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Münteferings “Kapitalismusdebatte”: Nicht der “böse” Kapitalist, das kapitalistische System ist die “Plage”
Münteferings "Anti-Kapitalismus"-Tiraden, die er Mitte April gegen die "international forcierten Profitmaximierungsstrategien" und gegen die "Heuschreckenschwärme" der Finanzmärkte richtete, haben viel Staub aufgewirbelt. Dabei ist er auf ein geteiltes Echo gestoßen. Während aus dem Unternehmerlager und der Finanzwelt heftige Kritik kam, teilten Regierung, Gewerkschaften und - da und dort - auch die Opposition seine "Kritik". Vor allem aber stießen seine rhetorischen Attacken in der Bevölkerung auf offene Ohren: In Meinungsumfragen bekundeten mehr als 70% der Befragten ihre Zustimmung. Was ist von dem ganzen Theater zu halten? Ist die SPD, deren Vorsitzender er ist und die für die schlimmsten Angriffe gegen die Arbeiterklasse in den letzten Jahrzehnten mitverantwortlich ist, nun etwa im Begriff, vom Saulus zum Paulus zu werden? Oder handelt es sich hier um ganz banale wahlkampf- bzw. parteitaktische Gründe?
"Anti-Kapitalismus" gegen Klassenbewusstsein
Um sich ein Bild von den Hintergründen dieser Kampagne machen zu können, ist es notwendig, einen Blick zurückzuwerfen. Wie wir in dem Editorial dieser Zeitung bereits dargelegt haben, sind die nach 1989 ausgelösten Illusionen über den endgültigen Sieg des Kapitalismus und über das Verschwinden des Klassenkampfes der rauhen Wirklichkeit der sich zuspitzenden kapitalistischen Krise gewichen. Dass dies nicht ohne Spuren in der Arbeiterklasse bleibt, liegt auf der Hand. In der Tat geht mit diesen Angriffen auf den Lebensstandard und die Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse eine allmähliche Desillusionierung derselben über die Perspektiven einher, die ihr der Kapitalismus anbietet. Vorbei sind die Illusionen, dass die Arbeitslosigkeit ein Problem bestimmter Branchen und Regionen oder gar selbst verschuldet ist (s. dazu auch den Artikel über die Massenarbeitslosigkeit in dieser Ausgabe). Und auch die Hoffnung, nach einem Leben voller Plackerei wenigstens in einen auskömmlichen Ruhestand zu treten, zerplatzt wie eine Seifenblase. Dieser Prozess des Verlustes der Illusionen über ein Auskommen in der kapitalistischen Gesellschaft wirkt wie ein Katalysator für das unter der Oberfläche heranreifende Klassenbewusstsein. Denn hat die Arbeiterklasse erst einmal ihr Vertrauen in den Kapitalismus verloren, wird sie sich, angeführt von ihren revolutionären Minderheiten, auf ihre eigenen Stärken und Perspektiven besinnen müssen. Angesichts dieser brisanten Mixtur aus dem Reputationsverlust des Kapitalismus einerseits und einem ganz allmählich wiedererwachenden Klassenbewusstsein andererseits schickt die Bourgeoisie nun ihr bestes Pferd ins Rennen - die SPD. Keine andere bürgerliche Partei kann auf eine derart lange Erfahrung darin, "dem Volk aufs Maul zu schauen", zurückblicken wie die Sozialdemokraten. Ihr Gesellenstück haben sie bei der Niederschlagung der deutschen Revolution 1918-23 abgelegt, als sie es verstanden, die revolutionären Kämpfe in Deutschland abzuwürgen. Und so wie damals die Mehrheitssozialdemokraten mit Erfolg danach strebten, sich an die Spitze der revolutionären Erhebung zu stellen, um sie auszuhöhlen und ins Leere laufen zu lassen, so versucht auch heute die SPD mit ihrer aktuellen anti-kapitalistischen Terminologie, die wachsende, aber immer noch diffuse Kritik in der Klasse gegen den Kapitalismus für sich vereinnahmen und zu entschärfen.
