der Organisation zu verbergen;

–          ein Betrachten der restlichen Organisation als ‚die anderen‘, ‚sie‘, mit anderen Worten: als Feinde, die, in den Worten eines der Teilnehmer, ‚destabilisiert‘ werden müssen;

–          die Absicht, ihre wahren Gedanken und Aktivitäten vor dem Rest der Organisation zu verstecken;

–          die Etablierung einer Gruppendisziplin zu gleichen Zeit, als sie die Verletzung der Organisationsdisziplin befürworteten;

–          die Erstellung einer Strategie, um die Organisation in die Irre zu führen und ihr die eigene Politik aufzuzwingen;

verurteilt das IB dieses Verhalten, das eine flagrante Verletzung unserer Organisationsprinzipien ist und eine ausgesprochene Illoyalität gegenüber dem Rest der Organisation offenbart (...)

2. Die Aktivitäten der Mitglieder des ‚Kollektivs‘ stellen ein äußerst ernstes organisatorisches Vergehen dar und verdienen die höchste Sanktion. Doch in Anbetracht dessen, dass die Teilnehmer dieses Treffens sich entschieden haben, das ‚Kollektiv‘ aufzulösen, beschließt das IB, auf Sanktionen zu verzichten in der Aussicht, dass die Militanten, die diesen Fehler begangen haben, nicht nur das ‚Kollektiv‘ auflösen, sondern:

–          ihr Verhalten einer gründlichen Kritik unterziehen;

–          über die Gründe, warum sie sich als Feinde der Organisation benommen haben, vertieft nachzudenken.

In diesem Sinne sollte diese Resolution des IB nicht als eine Unterschätzung des Ernstes des begangenen Fehlers interpretiert werden, sondern als eine Ermutigung für die Teilnehmer des Geheimtreffens vom 20.8., sich über diesen Ernst klar zu werden.“

Konfrontiert mit dem zerstörerischen Charakter ihres Verhaltens, wichen die Mitglieder des „Kollektivs“ einen Schritt zurück. Zwei von denen, die an den geheimen Treffen teilgenommen hatten, erfüllten tatsächlich, was die Resolution gefordert hatte: Sie unterzogen ihre Vorgehensweise einer ernsthaften Kritik und sind heute loyale Militante der IKS. Zwei andere zogen es, obwohl sie zugunsten der Resolution gestimmt hatten, vor, lieber auszutreten, als sich der erforderlichen Kritik zu unterziehen. Was die anderen angeht, so ließen sie ihre guten Vorsätze fallen und bildeten nur ein paar Wochen später die „interne Fraktion der IKS“, wobei sie die „Deklaration zur Bildung eines Arbeitskollektivs“ übernahmen, die sie noch kurz zuvor verworfen hatten.

Kaum war die selbsternannte „Fraktion“ gebildet worden, ließen ihre Mitglieder nichts unversucht, um ihre Angriffe gegen die Organisation und ihre Militanten eskalieren zu lassen, um die absolute Nichtigkeit ihrer politischen Argumente mit den empörendsten Lügen, den ekelhaftesten Verleumdungen und einer systematischen Verletzung unserer Funktionsregeln zu kombinieren, so dass die IKS selbstverständlich gezwungen war, dies zu unterbinden.[x] Eine Resolution, die am 18. November 2001 vom Zentralorgan der Sektion in Frankreich verabschiedet worden war, erklärte: „Die Militanten der ‚Fraktion‘ sagen, dass sie den Rest der Organisation von der Gültigkeit ihrer ‚Analysen‘ überzeugen möchten. Ihr Verhalten und ihre enormen Lügen beweisen, dass auch dies nur eine Lüge ist (...) Mit ihrem gegenwärtigen Verhalten wird es ihnen sicherlich nicht gelingen, auch nur einen Einzigen zu überzeugen (...) Die Exekutivkommission verurteilt vor allem die ‚Taktik‘, die darin besteht, die Statuten der IKS systematisch zu verletzen, um in der Lage zu sein – wenn die Organisation gezwungen wird, zur Selbstverteidigung Maßnahmen zu ergreifen – über die ‚stalinistische Degeneration‘ zu jammern und so die Bildung einer selbsternannten ‚Fraktion‘ zu rechtfertigen.“

Eine der von der „Fraktion“ endlos wiederholten Lügen ist die, dass die IKS sie mit Sanktionen belegt habe, um eine Debatte über fundamentale Fragen zu verhindern. Die Wahrheit ist, dass ihre Argumente von zahllosen Beiträgen einzelner Genossen und ganzer Sektionen der IKS wiederholt und gründlich widerlegt worden waren, wohingegen ihre eigenen Texte es systematisch vermieden, sowohl auf diese Beiträge als auch auf die offiziellen Berichte und Orientierungstexte zu antworten, die von den Zentralorganen vorgestellt worden waren. Dies ist in der Tat eine der von der „Fraktion“ bevorzugten Methoden: ihre eigene Verworfenheit dem Rest der Organisation und ganz besonders der, wie sie es nennen, „liquidatorischen Fraktion“ zu unterstellen. Zum Beispiel beschuldigen sie in einem ihrer ersten „Gründungstexte“, dem „Gegenbericht“ über die IKS-Aktivitäten für das im September 2001 tagende IB-Plenum, die Zentralorgane der IKS, „eine Orientierung (angenommen zu haben), die mit jener bisher in der Organisation (...) vom Ende der Auseinandersetzung 1993–96 bis zum gerade abgehaltenen 14. Kongress geltenden bricht“. Und nur um zu demonstrieren, wie sehr er den Orientierungen des 14. Kongresses zustimmt, lehnt der Autor dieses Dokuments ein paar Wochen später en bloc die vom Kongress verabschiedete Aktivitätsresolution ab, obwohl er für sie gestimmt hatte. In demselben Stil erklärt er scheinheilig, dass „wir uns auf die Auseinandersetzung berufen, die stets (...) für einen strengen statt ‚starren‘ Respekt gegenüber den Statuten gestanden hat. Ohne den hohen Respekt gegenüber den Statuten und ihrer Verteidigung gibt es keine Organisation mehr“. Und noch immer dient dieses Dokument als Plattform für geheime Treffen, deren Teilnehmer sich untereinander klar darüber sind, dass sie sich außerhalb der Statuten bewegen. Nur einige Wochen später beginnen sie, Seiten um Seiten einer vorgeblichen Pseudotheorie zu verfassen, mit der einzigen Absicht, die systematische Verletzung der Statuten zu rechtfertigen.

Wir könnten mit Beispielen derselben Art fortfahren, doch dann würde der Artikel die gesamte Revue füllen. Wir wollen jedoch ein weiteres bedeutsames Beispiel zitieren: den Anspruch der „Fraktion“, der wahre Vertreter der Kontinuität unseres Kampfes von 1993–96 für die Verteidigung der Organisation zu sein. Dies hindert den „Gegenbericht“ nicht daran zu erklären, dass die „Lehren von 1993 sich nicht auf das Clanwesen beschränken. Tatsächlich ist Letzteres nicht einmal ihr prinzipielles Element“. Besser noch, die „Deklaration zur Bildung eines ‚Arbeitskollektivs‘“ fragt: „Clans und Clanwesen: Sind das nicht Begriffe, die in der Geschichte von Sekten und der Freimaurerei angetroffen werden, aber nicht (...) in der Arbeiterbewegung der Vergangenheit? Kann das Alpha und Omega der Organisationsfragen auf die ‚Gefahr des Clanwesens‘ reduziert werden?“ In der Tat beabsichtigen die Mitglieder der „Fraktion“, uns für die Idee zu gewinnen, dass der Begriff des „Clans“ nicht zur Arbeiterbewegung gehört (was falsch ist, da bereits Rosa Luxemburg diesen Begriff benutzte, um die Führungsclique der deutschen Sozialdemokratie zu beschreiben). Dies ist nun wirklich eine radikale Methode, um die Analyse der IKS zu widerlegen, dass das Verhalten dieser Militanten Anzeichen einer Clandynamik ist: „Der Begriff des Clans ist ungültig.“ Und all dies im Namen des Kampfes von 1993–96, dessen wichtigste Dokumente wir lang und breit zitiert haben und die alle auf der fundamentalen Rolle des Clanwesens in den Schwächen der IKS bestehen!

Die Bildung einer parasitären Gruppe

Wie die Allianz innerhalb der IAA, so wurde die „Fraktion“ zu einem parasitären Organismus innerhalb der IKS. Und genauso wie die Allianz, die der IAA offen und öffentlich den Krieg erklärte, nachdem sie gescheitert war, die Kontrolle zu übernehmen, hat der Clan der alten Mehrheit im IS und seiner Freunde beschlossen, unsere Organisation öffentlich anzugreifen, sobald er sich vergegenwärtigte, dass er alle Kontrolle verloren hat und dass sein Verhalten, weit davon entfernt, die Zaudernden um sich zu scharen, es im Gegenteil ermöglicht hat, dass diese Genossen verstanden, was im Kampf um unsere Organisation auf dem Spiel stand. Der entscheidende Moment in diesem qualitativen Schritt im Krieg der „Fraktion“ gegen die IKS war die Vollversammlung des Internationalen Büros zu Beginn des Jahres 2002. Nach ernsthaften Diskussionen fasste dieses Treffen eine Reihe von wichtigen Beschlüssen:

a)         die Umwandlung des Kongresses der französischen Sektion, für Mai 2002 geplant, in eine Außerordentliche Internationale Konferenz der gesamten IKS;

b)         die Suspendierung der Mitglieder der „Fraktion“ wegen einer ganzen Reihe von Verletzungen der Statuten (einschließlich der Weigerung, ihre Beiträge voll zu bezahlen); die Organisation überließ es ihnen, bis zur Konferenz zur Einsicht zu kommen und zu versprechen, die Statuten zu respektieren, widrigenfalls die Konferenz nur den Schluss ziehen kann, dass sie sich selbst wohl überlegt und aus eigenem Willen außerhalb der Organisation stellen;

c)         die prinzipielle Entscheidung, Jonas auszuschließen aufgrund eines detaillierten Berichts der Informationskommission, der ein Licht auf sein Verhalten warf, das demjenigen eines Agent provocateur würdig ist; die endgültige Entscheidung sollte erst getroffen werden, nachdem Jonas die Beschuldigungen gegen ihn unterbreitet wurden und er die Gelegenheit erhalten hatte, sich zu verteidigen.[xi]

Es ist bemerkenswert, dass die beiden Mitglieder der „Fraktion“, die an der Vollversammlung teilnahmen, sich bei der Abstimmung über den ersten Beschluss enthielten. Dies ist ein durch und durch paradoxes Verhalten von Militanten, die ständig erklären, dass die Militanten der IKS insgesamt von der „liquidatorischen Fraktion“ und den „Entscheidungsgremien“ in die Irre geführt und manipuliert seien. Kaum nahm die gesamte Organisation die Gelegenheit wahr, über unsere Probleme kollektiv zu diskutieren und zu entscheiden, gingen unsere tapferen „Fraktionäre“ zur Obstruktion über. Dies ist ein Verhalten, das in völligem Gegensatz zu jenem der linken Fraktionen in der Arbeiterbewegung steht, die stets forderten, dass Kongresse abgehalten werden, um Probleme in der Organisation anzupacken, etwas, was die Rechten systematisch verhinderten.

Was die beiden anderen Entscheidungen anbetraf, so betonte das Internationale Büro, dass die betroffenen Militanten dagegen Berufung einlegen können, und schlug vor, dass Jonas seinen Fall vor einem Ehrengericht, das aus Militanten des politischen Milieus des Proletariats gebildet werden sollte, vortragen kann, wenn er sich zu Unrecht von der IKS beschuldigt wähnt. Ihre Antwort bestand in einer neuen Eskalation. Jonas weigerte sich, sowohl die Organisation zu treffen, um seine Verteidigung darzulegen, als auch Berufung gegenüber der Konferenz einzulegen und um Gehör bei einem Ehrengericht zu ersuchen: So überwältigend sind die Beweise, dass es für alle Militanten der IKS und auch für Jonas selbst klar ist, dass er keine Ehre zu verteidigen hat. Gleichzeitig bekundete Jonas sein vollkommenes Vertrauen in der „Fraktion“. Die „Fraktion“ selbst begann, öffentlich Verleumdungen über die IKS zu verbreiten, zunächst indem sie an andere linkskommunistische Gruppen schrieb, dann indem sie etliche Texte an unsere Abonnenten verschickte, womit offenbar wurde, dass jenes Mitglied der „Fraktion“, das bis zum Sommer 2001 für die Abonnentenkartei verantwortlich gewesen war, die Kartei noch vor der Bildung des „Arbeitskollektivs“, ganz zu schweigen von der „Fraktion“, gestohlen hatte. Aus den Dokumenten, die an unsere Abonnenten geschickt wurden, können wir insbesondere entnehmen, dass die Zentralorgane der IKS gegen Jonas und die „Fraktion“ „gemeine Kampagnen (führen), mit denen sie die politischen Positionen, auf die sie ernsthaft zu antworten unfähig sind, verbergen und in Misskredit zu bringen versuchen“. Der Rest besteht aus der gleichen Brühe. Die Dokumente der „Fraktion“, die außerhalb der IKS verteilt wurden, bezeugen die totale Solidarität der „Fraktion“ mit Jonas und rufen ihn auf, mit ihr zusammenzuarbeiten. Die „Fraktion“ offenbart so sich selbst als etwas, was sie von Anbeginn gewesen war, als Jonas im Schatten einer Kamarilla der Freunde von Bürger Jonas geblieben war.

Trotz des offenen und öffentlichen Kampfes der Jonas-Kamarilla gegen die IKS sandte unsere Organisation mehrere Briefe an alle Pariser Mitglieder der „Fraktion“, worin diese dazu eingeladen wurden, ihre Verteidigung auf der Konferenz darzulegen. Zunächst ging die „Fraktion“ zum Schein darauf ein, doch im letzten Moment führte sie stattdessen ihre endgültige und erbärmlichste Aktion gegen unsere Organisation aus. Sie weigerte sich, vor der Konferenz zu erscheinen, es sei denn, die Organisation erkenne die „Fraktion“ schriftlich an und nähme alle Sanktionen (einschließlich die des Ausschlusses von Jonas) zurück, die in Übereinstimmung mit unseren Statuten beschlossen worden waren. Indem sie sich über die von der Organisation verabschiedeten Sanktionen beschwerten, forderten diese Militanten ganz einfach, dass wir den ersten Schritt machen, indem wir die Sanktionen zurücknehmen. Dies ist natürlich die einfachste Lösung – sie hätten nichts mehr, worüber sie sich beschweren könnten! Konfrontiert mit dieser Situation, hatten sämtliche Delegationen der IKS trotz ihrer Bereitschaft, den Argumenten dieser Militanten zuzuhören (tatsächlich hatten die Delegationen bereits am Vorabend der Konferenz eine Berufungskommission gebildet, die sich aus Mitgliedern mehrerer territorialer Delegationen zusammensetzte, und berücksichtigt, dass es den Pariser Mitgliedern der „Fraktion“ ermöglicht wurde, ihre Argumente darzustellen), keine andere Alternative, als anzuerkennen, dass diese Elemente sich selbst außerhalb der Organisation gestellt haben. Angesichts ihrer Weigerung, sich selbst vor der Konferenz zu verteidigen und ihre Argumente vor der Berufungskommission darzulegen, stellte die IKS ihr Ausscheiden fest und konnte sie somit nicht mehr als Mitglieder der Organisation anerkennen.[xii]

Die Konferenz verurteilte ebenfalls einstimmig die kriminellen Methoden, die von der Jonas-Kamarilla benutzt wurden und darin bestanden, zwei Delegierte der mexikanischen Sektion zu „kidnappen“ (“mit ihrem Einverständnis“?), sobald diese auf dem Flughafen ankamen. Diese Mitglieder der „Fraktion“ wurden von ihrer Sektion delegiert, ihre Positionen auf der Konferenz zu vertreten, und ihre Flüge waren bereits von der IKS bezahlt worden. Sie trafen sich mit zwei Pariser Mitgliedern der „Fraktion“, die sie mitnahmen und die ihnen die Erlaubnis verweigerten, die Konferenz aufzusuchen. Als wir protestierten und forderten, dass die „Fraktion“ den Flugpreis zurückbezahlt, sollte es den mexikanischen Delegierten nicht gelingen, die Konferenz aufzusuchen, antwortete ein Pariser Mitglied der „Fraktion“ mit unglaublichem Zynismus: „Das ist euer Problem!“ Alle Militanten der IKS haben ihre große Empörung ausgedrückt und eine Resolution angenommen, die die Veruntreuung von IKS-Vermögen und die Weigerung, das von der Organisation ausgegebene Geld zurückzuzahlen, als Offenbarung der kriminellen Methoden der Jonas-Kamarilla verurteilte.Diese Methoden sind denen der Chenier-Tendenz (die 1981 Ausrüstungsgegenstände der Organisation gestohlen hatte) ebenbürtig und überzeugten schließlich auch die letzten Genossen, die noch zögerten, die parasitäre und antiproletarische Natur dieser selbsternannten „Fraktion“ anzuerkennen. Die „Fraktion“ hat inzwischen der IKS geantwortet, indem sie sich weigerte, das politische Material und das Geld, das unser Organisation gehört, zurückzugeben. Die Jonas-Kamarilla ist heute nicht nur zu einer parasitären Gruppe verkommen, deren Natur die IKS bereits in ihren Thesen über den politischen Parasitismus, veröffentlicht (Internationalen Revue Nr. 22, deutsche Ausgabe), analysiert hatte, sondern auch zu einer kriminellen Bande, die nicht nur Verleumdungen und Erpressungen benutzt, um unsere Organisation zu zerstören, sondern sie auch bestiehlt.[xiii]

Die Metamorphose langjähriger Militanter unserer Organisation, die zumeist wichtige Verantwortung in den Zentralorganen ausgeübt hatten, in eine kriminelle Bande erhebt sofort die Frage: Wie ist so etwas möglich? Der Einfluss von Jonas hat natürlich seinen Teil dazu beigetragen, die Mitglieder der „Fraktion“ dazu zu treiben, ihre Angriffe gegen die IKS im Namen eines „verneinenden Zentrismus“ zu „radikalisieren“. Dennoch ist dies nicht ausreichend für eine Erklärung solch einer Degeneration. Die Konferenz hat erst die Basis geschaffen, um unser Verständnis voranzutreiben.

Der politische Rahmen der Konferenz zum Verständnis unserer Schwierigkeiten

Auf der einen Seite stellte die Konferenz fest, dass die Tatsache, dass langjährige Militante einer proletarischen Organisation den Kampf verraten, in dem sie sich seit Jahrzehnten engagiert hatten, kein neues Phänomen in der Arbeiterbewegung ist: Militante aus der ersten Reihe wie Plechanow (der Gründungsvater des Marxismus in Russland) oder Kautsky (die marxistische Eminenz der deutschen Sozialdemokratie, der „Papst“ der II. Internationalen) beendeten ihr politisches Leben in den Reihen der herrschenden Klasse (der Erste unterstützte 1914 den Krieg, der Zweite verurteilte die russische Revolution von 1917).

Ferner stellte die Konferenz die Frage des Clanwesens innerhalb der weiter gefassten Frage des Opportunismus:

„Der Zirkelgeist und das Clanwesen, Schlüsselfragen, die vom Orientierungstext von 1993 gestellt worden waren, sind nur besondere Ausdrücke eines allgemeinen Phänomens: des Opportunismus in Organisationsfragen. Es ist offensichtlich, dass diese Tendenz, die im Falle der verhältnismäßig kleinen Gruppen wie die der russischen Partei 1903 oder der IKS eng mit affinitären Zirkel- und Clanformen verknüpft ist, sich beispielsweise in den Massenparteien der zerfallenden Zweiten oder Dritten Internationalen nicht auf dieselbe Weise ausdrückt.

Nichtsdestotrotz teilen die verschiedenen Ausdrücke desselben Phänomens bestimmte prinzipielle Charakteristiken. Unter ihnen ist die Unfähigkeit des Opportunismus, sich in einer proletarischen Debatte zu engagieren, eine der bemerkenswertesten. Insbesondere ist er unfähig, eine organisatorische Disziplin aufrechtzuerhalten, sobald er sich mit seinen Positionen in der Minderheit wiederfindet.

Es gibt zwei prinzipielle Ausdrücke dieser Unfähigkeit. In Situationen, in denen der Opportunismus sich innerhalb der proletarischen Organisationen im Aufwind befindet, neigt er dazu, die Divergenzen herunterzuspielen, indem er sie entweder als Missverständnisse darstellt, wie es die Bernsteinianer taten, oder systematisch die politischen Positionen des Opponenten annimmt, wie in den frühen Tagen der stalinistischen Strömung.

Wo sich der Opportunismus in der Defensive befindet, wie 1903 in Russland oder in der Geschichte der IKS, reagiert er hysterisch, indem er den Statuten den Krieg erklärt und sich selbst als Opfer der Repression bezeichnet, um der Debatte aus dem Weg zu gehen. Die beiden Hauptcharakteristiken des Opportunismus in solch einer Situation sind, wie Lenin betonte, die Sabotage der Organisationsarbeit und die Inszenierung von Vorfällen und Skandalen.

Der Opportunismus ist seinem Inhalt nach zu einer klaren Herangehensweise bei der theoretischen Klärung und zur geduldigen Überzeugung nicht in der Lage, was die revolutionären Minderheiten während des Weltkriegs, Lenins Verhalten 1917 oder jenes der italienischen Fraktion in den 30er Jahren und anschließend der französischen Fraktion auszeichnete.(...)

Der aktuelle Clan ist eine Karikatur dieser Vorgehensweise. Solange er sich im Besitz der Kontrolle wähnte, versuchte er, die in RI aufkommenden Divergenzen herunterzuspielen (‚keine Jahrhundertdebatte‘), während er sich darauf konzentrierte, diejenigen zu diskreditieren, die ihre Meinungsverschiedenheiten laut äußerten. Sobald die Debatte eine theoretische Dimension zu erreichen begann, wurde der Versuch unternommen, sie vorzeitig zu beenden. Sobald sich der Clan in der Minderheit fühlte13 und noch bevor sich die Debatte entwickeln konnte, wurden Fragen wie die des angeblichen ‚Idealismus‘ des Orientierungstextes zu programmatischen Divergenzen aufgeblasen, um die systematische Ablehnung der Statuten zu rdrechtfertigen.“ (Aktivitätenresolution der ausserordentlichen Konferenz der IKS 2002, Punkt 10)

Die Konferenz anerkannte ebenfalls das Gewicht des kapitalistischen Zerfalls, das auf der Arbeiterklasse lastet:

“Eines der Hauptcharakteristiken der Zerfallsphase besteht darin, dass das Patt zwischen Bourgeoisie und Proletariat die Gesellschaft in eine peinigende und sich dahinschleppende Agonie stürzt. Infolgedessen wird der Prozess der Entwicklung des Klassenkampfes, der Reifung des Bewusstseins und des Aufbaus der Organisation viel langsamer, zähflüssiger und widersprüchlicher sein. Die Konsequenz daraus ist eine Tendenz zur allmählichen Erosion der politischen Klarheit, der militanten Überzeugung und der organisatorischen Loyalität, den hauptsächlichen Gegengewichten zu den politischen und persönlichen Schwächen der einzelnen Militanten. (...)

Da die Opfer solch einer Dynamik begonnen haben, sich den Mangel jeglicher Perspektive zu teilen, was heute das Los einer zerfallenden bürgerlichen Gesellschaft ist, sind sie dazu verdammt, mehr als jeder andere Clan in der Vergangenheit einen irrationalen Immediatismus, eine fieberhafte Ungeduld, einen Mangel an Reflexion und einen radikalen Verlust theoretischer Fähigkeiten – also sämtliche Hauptaspekte des Zerfalls – auszudrücken.“ (ebenda, Punkt 6)

Die Konferenz hob ebenfalls hervor, dass eine grundlegende Ursache für die anfangs unrichtigen Positionen des IS und der gesamten Organisation über die Frage der Funktionsweise und für die organisationsfeindliche Kehrtwende der Mitglieder der „Fraktion“ sowie für die späte Identifizierung dieser Wende durch die IKS das Gewicht des Demokratismus in unseren Reihen ist. Sie beschloss folglicherweise, eine Diskussion über die Frage des Demokratismus auf der Grundlage eines Orientierungstextes zu eröffnen, der vom Zentralorgan der IKS entworfen werden soll.

Schließlich bestand die Konferenz auf der Bedeutung des Kampfes, der in der Organisation vonstatten geht:

“Die Auseinandersetzung der Revolutionäre ist eine ständige Schlacht an zwei Fronten: die Verteidigung und Errichtung der Organisation und die Intervention gegenüber der Klasse als Ganzes. Alle Aspekte dieser Arbeit hängen wechselseitig voneinander ab (...)

Im Zentrum der gegenwärtigen Auseinandersetzung steht die Verteidigung der Fähigkeit der Generation von Revolutionären nach 1968, die richtige marxistische Praxis, die revolutionäre Leidenschaft sowie die Erfahrungen von Jahrzehnten des Klassenkampfes und der organisatorischen Auseinandersetzung an eine neue Generation weiterzureichen. Es ist daher im Wesentlichen dieselbe Auseinandersetzung, ob sie nun innerhalb der IKS oder außerhalb, gegenüber den suchenden, vom Proletariat sekretierten Elementen, bei der Vorbereitung der künftigen Klassenpartei geführt wird.“ (ebenda, Punkt 20)

IKS


[i] aus: Ein Komplott gegen die IAA – Bericht über das Treiben Bakunins (MEW Bd. 18 S. 337)

[ii] Die Reaktion auf diese Drohungen waren bezeichnend: „Ranvier protestiert gegen die Drohung von Splingard, Guillaume und anderen, sie würden den Saal verlassen, da sie mit ihrem Verhalten beweisen, dass SIE, und nicht wir es sind, die sich IM VORAUS über die zur Diskussion stehenden Fragen abgesprochen haben“. „Morago [ein Mitglied der Allianz] spricht von der Tyrannei des Rates, doch ist es nicht Morago selber, der dem Kongress die Tyrannei seines Mandats aufzwingen will?“ (Intervention von Lafargue)

[iii] James Guillaume erklärte: „Alerini meint, dass die Kommission nur moralische Überzeugungen hat, und keine materiellen Beweise; er gehörte zur Allianz und ist stolz darauf (...) ihr seid die Heilige Inquisition; wir verlangen eine öffentliche Untersuchung und stichhaltige Beweise.“

[iv] s. die Artikel „Krise im revolutionären Milieu“, Internationale Revue Nr. 8, „Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre“, Internationale Revue Nr. 22 und „Presentation of the ICC’s 5th Congress“ in der International Review Nr. 35

[v] „Der 11. Kongress der IKS: Der Kampf zur Verteidigung und zum Aufbau der revolutionären Organisation“

[vi] Dies ist der Fall beim „Cercle de Paris“, der Ende der 1990er Jahre von Ex-Militanten der IKS, welche Simon (einem Abenteurer, der 1995 aus der IKS ausgeschlossen wurde) nahestanden, gegründet wurde und ein Pamphlet mit dem Titel „Que ne pas faire“ herausgegeben hatte, welches aus einem Haufen Verleumdungen gegen unsere Organisation bestand und sie als stalinistische Sekte darstellte.

[vii] mit anderen Worten: die ständige Kommission des Zentralorgans der IKS, des Internationalen Büros (IB), das sich aus Militanten aller territorialen Sektionen zusammensetzt;

[viii] Mit anderen Worten: er nahm dasselbe Verhalten an, wie James Guillaume vor dem Haager Kongress der IAA.

[ix] Auch dieses Verhalten, eine Informationskommission einzuschüchtern, ist nicht neu: Utin, der das Verhalten Bakunins vor der Untersuchungskommission des Haager Kongresses bezeugt hatte, wurde von einem Anhänger Bakunins körperlich angegriffen.

[x] In einem Zirkular vom November 2001 an alle Sektionen listete das Internationale Büro diese Vergehen gegen unserer Statuten auf. Hier ist ein kurzer Auszug aus dieser Liste:

– „das Streuen von Informationen über interne Fragen (...);

– die Weigerung dreier Mitglieder des Zentralorgans, an Treffen teilzunehmen, wo ihre Anwesenheit aufgrund der Statuten erforderlich war;

– das Verschicken eines Bulletins an die Privatadresse von Genossen in totaler Verletzung unserer zentralisierter Funktionsmechanismen und in Verletzung unserer Statuten;

– die Weigerung, ihre Beiträge in vollem Umfang, wie er von der IKS beschlossen wurde, zu bezahlen (die Mitglieder der ‚Fraktion‘ hatten ausdrücklich beschlossen, nur 30% ihrer Beiträge zu zahlen);

– die Weigerung, die Zentralorgane über den Inhalt einer angeblichen ‚Geschichte des IS‘ in Kenntnis zu setzen, die unter bestimmten Militanten zirkulierte und die völlig unerträgliche Angriffe gegen die Organisation und einige ihrer Militanten enthält;

– Erpressung durch die Drohung, interne Dokumente der Organisation und besonders ihrer Zentralorgane außerhalb der Organisation zu veröffentlichen.“

[xi] s. „Mitteilung an unsere Leser“, Weltrevolution Nr. 111

[xii] So wie die Bakunisten den Beschluss des Haager Kongresses als einen Trick anprangerten, um sie daran zu hindern, ihre Positionen vorzustellen, denunzierte die Jonas-Kamarilla die Feststellung der IKS, dass sie die Organisation verlassen haben, als einen versteckten Ausschluss, der bezweckte, ihre Meinungsverschiedenheiten zum Schweigen zu bringen.

[xiii] Zum Beispiel versucht die „Fraktion“ nun, die Gruppen des proletarischen Milieus gegeneinander auszuspielen und ihre Unterschiedlichkeiten überzubetonen. Auf dieselbe Weise hat ihr Bulletin Nr. 11 eine schmeichelnde Verführungskampagne gegenüber Elementen des parasitären Milieus wie dem „Cercle de Paris“, dem die Mitglieder der „Fraktion“ seine Verurteilung in der Vergangenheit nachsahen, betrieben. Einmal mehr nahmen sie das Verhalten von vollendeten „anti-autoritären“ Bakunisten an, die sich ihrerseits nach dem Haager Kongress mit den „staatssozialistischen“ Lassalleanern verbündet hatten.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [1]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [4]

Der Kommunismus ist nicht nur eine schöne Idee, sondern eine Notwendigkeit: Die Debabtte um die "proletarische Kultur"

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Die Debatte über die „proletarische Kultur“

Die vorangegangenen Artikel dieser Reihe untersuchten, wie die kommunistische Bewegung in den 20er, 30er und 40er Jahren, den dunkelsten Jahren der Konterrevolution, darum gekämpft haben zu begreifen, was aus der ersten proletarischen Diktatur, die sich in den Grenzen eines Landes etabliert hatte, geworden war – die Sowjetmacht in Russland. Künftige Abhandlungen werden einen Blick auf die Lehren werfen, die die Revolutionäre aus dem Hinscheiden dieser Diktatur gezogen und auf ein künftiges proletarisches Regime angewendet haben. Doch bevor wir diese Richtung weiter verfolgen, müssen wir zu jenen Tagen zurückkehren, als die Russische Revolution noch am Leben war, um einen Schlüsselaspekt der kommunistischen Umwandlung zu studieren, der während dieser entscheidenden Periode aufgekommen war, wenn auch nicht gelöst wurde. Wir meinen hier die Frage der „Kultur“.

