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Krieg oder Revolution - die Zeit läuft ab
Aus Anlass des Krieges im Libanon führte die IKS in der Schweiz Ende August 2006 eine öffentliche Veranstaltung durch zum Thema "Naher Osten: Der Klassenkampf - einziges Mittel gegen das Versinken im Krieg". Bei dieser Diskussion in Zürich tauchten verschiedene für die Arbeiterklasse existentielle Fragen auf, die eng miteinander verflochten sind und auf die es sich lohnt, in diesen Spalten noch einmal zurückzukommen:
Rationalität der Kriegszerstörungen?
Die IKS unterstreicht immer wieder den irrationalen Charakter der Kriege und tat dies auch in der Einleitung zur Diskussion über den jüngsten Libanonkrieg. Darauf warf ein Teilnehmer die Frage auf, ob nicht in wirtschaftlicher Hinsicht eine gewisse Rationalität hinter den Kriegen stecke, also eine Logik, die wenigstens einen wirtschaftlichen Sinn habe. Einmal würden sicher die Rüstungsproduzenten von den Kriegen profitieren. Aber auch für das kapitalistische System insgesamt sei der Wiederaufbau nach einem Krieg unter Umständen ökonomisch von Vorteil, da das Grundproblem des Kapitalismus doch die Überproduktion sei. Es würden zu viele Waren produziert, die schliesslich unverkäuflich seien. Mit den Kriegen würden zahlreiche Einrichtungen, Fabriken usw. zerstört, so dass ein Bedarf nach Ersatz entstehe. Insofern werde doch der Kapitalismus einen Teil seiner überflüssigen Waren los und könne wieder neue produzieren, für die auch eine Nachfrage bestehe, argumentierte der Genosse sinngemäss.
Dass die Rüstungsproduzenten von kriegerischen Auseinandersetzungen profitieren, kann nicht bestritten werden. Die Nachfrage nach Waffen steigt, und es handelt sich dabei meist auch um eine zahlungskräftige Nachfrage. Staaten oder Organisationen, die mit dem Anspruch auftreten, ähnliche Funktionen wie Staaten wahrzunehmen, kaufen Rüstungsgüter und verfügen zu diesem Zweck über das nötige Geld.
Wenn aber die Frage der wirtschaftlichen Vernünftigkeit von Kriegszerstörungen im Raum steht, kann man nicht bloss einen einzelnen Sektor der Wirtschaft (hier den Rüstungssektor) betrachten, sondern muss den Gesamtprozess der Kapitalakkumulation im Auge behalten. Was der Waffenproduzent einnimmt, wird von den Waffenkäufern ausgegeben. Diese haben ihre Mittel meist aus Steuern im weitesten Sinn. Wenn also infolge eines Krieges zusätzliche Waffen gekauft werden müssen, sind die Steuern zu erhöhen, was für die Wirtschaft kein Vorteil ist - im Gegenteil: das betreffende Land wird für alle, die Steuern bezahlen müssen, unattraktiv, z.B. auch für zukünftige Investoren. Ein anderes Mittel zur Finanzierung der Waffen besteht darin, dass der betreffende Staat mehr Geld druckt, was aber nur dann funktioniert, wenn die Waffen in der eigenen Währung bezahlt werden können, und was zwangsläufig zu einer Geldentwertung, also zu einer Verteuerung der Importe führt. Eine solche Inflation ist zwar regelmässig die Folge von Kriegen, aber eine von den betreffenden Staaten keineswegs erwünschte Erscheinung.