In ihrem Bemühen, die Bewusstwerdung der Arbeiterklasse über die
Ausweglosigkeit des Kapitalismus als solchen zu verhindern, greift die
SPD zusehends auf das Programm der Antiglobalisierungsbewegung zurück.
Dies ist nicht weiter verwunderlich. Es war die europäische
Sozialdemokratie, die - mit ihrem französischen Organ Le Monde
Diplomatique als Geburtshelfer - der Antiglobalisierungsbewegung ans
Tageslicht verhalf und ihr seitdem auch finanziell zur Seite stand (1).
Dass sich zumindest die führenden Kreise der SPD bisher zurückhaltend
gegenüber dieser Bewegung verhalten hatten, lässt sich mit ihrer Sorge
erklären, nicht zur Unzeit ihr Pulver zu verschießen. Dass aber nun die
Klassen übergreifende Ideologie der Antiglobalisierer zunehmend auch
Einzug in die offizielle Politik der SPD hält, lässt erahnen, wie ernst
die Bourgeoisie das derzeitige Rumoren in der Arbeiterklasse
mittlerweile nimmt.
Antiglobalisierung im Fokus von Imperialismus und Nationalstaat
Die Hinwendung von Müntefering & Co. zur Antiglobalisierung besitzt jedoch noch weitere Facetten. Die Antiglobalisierungsbewegung ist nicht nur ein Instrument der Herrschenden gegen das aufkeimende Klassenbewusstsein; sie ist darüber hinaus ein immer wichtigeres Vehikel zum Transport eigener imperialistischer Interessen. Denn als Produkt bestimmter europäischer Bourgeoisien besitzt die Ideologie der Antiglobalisierung einen deutlich anti-amerikanischen Touch. Sie ist die Antwort auf die besonders vom US-Imperialismus propagierte Ideologie der Globalisierung, d.h. des "freien Handels" über alle Grenzen hinweg, des Neoliberalismus und des "schlanken Staats".Nicht dass das europäische Kapital grundsätzlich gegen die Globalisierung ist - nichts wäre abwegiger. Wie Marx und Engels bereits 1848 im "Kommunistischen Manifest" festgestellt hatten, ist die globale Ausweitung des Kapitals ein Lebensprinzip des Kapitalismus, gleich welcher Couleur. Auch geht es ihm nicht darum, das internationale Handels- und Finanzsystem prinzipiell in Frage zu stellen, dessen Hauptnutznießer die USA sind, da ihr riesiger Markt Hauptanziehungspunkt von internationalem Kapital ist - Kapital, das die US-Bourgeoisie dazu benutzt, ihre gigantische Kriegswirtschaft zu finanzieren.
Es sind lediglich bestimmte Aspekte in der aktuellen Globalisierungswelle, die den Herrschenden im "alten Europa" nicht in den Kram passen, weil diese derzeit mehr den USA als den europäischen Staaten zugute kommen. Auch möchten sie gerne einen Teil der internationalen Kapitalströme, die zum Großteil nach Amerika fließen, nach Europa abzweigen.
Während allen Orts über den drohenden oder vermeintlichen Ausverkaufs "deutscher Interessen" geredet wird, stimmen Müntefering und, mit ihm, die SPD nun verstärkt in das Loblied der Antiglobalisierung mit ein, dessen Refrain lautet: Für einen "sozialen" Kapitalismus, gegen Neoliberalismus und Shareholder Value! Als hätte es in den letzten Jahren keinen Abbau des sog. Wohlfahrtsstaates gegeben, tönen sie nun plötzlich wieder über die angeblichen Vorzüge des "rheinischen Kapitalismus" gegenüber dem schrankenlosen "Manchesterkapitalismus" der USA, preisen sein "sozialpartnerschaftliches" Prinzip im Gegensatz zum "Hire and fire" in den Vereinigten Staaten und plädieren für die "gestalterische Kraft" des Staates, denn: "Die Staatsskepsis ist ein Irrweg" (Müntefering).