Wir tun dies nicht ohne ein gewisses Zögern, weil dieses Thema so weitläufig ist und der Begriff Kultur so oft missbraucht wird. Dies trifft vor allem auf dieses Zeitalter der Zersplitterung zu, das wir als den Zerfall des Kapitalismus bezeichnen. In früheren Phasen des Kapitalismus wurde die „Kultur“, das ist wahr,  allgemein mit der „Hochkultur“ identifiziert, mit den künstlerischen Produkten der herrschenden Klasse; eine Sichtweise, die all ihre „marginalisierten“ Ausdrücke ignoriert oder über sie hinweggeht (so sei zum Beispiel auf die klassische bürgerliche Verachtung gegenüber den kulturellen Ausdrücken von eroberten primitiven Gesellschaften hingewiesen). Heute wird uns dagegen erzählt, dass wir in einer „multikulturellen“ Welt leben, wo sämtliche kulturellen Ausdrücke gleichermaßen gültig sind und wo praktisch jeder Teilaspekt des gesellschaftlichen Lebens selbst zur „Kultur“ wird (die „Kultur der Gewalt“, die „Kultur der Raffgier“, die „Kultur der Abhängigkeiten“ usw. usw.) Solche Vereinfachungen machen es unmöglich, zu einem allgemeinen, einheitlichen Begriff der Kultur als Produkt sämtlicher Epochen der menschlichen Geschichte bzw. der menschlichen Geschichte als Ganzes zu gelangen. Ein besonders schädlicher Missbrauch dieser Haltung zur Kultur wird im aktuellen imperialistischen Konflikt in Afghanistan ersichtlich: Wir werden aufgefordert, dies als einen Konflikt zwischen Kulturen, zwischen Zivilisationen – noch genauer: zwischen der „westlichen Zivilisation“ und der „muslimischen Gesellschaft“ – anzusehen. Dies ist zweifellos eine Frage, die sich dazu eignet, den wahren Kern zu verschleiern: dass es nur eine Zivilisation auf dem Planeten gibt, die dekadente Zivilisation des Weltkapitals.

Im Gegensatz dazu definierte Trotzki im Vertrauen auf die monistische Herangehensweise des Marxismus die Kultur folgendermaßen: „Erinnern wir uns daran, dass„Kultur“ ursprünglich ein gepflügtes, bestelltes Feld im Unterschied zum Urwald und noch ungenutzten Boden bedeutete. Kultur stand im Gegensatz zur Natur, das heisst, man unterschied zwischen dem, was der Mensch durch seine Anstrengungen erwarb, und dem, was die Natur ihm schenkte. Diese Antithese ist auch heute noch von grunglegender Bedeutung.

Kultur ist alles, was vom Menschen im Laufe seiner gesamten Geschichte geschaffen, gebaut, gelernt und erobert wurde; ihr stehen die Gaben der Natur, einschliesslich der Naturgeschichte des Menschen selbst als einer Tierart, gegenüber. Die Wissenschaft, die den Menschen als ein Erzeugnis der tierischen Entwicklung erforscht, wird (biologisch) Anthropologie genannt. Doch von dem Augenblick an, in dem der Mensch sich vom Tierreich trennte – und das geschah, als er zum ersten Mal primitive Werkzueuge aus Stein und Holz ergriff und seine Glieder mit ihnen bewehrte -, begann die Schöpfung und Anhäufung von Kultur, das heisst aller Arten von Kenntnissen und Fertigkeiten im Kampf mit der Natur und zum Zweck ihrer Unterwerfung.“ (Trotzki, Kultur und Sozialismus, 1926). Dies ist in der Tat eine sehr weitgefasste Definition – eine Verteidigung der materialistischen Ansicht, dass die Entstehung des Menschen und damit die Entwicklung von der Natur zur Kultur ein Produkt sind, das so grundlegend und universal ist wie die Arbeit.

Es bleibt jedoch das Problem, dass nach dieser Definition Politik und Wirtschaft in ihrem weitesten Sinn selbst Ausdrücke der menschlichen Kultur sind und wir Gefahr laufen, den Blick dafür, worüber wir reden, zu verlieren. Jedoch hebt Trotzki in einem anderen Essay, „Der Mensch lebt nicht nur von der Politik“, hervor, dass, um das reale Verhältnis zwischen Politik und Kultur zu verstehen, es notwendig sei, neben der weitestmöglichen Definition eine „enger gefasste“ Definition der politischen Sphäre zu schaffen, „die einen bestimten Teil der sozialen Aktivitäten charakterisiert, direckt verbunden mit dem Kampf um die Macht, und entgegengesetzt der ökonomischen und kulturellen Arbeit.“Wir können ohne weiteres dasselbe über den Begriff der Kultur sagen, den swir in diesem Zusammenhang zum großen Teil auf Bereiche wie die Kunst, die Erziehung und die „Alltagsprobleme“ (der Titel einer Sammlung von Abhandlungen, die die beiden o.g. Artikel enthält) anwenden werden. Von dieser Warte aus betrachtet, erscheinen die kulturellen Aspekte der Revolution zweitrangig oder zumindest abhängig von den politischen und ökonomischen Sphären. Und dies ist in der Tat der Fall: Wie Trotzki in dem Text, den wir in dieser Ausgabe wiederveröffentlichen, zeigt, ist es närrisch, eine wirkliche kulturelle Renaissance zu erwarten, solange die Bourgeoisie noch nicht besiegt worden ist und die materiellen Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft noch nicht gebildet worden sind. Genauso stellt Letztere, auch wenn wir das Problem der Kultur weiterhin auf das Reich der „Kunst“ einengen, die tiefsten Fragen über die Natur der Gesellschaft, die die Revolution zu bilden beabsichtigt. Es ist zum Beispiel kein Zufall, dass Trotzkis ausgefeiltester Beitrag zur marxistischen Theorie der Kunst, „Literatur und Revolution“, mit einer ausführlichen Vision über die Natur des Menschen in einer fortgeschrittenen kommunistischen Gesellschaft schließt. Denn wenn Kunst der Ausdruck der menschlichen Kreativität par excellence ist, dann verschafft sie uns einen unersetzlichen Schlüssel zum Verständnis darüber, wie die menschliche Gattung sein wird, wenn sie einmal die Ketten der Klassenausbeutung endgültig gebrochen hat.

Um uns selbst in diesem riesigen Bereich zu orientieren, beabsichtigen wir, uns eng an Trotzkis Schriften über diese Angelegenheit zu halten, die zwar nicht so bekannt sind, aber mit Sicherheit den klarsten Rahmen zu schaffen, um die Vorgehensweise bei diesem Problem herzuleiten.[i] Und ehe wir mit eigenen Worten formulieren, was Trotzki selbst bereits gesagt hatte, wollen wir lange Auszüge aus zwei Kapiteln von Literatur und Revolution wiederveröffentlichen. Das zweite dieser Kapitel konzentriert sich auf sein anregendes Porträt einer zukünftigen Gesellschaft. In dieser Internationalen Revue veröffentlichen wir einen Auszug aus dem ersten dieser Kapitel mit dem Titel „Was ist proletarische Kultur und ist sie möglich“, das eine besonders wichtige Komponente in Trotzkis Beitrag zur Debatte über die Kultur innerhalb der bolschewistischen Partei und der revolutionären Bewegung in Russland ist. Um diesen Beitrag richtig einzuschätzen, ist es notwendig, seinen historischen Hintergrund zu beschreiben.

Die Debatte über die „proletarischKultur“ im revolutionären Rusland

Die Tatsache, dass die Kulturdebatte keinesfalls zweitrangig war, wird durch die Tatsache veranschaulicht, dass sie Lenin dazu veranlasste, die folgende Resolution zu entwerfen, die auf dem Proletkult-Kongress 1920 von der kommunistischen Fraktion vorgestellt wurde:

1. In der Sowjetrepublik der Arbeiter und Bauern muss das gesamte Bildungswesen, sowohl auf dem Gebiet der politischen Bildung im allgemeinen als auch auf dem Gebiet der Kunst im besonderen, vom Geist des Klassenkampfes durchdrungen sein, den das Proletariat zur Verwirklichung der Ziele seiner Diktatur führt, d. h. für den Sturz der Bourgeoisie, für die Aufhebung der Klassen, für die Abschaffung jeglicher Ausbeutung des Menschen durch den menschen.

2. Deshalb muss das Proletariat sowohl durch seine Vorhut, die Kommunistische Partei, als auch durch die ganze Masse der verschiedenen proletarischen Organisationen überhaupt als aktivste und ausschlaggebende Kraft an der gesamten Volksbildung mitwirken.

3. Die ganze Erfahrung der neueren Geschichte und insbesondere der über ein halbes Jahrhundert währende revolutionäre Kampf des Proletariats aller Länder seit dem Erscheinen des „Kommunistischen Manifests“ haben unwiderleglich bewiesen, dass nur die Weltanschauung des Marxismus die Interessen, die Auffassungen und die Kultur des revolutionären Proletariats richtig zum Ausdruck bringt

4. Der Marxismus hat seine weltgeschichtliche Bedeutung als Ideologie des revolutionären Proletariats dadurch erlangt, dass er die wertvollsten Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters keineswegs ablehnt, sondern sich umgekehrt alles, was in der mehr als zweitausendjährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll war, angeeignet und es verarbeitet. Nur die weitere Arbeit auf dieser Grundlage und in dieser Richtung, inspiriert durch die praktische Erfahrung der Diktatur des Proletariats, dieses seines letzten Kampfes gegen jegliche Ausbeutung, kann als Aufbau einer wirklichen Kultur anerkannt werden.

5. Der gesamtrussische Kongress des Proletkult, der diesen prinzipiellen Standpunkt unwandelbar vetritt, weist alle Versuche, eine eigene, besondere Kultur auszuklügeln, sich in eigenen, abgesonderten Organisationen abzukapseln, die Arbeitsgebiete des Volkskommisariats für Bildungswesen und des Proletkults voneinander abzugrenzen oder eine „Autonomie„ des Proletkults innerhalb der Institutionen des Volkskommissariats für Bildungswesen herzustellen usw., als theoretisch falsch und praktisch schädlich aufs entschiedenste zurück. Der Kongress macht es im Gegenteil allen Organisationen des Proletkults zur unabdingbaren Pflicht, sich alsHilfsorgane des Volkskommissariats für Bildungswesen zu betrachten und ihre Aufgaben, die einen Teil der Aufgaben der Diktatur des Proletariats bilden, unter der allgemeinen Leitung der Sowjetmacht (Insbesondere des Volkskommissariats für Bildungswesen) und der Kommunistischen Partei Russlands zu lösen.“ (Lenin, Resolutionsentwurf, Bd. 31, S. 307)   

Die Bewegung der proletarischen Kultur, kurz: Proletkult, war 1917 mit der Absicht gebildet worden, eine politische Orientierung für die kulturelle Dimension der Revolution zu schaffen. Sie wird häufig mit Alexander Bogdanow in Verbindung gebracht, der ein Mitglied der bolschewistischen Fraktion in in ihren ersten Jahren gewesen war, aber mit Lenin über eine Reihe von Themen aneinander geraten war, und zwar nicht nur über die Bildung der Ultimatistischen[ii] Gruppe nach 1905, sondern auch, was viel bekannter ist, über Bogdanows Verarbeitung der Ideen Machs und Avenarius im Reich der Philosophie und, etwas allgemeiner, über seine Bemühungen, den Marxismus mit vielfältigen theoretischen Systemen wie sein Begriff der „Strukturlehre“ zu vervollständigen. Wir können hier nicht auf jedes Detail im Denken Bogdanows eingehen; nach dem bisschen, was wir darüber wissen (nur bestimmte Arbeiten sind aus dem Russischen übersetzt worden), war er trotz seiner Mängel in der Lage, einige wichtige Einsichten zu entwickeln – insbesondere über die Frage des Staatskapitalismus in der Epoche des kapitalistischen Niedergangs. Genau aus diesem Grund verlangen seine Ideen eine viel ausführlichere Kritik, und zwar von einem deutlich proletarischen Standpunkt aus.[iii] Proletkult war jedoch keineswegs auf Bogdanow begrenzt; Bucharin und Lunascharski, um nur die beiden führenden Bolschewiki zu nennen, waren ebenfalls mit der Organisation verbunden und teilten nicht immer Lenins Standpunkt über sie. Bucharin z.B., dem es oblag, die Resolution auf dem Proletkult- Kongress zu präsentieren, beanstandete bestimmte Elemente in Lenins Resolutionsentwurf, die daraufhin in einer etwas modifizierten Form präsentiert wurde.

Proletkult blühte während der heroischen Phase der Revolution auf, als die Entfesselung der revolutionären Energien einer riesigen Welle von Ausdrücken und des Experimentierens an der Künstlerfront Auftrieb gab, wobei viele von ihnen sich ausdrücklich mit der Revolution identifizierten. Darüber hinaus beschränkte sich das Phänomen nicht auf Russland, wie die Entwicklung von Bewegungen wie den Dadaismus und den Expressionismus in Deutschland oder etwas später den Surrealismus in Frankreich und anderswo bezeugte. In den Jahren zwischen 1917 und 1920 schnellte die Mitgliederzahl des Proletkults auf ungefähr eine halbe Million hoch, mit über 30 Zeitschriften und ungefähr 300 Gruppen. Für Proletkult war der Kampf an der kulturellen Front genauso wichtig wie der Kampf an der politischen und ökonomischen Front. Er sah sich selbst als führende Kraft im Kulturkampf, während die Partei den politischen Kampf und die Gewerkschaften den wirtschaftlichen Kampf anführten. Er schuf zahlreiche Studios, damit Arbeiter zusammenkommen und sich an Experimenten in Malerei, Musik, im Drama, in der Poesie und in anderen Kunstbereichen beteiligen konnten und gleichzeitig zu neuen Formen des Gemeinschaftslebens, der Erziehung und so weiter ermutigt wurden. Es sollte betont werden, dass die Explosion des gesellschaftlichen und kulturellen Experimentierens in Russland während dieser Periode sich viel weiter erstreckte als der Proletkult selbst und unter anderem Namen auftrat. Doch die Bedeutung der Diskussionen im Proletkult damals und heute liegt darin, dass er versuchte, diese Phänomene innerhalb einer marxistischen Interpretation festzulegen. Die sich dahinter verbergende Leitidee war, wie der Name andeutet, dass das Proletariat, wenn es sich vom Joch der bürgerlichen Ideologie befreien sollte, seine eigene Kultur entwickeln musste, die auf einem radikalen Bruch mit der hierachischen Kultur der alten herrschenden Klasse basierte. Proletarische Kultur würde egalitär und kollektiv sein, während bürgerliche Kultur elitär und individualistisch ist; so wurden z.B. Experimente mit Orchestern ohne Dirigenten und mit kollektiv geschaffenen Gedichten und Gemälden unternommen. Zusammen mit der futuristischen Bewegung, mit der Proletkult eine enge, aber manchmal auch kritische Beziehung unterhielt, gab es eine starke Neigung, alles zu erhöhen, das modern, urban und Maschinen gestützt war, im Gegensatz zu den ländlichen Vorlieben für das Mittelalter, die bis dahin die russische Kultur dominiert hatten.

Die Kulturdebatte wurde zu einer brennenden Frage in der Partei, nachdem der Bürgerkrieg siegreich beendet worden war. Es war dieser Punkt, an dem Lenin begann, die Bedeutung des Kulturkampfes zu betonen: „...und zugleich müssen wir zugeben, dass sich unsere Auffassung vom Sozialismus grundlegend geändert hat. Diese grundlegende Änderung besteht darin, dass wir früher das Schwergewicht auf den politischen Kampf, die Revolution, die Eroberung der Macht usw. legten und auch legen mussten. Heute dagegen ändert sich das Schwergewicht soweit, dass es auf die friedliche organisatorische ‚Kultur‘arbeit verlegt wird. Ich würde sagen, dass sich das Schwergewicht für uns auf blosse Kulturarbeit verschiebt, gäbe es nicht die internationalen Beziehungen, hätten wir nicht die Pflicht, für unsere Position in internationalem Masstab zu kämpfen. Wenn man aber davon absieht und sich auf die inneren ökonomischen Verhältnisse beschränkt, so reduziert sich bei uns jetzt das Schwergewicht der Arbeit tatsächlich auf blosse Kulturarbeit.“ (LW, Bd. 33, Seite 460)

Doch für Lenin hatte dieser Kulturkampf eine andere Bedeutung als für Proletkult, da er mit dem Wechsel von der Periode des Bürgerkriegs zur Wiederaufbauperiode der NEP verbunden war. Für Lenin bestand das Problem, dem sich die Sowjetmacht gegenübersah, nicht in der Schaffung einer neuen proletarischen Kultur: Diese erschien ihm in Anbetracht der internationalen Isolation des russischen Staates und der fürchterlichen kulturellen Rückständigkeit der russischen Gesellschaft (Unwissenheit, Vorherrschaft von Religionen und „asiatischer“ Gebräuche, etc.) völlig utopisch. Für Lenin mussten die russischen Massen erst das Laufen lernen, bevor sie rennen konnten, was bedeutete, dass sie noch nicht den Schritt zur Verinnerlichung der wichtigsten Errungenschaften der bürgerlichen Kultur gemacht, geschweige denn eine proletarische geschaffen hatten. Diese Vorgehensweise entsprach der Forderung, dass das Sowjetregime zu lernen habe, wie man Handel treibt: Mit anderen Worten, es sollte von den Kapitalisten lernen, um in einer kapitalistischen Umgebung zu überleben. Gleichzeitig war Lenin in wachsendem Maße darüber besorgt, dass das Wachstum der Bürokratie ein direktes Resultat der kulturellen Rückständigkeit Russlands war: Der Kampf für kulturellen Fortschritt war also auch ein Bestandteil des Kampfes gegen die wachsende Bürokratie. Aus diesem Grund konnte nur ein gebildetes und kulturelles Proletariat das staatliche Management in die eigenen Hände nehmen. Gleichzeitig wurde die neue Bürokratenschicht größtenteils als ein Auswuchs des bäuerlichen Konservatismus in Russland und des Mangels an moderner Kultur betrachtet.

Die auf dem Proletkult-Kongress vorgebrachte Resolution schien, obgleich sie vor der Annahme der NEP (Neue ökonomische Politik) verfasst worden war, diesen Sorgen Rechnung zu tragen. Ihr stärkster Punkt war, dass sie darauf beharrte, dass der Marxismus die kulturellen Errungenschaften der Vergangenheit keinesfalls ablehnte, sondern tatsächlich all das Gute aus ihnen verinnerlichte. Dies war eine klare Zurückweisung des „Ikonologismus“ von Proletkult, seiner Tendenz, alle vorherigen kulturellen Entwicklungen zu leugnen. Auch wenn Bogdanow selbst sich dieser Frage differenzierter annäherte, so gibt es doch keinen Zweifel, dass die immediatistische und ouvrieristische Haltung in Proletkult weit verbreitet war. Auf seiner ersten Konferenz wurde z.B. die Ansicht ausgedrückt, dass „alle Kultur der Vergangenheit als bürgerlich bezeichnet werden kann, dass dabei – ausser den Naturwissenschaften und technischen Kenntnissen (...) nichts lohnendes zu retten sei, und dass das Proletariat seine Arbeit mit der Zerstörung der alten Kultur beginnen und unmittelbar nach der Revolution mit dem Aufbau einer neuen fortfahren soll“ (aus: „Revolutionary Dreams: Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution“ von Richard Stites 1989 – eine sehr sorgfältige Untersuchung der zahlreichen kulturellen Experimente in den frühen Jahren der Revolution). In Tambow planten 1919 „die lokalen Anhänger des Proletkult alle Bücher in den Bibliotheken zu verbrennen und glaubten, dass mit dem beginnenden neuen Jahr die Regale nur noch mit proletarischen Werken aufgefüllt würden.“ (ebenda).

Entgegen dieser vergangenheitsbezogenen Sichtweise beharrte Trotzki in „Literatur und Revolution“ darauf, „...dass wir Marxisten immer mit der Tradition gelebt haben und dass wir gerade deshalb Revolutionäre geworden sind“. Die Überhöhung des Proletariats, wie es zu einem beliebigen Zeitpunkt ist, war nie die Haltung der Marxisten gewesen, die das Proletariat in seiner historischen Dimension betrachten, welche die entfernteste Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, wenn das Proletariat sich in der menschlichen Gemeinschaft auflösen wird, umschließt. Mittels sprachlicher Ironie wurde aus Proletkult oft „ein Kult des Proletariats“, der nur äußerlich radikal ist und leicht eingeholt werden kann vom Opportunismus, welcher auf einer beschränkten und unmittelbaren Vision der Klasse aufblüht. Derselbe Ouvrierismus fand seinen Ausdruck in der Neigung Proletkults zu behaupten, dass die proletarische Kultur nur das Produkt der Industriearbeiter sein könne. Doch wie Trotzki in Literatur und Revolution feststellte, waren die besten Künstler nicht notwendigerweise Arbeiter; die gesellschaftliche Dialektik, welche die radikalsten Kunstwerke herstellt, ist weitaus komplexer als die reduktionistische Ansicht, dass sie von den individuellen Mitgliedern der revolutionären Klasse kommen müsse. Dasselbe, wollen wir hinzufügen, trifft auf das Verhältnis zwischen der sozialen und politischen Revolution des Proletariats einerseits und neuen künstlerischen Durchbrüchen zu: Es gibt eine grundlegende Verbindung zwischen beiden, aber sie ist weder mechanisch noch national. Zum Beispiel: Während Proletkult versuchte, eine neue, „proletarische“ Musik in Russland zu kreieren, fand mit dem Durchbruch des Jazz eine der durchschlagendsten Entwicklungen in zeitgenössischer Musik im kapitalistischen Amerika statt.

Lenins Resolution drückte auch seinen unversöhnlichen Gegensatz zur Neigung von Proletkult aus, sich selbst auf autonome Weise, fast wie eine eigene Partei, mit Kongressen, einem Zentralkomitee und so weiter, zu organisieren. Und in der Tat schien diese Organisationsweise auf einer realen Verwechslung zwischen politischer und kultureller Sphäre zu beruhen, eine Tendenz, die beiden zu verschmelzen, und, im Falle Bogdanows, gar eine Versuchung, die kulturelle Sphäre als die wichtigere anzusehen.

Wir sollten dabei allerdings immer kritisch im Auge behalten, dass es sich hier um jene Periode handelte, in der Lenin sich feindlich gegen jede Form des Dissidententums in der Partei wandte. Wie wir in früheren Artikeln dieser Reihe bemerkt hatten, wurden 1921 die „Fraktionen“ verbannt, und linke Gruppen und Strömungen innerhalb der Partei gerieten ins volle Feuer, das 1923 in der physischen Repression gegen linkskommunistische Gruppen kulminierte. Und einer der Gründe für Lenins unüberbrückbaren Gegensatz zu Proletkult bestand darin, dass Letztere dazu neigte, zu einer Anlaufstelle für gewisse Dissidenten in und rund um der Partei zu werden. Die Betonung des Egalitarismus und der spontanen Kreativität der Industriearbeiter durch Proletkult kreuzte sich mit den Ansichten der Arbeiteropposition, und 1921 ließ eine Gruppe, die sich die Kollektivisten nannte, einen Text auf dem Proletkult-Kongress herumgehen, in dem neben der Sympathie für die Arbeiteropposition wie auch für Proletkult auch die Ansichten Bogdanows über die Philosophie und seine Analyse des Staatskapitalismus vertreten wurde, die eigentlich die NEP kritisierte. Ein Jahe später stellte die Gruppe Arbeiterwahrheit ähnliche Ansichten vor; Bogdanow wurde wegen Verwicklung in letztgenannter Gruppe kurzzeitig inhaftiert, obwohl er abstritt, sie in irgendeiner Weise unterstützt zu haben. (Nach dieser Episode zog sich Bogdanow aus der aktiven Politik zurück und konzentrierte sich auf die wissenschaftliche Arbeit.) So ist Lenins Beharren darauf, dass Proletkult sich selbst mehr oder minder in der staatlichen „Kulturinstitution“, dem Volkskommissariat für Erziehung, aufzulösen habe, in diesem Zusammenhang zu betrachten.

Unserer Ansicht nach ist die direkte Unterordnung der künstlerischen Bewegungen unter den Übergangsstaat nicht die richtige Antwort auf die Verwechslung zwischen der künstlerischen und der politischen Sphäre; tatsächlich neigt sie dazu, beides zu vermischen. Laut Senowia Sochor in Revolution und Kultur war Trotzki gegen Lenins Bemühungen, Proletkult im Staat verschwinden zu lassen, auch wenn er mit vielen Kritiken Lenins an Proletkult übereinstimmte; in „Literatur und Revolution“ stellt er eine deutlichere Grundlage zur Bestimmung der kommunistischen Politik gegenüber der Kunst vor: „Die marxistische Methode bietet die Möglichkeit, die Entwicklungsbedingungen für die neue Kunst zu beurteilen, all ihre Quellen zu beobachten und die fortschrittlichsten unter ihnen durch kritische Durchleuchtung der Wege zu unterstützen – mehr aber nicht. Die Kunst muss ihre Wege auf eigenen Füssen zurücklegen. Die Methoden des Marxismus sind nicht die Methoden der Kunst. Die Partei lenkt das Proletariat, nicht den historischen Prozess. Es gibt Gebiete, auf denen sie kontrolliert und fördert. Und es gibt Gebiete auf denen sie nur fördert. Es gibt schliesslich Gebiete, auf denen sie sich nur orientiert. Auf dem Gebiet der Kunst ist die Partei nicht berufen zu kommandieren. Sie kann kann und soll schützen, fördern und lediglich indirekt lenken. Sie kann und soll den verschiedenen Künstlergruppen, die sich aufrichtig um eine Annäherung an die Revolution bemühen, den bedingten Kredit ihres Vertrauens gewähren, um ihre künstlerische Gestaltung zu fördern. Und schon auf keinen Fall kann und wird die Partei sich auf den Standpunkt einer literarischen Clique stellen, die andere literarische Cliquen bekämpft, teilweise einfach nur, weil sie Konkurrenten sind.“ (Kapitel 7 „Die Parteipolitik in der Kunst“) 1938 äußerte sich Trotzki in Erwiderung auf die nazistischen und stalinistischen Absichten, die Kunst auf ein bloßes Anhängsel der Staatspropaganda zu reduzieren, noch deutlicher: „Wenn zur besseren Entwicklung der materiellen Produktion die Revolution ein sozialistisches Regime mit einer zentralisierten Kontrolle aufbauen muss, so muss zur Entwicklung der intelektuellen Kreativität ein Regime der individuellen Freiheit im anarchistischen Sinne etabliert werden. Keine Autorität, kein Diktat, nicht die geringsten Order von oben.“ (ebenda)

Trotzki ging auch bei dem allgemeinen Problem der proletarischen Kultur tiefer als Lenin: Während Lenins Resolution Raum für diese Auffassung ließ, lehnte sie Trotzki rundweg ab; und er tat dies auf der Basis gründlicher Überlegungen über die Natur des Proletariats als die erste revolutionäre Klasse in der Geschichte als eigentumslose und ausgebeutete Klasse. Dieses Verständnis, ein Schlüssel, um praktisch jeden Aspekt des proletarischen Klassenkampfes zu begreifen, wird in jenem Auszug aus „Literatur und Revolution“ äußerst deutlich aufgeführt, den wir im Anschluss an diesem Artikel veröffentlichen. Es gibt auch eine sehr kurze Zusammenfassung dieser Thesen über proletarische Kultur in der kurzen Einleitung zu diesem Buch: „Es ist grundfalsch, der bürgerlichen Kultur und der bürgerlichen Kunst die proletarische Kultur und die proletarische Kunst gegenüberzustellen. Diese letztgenannte wird es überhaupt nicht geben, da das proletarische Regime provisorisch, vorübergehend ist. Der historische Sinn und die moralische Grösse der proletarischen Revolution bestehen darin, dass sie den Grundstein für eine klassenlose, ersmals wahrhafte menschliche Kultur legt.“

„Literatur und Revolution“ wurde in der Periode von 1923–24 verfasst – mit anderen Worten, in genau jener Periode, in welcher der Kampf der Linken gegen die emporkommende stalinistische Bürokratie ernst zu werden begann. Trotzki schrieb dieses Buch in seinem Sommerurlaub. In gewisser Weise vermittelt es ein Bild von den Spannungen und Anstrengungen in der täglichen „politischen“ Auseinandersetzung innerhalb der Partei. Doch in einer anderen Beziehung war es auch Teil des Kampfes gegen den Stalinismus. Nachdem der ursprüngliche Proletkult im Anschluss an der Parteikontroverse 1920–21 einem rapiden Niedergang anheimfiel, erlebten Teile von ihm Mitte der 20er Jahre eine Wiedergeburt als falscher Radikalismus, der eines der Gesichter des Stalinismus ist. So verschaffte 1925 einer seiner Ableger, die Gruppe Proletarische Schriftsteller eine „kulturelle“ Ausrede für die Kampagne der Bürokratie gegen den Trotzkismus: „Trotski leugnet die Möglichkeit einer proletarischen Klassenkultur und Kunst mit dem Argument, dass wir auf eine klassenlose Gesellschaft zuschreiten. Doch mit demselben Argument verwerfen die Menschewiki die Notwendigkeit der Klassendiktatur, eines Klassenstaates und so fort. Die Standpunkte Trotzkis und Voronskis sind Trotzkismus angewandt auf Fragen der Ideologie und der Kunst“. Hier dient die Phraseologie der „Linken“ über eine Kunst ausserhalb von Klassen zur Kaschierung von opportunistischen Beschneidungen der kulturellen Aufgaben des Proletariates“. An anderer Stelle behauptete sie, dass „...der bemerkenswerte Erfolg der proletarischen Literatur nur durch den politischen und wirtschaftlichen Fortschritt detr arbeitenden Massen in der Sowjetunion möglich war.“ (“First Phase of the Cultural Revolution in Soviet Russia“, Wiliam G. Rosenberg, 1990). Doch dieses „politische und kulturelle Wachstum“ wurde nun unter dem Banner des „Sozialismus in einem Land“ ausgeführt. Stalins monströse  ideologische Revision, die die Diktatur des Proletariats mit dem Sozialismus verschmolz, um beide zu untergraben, erlaubte so gewissen Strängen von Proletkult zu behaupten, dass auf den Fundamenten einer sozialistischen Wirtschaft die proletarische Kultur tatsächlich errichtet worden sei.

Auch Bucharin lehnte Trotzkis Kritik der proletarischen Kultur ab, und zwar aus dem Grund, weil er nicht verstand, dass die Übergangsperiode zur kommunistischen Gesellschaft ein äußerst lang hingezogener Prozess sein kann. Infolge des Phänomens der ungleichen Entwicklung würde die Periode der proletarischen Diktatur lang genug dauern, so dass eine gesonderte proletarische Kultur entstehen kann. Dies war auch die theoretische Grundlage für die Abschaffung der Perspektive der Weltrevolution zugunsten des Aufbaus des „Sozialismus“ im isolierten Russland[iv].

Das blutige und grausame Register der stalinistischen Staaten auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene ist Beweis genug, dass das, was in diesen Ländern aufgebaut wurde, nicht das Geringste mit Sozialismus zu tun hat. Doch die völlige kulturelle Leere dieser Regimes, ihre Unterdrückung aller wirklichen künstlerischen Kreativität zugunsten der ekelerregendsten Art des totalitären Kitsches liefert eine weitere Bestätigung, dass sie niemals ein Ausdruck des Fortschritts zu einer wahrhaft menschlichen Kultur war, sondern ein besonders brutales Produkt dieses senilen und morbiden kapitalistischen Systems. Die Art und Weise, wie der stalinistische Apparat in Russland ab den 30er Jahren das ganze „avantgardistische“ Experimentieren in Kunst und Erziehung ablegte, ist zusammen mit der so genannten „Kulturrevolution“ in den 60er Jahren in China der wohl schlagendste Beweis dafür. Die traurige Geschichte der stalinistisch-maoistischen Leviathane bieten keine sonst wie gearteten Lehren über die kulturellen Themen, mit denen die Arbeiterklasse in der zukünftigen Revolution konfrontiert ist.                                                                                                 

CDW


[i] Eines der Resultate der Konterrevolution ist, dass die linkskommunistische Tradition, die den Marxismus während dieser Periode bewahrte und weiterentwickelte, wenig Zeit und Gelegenheit hatte, den allgemeinen Bereich von Kunst und Kultur zu untersuchen; und jene Beiträge, die geleistet worden waren (z.B. Rühle, Bordiga und andere), harren ihre Ausgrabung und Synthese.

[ii] Die „Ultimatisten“ waren zusammen mit den „Otsovisten“ eine Tendenz innerhalb des Bolschewismus, die nicht mit den parlamentarischen Taktiken der Partei nach dem Aufstand von 1905 einverstanden waren. Der Streit mit Lenin über Bogdanows philosophische Motive erhitzte sich, als er mit den mehr direkten politischen Divergenzen kombiniert wurde, und endete mit dem Ausschluss Bogdanows aus der bolschewistischen Gruppe 1909. Bogdanows Gruppe verblieb innerhalb der breiteren russischen solzialdemokratischen Partei und veröffentliche die Zeitschrift Vpered (Vorwärts) für die nächsten paar Jahre. Auch hier muss eine kritische Geschichte dieser frühen „linken“ Trends im Bolschewismus erst noch geschrieben werden.

[iii] siehe dazu: Revolution and Culture, The Bogdanov-Lenin Controversy von Senovia Sochor, Cornell University, 1988; um sich ein Bild über die Hauptunterschiede zwischen Lenin und Bogdanow zu machen. Der Ausgangspunkt des Autors ist jedoch eher akademisch als revolutionär. In der Frage des Staatskapitalismus verhielt sich Bogdanow kritisch gegenüber Lenins Neigung, ihn als eine Art Vorzimmer zum Sozialismus zu betrachten, und schien ihn als einen Ausdruck des kapitalistischen Abstiegs anzuerkennen (Kap. 4 in o.g. Schrift).

[iv] s. Isaac Deutscher, Der unbewaffnete Prophet.   Deutschers Kapitel über Trotzkis Schriften über die Kultur ist genauso brillant wie der Rest der Biographie, und wir haben ausgiebig davon für diesen Artikel Gebrauch gemacht. Es enthüllt jedoch auch das tragische Schicksal des Trotzkismus. Deutscher stimmt zu 99% der Ansicht Trotzkis über „proletarische Kultur“ zu, macht jedoch eine höchst bedeutende Konzession gegenüber Bucharins Idee, dass ein isoliertes „Übergangsregime“ jahrzehntelang oder länger existieren könne. Laut Deutscher und dem Nachkriegs-Trotzkismus waren die stalinistischen Regimes, die außerhalb der UdSSR etabliert wurden, genauso wie die UdSSR selbst allesamt „Arbeiterstaaten“, gefangen in einer etwas zwielichtigen Welt zwischen einer proletarischen Revolution zur nächsten – und „Trotzki unterschätzte zweifellos die Dauer der Diktatur des Proletariates und den damit unvermeidlich verbundenen bürokratischen Charakter.“ In Wahrheit war dies nichts anderes als eine kritische Verteidigung des stalinistischen Staatskapitalismus.

Theoretische Fragen: 

  • Kultur [42]

Dokumente aus dem Organisationsleben: Die Frage der Funktionsweise in der IKS

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Die Frage der Funktionsweise der Organisation in der IKS

Die IKS hat kürzlich eine Außerordentliche Konferenz abgehalten, die den Organisationsfragen gewidmet war. In unserer Territorialpresse und in der nächsten Ausgabe der Internationalen Revue werden wir auf die Arbeit dieser Konferenz zurückkommen. Da die hier behandelten Fragen große Ähnlichkeiten mit bereits in der Vergangenheit behandelten aufweisen, sahen wir es als nützlich an, Auszüge aus einem internen Dokument (das von der IKS einstimmig angenommen worden war) zu veröffentlichen, das als Grundlage im Kampf zur Verteidigung der Organisation diente. Wir haben diese Auseinandersetzung in den Jahren 1993–1995 geführt und darüber auch in der International Review Nr. 82 (engl./frz./span. Ausgabe) anlässlich des 11. Kongresses der IKS Rechenschaft abgelegt.
Der auf der Vollversammlung des IB1 im Oktober 1993 vorgelegte Aktivitätenbericht stellt die Existenz bzw. das Fortdauern von organisatorischen Schwierigkeiten in einer großen Anzahl von Sektionen der IKS fest. Der Bericht für den 10. Internationalen Kongress hatte bereits in aller Ausführlichkeit diese Schwierigkeiten behandelt. Er hatte vor allem auf die Notwendigkeit einer größeren internationalen Einheit der Organisation, auf eine lebendigere und strengere Zentralisation bestanden. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten sind ein Beweis dafür, dass die damals eingeleiteten, diesbezüglichen Anstrengungen nicht ausreichend waren. Die im Verlauf der letzten Periode verzeichneten Unregelmäßigkeiten in der Funktionsweise bringen das Vorhandensein von Verzögerungen und Lücken im Verständnis dieser Fragen zum Ausdruck. Wir haben den Rahmen unserer Prinzipien in Organisationsfragen aus den Augen verloren. Diese Situation verlangt von uns die Verantwortung, die auf dem 10. Kongress aufgeworfenen Fragen nach tiefgreifender anzugehen. Es ist notwendig, dass die Organisation, die Sektionen und alle Militanten sich nochmals über diese Grundfragen und besonders über die Prinzipien beugen, die eine für den Kommunismus kämpfende Organisation benötigt.
Ein solches Nachdenken war bereits im Anschluss an die Krise von 1981/82, von der die IKS damals erschüttert wurde (Verlust der Hälfte der Sektion in Großbritannien, Verlust von ca. 40 Militanten), erfolgt. Die Grundlage dieser Reflexionen hatte der Bericht über „Die Struktur und die Funktionsweise der Organisation“ (Internationale Revue Nr. 22), der auf der Außerordentlichen Konferenz im Januar 1982  angenommen worden war, gebildet. In diesem Sinn bleibt dieses Dokument nach wie vor ein Bezugspunkt für die Gesamtheit der Organisation2. Der nun folgende Text ist als Zusatz, Illustration und Aktualisierung (aufgrund der inzwischen gemachten Erfahrungen) des Textes von 1982 zu verstehen. Insbesondere möchte er die Aufmerksamkeit der Organisation und der Militanten auf die Erfahrung nicht nur der IKS, sondern auch anderer revolutionärer Organisationen in der Geschichte lenken.

1. Die Wichtigkeit des Problems in der Geschichte

Die Frage der Struktur und der Funktionsweise der Organisation stellte sich in allen Phasen der Arbeiterbewegung. Jedesmal waren die Auswirkungen dieser Fragestellung von größter Bedeutung. Dies ist kein Zufall. In der Organisationsfrage findet man auf konzentrierte Weise eine ganze Reihe von wichtigen Aspekten der revolutionären Perspektive des Proletariats:
die Grundeigenschaften der kommunistischen Gesellschaft und der Beziehungen, die sich unter ihren Mitgliedern herausbilden;
das Wesen des Proletariats als Erschaffer des Kommunismus;
die Natur des Klassenbewusstseins, die Eigenschaften seiner Entwicklung sowie seine Vertiefung und Ausdehnung in der Klasse;
die Rolle der kommunistischen Organisation im Prozess der Bewusstseinsbildung im Proletariat.
Die Folgen der Entwicklung von Meinungsverschiedenheiten zu Organisationsfragen wirken sich oft dramatisch oder sogar katastrophal auf das Leben der politischen Organisationen des Proletariats aus. Das ist so aus folgenden Gründen:
Solche Meinungsverschiedenheiten sind in letzter Instanz Anzeichen des Eindringens von dem Proletariat feindlich gesinnten Ideologien, die aus der Bourgeoisie oder dem Kleinbürgertum stammen.
Mehr als in anderen Fragen wirken sich Meinungsverschiedenheiten hier notwendigerweise auf die Funktionsweise der Organisation aus; sie können gar ihre Einheit und Existenz überhaupt bedrohen.
Insbesondere neigen sie dazu, eine persönliche und somit emotionale Form anzunehmen.
Unter den vielen historischen Beispielen dieses Phänomens wollen wir zwei der bekanntesten herausgreifen:
den Konflikt zwischen dem Generalrat der I. Internationalen und der Allianz;
die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki während des 2. Kongresses der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) 1903.
Im ersten Beispiel ist es klar, dass die Bildung der Internationalen Allianz für die sozialistische Demokratie innerhalb der I. Internationalen ein Ausdruck des Einflusses der kleinbürgerlichen Ideologie war, mit der die Arbeiterbewegung sich in ihren ersten Schritten immer wieder auseinandersetzen musste. Es ist also keineswegs ein Zufall, wenn sich die Allianz hauptsächlich aus Vertretern von Handwerkern (Uhrenarbeiter aus dem Schweizer Jura beispielsweise) oder aus Gebieten, in denen das Proletariat noch schwach entwickelt war (wie in Italien und hauptsächlich in Spanien), zusammensetzte.
Die Bildung der Allianz stellte für die Gesamtheit der I. Internationalen aus folgenden Gründen eine Gefahr dar:
Sie war eine „Internationale in der Internationalen“ (Marx), die zugleich innerhalb und ausserhalb derselben existierte, was für sich selbst schon eine Infragestellung der Einheit bedeutete.
Sie arbeitete klandestin und setzte ihr Treiben trotz des Auflösungsbeschlusses der I. Internationalen fort.
Sie widersetzte sich den Auffassungen der I. Internationalen auf Organisationsebene, hauptsächlich in der Frage der Zentralisierung (Verteidigung des Föderalismus), obwohl sie selbst übrigens ultrazentralistisch in Gestalt des mit eiserner Hand von Bakunin beherrschten Zentralkomitees funktionierte. Sie forderte von ihren Mitgliedern „die strengste Disziplin auf der Grundlage der totalen Selbstverleugnung und Selbstaufopferung“ (Bakunin).
Die Allianz stellte eine totale Verneinung der Grundlagen dar, auf denen die Internationale gegründet worden war. Um zu verhindern, dass sie in die Hände der Allianz fällt und zerstört wird, haben Marx und Engels auf dem Kongress von Den Haag 1872 den Vorschlag gemacht, ihren Sitz nach New York zu verlegen, dem der Generalrat zustimmte. Sie wussten, dass diese Verlegung zu einem langsamen Absterben der I. Internationalen führen würde (was 1872 auch geschah). Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune, die einen schweren Rückschlag für die Klasse bewirkte, haben sie dieses Ende einer Degenerierung vorgezogen, die alle positiven Errungenschaften der Jahre 1864 bis 1872 diskreditiert hätte.
Der Konflikt zwischen der I. Internationalen und der Allianz hat sich sehr stark um Marx und Bakunin personalisiert. Letzterer, der der Internationalen erst 1868 nach seiner gescheiterten Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Demokraten in der Liga für Frieden und Freiheit beitrat, beschuldigte Marx, Diktator des Generalrats und somit der gesamten IAA zu sein.3 Das war eine vollständig falsche Anschuldigung (es reicht aus, hierzu die Protokolle der Treffen des Generalrats und der Kongresse der Internationalen zu studieren). Marx seinerseits hat völlig richtig die Intrigen des heimlichen Chefs der Allianz denunziert. Diese Intrigen sind durch den geheimen Charakter und die sektiererischen Auffassungen der Allianz erleichtert worden. Die sektiererische und konspirative Konzeption sowie das Charisma Bakunins begünstigten seinen persönlichen Einfluss auf seine Anhänger und die Ausübung seiner Autorität als „Guru“. Mit der Behauptung, Opfer einer Verfolgungskampagne zu sein, säte er Verwirrung und gewann einige Anhänger unter einer gewissen Anzahl von schlecht informierten oder gegenüber den Ideologien des Kleinbürgertums offenen Arbeitern.
Die gleichen Charakteristiken beobachtet man bei der Spaltung zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki, die sich von Anbeginn über Organisationsfragen auftat.
Wie sich später bestätigte, war das Vorgehen der Menschewiki vom Eindringen bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ideologien in die russische Sozialdemokratie bestimmt (obwohl auch gewisse Vorstellungen der Bolschewisten die Folge einer bürgerlich-jakobinistischen Sichtweise waren). Lenin stellte in Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück dazu fest, „dass die Opposition in ihrer Mehrheit aus den intelektuellen Elementen der Partei...” bestand, und ein Vehikel kleinbürgerlicher Organisationsauffassungen war.
(LW Bd.7, S 197ff)
Zweitens vernachlässigte die Organisationsauffassung, die von den Menschewiki auf dem 2. Kongress vertreten wurde und die Trotzki lange geteilt hatte (obwohl er sich deutlich von ihnen besonders in der Frage der Natur der Revolution in Russland sowie der Aufgaben des Proletariats in ihr distanziert hatte), die Bedürfnisse des revolutionären Kampfes des Proletariats und barg die Zerstörung der Organisation in sich. Einerseits war sie unfähig, eine klare Unterscheidung zwischen Parteimitgliedern und Sympathisanten vorzunehmen, wie dies die Meinungsverschiedenheit zwischen Lenin und Martow, dem Führer des menschewistischen Flügels, über den Punkt 1 der Statuten zum Ausdruck brachte4. Andererseits war sie vor allem der Ausdruck einer vergangenen Periode der Arbeiterbewegung (als die Allianz  noch von der sektiererischen Phase der Arbeiterbewegung gekennzeichnet war):
„Unter der Bezeichnung ‚Minderheit‘ haben sich in der Partei heterogene Elemente zusammen gefunden, die den bewussten oder unbewussten Wunsch vereint, Zirkelbeziehungen aufrecht zu erhalten, der Partei vorausgehende Organisationsformen. Gewisse bedeutende Mitglieder der alten einflussreichsten Zirkel, die es nicht gewihnt sind in Organisationsfragen eingeschränkt zu werden, die sich der Parteidisziplin fügen müssen, neigen dazu, gedankenlos di e allgemeinen Parteiinteressen mit ihren Zirkelinteressen zu verwischen, die tatsächlich in der Phase des Zirkelwesens zusammenfallen mochten.“ (Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück) Insbesondere erhoben dies Elemente aufgrund ihrer Kleinbürgerlichen Haltung „...das Banner der Rebellion gegenn die unabdingbaren Einschränkungen durch die Organisation, und sie errichteten ihren spntanen Anarchismus zum Kampfprinzip (...), indem sie mehr ‚Toleranz‘ forderten, etc.“
(a.a.O.)
Drittens führten der Zirkelgeist und der Individualismus der Menschewiki zur Personalisierung von politischen Fragen. Der dramatischste Augenblick des Kongresses, der einen unüberbrückbaren Graben zwischen den beiden Gruppen schuf, war die Nominierung für die diversen verantwortlichen Instanzen der Partei, insbesondere für die Redaktion der Iskra, die als die eigentliche politische Führung angesehen wurde (während das Zentralkomitee hauptsächlich für Organisationsfragen zuständig war). Vor dem Kongress bestand die Redaktion aus sechs Mitgliedern: Plechanow, Lenin, Martow, Axelrod, Starover (Potressow), Vera Sassulitsch. Aber nur die drei Erstgenannten waren wirklich Redakteure, während Letztere praktisch nichts taten oder sich damit begnügten, Artikel zu senden5. Um den in der alten Redaktion herrschenden Zirkelgeist zu überwinden, schlug Lenin dem Kongress eine Formel  vor, die die Ernennung einer geeigneteren Redaktion ermöglichen sollte, ohne dass dies als Misstrauensvotum gegenüber jenen drei Militanten erschien: Der Kongress wählte eine kleinere Redaktion aus drei Mitgliedern, die dann darüber hinaus in Übereinstimmung mit dem Zentralkomitee weitere Mitglieder kooptieren sollte. Nachdem dieser Vorschlag zunächst von Martow und den anderen Redakteuren akzeptiert wurde, änderte Martow am Ende der Debatte seine Meinung, als er mit Lenin über die Frage der Statuten in einen Gegensatz geriet (und als evident wurde, dass diese alten Genossen Gefahr liefen, ihre Stellung zu verlieren): Er verlangte nun vom Kongress (in der Tat schlug Trotzki eine Resolution in diesem Sinn vor), dass die alte Redaktionskommission mit ihren sechs Mitgliedern „bestätigt“ wird. Es war schließlich Lenins Vorschlag, der den Ärger und das Wehklagen der späteren Menschewiki (Minderheit) auslöste. Martow erklärte „im Namen der Mehrheit der ehemaligen Redaktion, dass keiner von uns in dieser neuen Redaktion teilnehmen wird“.
(O. a.a. LW Bd. 7, S. 318)
Anstelle politischer Betrachtungen setzte Martow die sentimentale Verteidigung seiner alten Freunde, den Opfern des „Belagerungszustands, der in der Partei herrscht“. Der Menschewist Tsarew erklärte: „Wie sollen sich die nicht gewählten Mitglieder der Redaktion verhalten, wenn der Kongress sie nicht mehr als Teil der Redaktion sehen will?“ Die Bolschewiki verurteilten die konspiratorische Art und Weise, wie diese Probleme dargestellt wurden.6 In der Folge lehnten die Menschewiki die Entscheidungen des Kongresses ab und sabotierten sie. Sie boykottierten die gewählten Zentralorgane und richteten sytematische, persönliche Angriffe gegen Lenin. Trotzki beispielsweise bezeichnete ihn als „Maximilius Lenin“ und bezichtigte ihn, à la Robespierre die „Rolle des Unbestechlichen zu spielen“ sowie eine „Republik der Tugend und des Terrors“ zu errichten (Bericht der sibirischen Delegation). Die Ähnlichkeit zwischen den Anklagen der Menschewiki gegen Lenin und denjenigen der Allianz gegen Marx und seine „Diktatur“ ist frappierend. Angesichts dieses Verhaltens der Menschewiki, ihrer Personalisierung von politischen Fragen, ihrer Attacken, die ihn ins Visier nahmen, und der Subjektivität Martows und seiner Freunde antwortete Lenin: „Betrachte ich das Verhalten der Martowleute  nach dem Parteitag ... so kann ich nur sagen, dass das ein irrsiniger, eines Parteimitglieds unwürdiger Versuch ist, die Partei zu sprengen... und weshalb? Nur weil man unzufrieden ist mit der Zusammensetzung der Zentralstellen, denn objektiv war das die e i n z i g e  Frage, in der wir uns trennten, die subjektiven Urteile aber ( wie Kränkung, Beleidigung, Hinauswurf, Beseitigung, Verunglimpfung etc. etc) sind die Frucht gekränkter Eigenliebe und krankhafter Phantasie. Diese krankhafte Phantasie und diese gekränkte Eigenliebe führen geradewegs zu schädlichen Klatschereien nämlich dazu, dass man, ohne die Tätigkeit der neuer Zentralstellen kennengelernt und ohne sie gesehen zu haben, Gerüchte verbreitet über ihre ‚Arbeitsunfähigkeit‘, über die ‚eiserne Hand‘ eines Iwan Iwanowitsch... Die russische  Sozialdemokratie muss den letzten schwierigen Übergangg vollziehen vom Zirkelwesen zum Parteiprinzip, vom Spiessertum zur Erkenntnis der revolutionären Pflicht, vom Handeln auf Grund von Klatschereien und Zirkeleinflüssen zur Disziplin.“ (Bericht vom 2. Kongress der SDAPR;
LW 7, S. 20)

2. Organisationsprobleme in der Geschichte der IKS

Wie alle anderen Organisationen des Proletariats hat auch die IKS mit ähnlichen organisatorischen Schwierigkeiten, mit denen wir uns weiter oben befassten, zu tun gehabt. Unter diesen Schwierigkeiten sind Folgende zu nennen:
1974: die Debatte in der Gruppe Révolution Internationale, der späteren französischen Sektion der IKS, über die Zentralisierung; Bildung und Austritt der „Bérard–Tendenz“;
1978: die Bildung der „Sam-MM-Tendenz“, die 1979 die GCI gründete;
1981: die Krise der IKS, Bildung und Austritt der „Chénier-Tendenz“;
1984: das Auftreten der Minderheit, die sich 1985 als „Tendenz“ konstituieren und dann die IKS verlassen sollte, um die FECCI zu gründen;
1987/88: die Schwierigkeiten in der spanischen Sektion, die zum Verlust der Sektion im Norden des Landes führten;
1988: die Dynamik der Anfechtung und Demobilisierung in der Pariser Sektion, die infolge des Gewichts des Zerfalls auf unsere Reihen auf dem 8. Kongress von RI (Révolution Internationale, der IKS-Sektion in Frankreich) ans Tageslicht getreten waren.
Trotz ihrer Unterschiede kann man aus diesen Schwierigkeiten eine Reihe von gemeinsamen Merkmalen destillieren, die an die Probleme anknüpfen, die in der bisherigen Geschichte der Arbeiterbewegung bereits vorgekommen waren:
das Gewicht der kleinbürgerlichen Ideologie, insbesondere des Individualismus;
die Infragestellung des einheitlichen und zentralisierten Charakters der Organisation;
die Bedeutung der persönlichen und subjektiven Faktoren.
Es würde zuviel Platz einnehmen, wenn wir nun all diese schwierigen Perioden Revue passieren lassen würden. Es genügt vollauf, jene Merkmale hervorzuheben, die stets, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, präsent waren.

a) Das Gewicht der kleinbürgerlichen Ideologie

Dieses Gewicht wird deutlich, wenn man untersucht, was aus der Tendenz von 1978 geworden ist: Die GCI (Group Communiste Internationale) hat sich einer Art von Anarcho-Bordigismus hingegeben, begeistert sich für terroristische Aktivitäten und misstraut den Kämpfen des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern, während sie angebliche proletarische Kämpfe in der Dritten Welt glorifiziert. In der Dynamik jener Gruppe von Genossen, die die FECCI gründen sollten, haben wir frappante Ähnlichkeiten mit jenen identifiziert, die die Menschewiki 1903 motiviert hatten (s. den Artikel „Die externe Fraktion der IKS“, Revue Internationale Nr. 45, engl., franz., span.), insbesondere das Gewicht des intellektuellen Elements. In der Dynamik der Anfechtung und Demobilisierung, die die Pariser Sektion betroffen hatte, haben wir bereits die Bedeutung des Zerfalls hervorgehoben, der das Eindringen der kleinbürgerlichen Ideologie in unsere Reihen begünstigte, insbesondere in der Form des „Demokratismus“

b) Die Infragestellung des einheitlichen und zentralisierten Charakters der Organisation

Es handelt sich hier um ein Phänomen, das wir systematisch und bezeichnenderweise während der verschiedenen Organisationsschwierigkeiten der IKS angetroffen haben:
Den Ausgangspunkt der Dynamik, die zur „Bérard-Tendenz“ führte, war der Beschluss der Pariser Sektion, eine Organisationskommission (OK) zu gründen. Eine gewisse Anzahl von Genossen, besonders die Mehrheit derjenigen, die aus der trotzkistischen LO (Lutte Ouvrier)e stammten, sahen in diesem embryonalen Zentralorgan die „große Gefahr einer Bürokratisierung“ der Organisation. Bérard verglich das OK unaufhörlich mit dem Zentralkomitee von LO (Bérard war mehrere Jahre lang Mitglied dieser Organisation gewesen), er setzte RI mit dieser trotzkistischen Organisation gleich. Dieses Argument hatte einen großen Einfluss auf die anderen Genossen seiner „Tendenz“, denn alle (außer einer) kamen von LO.
Anlässlich der Krise von 1981 machte sich (mit Unterstützung des dubiosen Elements Chénier, aber nicht nur mit seiner) die Sichtweise breit, dass jede lokale Sektion eine eigene Politik bezüglich der Intervention verfolgen könne, was eine totale Infragestellung des Internationalen Büros (IB) und seines Sekretariats (IS) bedeutete (man warf diesen Organen insbesondere ihre Auffassung über die Linke in der Opposition sowie die Provozierung einer stalinistischen Degeneration vor). Zwar vertrat man die Notwendigkeit von Zentralorganen, doch beschränkte man sie letztlich auf die Rolle bloßer Briefkästen.
In der ganzen Dynamik, die zur Bildung der FECCI führte, machte sich erneut die Infragestellung der Zentralisierung bemerkbar, jedoch mit dem Unterschied, dass fünf von zehn Mitgliedern der „Tendenz“ im IB waren. Sie wurde hauptsächlich durch wiederholte Akte der Disziplinverletzung gegenüber  dem IB, aber auch gegenüber anderen Instanzen der Organisation in Frage gestellt: In ihrer gewissermaßen aristokratischen Haltung betrachteten sich bestimmte Mitglieder der „Tendenz“ als „über den Gesetzen stehend“. Konfrontiert mit der Notwendigkeit der Disziplin in der Organisation, erblickten diese Militanten darin eine „stalinistische Degenerierung“ und wiederholten die Argumente der „Chénier-Tendenz“, die sie selbst drei Jahre zuvor bekämpft hatten.
Die Schwierigkeiten der Sektion in Spanien von 1987/88 hängen direkt mit dem Problem der Zentralisierung zusammen. Die neuen Militanten der Sektion von San Sebastian gerieten in eine Dynamik, die zur Anfechtung der Sektion von Valencia führte, die gleichzeitig als Zentralorgan wirkte. In der „baskischen“ Sektion existierte eine Reihe von Meinungsverschiedenheiten und politischen Konfusione bemerkenswerterweise über die Frage der Arbeitslosenkomitees; Konfusionen, die zu einem beträchtlichen Teil auf die linksextremen Ursprünge gewisser Elemente dieser Sektion zurückzuführen waren. Doch anstelle einer Diskussion über diese Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Organisation, wurde dies zum Anlass genommen für eine Art „My-home-is-my-castle“-Politik und für eine prinzipielle Ablehnung aller Orientierungen von Valencia. Infolge dieser Dynamik verlor die Sektion in Spanien die Hälfte ihrer Mitglieder.
Im Geist der Anfechtung und Demobilisierung, der sich 1988 in der französischen Sektion und besonders in Paris breitmachte,  drückte sich die Infragestellung der Zentralisierung im Wesentlichen gegen das Zentralorgan der Sektion aus. Am klarsten wurde diese Infragestellung durch ein Mitglied der Organisation ausgedrückt, das in seinen Texten und in seinem Verhalten eine dem Anarcho-Rätekommunismus nahe Vorgehensweise entwickelte. Insbesondere enthielt einer seiner ersten Beiträge eine Kritik der Zentralorgane und die Idee des Rotationsprinzips bei der Ernennung der Militanten für dieses Organ.
Die Ablehnung bzw. Anfechtung der Zentralisierung stellte jedoch nicht die einzige Form der Infragestellung des Einheitscharakters der Organisation während all der erwähnten schwierigen Momente dar. Es sei hier eine weitere Manifestation dieser Dynamik hinzugefügt, die, wie es von Lenin 1903 getan wurde, als „Zirkel“, ja, gar als „Clan“ beschrieben werden kann. Das heißt, eine informelle Umgruppierung einer gewissen Anzahl von Genossen auf der Basis nicht einer politischen Übereinstimmung, sondern von seltsamen Kriterien wie persönlicher Affinitäten, der Unzufriedenheit über diese oder jene Orientierung der Organisation oder die Anfechtung eines Zentralorgans.
Alle „Tendenzen“ die sich bis auf den heutigen Tag innerhalb der IKS formiert hatten, unterlagen mehr oder weniger dieser Dynamik. Aus diesem Grund führten sie übrigens auch alle zur Abspaltung. Wir haben jedes Mal darauf hingewiesen: Die Tendenzen bildeten sich nicht auf der Grundlage einer positiven Orientierung als Alternative zur von der Organisation eingenommenen Position, sondern als eine Ansammlung von „Unzufriedenen“, die erst alle ihre Divergenzen in einen gemeinsamen Topf warfen und anschließend versuchten, sich selbst eine gewisse Kohärenz zu verleihen. Auf solchen Grundlagen konnte eine Tendenz nichts Positives hervorbringen, denn ihre Dynamik bestand nicht darin, die Organisation durch eine möglichst große Klarheit zu stärken, sondern im Gegenteil in einer (oft unbewussten) Vorgehensweise, die zerstörerisch für die Organisation ist. Solche Tendenzen waren nicht das organische Produkt der IKS oder des Proletariats, sondern der Ausdruck des Eindringens von fremden Einflüssen. Im Allgemeinen handelte es sich hierbei um die kleinbürgerliche Ideologie. Folglich erscheinen diese Tendenzen  wie Fremdkörper innerhalb der IKS. Deshalb stellen sie eine Gefahr für die Organisation dar, daher führen sie fast zwangsläufig zu Abspaltungen.7
In gewisser Weise wies die Bérard-Tendenz die grösste Homogenität auf. Doch es gab kein gemeinsames Verständnis über die Fragen ihres Ursprungs. Ihre „Homogenität“ basierte im Wesentlichen auf:
dem gemeinsamen Ursprung (LO) der Mitglieder dieser Tendenz, die sie spontan in einer gemeinsamen Vorgehensweise und insbesondere in der Ablehnung der Zentralisierung vereinigte;
dem Charisma von Bérard, der ein brilliantes Element war und dessen Interventionen weniger erfahrene Elemente blendeten,  die in ihrer Gesamtheit keine große Ahnung hatten und sich ihm blindlings anschlossen.
Aus diesem letzgenannten Grund findet man in dieser „Tendenz“ sehr akademistische und gleichzeitig eher aktivistische Elemente vor. Es erübrigt sich zu sagen, dass die „Kommunistische Tendenz“ die erste Nummer ihrer Publikation nicht überlebte.
Was die anderen „Tendenzen“ der IKS anbelangt, beinhaltete jede ein Allerlei  von Positionen.
Tendenz Sam-MM: tendenzieller Fall der Profitrate als Erklärung für die Wirtschaftskrise (Sam) plus die proletarische Natur des Übergangsstaates (Sam) plus bordigistische Ansichten über die Rolle der Organisation (MM) plus Überschätzung der Klassenkämpfe in der 3. Welt (Ric);
Tendenz Chénier: Ablehnung der Analyse über die Linke in der Opposition plus Verwandlung von gewerkschaftlichen Organismen in Organe des Klassenkampfes plus stalinistische „Degenerierung“ der IKS (dazu verdeckte Praktiken eines vielleicht im Dienste des bürgerlichen Staates stehenden Individuums);
Tendenz FECCI: nichtmarxistische Sichtweise des Klassenbewusstseins (ML) plus rätekommunistische Schwächen (JA und Sander) plus Meinungsverschiedenheiten über die Intervention der IKS in die gewerkschaftlich organisierten Aktionen zur Lähmung der Arbeiterklasse (ROSE) plus Ablehnung der Begriffe Zentrismus und Opportunismus (McIntosh).
Betrachten wir den zusammengewürfelten Charakter dieser Tendenzen, so muss man sich fragen, worauf sich denn ihre Vorgehensweise stützte.
Ursprünglich gab es zweifellos Unzufriedenheiten und Konfusionen über allgemeine politische wie auch über organisatorische Fragen. Doch nicht jeder Genosse, der in diesen Fragen anderer Meinung war, schloss sich diesen Tendenzen an. Andererseits haben gewisse Genossen, die anfangs keine Meinungsverschiedenheiten hatten, sie im weiteren Verlauf „entdeckt”, um sich der Bildung einer „Tendenz“ anzuschließen Deshalb müssen wir, wie das bereits Lenin 1903 gemacht hat, an einen anderen Aspekt des Organisationslebens erinnern: an die Bedeutung „persönlicher“ Fragen und der Subjektivität.

c) Die Bedeutung „persönlicher“ Fragen und der Subjektivität

Die Fragen bezüglich Verhaltensweisen, Benehmen, Subjektivität, emotionalen Reaktionen von Militanten sowie der Personifizierung von bestimmten Debatten besitzen keine „psychologische“ Natur, sind aber eminent politisch. Perönlichkeit, individuelle Geschichte, Kindheit, emotionale Probleme u. a. erlauben uns nicht, regelwidrige, abweichende Verhaltensweisen von Mitgliedern der Organisation zu erklären, die sie in diesem oder jenem Fall angenommen haben. Hinter solchem Benehmen findet man immer, direkt oder indirekt, Individualismus oder Sentimentalitäten, welche Ausdruck von nicht-proletarischen Klassen sind: dem Bürgertum und Kleinbürgertum. Man kann zumeist sagen, dass bestimmte Persönlichkeiten angesichts des Drucks von solchen ideologischen Einflüssen zerbrechlicher sind als andere.
Das bedeutet nicht, dass „persönliche“ Aspekte keine wichtige Rolle im Leben der Organisation spielen, wie man anhand zahlreicher Beispiele sehen kann:
Die Bérard-Tendenz: Es genügt die Tatsache aufzuzeigen, dass einige Tage nach der Einsetzung einer Organisationskommission, die von Bérard nicht anerkannt wurde, derselbe Bérard gegenüber MC8 folgenden Handel vorschlug: „Ich werde für die Untersuchungskommission stimmen, wenn du mich für sie vorschlägst. Andernfalls werde ich kämpfen.” MC machte den Vorfall nicht publik, um Bérard nicht öffentlich „niederzumachen“ und um zu ermöglichen, dass die Debatte an die Wurzeln gelangt. Die OK stellte also eine Gefahr der „Bürokratisierung“ dar, weil Bérard nicht aufgenommen wurde. Kein weiterer Kommentar!
Die Sam-MM-Tendenz:  Sie setzte sich aus drei Gruppen (teilweise familiärer Natur) zusammen, deren „Anführer“ verschiedene Vorurteile hatten, welche alle in der Anfechtung der Zentralorgane zusammenfanden. Da „es keinen Platz für mehrere männliche Krokodile im selben Teich gibt“ (wie ein afrikanisches Sprichwort sagt), trennten sich die drei kleinen Krokodile bald darauf. Sam spaltete sich als erster von der GCI ab, um die Eintagsfliege der „Fraction Communiste Internationaliste“ zu gründen; später verrließ auch MM die GCI, um die „Movement Communiste“ zu bilden.
Die Chénier-Tendenz: Persönliche Konflikte und Persönlichkeiten spalteten die englischen Sektion in zwei Gruppen, welche nicht miteinander sprachen und zum Beispiel in  verschiedenen Restaurants essen gingen. Militante aus dem Ausland, welche diese Treffen besuchten, wurden von dem einen oder dem anderen Clan vereinnahmt und mit Klatsch über die anderen bedrängt. Die Krise wurde durch die Manöver von Chénier, der ständig Öl ins Feuer goss, noch verschlimmert9:
Die EFICC-Tendenz: Abgesehen von den politischen Differenzen (welche unvereinbar waren) war eine Hauptquelle für den Werdegang derjenigen, die die EFICC gründeten, der verletzte Stolz einiger (besonders JA und ML), die es wenig gewohnt waren, kritisiert zu werden (besonders von MC), und die „Solidarität“, welche ihre alten Freunde ihnen gegenüber bekunden wollten. Wenn man die Geschichte des zweiten Kongresses der SDAPR untersucht und die Affäre der „EFICC-Tendenz“ erlebt hat, stößt man auf all die Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Ereignissen. Doch wie Marx sagte: „die Geschichte wiederholt sich, zuerst als Tragödie und dann als Farce.”
Persönliche Fragen spielten nicht nur im Zeitraum sich bildender Tendenzen in verschiedener Hinsicht eine Rolle. So entwickelten sich zurzeit der Schwierigkeiten in der spanischen Sektion 1987–88 unter den Genossen aus San Sebastian, die auf einer unzureichend soliden politischen Grundlage und zu einem erheblichen Umfang aufgrund der Persönlichkeit integriert worden waren, sehr starke Animositäten gegenüber gewissen Genossen aus Valencia. Dieser personalisierte Ablauf wurde besonders betont durch den ungesunden und  entstellten Geist eines der Elemente aus San Sebastian und vor allem durch die Agitation Albars, der eine Triebkraft des Kerns in Lugo war und dessen Verhalten dem von Chénier ähnelte: Geheimkontakte und -korrespondenz, Verunglimpfungen und Verleumdungen, der Einsatz von Sympathisanten, um auf die Genossen aus Barcelona „einzuwirken”, die schließlich die IKS verließen 
Diese unvermeidlicherweise zu schnelle und oberflächliche Untersuchung, der organisatorischen Schwierigkeiten, auf die die  IKS im Verlauf ihrer Geschichte gestoßen ist, enthüllt trotzdem zwei wesentliche Tatsachen:
Diese Schwierigkeiten sind nicht ungewöhnlich und existierten die gesamte Geschichte der Arbeiterklasse hindurch.
Die IKS ist von diesen Arten von Schwierigkeiten wiederholt und häufig konfrontiert worden.
Gerade das letzte Element muss die Organisation und die Genossen dazu anregen, die Organisationsprinzipien, welche 1982 von der Außerordentlichen Konferenz im „Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre“ und in den Statuten ausgearbeitet worden waren, gründlich zu studieren.