Hinter diesen Beschwörungsformeln, die einzig den Zweck haben, die Bevölkerung ideologisch an den eigenen Nationalstaat zu binden, steckt eine - aus der Sicht der Herrschenden hierzulande - berechtigte Sorge. Wie wir bereits in unserem Artikel "Beschäftigungspakte: Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse" (2) ausgeführt haben, könnte der Handlungsspielraum eines Nationalstaates durch eine unbeschränkte Fortsetzung der Tendenz der Verlagerung der Produktionsstätten ins Ausland auf Dauer ernsthaft beeinträchtigt werden, da eine solche Auslagerung "die Finanzquellen des Staates untergraben und damit seine politische und militärische, sprich seine imperialistische Handlungsfähigkeit gefährden" würde. Gleiches gilt für das Treiben der internationalen Finanzfonds.
Einerseits muss das deutsche Kapital dafür sorgen, dass mehr ausländisches Kapital ins Land gelockt wird. Dabei muss es andererseits aber darauf achten, dass infolgedessen Schlüsselbereiche der deutschen Wirtschaft nicht unter ausländische Kontrolle geraten, wie z.B. Deutsche Bank, Volkswagen oder die Frankfurter Börse.
Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, ist dem deutschen Staat fast jedes Mittel recht. Dabei kann er sich wie stets auf die Sozialdemokratie als treue Stütze des staatskapitalistischen Regimes verlassen. So wie die Gewerkschaften die Beschäftigten zahlreicher Betriebe zu unbezahlter Mehrarbeit pressten, um den Exodus deutscher Firmen ins Ausland zu bremsen, ohne größeren Widerstand zu provozieren (siehe o.g. Artikel), so ruft heute die SPD nach dem Gesetzgeber, um z. B. dem Wirken der Hedgefonds Einhalt zu gebieten.
Anti-Kapitalismus und Antiglobalisierung - ein Kampf gegen die Symptome, nicht gegen die Ursachen
Ob Anti-Kapitalismus-Tiraden à la Müntefering oder die ihnen Pate stehende Antiglobalisierungsbewegung - beide verfolgen den Zweck, die Arbeiterklasse in ihrem Widerstand gegen die immer massiveren Angriffe auf die falsche Fährte zu schicken. Sie leugnen den Klassenkampf und propagieren den Klassen übergreifenden Widerstand gegen die Multis. Sie rufen nach dem starken Staat und versprechen, mit Gesetzen und Steuern (Tobin-Steuer) das Problem aus dem Weg zu räumen. Sie prangern die "unpatriotischen" Spitzenmanager und die nimmersatten Finanzfonds an und rühmen den bodenständigen Mittelstand. Kurz: Sie doktern an den Symptomen eines todkranken Systems herum, das nicht mehr therapierbar ist.Weder die "kaltherzigen" Manager noch die renditegeilen Investmentfonds sind der Kern des Problems. Wie Engels sagt, beherrscht nicht der Kapitalist das Produkt, sondern umgekehrt das Produkt den Kapitalisten. Er ist nur Getriebener, Gefangener der Logik der kapitalistischen Produktionsweise, die kurz und bündig heißt: Wachse oder stirb! Dieselbe Logik, die in der Aufstiegsperiode des Kapitalismus dazu führte, dass Abermillionen von Menschen in die gesellschaftliche Arbeit der kapitalistischen Warenproduktion integriert wurden, hat sich im Zeitalter des dekadenten Kapitalismus in ihr Gegenteil verkehrt. Um in der unerbittlichen Konkurrenz auf einem gesättigten Weltmarkt zu überleben, muss - bei Strafe des eigenen Ruins - der einzelne Kapitalist, ob Großbanker oder mittelständischer Unternehmer, den Faktor Arbeit verbilligen, sei es durch eine Steigerung der Ausbeutung oder durch die Verlagerung bzw. Vernichtung von Arbeitsplätzen.
Dieser Logik kann man nicht durch die Anprangerung "seelenloser" oder "unpatriotischer" Manager oder durch die Stärkung des ideellen Gesamtkapitalisten, des Staates, begegnen. Sie kann nur durchbrochen werden, indem der Kapitalismus an sich, als Produktionsweise abgeschafft wird.
16.5.2005
(1) Siehe auch unseren Artikel "Nur eine andere Welt ist möglich: Der Kommunismus!" in der Internationalen Revue, Nr. 33, Mai 2004.
(2) Weltrevolution, Nr. 128, Febr./März 2005