3. Die prinzipiellen Punkte des  „Berichts zur Struktur und Funktionsweise“ von 1982 und der Statuten.

Die Grundidee des Berichts von 1982 ist die Einheit der Organisation. In diesem Dokument war die Idee zuerst unter dem Gesichtspunkt der Zentralisierung behandelt worden, ehe sie unter dem Gesichtspunkt der Beziehungen der Militanten zur Organisation betrachtet wurde. Die Wahl dieser Reihenfolge entsprach den Problemen, auf die die IKS 1981 gestoßen war, als die Schwächen durch die Anfechtung der Zentralorgane und der Zentralisierung offenkundig wurden. Heute sind die meisten Schwierigkeiten, denen sich die Sektionen gegenübersehen, nicht direkt mit der Frage der Zentralisierung verknüpft, sondern viel mehr mit dem Organisationsgewebe, mit dem Platz und den Verantwortlichkeiten von Militanten innerhalb der Organisation. Und selbst wenn Schwierigkeiten bezüglich der Zentralisierung aufkommen, wie in der französischen Sektion, gehen sie zurück auf das vorhergehende Problem. Daher ist es bei der Bewertung der verschiedenen Aspekte des Berichts von 1982 angebracht, mit dem letzten
– Punkt 12 – zu beginnen, der richtigerweise die Beziehungen zwischen der Organisation und den Militanten betrifft

3 .1. Die Beziehungen zwischen den Militanten und der Organisation

a) Das Gewicht des Individualismus

Eine grundlegende Bedingung der Fähigkeit einer Organisation, ihre Aufgaben innerhalb der Klasse zu erfüllen, ist das richtige Verständnis des Verhältnisses zwischen ihren Mitgliedern und der Organisation. Dies ist eine in der gegenwärtigen Zeit besonders schwer zu verstehende Frage, weil es einen organischen Bruch zwischen den Fraktionen der Vergangenheit und dem Einfluss der Studenten in den revolutionären Organisationen in der Zeit nach 1968 gegeben hat, der das Wiederauftauchen eines Lasters aus der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts bewirkt hat: den Individualismus.“ (Bericht von 1982, Punkt 12)
Es ist notwendig festzustellen, dass zu den Ursachen des Eindringens des Individualismus, welche bereits identifiziert wurden, heute noch das Gewicht des Zerfalls hinzukommt. Im Besonderen fördert der Zerfall die „Atomisierung“ und das „Jeder für sich“. Es ist wichtig, dass sich die ganze Organisation vollständig bewusst ist über diesen konstanten Druck, den der verfaulende Kapitalismus in den Köpfen der Militanten ausübt. Ein Druck, welcher außerhalb einer offen revolutionären  Periode nur wachsen kann. In diesem Sinne sind die  folgenden Punkte, die auf die Schwierigkeiten und Gefahren antworten, welche bereits in der Vergangenheit auf die Organisation gelauert haben, heute gültiger denn je. Selbstverständlich darf uns dies nicht entmutigen, sondern im Gegenteil zu noch größerer Wachsamkeit gegenüber diesen Schwierigkeiten und Gefahren ermutigen.

b) Die „Erfüllung“ der Militanten

„Das gleiche Verhältnis, das zwischen einem besonderen Organismus (Gruppe oder Partei) und der Klasse besteht, existiert auch zwischen der Organisation und dem Militanten. Und ebenso wenig, wie die Klasse  für die Bedürfnisse der kommunistischen Organisation existiert, existieren kommunistische Organisationen, um die Probleme des individuellen Militanten zu lösen. Die Organisation ist nicht das Produkt der Bedürfnisse ihrer Mitglieder. Man ist Militanter in dem Maße, wie man die Aufgaben und die Funktion der Organisation verstanden hat und ihnen beipflichtet.
Infolgedessen zielt die Verteilung der Aufgaben und der Verantwortlichkeiten innerhalb der Organisation nicht auf eine ‚Verwirklichung‘ der einzelnen Mitglieder ab. Die Aufgaben müssen so verteilt werden, dass die Organisation als ein Ganzes optimal funktionieren kann. Wenn die Organisation soweit wie möglich die Situation und das Wohlergehen eines einzelnen Mitglieds berücksichtigt, dann geschieht dies vor allem deshalb, weil es im Interesse der Organisation ist, dass alle ihre ‚Zellen‘ in der Lage sind, ihren Teil zur Arbeit der Organisation beizutragen. Das heißt nicht, dass die Individualität und die Probleme eines einzelnen Mitgliedes außer Acht gelassen würden; es bedeutet, dass  Ausgangs- und Endpunkt die Fähigkeit der Organisation sein muss, ihre Aufgaben im Klassenkampf auszuführen.“ (Bericht, Punkt 12)
Dies ist ein Punkt, den wir nie vergessen dürfen. Wir stehen im Dienst der Organisation, nicht umgekehrt. Insbesondere ist Letztere keine Art von Klinik, wo besonders die psychischen Krankheiten geheilt werden, an denen ihre Mitglieder möglicherweise laborieren. Dies bedeutet nicht, dass das Revolutionär-Werden nicht dabei hilft, die persönlichen Schwierigkeiten, die jedermann hat, in einen Zusammenhang zu stellen, wenn es sie schon nicht alle zusammen überwinden kann. Ganz im Gegenteil: Ein Kämpfer für den Kommunismus zu werden bedeutet, seiner Existenz einen tiefen Sinn zu geben. Einen Sinn, der dazu beitragen kann, auch allen anderen Aspekte des Lebens einen grundsätzlicheren Sinn zu geben (Erfolg in Beruf oder Familienglück, Kindererziehung, wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeiten, alles Befriedingungen, die von allen geteilt werden sollten, aber einem großen Teil der Menschheit versagt bleiben) Die größte Befriedigung, die ein menschliches Wesen in seinem Leben erfahren kann, ist ein positiver Betrag für seine Nachfahren, für die Gesellschaft und Menscheit. Was den kommunistischen Militanten von seinen Mitmenschen unterscheidet und ihm Sinn gibt in seinem Leben, ist, dass er ein Glied in der Kette ist, die zur Emanzipation der Menschheit, ihren Eintritt in das “Reich der Freiheit“ führt; eine Kette, die auch nach seinem Tode weitergeführt wird. Folglich ist das, was ein Militanter heute vollbrint, unvergleichlich wichtiger als das, was das größte Genie tun kann, sei es die Entdeckung eines Heilmittels gegen Krebs oder einer unerschöplichen Quelle umweltfreundlicher Energie. In diesem Sinne muss die Leidenschaft seines Engagements dem Militanten erlauben, über die Schwierigkeiten hinauszugehen, auf die jedes menschliche Wesen stößt.
Deshalb muss angesichts der besonderen Schwierigkeiten, auf die Mitglieder der Organisation stoßen können, eine politische Haltung eingenommen werden, nicht eine psychologische. Es ist klar, dass psychologische Aspekte bei Problemen, die einen Militanten betreffen, durchaus berücksichtigt werden können. Aber sie müssen grundsätzlich im Rahmen der Organisation gestellt werden, und nicht umgekehrt. So muss, wenn ein Mitglied häufig seine Aufgaben nicht erfüllen kann, die Organisation grundsätzlich politisch und in Übereinstimmung mit ihren Prinzipien und ihrer Funktion reagieren, auch wenn sie selbstverständlich imstande sein muss, die Besonderheiten der Situation anzuerkennen, in der sich ein Militanter befindet. Wenn die Organisation es z.B. mit einem Genossen zu tun hat, der  dem Alkoholismus verfällt, darf sie nicht die Rolle des Psychotherapeuten spielen (eine Rolle, wofür sie sowieso keine Qualifizierung hat und mit der sie nur riskiert, „Zauberlehrling“ zu sein), sondern sie muss auf ihrem eigenen  Terrain reagieren:
das Problem zur Sprache bringen, indem es innerhalb der Organisation und mit dem betroffenen Militanten diskutiert wird;
das Trinken von Alkohol auf den Treffen und bei Aktivitäten verbieten;
die Militanten dazu verpflichten, zu Treffen und Aktivitäten nüchten zu erscheinen
Die Erfahrungen haben reichlich gezeigt, dass dies der beste Weg ist, solche Probleme zu überwinden.
Aus denselben Gründen darf militantes Engagement nicht als Routine, wie  am Arbeitsplatz, betrachtet werden, auch wenn bestimmte Aufgaben an sich nicht so anregend sind. Im Besonderen ist es wichtig, dass diese Aufgaben – wie alle Aufgaben im Allgemeinen – so ausgeglichen wie möglich verteilt werden, damit nicht die einen überlastet werden, während die anderen nichts zu tun haben. Es ist auch wichtig, dass jeder Militante die Überzeugung aus seinen Gedanken und aus seinem Verhalten verbannt, er sei ein „Opfer“ der Organisation, die ihn schlecht behandle und ihm zuviel Arbeit gebe. Die große Stille, welche es oft in den Sektionen gibt, wenn es darum geht, freiwillig Aufgaben zu übernehmen, ist vor allem für junge Militante erschreckend und demoralisierend.10

c) Verschiedene Arten von Aufgaben und die Arbeit in den Zentralorganen

„In der Organisation gibt es keine ‚erhabene‘ und keine ‚zweitrangige‘, weniger erhabene‘  Aufgaben. Sowohl die Aufgabe der theoretischen Ausarbeitung als auch die Verwirklichung der praktischen Aufgaben, die Arbeit innerhalb der Zentralorgane wie auch die spezifische Arbeit in den örtlichen Sektionen sind gleichermaßen wichtig für die Organisation und dürfen nicht hierarchisch geordnet werden (nur der Kapitalismus errichtet solche Hierarchien). Deshalb muss man die Idee als bürgerlich verwerfen, derzufolge die Berufung eines Mitglieds in ein Zentralorgan einen ‚Aufstieg‘, den Zugang zu einem ‚Ehrenposten‘ oder zu einem Privileg bedeuten würde. Das Karrieredenken muss vollkommen aus der Organisation verbannt werden, da es im Gegensatz steht zu der selbstlosen Aufopferung, die ein charakteristisches Merkmal der kommunistischen Militanten ist.“ (ebenda)
Dies wurde nicht nur in der Situation, in der sich die IKS 1981 befand, bekräftigt, sondern hat darüber hinaus eine allgemeine und permanente Bedeutung.11 In gewisser Hinsicht war das Phänomen der Anfechtungen in der IKS oft mit der Vorstellung verbunden, welche die Organisation als „Pyramide“ oder „hierarchisch“ betrachtet, was der Sichtweise entspricht, die die Erlangung von Verantwortlichkeiten in einem Zentralorgan als eine Art „Ziel“ für jeden Militanten betrachtet . Dieselbe Vision sieht die Zugehörigkeit zu einem Zentralorgan, als eine Art Ziel für jeden Militanten an (die Erfahrung lehrt, dass Anarchisten sozusagen oft hervorragende Bürokraten sind).
Darüber hinaus muss man nur den Widerwillen betrachten, mit dem die Organisation einen Militanten von seiner Verantwortung in einem Zentralorgan entbindet, das Trauma, das eine solche Maßnahme provoziert, um einzusehen, dass dies ein echtes Problem ist. Es ist klar, dass solche Traumen der bürgerlichen Ideologie direkt Tribut zollen. Aber es genügt nicht, völlig davon überzeugt zu sein, um ihm zu entkommen. Angesichts einer solchen Situation ist es wichtig, dass die Organisation und ihre Militanten alles bekämpfen, was das Eindringen solcher Ideologien begünstigt:
Mitglieder von Zentralorganen dürfen weder von besonderen Privilegien profitieren noch sie akzeptieren, insbesonders die Vernachlässigung von Aufgaben und der Disziplin, welche für alle Mitglieder der Organisation gültig sind.
Sie dürfen mit ihrem Verhalten und ihrer Ausdrucksweise anderen Genossen nicht ihre Mitgliedschaft in diesem oder jenem Zentralorgan „spüren“ lassen: Solch eine Mitgliedschaft ist keine Medaille, die man überheblich zur Schau trägt, sondern eine besondere Aufgabe, die mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Verantwortung übernommen werden muss wie alle anderen.
Es gibt keine „Begünstigung durch die Alten“ in den Zentralorganen, eine Art von „Karrierestruktur”, wie in bürgerlichen Firmen und Verwaltungen, deren Beschäftigte angeblich auf der hierarchischen Leiter zum Erfolg klettern können. Im Gegenteil: Um sich auf die Zukunft vorzubereiten, muss die Organisation dafür Sorge tragen, dass auch auf der höchsten Ebene Verantwortlichkeiten an junge Militante übertragen werden, sofern diese ihre Fähigkeit gezeigt haben, Verantwortung zu übernehmen (erinnert sei dabei, dass Lenin vorschlug, gegen den Widerstand des “alten“ Plechanow den 22jährigen Trotzki in die Redaktion der Iskra aufzunehmen. Wir wissen, was aus dem Einen und dem Anderen wurde).
Was die Bedürfnisse der Organisation angeht, ist es erforderlich und zweckmäßig, Militante im Zentralorgan zu ersetzen, ohne dass dies als Sanktion, als eine Art Degradierung oder Vertrauensentzug gesehen und dargestellt wird. Die IKS verlangt weder die Rotation von Aufgaben wie die Anarchisten noch erkennt sie die Lebenserfahrung von Leuten als Ausschlag gebend bei der Verteilung von Verantwortlichkeiten an, wie dies in der Académie française oder in der Führung der Kommunistischen Partei Chinas der Fall ist.

d) Ungleichheit zwischen Militanten

„Auch wenn es unterschiedliche Fähigkeiten unter Individuen und Militanten gibt, welche durch die Klassengesellschaft aufrechterhalten und verschärft werden, besteht die Rolle der Organisation nicht darin, wie die utopischen Sozialisten vorzutäuschen, diese abschaffen zu können. Die Organisation muss versuchen, die politischen Kapazitäten ihrer Militanten maximal voranzutreiben, da diese eine Vorbedingung für ihre eigene Stärkung sind. Doch sie behandelt diese nie als eine Frage der individuellen Schulbildung oder einer Gleichmacherei der individuellen Erziehung.
Die wirkliche Gleichheit zwischen Militanten ist die, das Maximum für das Leben der Organisation zu geben (”Jeder nach seinen Fähigkeiten”, eine von Saint-Simon stammende, von Marx übernommene Formulierung). Die wirkliche ‚Erfüllung‘ als Militanter besteht darin, alles zu tun, um die Organisation zu unterstützen, ihre Aufgaben, welche sie von der Klasse erhalten hat, zu verwirklichen.” (ebenda)
Gefühle von Eifersucht, Rivalität, Konkurrenz oder „Minderwertigkeitskomplexen”, die zwischen Militanten aufkommen können und mit ihren Ungleichheiten verknüpft sind, sind typische Ausdrücke des Eindringens der herrschenden Ideologie in die Reihen der kommunistischen Organisation12. Auch wenn es eine Illusion ist zu glauben, man könne solche Gefühle vollständig aus den Köpfen aller Mitglieder der Organisation verbannen, so ist es dennoch wichtig, dass jeder Militante die permanente Sorge haben muss, sich in seinem Verhalten nicht durch diese Gefühle steuern zu lassen und sie innerhalb der Organisation zu bekämpfen.
Anfechtungen sind oft das Resultat solcher Gefühle und Frustrationen. In der Tat ist die Anfechtung von Zentralorganen oder von Militanten, die ein „größeres Gewicht“ als andere haben (wie gerade die Mitglieder der Zentralorgane), die typische Haltung von Militanten oder Teilen der Organisation, welche „Komplexe“ gegenüber anderen haben. Deshalb nimmt dies oft die Form einer Kritik um der Kritik willen an (und nicht über das, was wirklich gesagt bzw. getan wurde) gegenüber allem, was eine „Autorität“ repräsentiert (das klassische Verhalten des Halbwüchsigen, der gegen seinen Vater aufbegehrt). Als Ausdruck des Individualismus deckt sich das Protestlertum exakt mit einer anderen Erscheinung des Individualismus: dem autoritären Verhalten, dem „Gefallen an der Macht“13. Das Protestlertum kann aber auch unauffälligere Formen annehmen, die nicht weniger gefährlich sind, im Gegenteil, denn sie sind schwerer zu erkennen. Es drückt sich gleichermaßen  im Streben aus, den Platz dessen (Militanter oder Zentralorgan) einzunehmen, der angefochten wird, und dabei zu hoffen, so den Grund seines Komplexes zu beseitigen.
Ein anderer Aspekt, den es zu beachten gilt, wenn neue Genossen zur Organisation  stoßen, ist das Misstrauen von Seiten alter Genossen, die befürchten, die Neuen könnten sie „in den Schatten stellen”, besonders dann, wenn die Neuen über wichtige politische Kapazitäten verfügen. Dies ist ein echtes Problem: Einer der Hauptgründe für die Feindschaft Plechanows gegen Trotzki bei dessen Aufnahme in die Redaktion der Iskra war die Angst, dass sein eigenes Ansehen durch dieses brilliante Element geschmälert würde.14 Was zu Beginn des 20. Jahrhundert gültig war, ist heute aktueller denn je. Wenn die Organisation (und ihre Militanten) nicht fähig ist, solche Verhaltensweisen loszuwerden oder zumindest zu neutralisieren, wird sie nicht fähig sein, ihre Zukunft im revolutionären Kampf vorzubereiten.
Schließlich ist es bezüglich der Frage der „individuellen Erziehung“, die im Bericht von 1982 aufgegriffen wurde, wichtig zu unterstreichen, dass der Eintritt in ein Zentralorgan in keiner Weise als ein Mittel zur „Schulung“ von Militanten zu sehen ist. Der Ort, an dem sich die Militanten formen, sind ihre Aktivitäten innerhalb der „Basisorganismen der Organisation“ (Statuten), der lokalen Sektionen. In diesem Rahmen eignen sie sich ihre Fähigkeiten an und vervollkommnen sich, um einen besseren Beitrag zum Leben der gesamten Organisation zu leisten (theoretische, organisatorische und praktische Fähigkeiten, das Verantwortungsbewusstsein usw.) Wenn die lokalen Sektionen nicht fähig sind, diese Rolle zu spielen, bedeutet dies, dass ihre Funktionsweise, ihre Aktivitäten und Diskussionen sich nicht auf dem Niveau befinden, auf dem sie sich befinden sollten. Wenn die Organisation neue Genossen für die Erfüllung besonderer Aufgaben in den Zentralorganen oder spezifischen Kommissionen heranzieht (zum Beispiel um gerüstet zu sein für Situationen, in denen diese Organe durch die Repression lahmgelegt sind), dann geschieht dies keineswegs zur Befriedigung eines „Schulungsbedürfnisses“ für die betroffenen Militanten, sondern um der Organisation als Ganzes zu ermöglichen, ihre Verantwortung wahrzunehmen.

e) Die Beziehungen zwischen den Militanten

„Auch wenn sie die Narben der kapitalistischen Gesellschaft tragen, (...) dürfen die Beziehungen zwischen den Militanten nicht im flagranten Widerspruch zu dem von den Revolutionären verfolgten Ziel stehen (...) und müssen notwendigerweise auf der Solidarität und dem gegenseitigen Vertauen beruhen, die ein Kennzeichen der Zugehörigkeit der Organisation zu jener Klasse sind, die den Kommunismus verwirklichen wird.” (Auszug aus der Plattform der IKS)
Dies bedeutet insbesondere, dass das Verhältnis der Militanten durch Brüderlichkeit und nicht durch Feindschaft geprägt sein soll. Im Besonderen :
darf die Praktizierung einer politisch-organisatorischen und nicht „psychologischen“ Herangehensweise gegenüber Genossen, die in Schwierigkeiten stecken, nicht als Funktion einer unpersönlichen oder administrativen Maschinerie verstanden werden. Die Organisation und ihre Militanten müssen verstehen, wie sie in solchen Fällen ihre Solidarität zeigen, ohne zu vergessen, dass Brüderlichkeit nicht Nachgiebigkeit bedeutet;
deutet das Aufkommen feindschaftlicher Gefühle unter Militanten, die den anderen als Feind betrachten, an, wie sehr der Blick für den Daseinsgrund der Organisation verloren gegangen ist. Es signalisiert, dass es notwendig ist, sich die Grundlagen des militanten Engagements wiederanzueignen.
Außerhalb solcher extremen Fälle, die in der Organisation keinen Platz haben, ist es klar, dass Abneigungen in Letzterer nicht total verschwinden können. In solchen Fällen darf das Funktionieren der Organisation solche Abneigungen nicht fördern, sondern muss sie im Gegenteil verringern und neutralisieren. Insbesondere bedeutet die notwendige Offenheit, die unter Genossen existieren muss, nicht Rücksichtslosigkeit oder Respektlosigkeit. Ferner sollten Beleidigungen absolut aus den Beziehungen zwischen Militanten verbannt werden.
Doch dies heisst keinesfalls, dass die Organisation sich als eine „Gruppe von Freunden“ oder als eine Ansammlung solcher Gruppen ansehen darf.15
Tatsächlich ist eine der größten Gefahren, die die Organisation ständig bedroht, ihre Einheit in Frage stellt und sie zerstören kann, die Gründung von „Clans”, auch wenn dies nicht absichtlich und bewusst geschieht. In einer Clandynamik fußt das gemeinsame Vorgehen nicht auf wirklicher politischer Übereinstimmung, sondern vielmehr auf Freundschaft, Loyalität, gemeinsamen persönlichen Interessen oder geteilten Frustrationen. Oft ist eine solche Dynamik in dem Maße, wie sie nicht auf gemeinsamen politischen Übereinstimmungen basiert, von der Existenz von „Gurus“ und „Leitwölfen“ begleitet, welche die Einheit des Clans garantieren und ihre Kraft aus einen besonderen Charisma schöpfen. Diese können die politischen Fähigkeiten und die Urteilskraft anderer Militanter lahmlegen, indem sie als „Opfer“ dieser oder jener Politik der Organisation präsentiert werden oder sich selbst als solches darstellen. Wenn eine solche Dynamik entsteht, entscheiden die Mitglieder oder Sympathisanten des Clans nicht infolge einer bewussten und rationalen Wahl über ihre Haltung und die Entscheidungen, die sie treffen, sondern als Resultat der Claninteressen, die dazu neigen, sich gegen jene der Organisation zu richten.16
Im Besonderen werden alle Interventionen, die eine Position beziehen, welche ein Clanmitglied (bzw. das, was es sagt oder tut) herausfordert, als eine „persönliche Abrechnung“ mit ihm oder dem ganzen Clan betrachtet. Ferner neigt in einer solchen Dynamik ein Clan oft dazu, eine monolithische Front zu präsentieren (und es vorzuziehen, seine schmutzige Wäsche innerhalb der Familie zu waschen), die begleitet wird von einer blinden Disziplin, indem man sich ohne Diskussion um die Orientierungen des „Rudelführers“ schart.
Es ist eine Tatsache, dass einzelne Mitglieder der Organisation aufgrund ihrer Erfahrungen, politischen Kapazitäten oder der Bestätigung ihrer Einschätzungen durch die Realität eine größere Autorität erlangen können als andere Militante. Das Vertrauen, welches ihnen die anderen Militanten spontan entgegenbringen, auch wenn sie deren Standpunkt im Moment nicht mit Sicherheit teilen, ist eine normale Sache im Leben der Organisation. Es kann auch vorkommen, dass die Zentralorgane oder einzelne Militante vorübegehend um Vertrauen ersuchen, auch wenn sie noch nicht unmittelbar alle Elemente haben, um ihre Überzeugung fundiert darlegen zu können oder die Bedingungen für eine klare Debatte in der Organisation noch nicht existieren. Im Gegenteil dazu ist es nicht normal, definitiv mit einer Position einverstanden zu sein, nur weil sie von dem Genossen X vertreten wird. Sogar die größten Namen in der Geschichte der Arbeiterbewegung haben Fehler gemacht. In diesem Sinne kann das Festhalten an Positionen nur auf einer wirklichen Übereinstimmung basieren, für welche eine unerlässliche Bedingung die Qualität und Tiefe der Debatte ist. Dies ist auch die beste Garantie für die Solidität und Dauerhaftigkeit einer Position innerhalb der Organisation, die nicht einfach in Frage gestellt werden kann, nur weil Genosse X seine Meinung geändert hat. Die Militanten sollten nicht ein für allemal daran „glauben“, was ihnen selbst von einem Zentralorgan gesagt wird. Ihr kritischer Geist muss ständig aktiv sein (auch wenn dies nicht heißt, dass sie ständig kritisieren müssen). Dies verleiht den Zentralorganen wie auch den Militanten, welche ein großes „Gewicht“ haben, die Verantwortung, nicht bei jeder Gelegenheit und wahllos die „Argumente der Autorität“ zu nutzen. Im Gegenteil, sie müssen jede Tendenz zum „Hinterherdackeln“, zu oberflächlichen Argumenten ohne Überzeugung und ohne Nachdenken bekämpfen.
Eine Clandynamik kann auch von der Vorgehensweise einer nicht notwendigerweise bewussten „Infiltration“ geprägt sein, das heißt,  die Besetzung von Schlüsselpositionen in der Organisation (wie den Zentralorganen zum Beispiel, aber nicht nur) mit Clanmitgliedern oder Personen, die vom Clan überzeugt werden können. Das ist eine gebräuchliche Praxis und wird systematisch in den bürgerlichen Parteien angewandt. Es muss von einer kommunistischen Organisation entschieden zurückgewiesen werden. Sie muss gegenüber diesen Methoden sehr wachsam sein. Besonders bei der Besetzung der Zentralorgane „ist es notwendig, die Fahigkeit (der Kandidaten), kollektiv zu arbeiten, zu berücksichtigen“ (Statuten). Es ist ebenfalls wichtig, bei der Auswahl jener Militanten, die in solchen Organen arbeiten sollen, darauf zu achten, dass die Möglichkeit einer Clandynamik bezüglich Affinitäten und persönlichen Verbindungen zwischen den betroffenen Militanten möglichst gering gehalten wird. Deshalb muss die Organisation besonders soweit wie möglich vermeiden, dass zwei Militante, die in einer privaten Beziehung zusammenleben, für die gleiche Kommission nominiert werden. Ein Mangel an Wachsamkeit auf diesem Gebiet kann sehr schädliche Konsequenzen für die politische Kapazität der Militanten und der ganzen Organisation haben. Bestenfalls könnte das fragliche Organ, gleichgültig wie die Qualität seiner Arbeit ist, vom Rest der Organisation als „Gang von Freunden“ übelgenommen werden und damit zu einem bedeutsamen Verlust der Autorität des Organs führen. Schlimmstenfalls endet dieses Organ in einem Verhalten als abgesonderter Clan, mit allen Gefahren, die dies beinhaltet, oder wird von den Konflikten zwischen den Clans in ihm gar gelähmt. Im beiden Fällen kann die Existenz der ganze Organisation davon betroffen sein.
Letztendlich kann eine Clandynamik den Boden schaffen, auf dem eine Praxis ausgeübt wird, die der des bürgerlichen Wahlspektakels näher steht als jener der kommunistischen Militanz:
Kampagnen zur Verführung derjenigen, die der Clan für sich gewinnen will oder um deren Stimme bzw. Unterstützung für diese oder jene Nominierung für besondere Verantwortlichkeiten er wirbt17;
Verleumdungskampagnen gegen diejenigen, die den Clan ablehnen oder „Posten“ besetzen, die von Mitgliedern des Clans begehrt werden, oder die einfach ein Hindernis für seine Ziele sind.
Warnungen vor der Gefahr, ein Verhalten anzunehmen, das dem kommunistischen Militanten fremd ist, sollten nicht als „Kampf gegen Windmühlen“ betrachtet werden. Tatsächlich war die Arbeiterbewegung  in ihrer Geschichte häufig mit dieser Art von Benehmen, diesem beredten Zeugnis für den Druck der herrschenden Ideologie in ihren Reihen, konfrontiert. Auch die IKS kann dem nicht entweichen. Anzunehmen, dass die IKS von jetzt an immun gegen diese Plage sei, ist keine politische Klarsicht, sondern religiöser Glaube. Im Gegenteil, das zunehmende Gewicht des Zerfalls, der das Ausmaß der Atomisierung (und somit die Suche nach einem Schutz), Irrationalitat, emotionalen Herangehensweise und Demoralisierung noch verstärkt, kann nur die Bedrohung steigern, die von einem derartigen Verhalten ausgeht. Dies muss gegenüber den Gefahren, die dies darstellt, noch wachsamer machen. 
Das heisst nicht, dass sich in der Organisation eine ständiges Misstrauen unter den Genossen breitmachen soll. Das Gegenteil ist der Fall. Das beste Mittel gegen Misstrauen ist Wachsamkeit gegenüber Situationen, die das Misstrauen nähren könnten. Diese Wachsamkeit muss gegenüber jederlei Verhalten ausgeübt werden, das zu solchen Gefahren führen können. Insbesondere bei informellen Diskussionen unter Genossen und Fragen, welche das Leben der Organisation betreffen, gilt: Wenn sie in einem gewissen Umfang schon unumgänglich sind, so müssen sie wenigstens so weit wie möglich begrenzt werden und in verantwortlicher Art geführt werden. Während der formale Rahmen der Organisation, der bei den lokalen Sektionen beginnt, für zuverlässige Protokolle und Diskussionen wie auch für ein wirklich bewusstes und politisches Nachdenken am geeignetesten ist, lässt der „informelle“ Rahmen Spielraum für unverantwortliche Haltungen und ist darüber hinaus von Subjektivität gekennzeichnet. Besonders wichtig ist, allen Verleumdungskampagnen gegen Mitglieder der Organisation (wie natürlich auch der Zentralorgane) den Weg zu versperren. Diese Wachsamkeit gegenüber solches Verhalten muss gegenüber sich selbst wie auch gegenüber anderen ausgeübt werden. Auf diesem Gebiet wie auch auf vielen anderen, müssen sich die erfahrensten Militanten und besonders die Mitglieder der Zentralorgane vorbildlich verhalten und immer die Wirkung dessen bedenken, was sie sagen. Und was sie sagen ist noch wichtiger und schwerwiegender gegenüber neuen Genossen:
welche die Opfer von Verleumdungen nicht gut kennen und das, was gesagt wird, wörtlich nehmen;
welche Gefahr laufen, entweder sich dieser Art von Benehmen anzupassen oder von dem Bild, das die Organisation bietet, angeekelt und demoralisiert werden;
Um diesen Teil über die Beziehungen zwischen der Organisation und ihren Militanten zu schließen, ist es notwendig, zu betonen und  daran zu erinnern, dass die Organisation nicht einfach die Summe ihrer Militanten ist. Im historischen Kampf für den Kommunismus bringt das kollektive Wesen des Proletariats als Teil seiner selbst ein anderes kollektives Wesen ans Tageslicht, die revolutionäre Organisation. Kommunistische Militante sind diejenigen, die ihr Leben dafür widmen, dieses kollektive und vereinigte Wesen, das ihre Klasse ihnen anvertraut, am Leben zu erhalten, es fortzuentwickeln und zu verteidigen. Alle anderen Konzeptionen, besonders jene, welche die Organisation als die Summe ihrer Militanten betrachtet, sind von der bürgerlichen Ideologie beeinflusst und bilden eine tödliche Gefahr für die Existenz der Organisation.
Nur mittels dieser kollektiven und einheitlichen Auffassung der Organisation kann die Frage der Zentralisierung verstanden werden.

3.2. Die Zentralisierung der Organisation

Diese Frage stand im Zentrum des Aktivitätenberichts, welchen wir auf dem 10. Internationalen Kongress präsentierten. Darüber hinaus betreffen die Schwierigkeiten, mit denen die meisten Sektionen konfrontiert sind, nicht direkt die Frage der Zentralisierung. Schließlich ist es weitaus einfacher, die Frage der Zentralisierung zu verstehen, wenn man die Frage der Beziehungen zwischen der Organisation und ihren Militanten begriffen hat. Daher ist dieser Teil des vorliegenden Textes weniger detailliert als der erste Teil und größtenteils aus Auszügen des grundlegenden Textes Bericht zur Struktur und Funktionsweise von 1982 zusammengestellt, zu welchem wir wegen der Verständnislosigkeit, die sich in letzter Zeit breitgemacht hat, notwendigerweise Kommentare hinzufügen.

a) Die Einheit der Organisation und die Zentralisierung

„Der Zentralismus ist kein abstraktes oder frei wählbares Prinzip für die Organisationsstruktur. Er stellt die Konkretisierung ihres Einheitscharakters dar. Er spiegelt die Tatsache wider, dass die Organisation als ein einheitlicher Körper Position bezieht und in der Klasse handelt. In der Beziehung zwischen den verschiedenen Teilen der Organisation und dem Ganzen überwiegt das Ganze (...) Wir müssen resolut die Auffassung verwerfen, derzufolge einzelne Teile der Organisation gegenüber der Klasse oder der Organisation Positionen oder Einstellungen vertreten können, die ihnen im Gegensatz zu den von ihnen als falsch erachteten Positionen der Organisation, als richtig erscheinen: (...) Wenn die Organisation einen falschen Weg einschlägt, besteht die Verantwortung der Mitglieder, die glauben, eine richtige Position zu verteidigen, nicht darin, sich in ihre eigene kleine Ecke zurückzuziehen, sondern einen Kampf innerhalb der Organisation zu führen, um damit beizutragen, sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen.” (ebenda, Punkt 3)
“In der Organisation setzt sich das Ganze nicht aus der Summe der Teile zusammen. Die einzelnen Teile erhalten ein Mandat für  die Durchführung einer besonderen Aufgabe  (territoriale Presse, lokale Intervention usw.) und sind somit gegenüber der gesamten Organisation für die Durchführung des Mandats verantwortlich.” (ebenda, Punkt 4)
Diese kurzen Abstecher zum Bericht von 1982  zeigen deutlich, dass das Beharren auf die Frage der Einheit der Organisation die prinzipielle Achse dieses Dokuments ist. Die veschiedenen Teile der Organisation können nur als Teile des Ganzen, als Delegationen und Instrumente dieses Ganzen begriffen werden. Ist es notwendig zu wiederholen, dass diese Auffassung ständig in allen Teilen der Organisation präsent sein muss?
Nur auf dieser Basis, dem Beharren auf die Einheit der Organisation, bringt der Bericht die Frage des Kongresses (welcher hier keine Rolle spielt) und der Zentralorgane ein.
„Das Zentralorgan ist ein Teil der Organisation, und als solches ist es der Organisation gegenüber verantwortlich, wenn diese zu ihrem Kongress zusammenkommt. Jedoch handelt es sich um einen Teil, der zur Aufgabe hat, das Ganze zum Ausdruck zu bringen und zu repräsentieren. Deshalb sind die Positionen und Beschlüsse des Zentralorgans immer höherwertig gegenüber denen, die andere Teile der Organisation getrennt davon getroffen haben.” (ebenda, Punkt 5)
“Im Gegensatz zu bestimmten Auffassungen, insbesondere der so genannten ‚leninistischen‘, ist das Zentralorgan ein Instrument der Organisation und nicht umgekehrt. Es ist nicht die Spitze einer Pyramide, wie das eine hierarchische und militärische Auffassung von der Organisation der Revolutionäre meinen könnte. Die Organisation besteht nicht aus dem Zentralorgan plus Militante, sondern stellt ein dichtes und vereinigtes Netz dar, innerhalb dessen alle Teile miteinander verbunden sind und zusammenwirken. Man muss deshalb das Zentralorgan eher als den Kern einer Zelle auffassen, der den Stoffwechsel eines lebendigen organischen Einheit koordiniert.” (ebenda)
Dieses Bild ist grundlegend für das Verständnis der Zentralisierung. Es alleine, erlaubt uns im Besonderen das Verständnis dafür, weshalb es in einer einheitlichen Organisationen mehrere Zentralorgane mit verschiedenen Verantwortlichkeiten geben kann. Wenn wir die Organisation wie eine Pyramide betrachten, deren Spitze das Zentralorgan ist, wären wir mit einer unmöglichen geometrischen Figur konfrontiert: mit einer Pyramide, die eine Spitze hat und aus  vielen kleinen Pyramiden besteht, die alle eine eigene Spitze haben. In der Praxis wäre eine solche Organisation genauso abwegig wie diese geometrische Figur und könnte auch nicht funktionieren. Es sind die Administrationen und die Unternehmen der Bourgeoisie, welche eine pyramidenhafte Architektur haben. Damit Letztere funktionieren, werden die Verantwortlichkeiten zwangsläufig von oben nach unten delegiert. Dies ist nicht der Fall bei der IKS, die gewählte Zentralorgane auf den verschiedenen territorialen Ebenen hat. Solch eine Funktionsweise entspricht genau der Tatsache, dasss die IKS eine lebendige Einheit (wie die einer Zelle in einem Organismus) ist, in der die verschiedenen organisatorischen Momente Ausdruck des einheitlichen Ganzen sind.
In einer solchen Auffassung, welche detailliert in den Statuten ausgedrückt wird, kann es keine Konflikte und Widersprüche zwischen den verschiedenen Strukturen der Organisation geben. Es können durchaus Meinungsverschiedenheiten irgendwo in der Organisation entstehen. Aber das ist Teil des normalen Lebens. Doch wenn Meinungsverschiedenheiten zu Konflikten  führen, bedeutet dies, dass irgendwo diese Auffassung über die Struktur verlorengegangen ist und sich eine andere Sichtweise eingeschlichen hat, welche nur zu Gegensätzen zwischen den verschiedenenen „Spitzen“ führt. In einer solchen Dynamik, welche zum Auftauchen mehrerer „Zentren“ und dadurch zu Konflikten zwischen ihnen führt, ist die Einheit der Organisation und somit ihre ganze Existenz in Frage gestellt.
Die Fragen der Organisation und des Funktionierens sind nicht nur von höchster Wichtigkeit, sie sind auch am schwierigsten zu begreifen.18 Viel mehr als andere Fragen ist ihr Verständnis mit der Subjektivität der Militanten verbunden, welche ein wichtiges Einfallstor für das Eindringen fremder Ideologien in das Proletariat sein kann. Als solche sind sie Fragen, die par excellence niemals endgültig beantwortet werden. Es ist daher wichtig, dass sie Gegenstand anhaltender Wachsamkeit auf Seiten der Organisation und aller ihrer Militanten sind.                                                                                                                                                14. Oktober 1993

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [1]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [2]

Kriegsdrohungen gegen den Irak

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Das Versinken in die kriegerische Barbarei

Täglich konkretisiert sich die Gefahr eines neuen Krieges gegen den Irak. Bush jun. beabsichtigt, einen Schritt weiter zu gehen als sein Vater 1991. Er möchte dem Irak nicht nur eine neue militärische Niederlage bereiten, sondern diesmal auch gleich das Regime von Saddam Hussein zerschlagen. Diese neuen Kriegsdrohungen passen in die allgemeine Situation der immer größeren Allgegenwart des Krieges in der internationalen Arena. Ein Jahr nach den Attentaten vom 11. September und dem von den USA der ganzen Welt, insbesondere den als „Achse des Bösen“ bezeichneten Ländern, erklärten „Krieg gegen den Terror“ hat sich die Situation nur verschlimmert.

Offensichtlich klärten die Zerschlagung des Talibanregimes und der Krieg gegen die al-Kaida in Afghanistan nichts: Die große internationale antiterroristische Koalition unter straffer Kontrolle des Weißen Hauses war nicht von Dauer. Hinter der Flut der Reportagen und offiziellen Mitteilungen über die „internationale Solidarität“ anlässlich der Erinnerungsfeierlichkeiten vom 11. September haben sich nun die Kritiker gegenüber der amerikanischen Politik insbesondere in Europa und in den arabischen Ländern viel offener geäußert. In Afghanistan selbst zeigten das Attentat vom 5. September auf dem Markt von Kabul, das ca. 30 Tote und Hunderte von Verletzten forderte, und einige Stunden später das Attentat gegen den Präsidenten Karzai die Zerbrechlichkeit eines Regimes, das auf Gedeih und Verderb vom Weißen Haus abhängt.

Seit einem Jahr kann man aber hauptsächlich einer Zunahme von kriegerischen Spannungen in anderen Ländern beiwohnen. Zu Sommerbeginn drohte ein neuer, möglicherweise mit Atomwaffen geführter Krieg zwischen Indien und Pakistan auszubrechen, dessen Risiken nach wie vor bestehen (s. International Review  Nr. 110, engl./frz./span. Ausgabe). Ebenso hat sich die Situation in Palästina verschlimmert. Und jetzt zeichnet sich eine Neuauflage des Golfkrieges von 1991 ab. „Die Ära des Friedens“, die uns Bush sen. noch 1989 anlässlich des Zusammenbruchs des Ostblocks versprochen hatte, offenbart sich nun als eine Ära einer seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellosen Intensivierung der kriegerischen Barbarei. Diese Entwicklung bestätigt klar die Analysen und Voraussagen, die die Revolutionäre angesichts des einschläfernden Geredes der Hauptdirigenten der Weltbourgeoisie gemacht hatten.

Der Militarismus und der Krieg in der aktuellen Periode

In der Internationalen Revue Nr 13 gab unser Orientierungstext Militarismus und Zerfall, der noch vor dem Golfkrieg geschrieben worden war, einen Analyserahmen für die imperialistischen Rivalitäten in der kapitalistischen Welt für die Periode nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der darauf folgenden Auflösung des westlichen Blocks: „Seit dem Anfang des Jahrhunderts war der Krieg die entscheidendste Frage, vor der die Arbeiterklasse und ihre revolutionären Minderheiten standen. (...) Der Grund dafür liegt darin, dass der Krieg die konzentrierteste Form der Barbarei des dekadenten Kapitalismus ist, der seinen Todeskampf und die Bedrohung, die er für das Überleben der Menschheit darstellt, am deutlichsten zum Ausdruck bringt. Mehr noch als während der vergangenen Jahrzehnte wird gegenwärtig die kriegerische Barbarei (obgleich z.B. Bush und Mitterand immer von einer ‘neuen Friedensordnung’ reden) ein ständiger und überall vorhandener Faktor der Weltlage sein, wobei immer mehr entwickelte Länder daran beteiligt sein werden.“ (Punkt 13)

Weiter schrieben wir damals: „Der allgemeine Zerfall der Gesellschaft stellt die letzte Phase des Zeitraums der Dekadenz des Kapitalismus dar. In dieser Phase werden die typischen Merkmale der Dekadenzperiode nicht hinfällig: die historische Krise der kapitalistischen Wirtschaft, der Staatskapitalismus und auch die grundlegenden Phänomene wie der Militarismus und der Imperialismus. Weil der Zerfall als die Spitze der Widersprüche erscheint, in die der Kapitalismus in seiner Dekadenz verfällt, werden die typischen Merkmale dieser Periode noch verschärft. (...) Das gleiche trifft für den Militarismus und Imperialismus zu, wie man es schon während der 80er Jahre feststellen konnte, als das Phänomen des Zerfalls in Erscheinung trat und sich verbreitete. Und wenn die Welt jetzt nicht mehr nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in zwei Blöcke gespalten ist, ändert das auch nichts an dieser Wirklichkeit. Denn die Bildung zweier imperialistischer Blöcke ist nicht die Ursache für den Militarismus und den Imperialismus. Das Gegenteil ist der Fall: die Bildung der Blöcke ist nur die extremste Konsequenz, ein Ausdruck  des Versinkens des dekadenten Kapitalismus im Militarismus und im Krieg. Bei der Beziehung zwischen der Bildung der Blöcke und dem Imperialismus gibt es gewisse Parallelen zwischen dem Verhältnis Stalinismus und Staatskapitalismus. Genau so wenig wie das Ende des Stalinismus die historische Tendenz des Staatskapitalismus infrage stellt, von dem er nur ein Ausdruck war, kann das gegenwärtige Verschwinden der Blöcke keinesfalls zu einer Abschwächung des Imperialismus und seines Gewichtes in der Gesellschaft führen. Der grundlegende Unterschied liegt in der Tatsache, dass das Ende des Kapitalismus einerseits der Eliminierung einer besonders abartigen Form des Staatskapitalismus entspricht, andererseits ist das Ende der Blöcke nur der Auftakt einer noch barbarischeren, abartigeren, chaotischeren Form des Imperialismus.“ (Punkt 5)

Ab Januar 1991 zeigte der Golfkrieg, „dass gegenüber der für den Zerfall typischen Tendenz zum allgemeinen Chaos, welche wiederum durch den Zusammenbruch des Ostblocks beschleunigt wurde, es keinen anderen Ausweg für den Kapitalismus gibt als den Einsatz von Waffen. Sein Versuch, die verschiedenen Teile eines Körpers zusammenzuhalten, der auseinander bricht, kann nur mit Gewalt erfolgen. Deshalb sind die Mittel selber, die er einsetzt, um dieses immer blutiger werdende Chaos einzudämmen, selber ein gewaltiger Faktor der Verschärfung der kriegerischen Barbarei, in die der Kapitalismus immer mehr versinkt.“ (Punkt 8)

Deshalb besteht „heute die Perspektive einer Vervielfachung und Ausweitung von lokalen Kriegen und Interventionen der großen Mächte, die die bürgerlichen Staaten bis zu einem gewissen Grad ohne Zustimmung des Proletariats führen können“ (Resolution des 13. Kongresses der IKS 1999, International Review Nr. 97, engl./frz./span. Ausgabe)

Die gegenwärtige Lage bestätigt die Zunahme der permanenten Barbarei in einer vom „Jeder-für-sich“ und der allgemeinen Konkurrenz zwischen den großen als auch kleinen imperialistischen Mächten beherrschten kapitalistischen Welt. In diesem Kontext haben die nationalen Bourgeoisien, allen voran die USA, die in der Bevölkerung ein Klima der Psychose und der nationalen Hysterie entfacht und aufrechterhalten haben, aber auch all die anderen Staaten, die eine Rolle in der globalen Arena spielen, eine neue Etappe in der Mobilisierung ihrer Armeen zur Kriegsführung eingeleitet. Auch haben sie die Verteidigungsbudgets beträchtlich gesteigert.

Wenn die Attacken vom 11. September, wie Bush gesagt hat, ein „Kriegsakt“ waren, so waren sie „ein Akt eines kapitalistischen Krieges, ein Moment des permanenten imperialistischen Krieges, der die Epoche der Dekadenz des Kapitalismus kennzeichnet.“ (Resolution der außerordentlichen Konferenz der IKS im April 2002 zur internationalen Lage) Im Gegenzug zu den Attentaten vom 11. September haben die USA in Afghanistan im Namen des Krieges gegen den Terror intervenieren können. Sie haben sich als Herren im Herzen Zentralasiens installiert: in Afghanistan, Tadschikistan, Usbekistan und auch in Georgien. Dieses Land ist heute als Folge der amerikanischen Präsenz enormen Pressionen durch Russland ausgesetzt. Die USA steuern aber viel weitreichendere strategische Zielsetzungen an.

Das Ziel der amerikanischen Bourgeoisie ist die Sicherung der Kontrolle nicht nur über diese Region, die sich ehemals im Besitz Russ-

lands befand, sondern über den Nahen und Mittleren Osten bis zum indischen Subkontinent. Mit Nordkorea auf der Liste der “Achse des Bösen“ wollen die USA auch China und Japan herausfordern. Dieses Vorgehen zielt auf die Einkreisung der westeuropäischen Mächte und vor allem auf die Blockade des deutschen Imperialismus ab, der der gefährlichste imperialistische Rivale ist und der über die slawischen Gebiete nach Osten expandieren will.

In diesem Kontext stehen die Kriegsdrohungen gegen den Irak.

Welche Interessen stehen hinter diesem Kriegsplan?

Weshalb diese Hartnäckigkeit gegenüber Saddam Hussein?

Ganz klar stellt der Irak unter Saddam Hussein heute keine reale Gefahr dar. Während seine Armee noch vor 1991 als die fünftgrößte der Welt galt, wurde sie in der Folge stark dezimiert und hat seit dem Ende des Golfkrieges zwei Drittel ihres Bestandes verloren. Was das seither bestehende Embargo anbelangt, so hat es nicht nur die Wiederaufrüstung der irakischen Armee verhindert, sondern auch die Beschaffung von Ersatzteilen. Beinahe das gesamte militärische Material des Iraks stammt aus der Zeit vor dem Golfkrieg, was selbst die New York Times vom 26. 8. 2002 zugibt.

Weiter haben die USA seither über den Irak unter dem Vorwand, Massaker an der kurdischen und schiitischen Minderheit zu verhindern, sowohl im Norden als auch im Süden Flugverbotszonen verhängt. Der irakischen Luftwaffe ist es somit untersagt, die Hälfte des eigenen Territoriums zu überfliegen.[i] Die USA haben nun eine „nukleare Gefahr“ hervorgezaubert. Im Bericht des Internationalen Instituts für strategische Studien (IISS) wird dieses Argument zugunsten „eines bedeutenden Vorrats an biologischen und chemischen Waffen“ zurückgestellt. Auf diesem Bericht beruht jetzt auch die „potentielle irakische Gefahr“.

Offensichtlich ist die von der Regierung Bush zur Rechtfertigung einer Intervention beschworene allgegenwärtige Gefahr nichts als eine Propagandalüge. Unter denjenigen, die die Politik der USA offen kritisieren, gibt es solche, die einen anderen Grund für den amerikanischen Wunsch nach einer Intervention nennen: Die USA wollten die Kontrolle über die irakischen Ölreserven, die zweitgrößten der Welt, sicherstellen. Le Monde Diplomatique schrieb im Oktober 2002 dazu: „Die Kontrolle über die zweitgrößten Reserven an Rohöl in der Welt würde es dem amerikanischen Präsidenten erlauben, den ganzen globalen Erdölmarkt umzustürzen. Unter einem amerikanischen Protektorat könnte der Irak seine Produktion innert Kürze verdoppeln, was als unmittelbare Folge einen Preissturz nach sich ziehen würde und somit vielleicht zu einer Ankurbelung des Wachstums in den USA führen könnte.“

Zuerst muss man dazu sagen, dass die Idee, das irakische Öl könnte die amerikanische Wirtschaft antreiben (oder - eine sich mehr „marxistisch“ gebende Variante derselben Argumentation - den USA eine „Erdölrente“ sichern), lässt einige sehr wichtige Aspekte außer Betracht: Der erhöhten Förderung müssten fünf Jahre von hohen Investitionen vorausgehen, bevor aus dem irakischen „Manna“ wirklich Profit gezogen werden könnte.[ii] Zudem unterliegt bereits die heutige Förderung weitgehend einem amerikanischen Diktat: politisch durch die Exportkontrolle unter Führung der UNO; militärisch durch die amerikanischen Bomber, die die ganze Erdölindustrie des Irak im Visier haben; wirtschaftlich durch den Einfluss der großen amerikanischen Erdölfirmen.

Man muss vielmehr man auf der Tatsache beharren, dass das Interesse aller großen Mächte am Nahen Osten hauptsächlich ein strategisches ist. Dieses Interesse ging selbst der Entdeckung des Erdöls in dieser Region voraus. Bereits im 19. Jahrhundert trugen Großbritannien, Russland und Deutschland um Irak, Iran und Afghanistan das seinerzeit so genannte „Große Spiel“ um Einfluss aus. Dieses Gebiet gewann mit dem Bau des Suezkanals, einer strategischen Verbindung Großbritanniens zu seiner Kronkolonie Indien, noch mehr an Bedeutung. Heute bleibt die geostrategische Bedeutung dieser Region vollumfänglich bestehen, jedoch ist sie durch die strategische Bedeutung des Erdöls als unabdingbarer Rohstoff für die Wirtschaft und den Krieg erweitert worden. Wenn die USA zu einer absoluten Kontrolle über Erdöllieferungen an Europa oder Japan gelangen würden, würde dies bedeuten, dass sie in der Lage wären, im Falle einer schweren internationalen Krise starken Druck auf ihre Kontrahenten auszuüben. Sie müssten nicht einmal mehr mit nackter Gewalt drohen, um diese Länder gefügig zu machen.

Mit diesem erneuten Gewaltbeweis gegenüber dem Irak wollen die USA ihre Glaubwürdigkeit und ihre Autorität sowohl in der Region als auch auf dem ganzen Planet wirkungsvoll verstärken. Der Golfkrieg von 1991 zielte hauptsächlich darauf ab, die ehemals im Westblock Verbündeten wieder hinter den USA aufzureihen. Diese Verbündeten begannen nach der Auflösung des „Reichs des Bösen“ (wie es Reagan genannt hatte), dem Ostblock und der UdSSR, die Hegemonie der USA infrage zu stellen. Die Operation war von einem zeitweiligen Erfolg gekrönt, jedoch begannen die Ex-Alliierten schon bald, seit Ende Sommer 1991, mit der Entwicklung des Kriegs in Ex-Jugoslawien erneut ihre eigenen Karten zu spielen (an allererster Stelle Deutschland, das Slowenien und Kroatien zur Abspaltung gedrängt hatte). In dieser Zeit begnügten sich die USA mit der Vertreibung der irakischen Truppen aus Kuwait ohne weitere Behelligung Saddam Husseins. Dafür gab es verschiedene Gründe. Die Zusammenarbeit von Saudi-Arabien und Frankreich war an die Bedingung geknüpft, Saddam Hussein am Ruder zu belassen. Hätten sich die USA nicht an diese Abmachung gehalten, wäre die Koalition, die ja ein Ziel von Bush sen. war, schnell auseinander gebrochen. Jedoch waren auch alle „Alliierten“ inklusive den USA am Erhalt der Macht Saddam Husseins interessiert, damit dieser weiterhin seiner Rolle als lokaler Gendarm bei den Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden im Norden und der Schiiten im Süden gerecht werden konnte. Diese Feindseligkeiten hätten die ganze Region destabilisieren können. Die Tatsache, dass die USA heute jegliche diesbezügliche Vorsicht missen lassen, dass sie die Gefahr der Opposition einer gewissen Anzahl von Mächten und mehrerer wichtiger arabischer Länder gegen ihr Vorgehen in Kauf nehmen, dass sie selbst das Risiko einer weiteren Destabilisierung der Situation in dieser Region auf sich nehmen, zeigt nichts anderes als die Verschärfung der globalen Situation seit 1991. Es bedeutet ein weiteres Abtauchen ins wachsende Chaos, das immer blutiger wird. Wie wir bereits vor mehr als zehn Jahren angekündigt haben, sind die USA zu einer Flucht nach vorn unter Anwendung ihrer militärischen Kraft genötigt, wenn sie ihre Führerschaft bewahren wollen.

Ein weiteres Verdienst des jetzigen Vorgehens gegen den Irak ist die Sprengung der europäischen Front. Das ist ein exzellentes Mittel zur Spaltung der europäischen Mächte, hauptsächlich zwischen Großbritannien auf der einen und Frankreich und vor allem Deutschland auf der anderen Seite. Großbritannien bleibt die Hauptstütze in einem Krieg gegen den Irak. Nicht aus Solidarität gegenüber den USA handelt die britische Bourgeoisie auf diese Weise, sondern weil sich Großbritannien schon immer entschieden für eine Vertreibung von Saddam Hussein eingesetzt hat, um wieder vermehrt Einfluss in dieser ehemaligen britischen Kolonie ausüben zu können. Es ist also ein reiner Zufall, dass ihre Interessen mit denjenigen der USA übereinstimmen. Sie erwarten von den USA auch eine Entschädigung für die militärische Unterstützung. Im Gegensatz dazu hat sich Frankreich immer gegen eine neue militärische Intervention auf irakischem Boden gestellt und die Verbindung zu Saddam Hussein selbst nach dem Golfkrieg weiter gepflegt (wie auch mit Libanon und Syrien). Frankreich hat im UNO-Sicherheitsrat auch immer die Beendigung des Embargos gegen den Irak verlangt. Auch Deutschland hat immer versucht, seine Position im Nahen Osten durch eine Achse Berlin-Bagdad über den Balkan und die Türkei zu verstärken.

Ein waghalsigeres Unterfangen als in Afghanistan

Der Norden wie der Süden Iraks sind schon von unzähligen, nicht enden wollenden englisch-amerikanischen Luftangriffen heimgesucht worden, welche unter diversen Vorwänden als Generalprobe der Kriegsoperation dienen (so z.B. am 27. August, als die Entdeckung von Radaranlagen in einer demilitarisierten Zone dazu diente, den Flughafen von Mossul als Zielscheibe zu benutzen). In diesem Sinne hat sich das Weiße Haus mit strategischen Basen zur Intervention abgesichert (in Kuwait sind nahezu 50’000 amerikanische Soldaten stationiert). Im Vergleich zum Golfkrieg von 1991 kann das Weiße Haus nun die Schwächen der einen durch die Unterstützung der anderen wettmachen. So ist zum Beispiel die Türkei bereit, von jetzt den amerikanischen Geschwadern an als Basis im Hinterland zu dienen. Die Arabischen Emirate, Kuwait, Oman, Bahrain und vor allem Katar würden wohl als strategische Regionalbasen dienen.[iii] Jordanien wird mit seinem Territorium der Neutralisierung der Westgrenze Iraks, nahe zu Israel, dienen.

Nichtsdestotrotz scheint dieses Unterfangen noch riskanter als das Kriegstreiben in Afghanistan, da die Vereinigten Staaten im jetzigen Fall die Drecksarbeit vor Ort nicht anderen (wie der afghanischen Nordallianz) überlassen können, und trotz des Rückzugs aus der afghanischen Militäroperation mit „null Toten“ kann das Vietnamsyndrom wiedererweckt werden. Auch die Bereitstellung einer breiten demokratischen Opposition auf diesem Terrain  für die Zeit „nach Saddam Hussein“ ist weit davon entfernt, schon eine klare Tatsache zu sein. Eine weitere Schwierigkeit ist die viel größere Vielfalt von entgegengesetzten Einflüssen auch auf regionaler Ebene, als dies in Afghanistan der Fall ist. Die kurdischen und schiitischen Minderheiten sind aus amerikanischer Sicht nicht zuverlässig, die Ersteren, da unter Druck mehrerer europäischer Mächte beeinflussbar, die Letzteren, da in Abhängigkeit vom iranischen Staat und im Dienste seiner Interessen stehend. Hinzu kommen die Vorbehalte der Türkei mit ihrer Sensibilität gegenüber der kurdischen Frage einerseits, wobei Saddam Hussein immerhin noch die Grenze absichert; andererseits und vor allem wegen der Anziehung, die die Türkei gegenüber der Europäischen Union verspürt, die umgekehrt den Druck auf sie verstärkt. Das andere Risiko betrifft das Image der amerikanischen Bourgeoisie, deren Ruf als „Wegbereiter des Friedens“ im Nahen Osten in den gesamten arabischen Staaten definitiv getrübt wird und deren in dieser Region erreichte Positionen längerfristig geschwächt werden.

Schon bei ihrer Absicht, der Welt ihre Vision einer „ernsthaften Gefahr“ aus dem Irak einzuhämmern, sehen sich die Vereinigten Staaten zwangsweise mit einem ersten Hindernis konfrontiert: Die amerikanische Bourgeoisie kann sich, anders als bei ihren vorangegangenen Militärinterventionen, auf keine Vorschrift des Völkerrechts stützen, um ihr Kriegstreiben zu rechtfertigen. Während 1991 Saddam Husseins Intervention in Kuwait als Vorwand zur Entfesselung des Golfkriegs diente, gibt es heute keine rechtliche Absicherung für einen Präventivkrieg. Mit dem neu von der amerikanischen Bourgeoisie gegenüber dem Irak verwendeten Begriff des „potentiellen Angreifers“ versucht sie in der Tat, jeglichen rechtlichen Rahmen auf der Ebene internationaler Beziehungen abzuschaffen und neue Regeln durchzusetzen. Diese Regeln, falls geduldet, würden unterschiedslos jede Invasion in beliebigen Territorien durch beliebige Nationen rechtfertigen und eine weitere Türe zur Verschärfung des Chaos öffnen. Diese Schwäche in der amerikanischen Strategie wird oft und ausgiebig von denjenigen Großmächten ideologisch ausgeschlachtet, die heute vorgeben, sich an die von der UNO erteilten „legalen Mandate“ zu halten. Das ist im übrigen der Grund, weshalb die Vereinigten Staaten, um ihr Handeln zu „legitimieren“, sich über die Beschlüsse der UNO und des Sicherheitsrats hinwegsetzen und die Risiken eines Misserfolgs in Kauf nehmen mussten. Dies wiederum hat Saddam Hussein einen ersten diplomatischen Erfolg beschert, als er die Zulassung von Waffeninspektoren auf irakischem Territorium erklärte: Russland, China und Frankreich, drei der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, haben sofort die irakische Position begrüßt und erklärt, als Konsequenz müsse, um die Arbeit der Inspektoren zu organisieren, auf eine Militäraktion verzichtet werden. Das Tauziehen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Irak, aber auch anderen Staaten ist also keineswegs schon im voraus entschieden.

Die Spaltungen innerhalb der amerikanischen Bourgeoisie

Der Golfkrieg wurde „legal“ im Rahmen von UNO-Resolutionen, der Kosovokrieg „illegal“ im Rahmen der NATO und die Militärkampagne in Afghanistan unter dem Banner des „Unilateralismus“ der Amerikaner geführt. Diese Politik verschärft natürlich die Feindseligkeit der anderen Staaten gegenüber Onkel Sam. Gleichzeitig lässt diese Situation das Anwachsen des Antiamerikanismus seit dem Golfkrieg von 1991 ermessen, und zwar vor allem unter der Mehrheit der europäischen Mächte. Sahen sich damals die Großmächte noch zur Beteiligung an Militäroperationen gezwungen, so tritt heute Kritik und sogar offene Opposition zum amerikanischen Vorgehen an den Tag. In Frankreich wird die Absicht Bushs, den Irak anzugreifen und Saddam Hussein zu stürzen, letztlich als krankhafte Besessenheit eines „Rambos“ präsentiert. In Deutschland, wo seit mehr als einem Jahrzehnt als goldene Regel der Diplomatie gilt, die Vereinigten Staaten wegen eigenen imperialistischen Ambitionen nicht vor den Kopf zu stoßen, hat Schröder mit der kategorischen Ablehnung jeglicher Beteiligung Deutschlands an Militärinterventionen im Irak jetzt einen Bruch vollzogen.[iv] Auch Mächte von untergeordneterer Bedeutung wie Spanien erlauben sich, an der Politik des Weißen Hauses betreffend den Irak oder den Nahen Osten Kritik zu üben.

Dieser Widerspruch findet seinen Wiederhall in Debatten und den in der amerikanischen Bourgeoisie aufgetretenen „Unstimmigkeiten“. Gewiss, schon beim Ausbruch des 2. Weltkriegs sind, betreffend der Notwendigkeit eines amerikanischen Kriegseintritts, Unstimmigkeiten in der US-Bourgeoisie ausgebrochen, nämlich zwischen den „Isolationisten“ und den „Interventionisten“. Während das republikanische Lager insgesamt „isolationistische“ Positionen vertrat, stammten die „Interventionisten“ hauptsächlich aus der demokratischen Partei. 1941 hat die von Roosevelt wohlbedacht provozierte Katastrophe von Pearl Harbor (s. Der Machiavellismus der herrschenden Klasse, Internationale Revue Nr. 29) den „Interventionisten“ ermöglicht sich durchzusetzen. Heute ist diese Kluft verschwunden. Aber die Widersprüche der amerikanischen Politik haben neue interne Divergenzen hervorgerufen, die sich nicht mehr wirklich mit denjenigen der traditionellen Parteien decken. Wohlverstanden: In der amerikanischen herrschenden Klasse existieren keine Zweifel über die Notwendigkeit, ihre weltweite imperialistische Vorherrschaft bewahren zu müssen, und dies zuallererst auf militärischem Terrain. Die divergierenden Beurteilungen betreffen vielmehr die folgende Frage: Müssen die Vereinigten Staaten die Dynamik akzeptieren, die sie zum Alleingang drängt, oder sollen sie sich um die Gunst anderer kümmern und Rücksicht nehmen auf eine gewisse Anzahl Verbündeter, wenngleich eine solche Allianz heute keinerlei Stabilität hat? Diese beiden Positionen erscheinen deutlich im Bezug auf die beiden im Brennpunkt stehenden Kriegsherde: den israelisch-palästinensischen Konflikt und die geplante Militärintervention im Irak. Als Ausdruck dieser Widersprüche zeigt sich die amerikanische Politik schwankend zwischen der vollumfänglichen Unterstützung Sharons mit der Absicht, sich Arafats zu entledigen, und den gleichzeitigen Diskursen über die unabwendbare Schaffung eines palästinensischen Staates. Der 11. September bedeutete den Antrieb zu einer Politik der quasi bedingungslosen Unterstützung Israels, wobei jedoch klar ist, dass die von Sharon und anderen noch radikaleren Fraktionen der israelischen Bourgeoisie geführte Flucht nach vorn mit der Politik der Panzer den Konflikt in eine endlose Spirale blinder Gewalt treibt, was zu einer selbstmörderischen Isolation Israels und indirekt der Vereinigten Staaten beiträgt.[v] Überdies irritiert die offene amerikanische Unterstützung Sharons viele arabische Staaten, die eigentlich nicht bedingungslose Anhänger Arafats wären. Dies könnte einen Großteil der herrschenden Klassen der arabischen Länder (v.a. Ägypten, Saudi-Arabien, Syrien) den Mächten der Europäischen Union näher bringen. Die Letzteren erklären jetzt nach dem eigenen Scheitern in der Rolle als „Wegbereiter des Friedens“ offen ihre Ablehnung einer Absetzung Arafats und schlüpfen so in die Rolle des Spielverderbers mit der Absicht, sich mittels Diplomatie die Kastanien aus dem Feuer zu holen.

Die Divergenzen, welche die amerikanische Bourgeoisie in Mitleidenschaft ziehen, sind in der republikanischen Führung zu Tage getreten. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Vizepräsident Dick Cheney und Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice verteidigen die Position einer Intervention im Alleingang und dies so bald als möglich. Demgegenüber äußern sich andere hohe Köpfe des republikanischen Lagers wie Colin Powell, James Baker oder Henry Kissinger (mit der Unterstützung gewisser Wirtschaftskreise, in denen sich angesichts der im Falle eines amerikanischen Alleingangs hohen Kosten einer Militäroperation wegen der „Konjunktur der gegenwärtigen Wirtschaftskrise“ Nervosität breit macht) zurückhaltend; noch bevorzugen sie die Alternative Zuckerbrot und Peitsche.

Wenn auch die „Falken“, die Anhänger einer energischen Vorgehensweise und Verfechter einer schnellen Intervention der Vereinigten Staaten im Irak, sich durchgesetzt zu haben scheinen, verunmöglichen die dadurch in der amerikanischen Bourgeoisie aufgetauchten Probleme jegliche Sicherheit. Dies zeigen in aller Deutlichkeit die jüngsten, Aufsehen erregenden Erklärungen Al Gores, der bei den letzten Präsidentschaftswahlen (um Haaresbreite) von Bush überrundete Kandidat der Demokraten, der die Offensichtlichkeit einer unmittelbar bevorstehenden Bedrohung aus dem Irak abstreitet und die internationale Strategie Bushs folgendermaßen kritisiert: „Nach dem 11. September trafen wir weltweit auf Sympathie, Wohlwollen und Unterstützung. Dies haben wir verschwendet und an deren Stelle sind im Laufe eines Jahres Angst, Beklemmung und Unsicherheit getreten, nicht hinsichtlich bevorstehender Taten von Terroristen, sondern in Hinsicht auf die unsrigen, unsere Taten!“ (Le Monde vom 26. September). Und dann, als mangle es noch an Ausdrücklichkeit, kündigen zwei demokratische Abgeordnete an, sich nach Bagdad zu begeben, um die Risiken abzuschätzen, denen im Falle eines Kriegs die Zivilbevölkerung ausgesetzt würde. Sie ziehen bei dieser Gelegenheit am selben Strick wie gewisse Gegner der USA, die entschlossen sind, die amerikanische Kriegsinitiative im Irak zu sabotieren. Man täusche sich aber nicht betreffend die Initiative gewisser Demokraten, welche es gegenwärtig zu ihrem Ziel erklärt haben, den Krieg gegen den Irak, so wie von Bush vorgesehen, zurückzustellen. Diese Initiative soll keinesfalls der kriegerischen Seite des amerikanischen Imperialismus in den Rücken fallen, sondern, wie schon erwähnt, Vorkehrungen treffen gegen eine schon heute durch das amerikanische Säbelrasseln immer mehr fortscheitende Isolierung der Vereinigten Staaten[vi], welche wiederum die Streitpunkte der amerikanischen Führung verschärft.[vii]

Wahrhaftig drücken diese Uneinigkeiten, die innerhalb der weltweit mächtigsten herrschenden Klasse zu Tage treten, einzig den fundamentalen Widerspruch aus, in dem sich diese Bourgeoisie befindet: „Gegenüber einer Welt, die von der Dynamik des “Jeder-für-sich„ beherrscht wird, und wo insbesondere die früheren Vasallen des amerikanischen Gendarms danach streben, sich so weit als möglich aus der erdrückenden Vorherrschaft dieses Gendarmen zu befreien, die sie wegen der Bedrohung durch den gegnerischen Block ertragen mussten, besteht für die USA das einzige Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Autorität darin, sich auf das Instrument zu stützen, bei dem sie gegenüber allen andern Staaten eine haushohe Überlegenheit besitzen: die militärische Gewalt. Aber aufgrund dieses Einsatzes geraten die USA selber in einen Widerspruch:

–          einerseits, falls sie auf den Einsatz oder die Zurschaustellung ihrer militärischen Überlegenheit verzichten, kann das die anderen, sie herausfordernden Staaten nur ermuntern, noch weiter vorzudrängen bei dieser Herausforderung;

–          andererseits, falls sie diese rohe Gewalt anwenden, und selbst und vor allem wenn sie es dank dieses Mittels schaffen, die imperialistischen Appetite ihrer Gegner vorübergehend zurückzudrängen, werden diese aber danach streben, die erstbeste Gelegenheit zu ergreifen, um sich zu revanchieren und wieder versuchen, aus der US-Vorherrschaft auszubrechen.

Wenn die USA diese militärische Überlegenheit als Trumpfkarte ins Spiel bringen, bewirken sie das Gegenteil – je nachdem ob die Welt in Blöcke geteilt ist wie vor 1989, oder wenn die Blöcke nicht mehr bestehen. Als die Blöcke noch bestanden, neigte das Zur-Schau-Stellen dieser Überlegenheit dazu, das Vertrauen der Vasallen gegenüber ihrem Führer zu verstärken, da er die Fähigkeit besaß, sie wirkungsvoll zu verteidigen; deshalb stellt diese Karte dann einen Faktor des Zusammenhaltes um die USA dar. Wenn die Blöcke nicht mehr bestehen, bewirken die Demonstrationen der Stärke der einzig übrig gebliebenen Supermacht im Gegenteil nur, dass die Dynamik des “Jeder-für-sich„ nur noch verstärkt wird, solange es keine Macht gibt, die mit ihr auf dieser Ebene konkurrieren kann. Deshalb kann man die Erfolge der gegenwärtigen Konteroffensive der USA keinesfalls als endgültig ansehen oder als Überwindung ihrer Führungskrise.“ (Resolution des 12. Kongresses der IKS, Internationale Revue Nr. 19). Folglich treibt die Absicht der Vereinigten Staaten, ihre Führung zu stärken, sie zur Entfesselung des Krieges, was wiederum in sich die Unmöglichkeit birgt, ihre Ziele längerfristig zu verwirklichen. In der heutigen Weltlage führt dieser Widerspruch, für den es keine Lösung gibt, zwangsweise zu einem unaufhörlichen Antrieb der Kriegsspirale.

Die Entwicklung der gegenwärtigen Situation steht daher ganz im Zeichen derselben Kriegspolitik wie sie damals im Golfkrieg, dann in Ex-Jugoslawien und in Afghanistan verfolgt wurde, jetzt jedoch auf einer höheren Stufe des Wagnisses und der Gefahr des Chaos. Die Politik des Weltpolizisten wirkt als aktiver Faktor des wachsenden Kriegschaos, des Versinkens in der Barbarei mit zunehmend unkontrollierbaren Konsequenzen. Sie bringt immer destabilisierendere Risiken mit sich, namentlich auf dem asiatischen Kontinent vom Nahen Osten bis Zentralasien, vom indischen Subkontinent bis Südostasien. Derartige Risiken enthüllen die tödliche Gefahr, der die gesamte Menschheit durch die kriegerischen Konfrontationen in der Zerfallsperiode des Kapitalismus ausgesetzt ist. Wenn auch ein Dritter Weltkrieg nicht unmittelbar bevorsteht, muss sich die Arbeiterklasse bewusst sein, dass es nur ein einziges Mittel gibt, die Zerstörung der Menschheit durch den Kapitalismus zu verhindern: dieses System muss gestürzt werden.

Wim (29. September)


[i] Hier zeigt sich einmal mehr der Machiavellismus der amerikanischen Bourgeoisie, die 1991 die kurdische Minderheit im Norden und die schiitische im Süden mitten im Golfkrieg zur Rebellion angestiftet hatte und dann, sobald der Aufstand begonnen hatte, in der Operation Wüstensturm zynisch die Nationalgarde von Saddam Hussein, die sich aus Elitetruppen zusammen setzte, bestehen ließ, damit sie diese Minderheiten niederschlagen konnten. In der Folge wurde nach Beendigung des Krieges die Niederschlagung dieser Minderheiten auf ideologischer Ebene von der amerikanischen Bourgeoisie ausgenutzt, um den blutrünstigen Charakter der Herrschaft Saddam Husseins aufzuzeigen und somit im Nachhinein den Golfkrieg und die Errichtung von entmilitarisierten Zonen unter direkter Kontrolle der USA zu rechtfe rtigen, ”um die lokale Bevölkerung zu schützen“.

[ii] s. The Economist, 14. 9. 2000

[iii] Den Vorbehalten namentlich Saudi-Arabiens, wo eine schiitische Beteiligung in einer zukünftigen ”demokratischen“Regierung Missgunst auslöst, ist Rechnung getragen worden. Der Stützpunkt von Al-Charg, der während des Golfkrieges und vor allem im Krieg von Afghanistan in so großem Masse von den amerikanischen Streitkräften benutzt wurde, wird nun demontiert und zu einer im Aufbau begriffenen Basis in Al-Udeid verlegt, an der westkatarischen Küste südlich von Doha, wo sie für die Vereinigten Staaten dieselbe Rolle wie Al-Charg zu spielen hat.

[iv] Nicht ohne eine gute Dosis Heuchelei, da mehrere Hundert deutsche Spezialisten für chemische und biologische Waffen, die dem Irak Zugang zu eben diesen Waffen besorgt hatten, heute als ”technische Berater“in dieser Region im Dienste der Amerikaner präsent sind. Und auch Schröder bemühte sich, nachdem er mit Hilfe seiner offenkundig antiamerikanischen Stellungnahme die Wahlen gewonnen hatte, schon am Tage darauf eiligst darum, Blair einen Besuch abzustatten. Schröder bat diesen, so ein englischer Diplomat, eine Wiederversöhnung mit Washington zu fördern, welches in heftiger Weise seine Verbitterung ausgedrückt hatte. Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass die deutsche Bourgeoisie nun beabsichtigen würde, sich hinter die herrschende Klasse der USA zu stellen, sondern lediglich dass sie bevorzugt, wieder zu ihrer alten behutsamen Diplomatie zurückzukehren, die ihr bis jetzt so gut bekommen ist.

[v] Überdies bedingt die durch die Wirtschaftsprobleme Israels ausgelöste wachsende Unzufriedenheit angesichts der enormen Opfer in der Bevölkerung im Strudel der Kriegswirtschaft eine Kluft in der Politik der nationalen Einheit in Israel selbst. Dies zeigt auch der Rücktritt Shlomo Ben Amis, des ehemaligen Arbeitsministers von Yehud Barak, von seinem Abgeordnetenmandat.

[vi] Anhand der politischen Laufbahn Al Gores selbst sind derartige Illusionen zurückzuweisen, da ebendieser 1991 zur damals demokratischen Minderheit gehörte, welche für den Golfkrieg gestimmt hatte.

[vii] Überzeugender Ausdruck dieser wachsenden Feindseligkeit gegenüber den Vereinigten Staaten ist der kürzlich erstattete Besuch des japanischen Premierministers Koizumi in Nordkorea. Dieser herzliche Besuch in einem Land, welches von den Amerikanern zur Achse des Bösen gerechnet wird, bedeutet eine direkte Herausforderung gegenüber den USA.7 Überzeugender Ausdruck dieser wachsenden Feindseligkeit gegenüber den Vereinigten Staaten ist der kürzlich erstattete Besuch des japanischen Premierministers Koizumi in Nordkorea. Dieser herzliche Besuch in einem Land, welches von den Amerikanern zur Achse des Bösen gerechnet wird, bedeutet eine direkte Herausforderung gegenüber den USA.

Geographisch: 

  • Naher Osten [13]

Aktuelles und Laufendes: 

  • Irak [14]

Theoretische Fragen: 

  • Krieg [39]

Leo Trotzki: „Literatur und Revolution“

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Proletarische Kultur und proletarische Kunst?

Jede herrschende Klasse entwickelt ihre eigene Kultur und folglich auch ihre eigene Kunst. Die Geschichte kennt die Kultur der Sklavenhalter des Ostens und der klassischen Antike, die Feudalkultur des europäischen Mittelalters und die bürgerliche Kultur, die zur Zeit die Welt beherrscht. Daraus folgt anscheinend selbstverständlich, dass das Proletariat seine eigene Kultur und seine eigene Kunst schaffen müsste.

Das Problem ist aber bei weitem nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die Gesellschaft, in der die Sklavenhalter herrschten, existierte im Verlaufe von sehr vielen Jahrhunderten. Dasselbe gilt vom Feudalismus. Die bürgerliche Kultur, selbst wenn man sie erst vom Zeitpunkt ihres offenen und stürmischen Auftretens, d. h. von der Renaissancezeit an rechnet, existiert fünf Jahrhunderte, wobei sie ihre volle Blüte erst im 19. Jahrhundert erreichte, eigentlich erst in dessen zweiter Hälfte. Die Bildung einer neuen Kultur um eine herrschende Klasse erfordert, wie die Geschichte zeigt, viel Zeit und erreicht ihren Höhepunkt in einer Epoche, die dem politischen Verfall der Klasse vorausgeht.

Hat denn nun das Proletariat überhaupt genügend Zeit, eine „proletarische“ Kultur zu schaffen? Im Unterschied zum Regime der Sklavenhalter, der Feudalen und der Bourgeoisie betrachtet das Proletariat seine Diktatur als eine kurzfristige Übergangszeit. Wenn wir allzu optimistische Ansichten hinsichtlich des Übergangs zum Sozialismus entlarven wollen, erinnern wir daran, dass die Epoche der sozialen Revolution im Weltmaßstab nicht Monate, sondern Jahre und Jahrzehnte dauern wird – Jahrzehnte, aber nicht Jahrhunderte und schon gar nicht Jahrtausende. Kann denn das Proletariat in dieser Zeit eine neue Kultur entwickeln? Zweifel daran sind um so berechtigter, als die Jahre der sozialen Revolution Jahre eines erbitterten Klassenkampfs sein werden, in denen die Zerstörungen mehr Raum einnehmen werden als der Aufbau einer neuen Kultur. In jedem Falle wird das Proletariat selbst seine Hauptenergie auf die Eroberung der Macht, deren Behauptung, Festigung, deren Anwendung bei der Lösung der allerdringlichsten Daseinsbedürfnisse und auf den weiteren Kampf richten müssen, so dass der Möglichkeit planmäßigen kulturellen Aufbaues sehr enge Grenzen gesetzt sind. Und umgekehrt: Je vollständiger das neue Regime gegen politische und kriegerische Erschütterungen abgesichert sein wird, je günstiger sich die Bedingungen für kulturelles Schaffen gestalten werden, um so mehr wird sich das Proletariat in der sozialistischen Gemeinschaft auflösen, sich von seinen Klassenmerkmalen befreien, das heißt also, nicht mehr Proletariat sein. Mit anderen Worten: In der Epoche der Diktatur kann von der Schaffung einer neuen Kultur, d. h. von einem Aufbau in allergrößtem historischem Maßstab keine Rede sein; und jener mit nichts Früherem vergleichbare kulturelle Aufbau, der einsetzt, wenn die Notwendigkeit der eisernen Klammern der Diktatur entfällt, wird schon keinen Klassencharakter mehr tragen. Hieraus muss man die allgemeine Schlussfolgerung ziehen, dass es eine proletarische Kultur nicht nur nicht gibt, sondern auch nicht geben wird; Und es besteht wahrhaftig keinerlei Veranlassung dazu, dies zu bedauern: Das Proletariat hat ja gerade dazu die Macht ergriffen, um ein für allemal der Klassenkultur ein Ende zu setzen und der Menschheitskultur den Weg zu bahnen. Das scheinen wir nicht selten zu vergessen.

Die formlosen Gespräche über die proletarische Kultur in Analogie und Antithese zur bürgerlichen finden ihren Nährboden in der äußerst unkritischen Gleichsetzung des geschichtlichen Schicksals des Proletariats mit dem der Bourgeoisie. Die oberflächliche, rein liberale Methode der formalen historischen Analogien hat mit Marxismus nichts gemein. Es gibt keine materielle Analogie der historischen Bahnen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse.

Die Entwicklung der bürgerlichen Kultur setzte einige Jahrhunderte früher ein, bevor die Bourgeoisie mit Hilfe einer Reihe von Revolutionen die Staatsgewalt in ihre Hände nahm. Schon als die Bourgeoisie noch ein halb rechtloser dritter Stand war, spielte sie auf allen Gebieten des kulturellen Aufbaues eine große, ständig wachsende Rolle. Das kann man besonders deutlich am Beispiel der Architektur verfolgen. Die gotischen Kirchen sind nicht plötzlich, nicht in einer schlagartigen religiösen Begeisterung erbaut worden. Der Entwurf zum Kölner Dom, seine Architektur und seine Skulptur stellen die Summe von Bauerfahrungen der Menschen dar, die, beginnend mit den Vorrichtungen des Höhlenbewohners, die Elemente dieser Erfahrungen zu einem neuen Stil zusammenfassten, der die Kultur der Epoche, d. h. letzten Endes ihre soziale Struktur und ihre Technik, zum Ausdruck brachte. Die alte, in Zünften und Gilden organisierte Vorbourgeoisie war die tatsächliche Erbauerin der Gotik. Als sich die Bourgeoisie entwickelt und konsolidiert hatte, d. h. als sie reich geworden war und die Gotik schon bewusst und aktiv durchlaufen hatte, schuf sie sich einen eigenen Architekturstil – aber schon nicht mehr für die Kirchen, sondern für ihre eigenen palastartigen Häuser. Sie stützte sich hierbei auf die Errungenschaften der Gotik, wandte sich der Antike, vorwiegend der römischen Architektur zu, benutzte auch die maurische, unterwarf alles dies den Vorbedingungen und Bedürfnissen der neuen städtischen Gemeinschaft und schuf die Renaissance (in Italien gegen Ende des ersten Viertels des XV. Jahrhunderts). Spezialisten mögen nachrechnen – und sie tun es auch – mit welchen ihrer Elemente die Renaissance der Antike verpflichtet ist und mit welchen der Gotik, sowie welche von diesen das Übergewicht haben. Auf jeden Fall beginnt die Renaissance nicht vor dem Augenblick, in dem die neue Gesellschaftsklasse, kulturell gesättigt sich stark genug fühlt, das Joch des gotischen Bogens abzuschütteln und die Gotik sowie alles, was ihr voraufging, als Material zu betrachten und die technischen Elemente der Vergangenheit frei den eigenen künstlerischen Bauzwecken unterzuordnen. Das bezieht sich auch auf alle anderen Künste mit dem Unterschied, daß die „freien“ Künste infolge ihrer größeren Elastizität, d. h. infolge der geringeren Abhängigkeit vom Verwendungszweck und vom Material, die Dialektik der Überwindung und der Aufeinanderfolge der Stile nicht mit einer derartigen steinernen Überzeugungskraft offenbaren.

Zwischen der Renaissance und der Reformation, die zur Aufgabe hatten, der Bourgeoisie günstigere ideelle und politische Existenzbedingungen innerhalb der feudalistischen Gesellschaft zu verschaffen, und der Revolution, die (in Frankreich) der Bourgeoisie die Macht übertrug, vergingen drei bis vier Jahrhunderte, in denen die materielle und ideelle Macht der Bourgeoisie wuchs. Die Epoche der großen Französischen Revolution und der aus ihr entstandenen Kriege lassen das materielle Kulturniveau vorübergehend sinken. Aber danach setzt sich das kapitalistische Regime als „natürlich“ und „ewig“ fest ...

Auf diese Weise wurde der grundlegende Sammlungsprozeß der Elemente der bürgerlichen Kultur und deren Kristallisation zu einem Stil von den sozialen Eigenschaften der Bourgeoisie als der besitzenden Ausbeuterklasse bestimmt: Sie entwickelte sich innerhalb der feudalistischen Gesellschaft nicht nur materiell, war nicht nur mit ihr vielfältig verflochten und zog nicht nur den Reichtum an sich, sondern brachte auch die Intelligenz auf ihre Seite, gründete eigene Kulturstützpunkte (Schulen, Universitäten, Akademien, Zeitungen, Zeitschriften), lange bevor sie sich an der Spitze des dritten Standes offen des Staates bemächtigte. Es genüge, daran zu erinnern, daß die deutsche Bourgeoisie mit ihrer unvergleichlichen technischen, philosophischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Kultur bis zum Jahre 1918 die Macht in den Händen einer feudalbürokratischen Kaste beließ und sich erst dann entschloß, oder richtiger: sich gezwungen sah, die Macht unmittelbar in die eigene Hand zu nehmen, als sich das materielle Gerüst der deutschen Kultur in einen Scherbenhaufen zu verwandeln begann.

Man könnte einwenden: Die Kunst der Sklavenhalter wurde in Jahrtausenden geschaffen, die bürgerliche in Jahrhunderten; warum sollte die proletarische nicht in Jahrzehnten geschaffen werden können? Die technischen Grundlagen des Daseins sind heute ganz andere, und deshalb ist auch das Tempo ein anderes. Dieser scheinbar so überzeugende Einwand geht in Wirklichkeit am Kern der Sache vorbei. Zweifellos tritt in der Entwicklung einer neuen Gesellschaft der Zeitpunkt ein, in dem die Wirtschaft, der kulturelle Aufbau und die Kunst eine äußerst weitgehende Freiheit in ihrer Bewegung nach vorn erhalten. Über das Tempo können wir heute nur Mutmaßungen anstellen. In einer Gesellschaft, die alle beklemmenden und abstumpfenden Sorgen um das tägliche Brot abgeworfen hat, für die in Gemeinschaftsrestaurants gute, bekömmliche, schmackhafte Speisen zubereitet werden in einer alle befriedigenden Auswahl; in der öffentliche Wäschereien gute Wäsche – für alle – gut waschen; in der die Kinder satt, gesund und vergnügt sind – alle Kinder – und die Grundelemente der Wissenschaft verschlingen wie Eiweiß, Luft und Sonnenwärme; in der die Elektrizitätswerke und der Rundfunk nicht mehr so primitiv arbeiten wie heute, sondern wie ein unerschöpflicher Wasserfall zentralisierter Energie, der auf einen Knopfdruck planmäßig reagiert; in der es keine „überflüssigen“ Esser gibt; in der der befreite Egoismus des Menschen – eine gewaltige Kraft! – voll und ganz auf die Erkenntnis, Umgestaltung und Verbesserung des Weltalls gerichtet ist – in einer solchen Gesellschaft wird die Dynamik der kulturellen Entwicklung alles übersteigen, was es in der Vergangenheit gegeben hat. Aber das wird erst nach dem langen und mühseligen Weg zur Paßhöhe eintreten, der noch vor uns liegt. Wir aber sprechen gerade von der Epoche der Paßbezwingung.

Aber ist denn unsere heutige Zeit nicht dynamisch? In höchstem Grade. Aber ihre Dynamik konzentriert sich auf die Politik. Auch Krieg und Revolution sind dynamisch – aber in ungeheurem Umfange auf Kosten der Technik und der Kultur. Zugegeben, der Krieg hat eine große Reihe technischer Erfindungen mit sich gebracht. Aber das Elend, das er verursachte, hat für lange Zeit deren praktische Anwendung in der Revolutionierung des Seins hinausgeschoben. Dies bezieht sich auf das Radio, die Luftfahrt und auf viele chemische Entdeckungen. Die Revolution schafft ihrerseits die Voraussetzungen für die neue Gesellschaft. Aber sie vollzieht dies mit den Methoden der alten Gesellschaft: mit dem Klassenkampf, mit Gewalt, Ausrottung und Zerstörung. Wenn die proletarische Revolution nicht gekommen wäre, wäre die Menschheit an ihren Widersprüchen erstickt. Der Umsturz rettet die Gesellschaft und die Kultur, aber mit den Methoden der grausamsten Chirurgie. Alle aktiven Kräfte konzentrieren sich in der Politik, im revolutiönaren Kampf – alles übrige rückt in den Hintergrund, und alles, was stört, wird mitleidlos niedergetrampelt. In diesem Prozeß gibt es natürlich eigene, private Ebbe- und Fluterscheinungen: Der Kriegskommunismus wird von der NEP abgelöst, die ihrerseits verschiedene Stadien durchläuft. Aber in ihren Grundzügen ist die Diktatur des Proletariats keine Produktions- und Kulturorganisation der neuen Gesellschaft, sondern ein revolutionäres Kampfregime im Kampf für diese Gesellschaft. Das darf man nicht vergessen. Der Historiker der Zukunft wird, so müßte man denken, die Kulmination der alten Gesellschaft auf den zweiten August 1914 zurückführen, als die tobsüchtig gewordene Macht der bürgerlichen Kultur die ganze Welt in Blut und Feuer des imperialistischen Krieges tauchte. Der Anfang der neuen Geschichte der Menschheit wird wahrscheinlich auf den 7. November 1917 zurückgeführt werden. Die grundlegenden Etappen der Menschheitsentwicklung werden vermutlich etwa folgendermaßen festgelegt werden: außergeschichtliche „Geschichte“ des Urmenschen; antike Geschichte, die sich auf der Sklaverei entwickelte; das Mittelalter – mit der Arbeit der Leibeigenen; der Kapitalismus mit der Lohnausbeutung und schließlich die sozialistische Gesellschaft mit ihrem hoffentlich schmerzlosen Übergang zur obrigkeitslosen Kommune. Auf jeden Fall werden die 20, 30 oder 50 Jahre, die die proletarische Weltrevolution dauern wird, in die Geschichte als äußerst schwieriger Übergang von einer Gesellschaftsordnung zur anderen eingehen, auf keinen Fall aber als selbständige Epoche einer proletarischen Kultur.

Jetzt, in den Jahren einer Atempause, können bei uns in der Sowjetrepublik in dieser Hinsicht Illusionen entstehen. Wir haben die Fragen der kulturellen Betriebsamkeit auf die Tagesordnung gesetzt. Wenn man in Gedanken Linien von unseren heutigen Sorgen auf eine lange Reihe von Jahren hinaus in die Zukunft zieht, dann könnte man sich eine proletarische Kultur zurechtdenken. In Wirklichkeit aber steht unser Kulturbetrieb, so wichtig und lebensnotwendig er ist, immer noch vollkommen im Zeichen der europäischen Revolution und der Weltrevolution. Wir sind nach wie vor Soldaten auf dem Vormarsch. Wir haben nur einen Rasttag. Da muß man sich sein Hemd waschen, die Haare schneiden und kämmen und vor allen Dingen sein Gewehr reinigen und einfetten. Unsere gesamte gegenwärtige wirtschaftlich-kulturelle Arbeit ist nichts anderes als eine Gelegenheit, uns zwischen zwei Schlachten und Feldzügen ein wenig in Ordnung zu bringen. Die Hauptkämpfe stehen uns noch bevor – und sind vielleicht gar nicht mehr so fern. Unsere Epoche ist noch nicht die Epoche einer neuen Kultur, sondern nur ein Vorhof zu ihr. Wir  müssen in erster Linie die wichtigsten Elemente der alten Kultur unserem Staat dienstbar machen, und sei es nur, um der neuen den Weg zu bahnen.

Dies wird besonders deutlich, wenn man die Aufgabe, wie es sich auch gehört, in ihrem internationalen Ausmaß betrachtet. Das Proletariat ist die besitzlose Klasse geblieben, die es früher war. Infolgedessen waren die Grenzen für ihren Anschluß an die Elemente der bürgerlichen Kultur, die für immer zum Inventar der Menschheit geworden sind, sehr eng gesetzt. In einem gewissen Sinne kann man zwar sagen, daß auch das Proletariat, mindestens das europäische, seine eigene Epoche der Reformation hatte, vorwiegend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als es, ohne schon direkt nach der Staatsmacht zu greifen, sich günstigere rechtliche Voraussetzungen für seine Entwicklung innerhalb des bürgerlichen Regimes erobert hatte. Aber erstens hat die Geschichte der Arbeiterklasse für diese „Reformationszeit“ (des Parlamentarismus und sozialer Reformen), die zum größten Teil mit der Periode der II. Internationale zusammenfiel, etwa so viele Jahrzehnte bewilligt wie der Bourgeoisie Jahrhunderte. Zweitens wurde das Proletariat in dieser Vorbereitungsperiode keinesfalls eine reichere Klasse, und es hat auch keine Macht in seiner Hand konzentriert – im Gegenteil, vom sozialen und kulturellen Standpunkt verelendete es immer mehr. Die Bourgeoisie kam zur Macht, voll ausgerüstet mit den kulturellen Möglichkeiten ihrer Zeit; das Proletariat jedoch kommt an die Macht, voll ausgerüstet mit dem dringenden Bedürfnis, sich der Kultur zu bemächtigen. Die Aufgabe des Proletariats, das die Macht erobert hat, besteht vor allen Dingen darin, den ihm vorher nicht dienstbar gewesenen Kulturapparat – die Industrie, die Schulen, Verlage, die Presse, die Theater u. a. m. in die Hand zu bekommen und sich dadurch den Weg zur Kultur freizumachen.

Bei uns in Rußland wird diese Aufgabe noch erschwert durch die Armut unserer gesamten Kulturtradition und durch die materiell so vernichtenden Ereignisse des letzten Jahrzehnts. Nach der Eroberung der Macht und nach fast sechs Jahren des Kampfes um ihre Erhaltung und Konsolidierung ist unser Proletariat gezwungen, alle seine Kräfte auf die Schaffung der elementarsten materiellen Voraussetzungen für die Existenz und auf die Aneignung des Alphabets im wahren, buchstäblichen Sinn des Wortes zu richten. Nicht umsonst haben wir uns die Aufgabe gestellt, zum zehnjährigen Jubiläum der Sowjetmacht das Analphabetentum zu liquidieren.

Irgend jemand mag vielleicht einwenden, daß ich den Begriff der proletarischen Kultur zu weit fasse. Eine voll entfaltete Kultur des Proletariats wird es tatsächlich nicht geben, aber immerhin wird es der Arbeiterklasse, bevor sie sich in der kommunistischen Gesellschaft auflöst, gelingen, der Kultur ihren Stempel aufzudrücken. Einen derartigen Einwand müßte man in erster Linie als eine schwerwiegende Abweichung von den Positionen der proletarischen Kultur registrieren. Es ist nicht zu bezweifeln, daß das Proletariat während seiner Diktatur der Kultur ihren eigenen Stempel aufdrücken wird. Aber von da bis zur proletarischen Kultur ist es noch sehr weit, wenn man sie als ein entfaltetes und innerlich harmonisiertes System von Kenntnissen und Fertigkeiten auf allen Gebieten des materiellen und geistigen Schaffens auffaßt. Die Tatsache, daß Dutzende Millionen von Menschen zum ersten Male die Kunst des Lesens und Schreibens und die vier Grundrechenarten erlernen, wird allein schon zu einem neuen Kulturfaktor werden, und zwar zu einem ungeheuren. Die neue Kultur wird ja ihrem ganzen Wesen nach keine aristokratische sein, für eine privilegierte Minderheit, sondern eine allgemeine, für die Massen und das Volk bestimmte. Die Quantität wird auch hier in Qualität umschlagen: Zugleich mit der zunehmenden Massenverbreitung der Kultur wird sich ihr Niveau heben und ihr ganzes Aussehen verändern. Aber dieser Prozeß wird sich erst in einer Reihe von historischen Etappen entwickeln. Nach Maßgabe der Erfolge wird die Klassenbindung des Proletariats schwächer werden und folglich auch der Boden für eine proletarische Kultur schwinden.

Aber die Spitzen der Klasse? Ihre geistige Avantgarde? Kann man denn nicht sagen, daß sich in dieser, wenn auch dünnen Schicht jetzt schon die Entwicklung einer proletarischen Kultur vollzieht? Haben wir denn nicht eine sozialistische Akademie? Rote Professoren? Mit einer solchen, sehr abstrakten Fragestellung begeht man einen groben Fehler. Man faßt die Sache so auf, als ließe sich die proletarische Kultur im Laboratoriumsverfahren entwickeln. In Wirklichkeit bildet sich das Grundgewebe der Kultur auf der Basis der wechselseitigen Beziehungen und der gegenseitigen Einflußnahme zwischen der Intelligenz der Klasse und der Klasse selbst. Die bürgerliche Kultur – die technische, politische, philosophische und künstlerische – wurde im Zusammenwirken der Bourgeoisie mit ihren Erfindern, Führern, Denkern und Dichtern geschaffen. Der Leser schuf den Schriftsteller und der Schriftsteller – den Leser. In unvergleichlich größerem Umfang muß dies für das Proletariat gelten, weil seine Wirtschaft, Politik und Kultur nur auf der schöpferischen Selbständigkeit der Massen aufgebaut werden kann. Die Hauptaufgabe der proletarischen Intelligenz ist in den nächsten Jahren allerdings nicht eine Abstraktion der neuen Kultur – solange für sie noch nicht einmal das Fundament gelegt ist – sondern eine äußerst konkrete kulturelle Betätigung, d. h. die systematische, planmäßige und, natürlich, kritische Weitergabe der notwendigsten Elemente der Kultur, die schon da ist, an die zurückgebliebenen Massen. Man darf die Kultur einer Klasse nicht hinter ihrem Rücken entwickeln. Um sie aber gemeinsam mit der Klasse – in enger Anpassung an ihren allgemeinen historischen Aufstieg - aufzubauen, ist es notwendig, den Sozialismus zu verwirklichen, wenn auch nur ins Unreine. Auf dem Wege dahin werden die Klassenmerkmale der Gesellschaft nicht verschärft, sondern im Gegenteil – sie werden verschwommener, lösen sich direkt proportional den Erfolgen der Revolution in nichts auf. Der befreiende Sinn der Diktatur des Proletariats besteht ja gerade darin, daß diese nur eine vorübergehende, kurzfristige Erscheinung ist – ein Mittel, den Weg freizumachen, den Grundstein zu legen für eine klassenlose Gesellschaft und die Solidarität der gegründeten Kultur.

Um den Sinn der kulturschaffenden Periode in der Entwicklung der Arbeiterklasse konkreter zu erklären, nehmen wir die historische Reihenfolge nicht der Klassen, sondern der Generationen. Ihre Kontinuität liegt darin, daß jede der Generationen ihren Beitrag zu der bisher von früheren Generationen angesammelten Kultur in ihrer Entwicklung und nicht im Zustand des Verfalles leistet. Doch bevor sie dieses tut, muß die neue Generation durch eine Lehre gehen. Sie erfaßt die vorhandene Kultur und gestaltet sie nach ihrer Art um, die sich mehr oder weniger von der Art der älteren Generation unterscheidet. Diese Aneignung ist noch nichts Schöpferisches, d. h. es werden noch keine neuen kulturellen Werte geschaffen, sondern nur die Voraussetzung dafür. Das Gesagte kann auch – in gewissen Grenzen – auf das Schicksal der sich zu historischem Schöpfertum erhebenden Massen der Werktätigen übertragen werden. Man muß nur hinzufügen, daß das Proletariat, sobald es das Stadium der kulturellen Lehrzeit verläßt, aufhört, Proletariat zu sein. Wollen wir noch einmal daran erinnern, daß die bürgerliche Spitze des dritten Standes ihre kulturelle Lehrzeit unter dem Dach der feudalen Gesellschaft durchgemacht hat; bereits in deren Schoß hat sie die alten herrschenden Stände kulturell überflügelt und ist zu einem Motor der Kultur geworden, bevor sie zur Macht gelangte. Mit dem Proletariat überhaupt, und dem russischen im besonderen, verhält es sich genau umgekehrt: Es ist gezwungen, die Macht zu ergreifen, bevor es sich die Grundelemente der bürgerlichen Kultur angeeignet hat; es ist gezwungen, die bürgerliche Gesellschaft gerade deshalb mit revolutionärer Gewalt zu stürzen, weil diese ihm keinen Zutritt zur Kultur gewährt. Ihren Staatsapparat sucht die Arbeiterklasse in eine mächtige Pumpe zu verwandeln, um den Durst der Volksmassen nach Kultur zu stillen. Das ist eine Arbeit von immenser historischer Wichtigkeit. Aber das ist, wenn man nicht leichtfertig mit Worten spielt, noch nicht die Schaffung einer besonderen proletarischen Kultur. Unter der Bezeichnung „proletarische Kultur“, „proletarische Kunst“ u. a. m. figurieren bei uns kritiklos in drei von etwa zehn Fällen die Kultur und die Kunst der kommenden kommunistischen Gesellschaft, in zwei Fällen von zehn – die tatsächliche Aneignung einzelner Elemente der vorproletarischen Kultur durch einzelne Gruppen des Proletariats, und schließlich herrscht in fünf von zehn Fällen – eine derartige Verwirrung von Begriffen und Wörtern, daß man sich darin überhaupt nicht mehr zurechtfinden kann.

Nachstehend ein frisches Beispiel – eines von hundert – einer liederlichen, unkritischen und gefährlichen Verwendung des Begriffs „proletarische Kultur“: „Die wirtschaftliche Basis und das entsprechende System des Überbaues“, schreibt Genosse Sisow, „stellen die kulturelle Charakteristik einer Epoche dar (feudal, bürgerlich, proletarisch).“ Auf diese Art und Weise wird die Epoche der proletarischen Kultur in demselben Sinn wie die bürgerliche aufgefaßt. Aber das, was hier als proletarische Epoche bezeichnet wird, ist nur eine kurze Übergangszeit von einer Gesellschaftsform zur anderen: vom Kapitalismus zum Sozialismus. Der Erreichung des bürgerlichen Systems ist ebenfalls eine Übergangsperiode voraufgegangen, aber im Gegensatz zur bürgerlichen Revolution, die, nicht ohne Erfolg, danach strebte, die Herrschaft der Bourgeoisie zu verewigen, hat die proletarische Revolution zum Ziel, die Existenz des Proletariats als Klasse in einer möglichst kurzen Zeit zu liquidieren.

Die Dauer dieser Zeit hängt unmittelbar von den Erfolgen der Revolution ab. Ist es nicht geradezu ungeheuerlich, diese Tatsache zu vergessen und die proletarische Epoche mit der feudalen und bürgerlichen in eine Reihe zu stellen?

Wenn dem aber so ist, folgt dann daraus, daß wir auch keine proletarische Wissenschaft haben? Können wir denn nicht tatsächlich behaupten, daß die Theorie des historischen Materialismus und die Kritik von Marx an der politischen Ökonomie unschätzbare wissenschaftliche Elemente der proletarischen Kultur sind?

Natürlich ist die Bedeutung des historischen Materialismus und der Mehrwerttheorie unermeßlich groß, sowohl für die klassenmäßige Ausrüstung des Proletariats wie auch für die Wissenschaft überhaupt. Im „Kommunistischen Manifest“ allein schon gibt es mehr echte Wissenschaft als in ganzen Bibliotheken historischer und historisch-philosophischer professoraler Kompilationen, Spekulationen und Falsifikationen. Kann man aber sagen, daß der Marxismus an sich ein Produkt der proletarischen Kultur sei? Und kann man denn behaupten, daß wir uns tatsächlich schon des Marxismus – nicht nur für politische Kampfaufgaben, sondern auch für umfangreiche wissenschaftliche Aufgaben bedienen?

Marx und Engels sind aus der kleinbürgerlichen Demokratie hervorgegangen und sind selbstverständlich in deren Kultur und nicht in einer Kultur des Proletariats erzogen worden. Wenn es nicht die Arbeiterklasse mit ihren Streiks, ihrem Kampf, ihren Leiden und Aufständen gegeben hätte, dann hätte es natürlich auch keinen wissenschaftlichen Kommunismus gegeben, weil dann dazu keine historische Notwendigkeit bestanden hätte. Das zusammenfassende Denken der bourgeoisen Demokratie erhebt sich in Gestalt ihrer kühnsten, ehrlichsten und weitblickendsten Vertreter – getrieben von den kapitalistischen Widersprüchen – bis zur genialen Selbstverleugnung, ausgerüstet mit dem ganzen kritischen Arsenal, das dank der Entwicklung der bourgeoisen Wissenschaft zur Verfügung stand. Das ist die Herkunft des Marxismus.

Das Proletariat fand im Marxismus nicht sofort seine Methode und hat sie bis zum heutigen Tage bei weitem nicht völlig gefunden. Diese  Methode dient heute vorwiegend – fast ausschließlich – politischen Zielen. Eine breite erkenntnismäßige Anwendung und methodologische Entwicklung des dialektischen Materialismus liegt noch völlig in der Zukunft. Nur in einer sozialistischen Gesellschaft wird der Marxismus aus einer einseitigen Waffe des politischen Kampfes zu einer Methode des wissenschaftlichen Schaffens, zum wichtigsten Element und Instrument der geistigen Kultur.

Daß die gesamte Wissenschaft in mehr oder weniger großem Umfang die Tendenzen der herrschenden Klasse wiedergibt, steht fest. Je näher eine Wissenschaft den wirklichen Problemen der Meisterung der Natur (Physik, Chemie, Naturwissenschaften) überhaupt steht, um so größer ist ihr nicht klassenbedingter, allgemein menschlicher Beitrag. Je enger eine Wissenschaft mit der sozialen Mechanik der Ausbeutung (politische Ökonomie) verstrickt ist, oder je abstrakter sie die gesamte menschliche Erfahrung verallgemeinert (Psychologie nicht im experimentellphysiologischen, sondern im sogenannten „philosophischen“ Sinn), um so mehr ist sie dem Klasseneigennutz der Bourgeoisie unterworfen, um so nichtiger ihr Beitrag zur Gesamtsumme des menschlichen Wissens. Auf dem Gebiet der experimentellen Wissenschaften gibt es ebenfalls verschiedene Stufen der wissenschaftlichen Gewissenhaftigkeit und Objektivität, die von der Großzügigkeit der Schlußfolgerungen abhängt. In der Regel richten sich die bürgerlichen Tendenzen am ungezwungensten in den Gipfelsphären der methodologischen Philosophie, der „Weltanschauung“ ein. Deshalb ist eine Säuberung des wissenschaftlichen Gebäudes von unten bis oben oder richtiger von oben bis unten erforderlich, denn man muß in den obersten Etagen anfangen. Aber es wäre naiv anzunehmen, daß das Proletariat, bevor es die von der Bourgeoisie ererbte Wissenschaft für den sozialistischen Aufbau anwendet, diese in ihrer Gesamtheit kritisch überarbeiten müsse. Das ist fast dasselbe, als wenn man mit den Moralisten und Utopisten erklären würde: vor dem Aufbau einer neuen Gesellschaft müsse sich das Proletariat auf die Höhe der kommunistischen Moral erheben. In Wirklichkeit wird das Proletariat die Moral wie auch die Wissenschaft erst dann radikal umbauen, wenn es, und sei es erst im Rohbau, eine neue Gesellschaft aufgebaut hat. Aber geraten wir da nicht in einen Teufelskreis? Wie soll man eine neue Gesellschaft mit Hilfe der alten Wissenschaft und der alten Moral aufbauen? Hier muß man nun schon ein wenig Dialektik zu Hilfe nehmen, dieselbe, die man bei uns so verschwenderisch sowohl in die lyrische Poesie wie in den Kanzleibetrieb in die Kohlsuppe wie in die Buchweizengrütze[i] hineinstopft. Gewisse Stützpunkte und gewisse wissenschaftliche Methoden, welche das Bewußtsein von dem ideellen Joch der Bourgeoisie befreien, braucht die proletarische Avantgarde, um an die Arbeit gehen zu können; sie erkämpft sie sich und hat sie sich teilweise schon erkämpft. Ihre grundlegende Methode hat sie unter verschiedenen Umständen in vielen Kämpfen erprobt. Aber von da bis zur proletarischen Wissenschaft ist es noch sehr weit. Die revolutionäre Klasse wird den Ablauf ihres Kampfes nicht verlangsamen, nur weil ihre Partei noch nicht entschieden hat, ob die Hypothese von den Elektronen und Ionen, die psychoanalytische Theorie Freuds, die Homogenese der Biologen, die neuen mathematischen Relativitätsoffenbarungen u. a. m. zu akzeptieren sind oder nicht. Nach der Eroberung der Macht erhält das Proletariat allerdings bedeutend größere Möglichkeiten, sich der Wissenschaft zu bemächtigen und sie zu revidieren. Aber auch dies ist schneller gesagt als getan. Das Proletariat vertagt keineswegs seinen sozialistischen Aufbau, bis seine neuen Gelehrten, von denen viele noch in kurzen Höschen herumlaufen, alle Instrumente und Kanäle der Erkenntnis überprüft und gereinigt haben werden. Das Proletariat wirft das unverkennbar Unnötige, Falsche und Reaktionäre ab und benutzt auf den verschiedenen Gebieten seines Aufbaus die Methoden und Resultate der gegenwärtigen Wissenschaft, wobei es je nach Notwendigkeit einen gewissen Prozentsatz in ihr enthaltener reaktionärer Klassenligatur mit in Kauf nimmt. Das praktische Ergebnis rechtfertigt sich im großen und ganzen selbst, denn die unter die Kontrolle der sozialistischen Zielsetzung gestellte Praxis wird allmählich die Theorie, ihre Methoden und Ergebnisse kontrollieren und auswählen. Inzwischen werden auch die unter den neuen Verhältnissen erzogenen Gelehrten herangewachsen sein. Auf jeden Fall muß das Proletariat seinen sozialistischen Aufbau bis zu einer recht bedeutenden Höhe führen, d. h. bis zu einer tatsächlichen materiellen Sicherstellung und kulturellen Sättigung der Gesellschaft, bevor eine Generalreinigung der Wissenschaft von oben bis unten durchgeführt werden kann. Damit will ich gar nichts gegen jene marxistische kritische Arbeit sagen, die bereits in Form von Zirkeln oder von Seminaren auf verschiedenen Gebieten durchgeführt wird oder um deren Durchführung man sich bemüht. Diese Arbeit ist notwendig und fruchtbar. Man muß sie in jeder Weise erweitern und vertiefen. Aber man muß auch das marxistische Augenmaß bei der Bewertung des gegenwärtigen spezifischen Gewichts derartiger Experimente und Versuche im Gesamtmaßstab unserer historischen Tätigkeit bewahren.

Schließt denn aber das Gesagte die Möglichkeit aus, daß aus den Reihen des Proletariats hervorragende Gelehrte, Erfinder, Dramaturgen oder Dichter schon in der Periode der revolutionären Diktatur erscheinen können? Keineswegs, es wäre aber äußerst oberflächlich, Leistungen, und wären sie noch so wertvoll, schon als proletarische Kultur zu bezeichnen, weil sie von Personen vollbracht wurden, die aus dem Arbeitermilieu stammen. Man darf den Begriff Kultur nicht in kleine Münzen individueller Alltagsbedürfnisse verzetteln und die Erfolge einer Kultur, einer Klasse, nicht nach den proletarischen Pässen einzelner Erfinder und Dichter beurteilen. Die Kultur ist ein organisches Ganzes von Wissen und Können, die die ganze Gesellschaft oder mindestens deren herrschende Klasse charakterisiert. Sie umfaßt und durchdringt alle Gebiete menschlicher schöpferischer Tätigkeit, indem sie diese in ein einheitliches System bringt. Individuelle Errungenschaften wachsen über dieses Niveau hinaus und heben es nach und nach.

Gibt es diese organische Wechselbeziehung zwischen unserer heutigen proletarischen Dichtkunst und dem kulturellen Schaffen der Arbeiterklasse im ganzen? Es ist vollkommen offensichtlich, daß es sie nicht gibt. Einzelne Arbeiter oder Gruppen wenden sich jener Kunst zu, die von den bürgerlichen Intelligenzlern geschaffen wurde, und benutzen deren Technik vorläufig noch ziemlich eklektisch. Doch wohl dazu, um ihre eigene, innere proletarische Welt auszudrücken? Das ist es eben, daß dem bei weitem nicht so ist. Dem Schaffen proletarischer Dichter fehlt das Organische, das allein durch ein tiefgehendes inneres Zusammenwirken der Kunst und durch den Stand und die Entwicklung der Kultur als Ganzes erreichbar ist. Das sind literarische Werke begabter oder talentierter Proletarier, jedoch keine proletarische Literatur. Aber ist das vielleicht eine ihrer Quellen ?

Selbstverständlich werden sich in der Arbeit heutiger Generationen viele Keime, Triebe und Quellen finden lassen, von denen aus ein ferner geschäftiger Nachfahre Verbindungslinien zu verschiedenen Sektoren der zukünftigen Kultur wird ziehen können, ähnlich wie die heutigen Kunsthistoriker Verbindungslinien von den Kirchenmysterien zum Theater Ibsens oder von der Malerei der Mönche – zum Impressionismus und Kubismus ziehen. Im Haushalt der Kunst wie auch im Haushalt der Natur geht nichts verloren, und alles ist mit allem verbunden.

Aber faktisch, konkret, lebensfähig entwickelt sich das heutige Schaffen der Dichter, die aus dem Proletariat stammen, bei weitem noch nicht auf der Ebene, auf der sich der Prozeß der Vorbereitung der Voraussetzungen für die künftige sozialistische Kultur bewegt: ein Prozeß, der die Massen in Bewegung bringt                            

Leo Trotzki


[i] Ein uralter Volksspruch: Kohlsuppe und Grütze sind unsere Nahrung

Theoretische Fragen: 

  • Kultur [42]

„Volksaufstand“ in Argentinien

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Nur das Proletariat auf seinem Klassenterrain kann die Bourgeoisie zurückdrängen

Die Ereignisse in Argentinien zwischen dem Dezember 2001 und dem Februar 2002 haben großes Interesse unter den politisch bewussten Elementen überall auf der Welt geweckt. Sie haben unter kämpferischen Arbeitern am Arbeitsplatz Diskussionen und Nachdenken ausgelöst. Einige trotzkistische Gruppen haben sogar vom „Beginn der Revolution“ gesprochen.

Unter den Linkskommunisten hat das IBRP (Internationale Büro für die revolutionäre Partei)  mehrere Artikel diesen Ereignissen gewidmet und eine Deklaration veröffentlicht, derzufolge in „Argentinien (...) die verheerende Wirtschaftskrise eine machtvolle und entschlossene proletarische Bewegung auf einem Klassenterrain und in Selbstorganisation belebt (hat), die einen Bruch zwischen den Klassen ausdrückt“.[i]

Das Interesse, das die sozialen Erhebungen in Argentinien weckten, ist verständlich und völlig legitim. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 hat die internationale Lage keinerlei proletarische Massenbewegungen mit denselben Ausmaßen wie die Streikbewegung in Polen 1980 oder die Kämpfe im argentinischen Cordoba 1969 mehr erlebt. Die Bühne des Weltgeschehens wurde von Kriegen (der Golfkrieg 1991, Jugoslawien, Afghanistan, Nahost ...) dominiert, von den noch verheerenderen Auswirkungen der fortschreitenden Weltwirtschaftskrise (Massenentlassungen, Arbeitslosigkeit, sinkende Löhne und Renten) und von den verschiedenen Ausdrücken des kapitalistischen Zerfalls (Umweltzerstörung, Häufung von „natürlichen“ und „zufälligen“ Katastrophen, die Entwicklung von religiösem und sozialem Fanatismus, Kriminalität etc.).

Diese Situation – deren Ursachen wir bereits im Detail analysiert haben[ii] – ist ein Grund, warum politisierte Elemente den Ereignissen in Argentinien, die einen Bruch in dieser ununterbrochenen Folge von „schlechten Neuigkeiten“ zu markieren scheinen, so große Aufmerksamkeit schenken: In Argentinien haben Straßenproteste ein bisher nie dagewesenes Bäumchen-wechsle-dich-Spiel der Präsidenten verursacht (fünf in 15 Tagen) und  dabei die Form von „selbstorganisierten“ Nachbarschafts-Versammlungen angenommen, die lautstark „alle Politiker“ ablehnen.

Revolutionäre haben die Pflicht, solche gesellschaftlichen Bewegung genau zu verfolgen, um Stellung zu beziehen und zu intervenieren, wo immer die arbeitende Klasse einen Ausdruck findet. Es trifft sicherlich zu, dass die Arbeiter an der Welle der Mobilisierung in Argentinien teilgenommen haben und dass in einigen isolierten Kämpfen klare Klassenforderungen formuliert wurden sowie das offizielle Gewerkschaftstum konfrontiert wurde. Wir erklären uns solidarisch mit diesen Auseinandersetzungen, doch der beste Beitrag, den wir als eine revolutionäre Organisation leisten können, besteht darin, die Ereignisse so klar wie möglich zu analysieren. Diese Klarheit entscheidet über die Fähigkeit revolutionärer Organisationen, adäquat zu intervenieren und dabei den historischen und internationalen Rahmen zu berücksichtigen, der von der marxistischen Methode definiert wird. Das Schlimmste, was die Vorhutorganisationen des Proletariats tun können, wäre, Illusionen innerhalb der Arbeiterklasse zu streuen, indem sie ihre Schwächen stark redet und ihre Niederlagen mit Siegen verwechselt. Weit entfernt davon, dem Proletariat zu helfen, die Initiative zu erringen, seine Kämpfe auf seinem eigenen Terrain weiterzuentwickeln und sich selbst als einzige gesellschaftliche Kraft in totalem Gegensatz zum Kapitalismus zu behaupten, würde dies eine solche Wiederbelebung weitaus schwieriger gestalten.

Von dieser Perspektive aus betrachtet, heißt die Frage, die wir uns selbst zu stellen haben: Worin besteht die Klassennatur der Ereignisse in Argentinien? Handelt es sich um eine Bewegung, in der das Proletariat seine „Selbstorganisation“ und seinen „Bruch“ mit dem Kapitalismus vollziehen kann, wie das IBRP sagt? Unsere Antwort kann nur lauten: NEIN. Das Proletariat in Argentinien ist von einer Bewegung der Klassen übergreifenden Revolte durchtränkt und verwässert worden, einer Bewegung des Volksprotestes, die nicht die Stärke des Proletariats, sondern seine Schwäche ausdrückt. Die Klasse ist nicht imstande gewesen, sowohl ihre Autonomie als auch ihre Selbstorganisation zu behaupten.

Das Proletariat hat kein Bedürfnis, sich mit Illusionen abzufinden und sich krampfhaft an sie zu klammern. Was es benötigt, ist, den Faden seiner eigenen revolutionären Perspektiven wieder aufzunehmen, sich selbst auf der gesellschaftlichen Bühne als die einzige Klasse zu behaupten, die in der Lage ist, der Menschheit eine Zukunft anzubieten und dabei die anderen nicht-ausbeutenden Gesellschaftsschichten mit sich zu ziehen. Dabei muss das Proletariat der Realität ins Gesicht schauen und darf nicht Angst vor ihr haben. Um sein Klassenbewusstsein weiterzuentwickeln und um seinen Kampf den auf dem Spiel stehenden Schicksalsfragen anzupassen, darf es nicht mit der schonungslosesten Kritik an seinen eigenen Schwächen und Fehlern, mit einem gründlichen Nachdenken über die Schwierigkeiten geizen, denen es auf seinem Weg begegn et. Die Ereignisse in Argentinien werden dem Weltproletariat – und dem Proletariat in Argentinien, dessen Kampffähigkeit noch lange nicht erschöpft ist – als eine klare Lektion dienen: Klassen übergreifende Revolten schwächen nicht die Macht der Bourgeoisie, sondern das Proletariat.

Der Zusammenbruch der argentinischen Wirtschaft ist eine deutliche Manifestation der sich verschlimmernden Krise.

Wir wollen uns hier nicht auf eine detaillierte Analyse der Wirtschaftskrise in Argentinien einlassen. Wir verweisen unsere Leser auf unsere territoriale Presse. (s. insbesondere Weltrevolution, Nr. 110 und 111)Von besonderer Bedeutung in dieser Situation ist der brutale Anstieg der Arbeitslosigkeit von 7% im Jahr 1992 auf 17% im Oktober 2001 und schließlich auf 30% im Verlauf nur eines Monats (Dezember 2001) sowie – zum ersten Mal seit der spanischen Kolonialära – das Auftreten von Hunger, und das in einem Land, das bis vor kurzem noch als dem „europäischen Niveau“ sehr nahestehend galt und dessen hauptsächliche Produkte ausgerechnet Fleisch und Weizen sind.

Weit entfernt davon, ein lokales Phänomen zu sein, das durch Korruption oder den Wunsch, „wie Europäer zu leben“, verursacht worden ist, ist die argentinische Krise eine neue Episode in der Verschärfung der kapitalistischen Wirtschaftskrise. Diese Krise ist weltweit und betrifft alle Länder. Doch bedeutet dies nicht, dass sie alle von ihnen in derselben Weise oder in demselben Ausmaß betrifft. „Obwohl sie kein Land ausspart, wirkt sich die Weltkrise am verheerendsten nicht in den mächtigsten, hochentwickelten Ländern aus, sondern in den Ländern, die zu spät die weltwirtschaftliche Arena betreten haben und denen der Weg zur Weiterentwicklung von den alten Mächten endgültig versperrt worden war.“ („The proletariat of Western Europe in the centre of the generalisation of the class struggle“, International Review Nr. 31, engl./frz./span.) Darüber hinaus haben die mächtigsten Länder angesichts der sich verschlimmernden Krise Maßnahmen ergriffen, um sich gegen sie zur Wehr zu setzen und sie auf die schwächsten Länder abzuwälzen („Liberalisierung“ des Welthandels, „Globalisierung“ von Finanztransaktionen, Investitionen in den Schlüsselsektoren der schwächsten Länder auf dem Weg der Privatisierungen, die Politik des IWF, etc. – d. h. all das, was „Globalisierung“ genannt wird). Es handelt sich hier um nichts anderes als die durch die größten Länder erzwungene Anwendung einer ganzen Reihe von staatskapitalistischen Maßnahmen auf die gesamte Weltwirtschaft, was den Zweck verfolgt, sich selbst vor der Krise zu schützen und zu ermöglichen, die schlimmsten Auswirkungen auf die Schwächsten abzulenken (s. „Bericht über die Wirtschaftskrise“ in Internationale Revue Nr. 28). Die von der Weltbank gelieferten Zahlen (World Development Indicators 2001) sind in diesem Zusammenhang vielsagend: Zwischen 1980 und 2000 erhielten private Kreditgeber von den lateinamerikanischen Ländern 192 Milliarden Dollar mehr zurück, als sie ihnen geliehen hatten, während 1999–2002, also in nur zwei Jahren, diese Differenz nicht weniger als 86,2 Milliarden Dollar betrug, das heißt, nahezu die Hälfte des Betrages der 20 Jahre zuvor. Der IWF seinerseits bewilligte zwischen 1980 und 2000 diesen Ländern Kredite in Höhe von 71,3 Milliarden Dollar, während diese Länder in der gleichen Periode 87,7 Milliarden Dollar zurückzahlten!

Und die Situation in Argentinien ist nur die Spitze des Eisberges. Hinter Argentinien gibt es weitere Länder, die, aus verschiedenen Gründen (Erdölfelder, strategische Position, etc.) genauso wichtig, potenzielle Kandidaten für den nächsten ökonomischen und politischen Kollaps sind: Venezuela, Türkei, Mexiko, Brasilien, Saudiarabien ...

Eine autonome proletarische Bewegung oder eine blinde, chaotische, Klassen übergreifende Revolte?

Wie das IBRP in seiner italienischen Zeitschrift kurz und bündig feststellte, antwortet der Kapitalismus auf Hunger mit noch mehr Hunger. Es machte ebenfalls klar, dass die vielfältigen „wirtschaftlichen Lösungen“, die von den Regierungen, der Opposition oder „alternativen Bewegungen“ wie das Sozialforum von Porto Alegre vorgeschlagen werden, keine Alternative anbieten. Dieses raffinierte Gebräu der Demagogen ist nach und nach von den Tatsachen der jetzt 30 Jahre dauernden Krise diskreditiert worden (s. den „Bericht über die Wirtschaftskrise“ in der Internationalen Revue Nr. 28 und „30 Jahre offene Wirtschaftskrise des Kapitalismus“ in der Internationalen Revue, Nrn. 24–26). Es zieht daher die richtige Schlussfolgerung, dass es „nutzlos ist, sich selbst etwas vorzumachen: Auf dieser Stufe der Krise hat der Kapitalismus nichts anderes anzubieten als allgemeine Armut und Krieg. Nur das Proletariat kann diesen tragischen Kurs aufhalten.“ (IBRP-Website, oben zitiert)

Und dennoch schätzt das IBRP die Protestbewegung in Argentinien wie folgt ein:

“Spontan gingen Proletarier raus auf die Straßen und zogen junge Leute, Studenten und wesentliche Bereiche des proletarisierten Kleinbürgertums mit sich, die wie sie selbst pauperisiert waren. Gemeinsam richteten sie ihren Ärger gegen die kapitalistischen Heiligtümer: all die Supermärkte und Geschäfte im Allgemeinen, die wie die Bäckereien im Gefolge vorsintflutlicher Brotrevolten angegriffen wurden. In der Hoffnung, die Rebellen einzuschüchtern, fand die Regierung keine bessere Antwort, als eine brutale Repression anzuzetteln, die in Dutzenden von Toten und Tausenden von Verletzten mündete. Die Revolution wurde jedoch nicht ausgelöscht, sondern verbreitete sich stattdessen auf den Rest des Landes und begann in wachsendem Maße einen Klassencharakter anzunehmen.“

Wir können drei Komponenten in der sozialen Bewegung Argentiniens unterscheiden:

–             Zuerst die Angriffe auf die Supermärkte, die im Wesentlichen von Randschichten, Verlumpten und auch von den jungen Arbeitslosen ausgeführt wurden. Diese Bewegungen sind von der Polizei, privatem Wachschutz und den Ladeninhabern grausam unterdrückt worden. In mehreren Fällen sind sie ausgeartet in Wohnungseinbrüchen in armen Wohngegenden und in der Ausplünderung von Büros, Warenhäuser, etc.[iii] Die Hauptkonsequenz aus dieser „ersten Komponente“ der sozialen Bewegung waren tragische Konfrontationen unter Arbeitern gewesen, wie dies durch die blutige Konfrontation zwischen den piqueteros, die sich Nahrungsmittel aneignen wollten, und Arbeitern der Läden des Zentralmarkts von Buenos Aires am 11. Januar verdeutlicht wurde (s. dazu Weltrevolution Nr. 111). Für die IKS ist dieser Gewaltausbruch innerhalb der Arbeiterklasse (eine Veranschaulichung der Methoden, die den verlumpten Schichten des Proletariats eigen sind) ein Ausdruck ihrer Schwäche, nicht ihrer Stärke. Diese gewaltsamen Konfrontationen zwischen verschiedenen Teilen der Arbeiterklasse sind ein Hindernis für ihre Einheit und können nur den Interessen der herrschenden Klasse dienen.

–             Die zweite Komponente war die Bewegung der cacerolas (Kochtopfschläger) gewesen. Diese setzte sich vornehmlich aus den „Mittelklassen“ zusammen, die wegen der Beschlagnahme und Abwertung ihrer Ersparnisse im so genannten „kleinen Bankurlaub“ (dem corralito) aufgebracht waren. Diese Schichten sind in einer verzweifelten Situation. „In Argentinien wird die Armut mit hoher Arbeitslosigkeit kombiniert, in die die ‚neuen Armen‘, Ex-Angehörige der Mittelklassen, infolge der zerfallenden gesellschaftlichen Mobilität fallen; die Umkehrung der Immigrationswelle in das Land zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ (aus einer Website, die Zusammenfassungen der argentinischen Presse enthält). Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Rentner, einige Bereiche des Industrieproletariats teilten mit dem Kleinbürgertum das fürchterliche Los des corralito: Die Mühen eines Lebens voller Arbeit, angespart, um die kümmerliche staatliche Rente aufzubessern, haben sich buchstäblich in Nichts aufgelöst. Jedoch verleiht keines dieser Merkmale der Bewegung der cacerolas einen proletarischen Charakter: Sie bleibt eine Klassen übergreifende Volksrevolte, die von nationalistischem und ‚ultra-demokratischem‘ Denken geprägt ist.

–             Die dritte Komponente wird von einer Reihe von Arbeiterkämpfen gebildet. Es hat Streiks von Lehrern in den meisten der 23 Provinzen Argentiniens, eine landesweite, kämpferische Bewegung von Eisenbahnarbeitern und einen Streik von Bankangestellten gegeben. Die Kämpfe im Ramos-Mejias-Krankenhaus in Buenos Aires führten zu Zusammenstößen sowohl mit der uniformierten Polize, als auch mit den Gewerkschaften. Während der letzten beiden Jahre gab es zahllose Mobilisierungen von Arbeitslosen mit denjenigen, die sich engagierten, Straßen im ganzen Land zu blockieren (die berühmten piqueteros).

Selbstverständlich können Revolutionäre einen solchen Kampfgeist, der von der Arbeiterklasse in Argentinien an den Tag gelegt wird, nur begrüßen. Doch wie wir stets gesagt haben, ist der Kampfgeist der Arbeiter, so groß er ist, nicht das einzige, ja, nicht einmal ein Hauptkriterium, das uns ermöglicht, das Kräfteverhältnis zwischen den beiden fundamentalen Klassen in der Gesellschaft, der Bourgeoisie und dem Proletariat, klar zu ermessen. Die erste Frage, die wir beantworten müssen, ist diese: Kann die Dynamik dieser Arbeiterkämpfe, die überall im Land und in vielen verschiedenen Industriebranchen ausgebrochen sind, zu einer Massenbewegung führen, die imstande wäre, die Feuerschneisen zu überspringen, die von der herrschenden Klasse gelegt worden sind (besonders von der demokratischen Opposition und von den Gewerkschaften)? Die Realität der Ereignisse zwingt uns, mit „nein“ zu antworten. Gerade weil die Arbeiterkämpfe zerstreut blieben und sich als unfähig erwiesen, sich zu einer massiven, vereinten Bewegung der gesamten Arbeiterklasse zu entwickeln, zeigte sich das Proletariat in Argentinien nicht imstande, sich selbst an die Spitze der Bewegung des sozialen Protestes zu stellen und den Rest der nicht-ausbeutenden Schichten in sein Kielwasser zu ziehen. Im Gegenteil, weil die Arbeiter außerstande waren, die Führung der Bewegung zu übernehmen, wurden ihre eigenen Kämpfe von der hoffnungslosen Revolte anderer gesellschaftlicher Schichten durchtränkt und vergiftet. Auch wenn sie selbst Opfer des Kollapses der argentinischen Wirtschaft sein mögen, haben Letztere keine historische Zukunft. Für Marxisten wird die einzige Methode, die es uns erlaubt, in solch einer Situation klar zu sehen, in der Frage zusammengefasst: Wer führt die Bewegung an? Welche Klasse hat die Initiative ergriffen und den Ereignissen ihre Dynamik aufgeprägt? Nur wenn sie diese Frage richtig beantworten können, können Revolutionäre zum Fortschritt des Proletariats in Richtung seiner eigenen Befreiung und daher zur Befreiung der Menschheit von dem tragischen Kurs beitragen, auf den der Kapitalismus zusteuert.

Und hier begeht das IBRP einen verhängnisvollen Fehler in der Methode. Es ist nicht das Proletariat, das neben den Studenten die jungen und großen Bereiche des Kleinbürgertums mit sich gezogen hat: Im Gegenteil, die verzweifelte, konfuse und chaotische Revolte wild durcheinander gewürfelter Volksschichten hat die Arbeiterklasse durchtränkt und in die Irre geführt. Schon eine oberflächliche Überprüfung der Positionen, Forderungen und Mobilisierungsmethoden der Nachbarschafts-Versammlungen, die in Buenos Aires gewuchert und sich übers ganze Land ausgebreitet haben, demonstrieren dies mit brutaler Deutlichkeit. Was wurde in der Ankündigung des „weltweiten cacerolazo“ am 23. Februar 2002, die auf ein weites Echo in mehr als 20 Städten auf vier Kontinenten stieß, gesagt? „Globale cacerolazo. Wir sind alle Argentinier – jedermann auf die Straßen in New York – Porto Allegre – Barcelona – Toronto – Montreal (fügt eure Städte und eure Länder hinzu); die räuberische Weltbank – Alca – die Multis – weg mit ihnen allen! Regierungen und Politiker sind korrupt, keiner von ihnen sollte bleiben, keiner von ihnen! Lang leben die Volksversammlungen! Argentinisches Volk, erhebe dich!“ Dieses „Programm“, das all den Ärger über die „Politiker“ artikuliert, ist dasselbe wie jenes, das tagtäglich von jenen selbst ernannten Politikern von der extremen Rechten bis zur extremen Linken und selbst von „ultraliberalen“ Regierungen vertreten wird, die alle wissen, wie man den Ultraliberalismus, die Multis, die Korruption, etc. „kritisiert“.

Darüber hinaus ist diese Bewegung des „Volksprotestes“ stark vom extremen und reaktionären Nationalismus geprägt worden. In allen Demonstrationen der Nachbarschafts-Versammlungen ist dasselbe Ziel bis zum Erbrechen wiederholt worden: „ein anderes Argentinien schaffen“, „unser Land auf eigenen Fundamenten wiederaufbauen“. Auf der Internet-Seite der vielen Nachbarschafts-Versammlungen gab es nationalistische Debatten wie: „Sollen wir die Auslandsschulden zurückbezahlen?“ „Sollen wir den Peso oder den Dollar benutzen?“ Eine Website schlägt lobenswerterweise die „Erziehung und Bewusstwerdung“ der Leute und die Eröffnung einer Debatte über Rousseaus Gesellschaftsvertrag vor und ruft zur Rückkehr zu den Klassikern Argentiniens im 19. Jahrhunderts wie San Martín oder Sarmiento auf. Man muss mit Blindheit geschlagen sein (oder Märchen für bare Münze nehmen), übersähe man, dass dieser Nationalismus auch die Arbeiterkämpfe infiziert hat: Die Arbeiter von TELAM führten ihre Demonstration mit argentinischen Flaggen an; in einem Arbeiterbezirk von Groß-Buenos Aires begann eine Nachbarschafts-Versammlung mit der Ablehnung der Zahlung einer neuen Gemeindesteuer und endete mit dem Singen der Nationalhymmne.

Weil sie Klassen übergreifend und ohne Perspektive war, konnte diese Bewegung nichts anderes tun, als dieselben reaktionären Lösungen fordern, die zur tragischen Situation geführt haben, in die die Bevölkerung gestürzt wurde. Doch diese Wiederholung des Alten, diese Suche nach der guten, alten Zeit ist ein beredtes Zeugnis des Charakters dieser impotenten und zukunftslosen gesellschaftlichen Revolte. Wie von einem Teilnehmer der Versammlungen in aller Offenheit geäußert wurde: „Viele haben gesagt, dass wir keine Vorschläge machen, dass alles, was wir tun können, darin besteht zu opponieren. Und wir können mit Stolz sagen, dass dies richtig ist, wir sind gegen das etablierte System des Neoliberalismus. Wie der Bogen, der durch Unterdrückung überspannt wird, sind wir die Pfeile, die gegen die totalitäre Vorherrschaft des ultra-liberalen Denkens abgeschossen werden. Unsere Aktion wird von unseren Leuten unterstützt werden, Zentimeter für Zentimeter, um das älteste Volksrecht, den Volkswiderstand, auszuüben.“ (entnommen der Website)

Zwischen 1969 und 1973 waren in Argentinien die Ereignisse in Cordoba, der Mendoza-Streik, das Anschwellen der Streiks, die das Land überschwemmten, der Schlüssel zur sozialen Revolution. Obgleich sie weit entfernt von einem aufständischen Charakter waren, markierten diese Kämpfe die Wiederbelebung des Proletariats, das die gesamte politische und gesellschaftliche Tagesordnung des Landes beeinflusste.

Doch im Argentinien vom Dezember 2001 ist die Situation angesichts der Verschlimmerung des kapitalistischen Zerfalls nicht mehr dieselbe. Das Proletariat ist heute mit neuen Schwierigkeiten  konfrontiert, Hindernisse, die noch überwunden werden müssen, um sich selbst zu behaupten und seine Klassenidentität und Autonomie weiterzuentwickeln. Anders als in der Periode zu Beginn der 70er Jahre ist die soziale Lage in Argentinien heute durch eine Klassen übergreifende Bewegung gekennzeichnet, die die Stärke des Proletariats verwässert und sich als unfähig erwiesen hat, mehr als nur flüchtig auf die politische Situation einzuwirken. Die Bewegung der cacerolas hat sicherlich eine große Leistung vollbracht, die es wert ist, ins Guinness-Buch der Rekorde eingetragen zu werden – den Sturz von fünf Präsidenten innerhalb von 15 Tagen. Aber all dies ist nur kurzlebig. Welche Clique auch immer an der Regierung ist, es ist immer noch die Bourgeoisie, die die Macht in Argentinien so wie anderswo in den Händen hält. Nun beklagen sich die Volksversammlungen auf ihren Websites bitterlich darüber, dass sich die Bewegung auf mysteriöse Weise soweit zerstreut hat, dass es dem raffinierten Duhalde gelungen ist, die Ordnung wiederherzustellen, ohne die galoppierende Verarmung wenigstens zu mindern und ohne einen Wirtschaftsplan zu haben, der auch nur zur minimalsten Lösung führt.

Die Lehren aus den Ereignissen in Argentinien

In der gegenwärtigen historischen Periode, die wir als die Zerfallsphase des Kapitalismus bezeichnen, läuft das Proletariat ernsthaft Gefahr, seine Klassenidentität, das Vertrauen in sich selbst zu verlieren, in seine revolutionären Fähigkeiten, sich selbst als eine autonome und bestimmende gesellschaftliche Kraft in der gesellschaftlichen Entwicklung zu etablieren. Diese Gefahr ist das Produkt von mehreren miteinander verknüpften Faktoren:

–             der Schlag gegen das Bewusstsein des Proletariats infolge des Zusammenbruchs des Ostblocks und der Fähigkeit der Bourgeoisie, dies mit dem „Zusammenbruch des Kommunismus“ und dem „historischen Scheitern des Marxismus und des Klassenkampfes“ zu identifizieren;

–             das Gewicht des Zerfalls des kapitalistischen Systems, das soziale Bande aushöhlt und eine Atmosphäre der Konkurrenz selbst innerhalb des Proletariats fördert;

–             die Angst vor der Politik und Politisierung, die eine Konsequenz der Form ist, die die Konterrevolution (durch die Mittel des Stalinismus aus dem „Inneren“ der proletarischen Bastion und der Parteien der Kommunistischen Internationalen) angenommen hat, und des enormen historischen Schlages ist, der durch die Degeneration zweier der besten Kreationen der politischen Fähigkeiten und des Bewussteins des Proletariats innerhalb des Zeitraums von nur einer Generation ausgeübt worden war: zunächst der sozialistischen Parteien und schließlich, keine zehn Jahre später, der kommunistischen Parteien.

Diese Gefahr könnte letztendlich das Proletariat daran hindern, angesichts des vollkommenen Zusammenbruchs der gesamten Gesellschaft, wohin die historische Krise des Kapitalismus führt, die Initiative zu ergreifen. Argentinien zeigt deutlich diese potenzielle Gefahr: Die allgemeine Lähmung der Wirtschaft und die heftigen Erschütterungen im politischen Apparats der Bourgeoisie konnten vom Proletariat nicht dazu genutzt werden, sich selbst als eine autonome gesellschaftliche Kraft zu etablieren, um für seine eigenen Ziele zu kämpfen und die anderen Gesellschaftsschichten in sein Kielwasser zu ziehen. Untergetaucht in einer Klassen übergreifenden Bewegung, die typisch für den Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft ist, ist das Proletariat in eine sterile und zukunftslose Revolte gezwängt worden.

Aus diesem Grund sind die Spekulationen von den Trotzkisten, Anarchisten und der „Antiglobalisierungsbewegung“ im Allgemeinen über die Ereignisse in Argentinien, die als „Beginn der Revolution“, als eine „neue Bewegung“ oder als „praktische Demonstration, dass eine andere Gesellschaft möglich ist“, dargestellt werden, sehr gefährlich.

Weitaus Besorgnis erregender ist, dass das IBRP diesen konfusen Schwärmereien durch den Beitrag der eigenen Illusionen über die „Stärke des Proletariats in Argentinien“ Vorschub leistet.[iv]

Diese Spekulationen entwaffnen die jungen Minderheiten, die das Proletariat weltweit hervorbringt und die angesichts einer auseinanderbrechenden Welt nach einer revolutionären Alternative suchen. Daher ist es uns wichtig, die Gründe für die Annahme des IBRP zu erklären, dort auf eine „gigantische Klassenbewegung“ gestoßen zu sein, wo sich in Wahrheit nur die Windmühlen der Klassen übergreifenden Revolte bewegen.

Zunächst einmal sei gesagt, dass das IBRP stets das Konzept des historischen Kurses abgelehnt hat, mit dem wir versuchen, die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen Proletariat und Bourgeoisie in der gegenwärtigen Lage zu verstehen, die mit der historischen Wiederbelebung des Proletariats seit 1968 geschaffen wurde. Für das IBRP erscheint all dies als reiner Idealismus, als ein Absturz in „Prognosen und Vorhersagen“.[v] Seine Ablehnung dieser historischen Methode verleitet es zu einer immediatistischen und empiristischen Sichtweise, sowohl was das Militär als auch was den Klassenkampf angeht. Dabei lohnt es sich, die Analyse des IBRP über den Golfkrieg in Erinnerung zu rufen, die ihn als „den Beginn des III. Weltkrieges“ darstellte. Dieselbe photographische Methode verleitete das IBRP dazu, die Palastrevolution, die das Ceausescu-Regime in Rumänien zu Fall brachte, als eine „Revolution“ darzustellen: „Rumänien ist das erste Land in den Industrieregionen, wo die Weltwirtschaftskrise eine wahre und authentische Volksrevolution zum Leben erweckt hat, die in den Sturz der Regierung mündete (...) in Rumänien sind alle objektiven und fast alle subjektiven Bedingungen versammelt, um den Aufstand in eine wahre und authentische soziale Revolution umzuwandeln.“ („Ceausescu ist tot, aber der Kaptialismus ist immer noch am Leben“ in Battaglia Comunista, Januar 1990)

Wer jegliche Art von Analyse des historischen Kurses ablehnt, liefert sich auf Gedeih und Verderb den unmittelbaren Ereignissen aus. Das Fehlen jeglicher Methode, um die historische Weltlage und das wirkliche Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zu analysieren, verleitet das IBRP zur Idee, dass wir an dem einen Tag am Rande des III. Weltkriegs stehen und an dem anderen Tag vor einer proletarischen Revolution. Wie das Proletariat – gemäß der „analytischen Methode“ des IBRP – von einer Situation, in der es sich für die Vorbereitung eines Dritten Weltkrieges hinter der Fahne des Nationalismus anwerben lässt, unversehens in eine Situation gerät, wo es bereit ist, einen revolutionären Angriff zu starten, bleibt für uns ein Geheimnis, und wir warten noch immer auf eine kohärente Erklärung des IBRP für diese Sprünge.

Im Gegensatz zu diesem demoralisierenden Hin und Her sind wir selbst davon überzeugt, dass nur eine globale und historische Vision die Revolutionäre davor bewahrt, zum Spielball der Ereignisse zu werden und fälschlicherweise Volksrevolten für proletarischen Klassenkampf zu halten.

Das IBRP verspottet ohne Ende unsere Theorie über den Zerfall des Kapitalismus, indem es sagt, dass „sie benutzt wird, um alles zu erklären“. Dennoch ist das Konzept des historischen Kurses sehr wichtig, um eben diese Unterscheidung zwischen Revolten und dem Klassenkampf des Proletariats zu machen. Solch eine Unterscheidung ist wichtig in unserer Zeit. Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus führt in der Tat zu Protesten, Tumulten, Zusammenstößen zwischen Klassen, Schichten und Fraktionen. Die Revolte ist die faule und welke Frucht einer in ihren Grundfesten erschütterten, sterbenden Gesellschaft. Sie hilft nicht, ihre Widersprüche zu überwinden, sondern verschlimmert sie stattdessen. Sie ist der eine Teil der Alternative, die im Kommunistischen Manifest für den Klassenkampf in der ganzen Geschichte dargestellt worden war: „ein Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endet oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“. Es ist diese zweite Alternative, der „gemeinsame Untergang der kämpfenden Klassen“, die das Fundament für das Konzept des Zerfalls des Kapitalismus bildet. Dies ist das Gegenteil zum Klassenkampf des Proletariats, der, falls er auf seinem eigenen Klassenterrain Ausdruck findet und seine Autonomie durch sein Streben nach Ausweitung und Selbstorganisation bewahrt, das Potenzial besitzt, um die „selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ (ebenda) zu werden. All die Bemühungen der bewusstesten Elemente des Proletariats und, etwas allgemeiner, der kämpfenden Arbeiter müssen danach trachten zu vermeiden, die Volksrevolte mit dem autonomen Klassenkampf zu verwechseln, müssen danach streben, das Gewicht des allgemeinen gesellschaftlichen Zerfalls daran zu hindern, dass das Proletariat in die Sackgasse blinder Revolten gezerrt wird. Während das Terrain der Revolte zu einer fortschreitenden Auszehrung der Fähigkeiten des Proletariats führt, führt das Terrain des Klassenkampfes zur revolutionären Zerstörung des kapitalistischen Staates in allen Ländern.

Die proletarische Perspektive

Während die Ereignisse in Argentinien klar die Gefahr aufzeigen, der das Proletariat gegenübersteht, falls es zulässt, auf das verrottete Terrain des Klassen übergreifenden „Volks“aufstandes gezerrt zu werden, wird das Endspiel der sozialen Evolution zur Barbarei oder Revolution jedoch nicht hier ausgespielt werden, sondern in den weltgrößten Arbeiterkonzentrationen und besonders in Westeuropa.

“Eine soziale Revolution ist nicht einfach das Zerschlagen der Ketten, der Zusammenbruch der alten Gesellschaft. Sie ist auch und gleichzeitig eine Handlung zum Aufbau einer neuen Gesellschaft. Sie ist kein mechanischer Vorgang, sondern eine gesellschaftliche Tatsache, die mit den Antagonismen der menschlichen Interessen, mit dem Streben und den Kämpfen der Klassen verknüpft ist.“ (International Review Nr. 31, engl./frz./span.) Die mechanistischen und vulgären materialistischen Visionen erblicken in der proletarischen Revolution nur einen Aspekt in der Explosion des Kapitalismus, doch sie sind nicht in der Lage, den wichtigsten und entscheidendsten Aspekt zu sehen – die revolutionäre Zerstörung des Kapitalismus durch die bewusste Aktion der proletarischen Klasse, das heißt, durch den, wie Lenin und Trotzki ihn nannten, „subjektiven Faktor“. Diese vulgärmaterialistischen Sichtweisen verhindern die Wahrnehmung des Ernstes der historischen Situation, die gekennzeichnet ist durch den Eintritt des Kapitalismus in die letzte Phase seiner Dekadenz: seinen Zerfall. Stattdessen gibt sich der mechanistische und betrachtende Materialismus mit dem „objektiv revolutionären“ Aspekt zufrieden: mit der unerbittlichen Verschlimmerung der Wirtschaftskrise, den gesellschaftlichen Erschütterungen, der Verkommenheit der herrschenden Klasse. Der Vulgärmaterialismus geht leichtfertig über die Gefahren für das Bewusstsein des Proletariats und für die Entwicklung seiner Einheit und seines Selbstvertrauens hinweg, die im Zerfall des Kapitalismus verborgen sind (genauso wie in seinem ideologischen Gebrauch durch die herrschende Klasse).[vi]

Doch der Schlüssel zur revolutionären Perspektive in unserer Epoche ist gerade die Fähigkeit des Proletariats, die „subjektiven“ Elemente (Selbstvertrauen, Vertrauen in seine revolutionäre Zukunft, Einheit und Klassensolidarität) in seinem Kampf zu entwickeln, die es ihm in wachsendem Maße erlauben, dem Gewicht des sozialen und ideologischen Zerfalls des Kapitalismus entgegenzuwirken und Letzteren zu überwinden. Und in eben jenen großen Arbeiterkonzentrationen Westeuropas existieren die günstigsten Bedingungen für diese Entwicklung. „Soziale Revolutionen fanden nicht da statt, wo die herrschende Klasse am schwächsten war und ihre Strukturen am wenigsten entwickelt waren, sondern im Gegenteil da, wo ihre Strukturen hinsichtlich der Produktivkräfte den höchsten Punkt erreicht haben und wo die Klasse, die die neuen Produktionsverhältnisse trägt und dazu bestimmt ist, die alte Klasse zu ersetzen, am stärksten ist (...) Marx und Engels richteten ihre Perspektive nach den Punkten aus, wo das Proletariat am stärksten, konzentriertesten und am besten positioniert war, um die gesellschaftliche Umwandlung durchzuführen. Obwohl die Krise die unterentwickelten Länder gerade infolge ihrer wirtschaftlichen Schwäche und ihres Mangels an Spielraum für Manöver am brutalsten trifft, dürfen wir nicht vergessen, dass die Quelle der Krise in der Überproduktion, also in den Hauptzentren der kapitalistischen Entwicklung liegt. Dies ist ein weiterer Grund, warum die Bedingungen für eine Antwort auf die Krise und für ihre Überwindung im Wesentlichen in den Hauptzentren ruhen.“[vii]

In der Tat muss die deformierte Vision des IBRP, die einen Klasseninhalt in den Ereignissen in Argentinien zu erblicken vermeint, im Zusammenhang mit seiner Analyse des Potenzials des Proletariats in den peripheren Ländern des Kapitalismus betrachtet werden, die insbesondere in seinen „Thesen über kommunistische Taktik in den Ländern der kapitalistischen Peripherie“ zum Ausdruck kommt, welche auf dem 6. Kongress von Battaglia Comunista verabschiedet worden waren (veröffentlicht in Italien in Prometeo, Nr. 13, Juni 1997, und auf Englisch in Internationalist Communist Nr. 16). Diesen Thesen zufolge schaffen die Bedingungen in den Ländern der Peripherie „ein größeres Potenzial für die Radikalisierung des Bewusstseins als in den großen Metropolen“. Infolgedessen „besteht die Möglichkeit, dass die Zirkulierung des kommunistischen Programms unter den Massen leichter sein wird und der ‚Aufmerksamkeitsgrad‘, den kommunistische Militante dort erzielen können, höher ist als in den gesellschaftlichen Gebilden des fortgeschrittenen Kapitalismus.“  Wir haben diese Analyse bereits im Detail zurückgewiesen (s. International Review Nr. 100, „The class struggle in the countries of the capitalist periphery“, engl./frz./span.Ausgabe), so dass es unnötig ist, dies hier erneut zu tun. Was wir dennoch sagen wollen, ist, dass die verzerrte Sichtweise des IBRP über die Bedeutung der gegenwärtigen Revolte in Argentinien eine Veranschaulichung nicht nur seiner Unfähigkeit ist, die Idee des kapitalistischen Zerfalls oder des historischen Kurses zu begreifen, sondern auch der Unrichtigkeit dieser Thesen.

Unsere Analyse bedeutet absolut nicht, dass wir die Kämpfe des Proletariats in Argentinien und in anderen Zonen, wo der Kapitalismus schwächer ist, mit Verachtung strafen oder unterschätzen. Sie bedeutet einfach, dass Revolutionäre, als die Vorposten des Proletariats und mit einer klaren Vision von der Marschrichtung der proletarischen Bewegung als Ganzes ausgestattet, die Verantwortung haben, deutlich und exakt auf die Stärken und Grenzen des Arbeiterkampfes hinzuweisen, darauf, wer die Verbündeten sind und welche Richtung sein Kampf einschlagen sollte. Um dem gerecht zu werden, müssen Revolutionäre sich mit all ihrer Kraft der opportunistischen Versuchung – durch Ungeduld, Immediatismus oder einen historischen Mangels an Vertrauen in das Proletariat – entgegenstemmen und dürfen nicht eine Klassen übergreifende Revolte (wie wir sie in Argentinien gesehen haben) mit einer Klassenbewegung verwechseln.

Adalen,  10. März 2002


[i] Die Deklaration befindet sich auf der Website des IBRP (www.ibrp.org [43]) und trägt den Titel „A lesson from Argentina: Either the Revolutionary Party and Socialism or Generalised Poverty and War“.

[ii] s. unsere Artikel über den Zusammenbruch des Ostblocks in der Internationalen Revue Nr. 12, über die Frage „Why the proletariat has not yet overthrown capitalism?“ in der International Review Nr. 103-104 (engl./frz./span. Ausgabe) sowie den „Bericht über den Klassenkampf“ in der letzten und vorliegenden Nummer der Internationalen Revue Nr. 30.

[iii] Die Zeitung Pagina vom 12. Januar 2002 veröffentlichte „einen sensationellen Bericht, demzufolge  in einigen Wohngegenden von Groß-Buenos Aires die Plünderungen sich von den Geschäften zu den Wohnungen verlagert haben“.

[iv] Im Gegensatz dazu hat der PCI in Le Proletaire eine klare Position eingenommen, was schon im Titel dieses Artikels deutlich wird: „Die Cacerolazos können Präsidenten stürzen. Um gegen den Kapitalismus zu kämpfen, ist der Klassenkampf notwendig“, der den Klassen übergreifenden Charakter der Bewegung entlarvt und sagt, dass „ein Weg, dieser Politik zu trotzen, nicht existiert: Der Kampf gegen den Kapitalismus, der Arbeiterkampf vereint alle Proletarier nicht hinter populistischen Absichten, sondern hinter jenen der Klasse; der Kampf ist nicht national, sondern international; das endgültige Ziel des Kampfes ist nicht die Reform, sondern die Revolution.“

[v] zu unserer Auffassung über den historischen Kurs siehe die Artikel in der Internationalen Revue Nrn. 5, 29 und der vorliegenden Nummer. Wir haben mit dem IBRP über diese Konzeption in Artikeln der International Review Nr. 36 und 89 (engl./frz./span. Ausgabe) polemisiert.

[vi] „Die verschiedenen Elemente, die die Stärke der Arbeiterklasse bilden, stoßen direkt mit den verschiedenen Erscheinungsweisen des ideologischen Zerfalls zusammen:

– solidarische und kollektive Aktionen sehen sich einer Atomisierung des „Nach-mir-die-Sintflut“ gegenüber;

– das Bedürfnis nach einer Organisation steht dem gesellschaftlichen Zerfall gegenüber, der Desintegration von sozialen Beziehungen, auf die jede Gesellschaft baut;

– das Vertrauen des Proletariats in die Zukunft und in seine eigene Stärke wird ständig durch die alles durchdringende Hoffnungslosigkeit und den Nihilismus innerhalb der Gesellschaft untergraben;

– Bewusstsein, Klarheit, der zusammenhängende und einheitliche Gedanke, der Sinn für Theorie haben eine harte Zeit, um sich der Flucht in die Illusion, in Drogen, Sekten, in den Mystizismus, die Ablehnung oder Zerstörung des Gedankens zu erwehren, die für unsere Epoche kennzeichnend sind.“ (“Der Zerfall: letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus“ in der Internationalen Revue Nr. 13)

[vii] ebenda

Geographisch: 

  • Argentinien [44]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [45]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [4]

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