Hinzu kommt ein weiteres Problem, das mit dem spezifischen Gebrauchswert von Waffen im gesamten Produktions- und Zirkulationsprozess zu tun hat: Marx unterschied für die Reproduktion und Zirkulation des Gesamtkapitals zwei Abteilungen, nämlich die Produktion von Produktionsmitteln einerseits und diejenige von Konsumtionsmitteln andererseits. In der ersten Abteilung werden diejenigen Waren produziert, die dann als konstantes Kapital benutzt werden; in der zweiten Abteilung werden die Güter und Dienstleistungen hergestellt, die sowohl von den Arbeitern als auch von allen anderen Klassen zu ihrer Reproduktion benötigt werden, wobei hier auch Luxuskonsumgüter eingeschlossen sind, die nur von der Kapitalistenklasse gekauft werden. Somit werden in beiden Abteilungen grundsätzlich Waren produziert, die von ihrem Gebrauchswert her im nächsten Produktionszyklus Verwendung finden können, sei es als Produktionsmittel (konstantes Kapital), sei es als Konsumtionsmittel (zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft, des variablen Kapitals), oder die von den Kapitalisten als Luxusgüter verbraucht werden. Aber was passiert mit den Waffen? - Sie können aufgrund ihres Gebrauchswerts, ihrer Zweckbestimmung, weder als konstantes noch als variables Kapital verwendet werden. Sie sind dazu bestimmt, früher oder später in Kriegen zu dienen. Ein Teil der Waffen (z.B. Raketen, Bomben, Munition) wird notwendigerweise beim ersten Einsatz zerstört; der andere Teil (Gewehre, Kanonen, Flugzeuge, Tanks etc.) bleibt im kriegerischen Einsatz bis zur Zerstörung durch den Gegner oder den Rost. In jedem Fall sind Rüstungsgüter unter dem Gesichtspunkt der Akkumulation des Gesamtkapitals eine Verschwendung. Sie erfordern Ausgaben, ohne dass sie auf der rein ökonomischen Ebene eine notwendige, geschweige denn gewinnbringende Funktion hätten. (Eine andere Frage ist, ob sie aus politisch-militärischen Gründen notwendig sind - doch dazu weiter unten.)
Es bleibt das Argument mit dem Wiederaufbau. Es ist klar, dass zerstörte Häuser, Produktionsanlagen und Infrastruktur nach einem Krieg soweit möglich wieder aufgebaut werden. Doch fragt sich auch hier, mit welchen Mitteln dies geschieht und ob es eine für das Gesamtsystem produktive Entwicklung ist. Dem Genossen, der die Frage aufgeworfen hat, ist sicher zuzustimmen, dass der Kapitalismus unter einer Überproduktion leidet. Es fehlt also an einer genügenden Nachfrage nach Waren, die bereits produziert worden sind oder mit den bestehenden Kapazitäten hergestellt werden könnten. Doch was heisst genügende Nachfrage? Im Kapitalismus bedeutet Nachfrage nie allein den Wunsch zur Konsumption, ein zu deckendes Bedürfnis, sondern auch die entsprechende Zahlungsfähigkeit des Konsumenten. "Andre Konsumarten als zahlende kennt das kapitalistische System nicht (…). Dass Waren unverkäuflich sind, heisst nichts, als dass sich keine zahlungsfähigen Käufer für sie fanden, also Konsumenten (sei es nun, dass die Waren in letzter Instanz zum Behuf produktiver oder individueller Konsumtion gekauft werden)." (1) Dieses Grundproblem des Kapitalismus lösen die Kriegszerstörungen nicht, im Gegenteil. Sie schaffen keine zusätzliche Kaufkraft, sondern vernichten einen Teil der bestehenden. Ein Beispiel: Tausende von libanesischen Familien haben zwischen dem 13. Juli und dem 14. August 2006 ihre Häuser und einen Grossteil ihres sonstigen Eigentums verloren. Die Hisbollah rühmen sich, dass sie unter den Bedürftigen auf unbürokratische Weise Geld für den Wiederaufbau verteilen. Dieses Geld stammt offenbar zum überwiegenden Teil aus dem Iran (es würde keinen wesentlichen Unterschied machen, wenn es woanders herkäme). Selbst wenn der iranische Staat dieses Geld nicht aus den Steuereinnahmen, sondern aus dem Erdölverkauf hat, fehlt es ihm doch anderswo. Er kann zwar das Geld aus politischen Gründen zur Einflussnahme unter die Armen verteilen; dadurch wird im Libanon eine zahlungsfähige Nachfrage geschaffen. Das gleiche Geld fehlt aber potenziellen Konsumenten im Iran. Mit den Kriegszerstörungen sind zwar neue Bedürfnisse entstanden, die Zahlungskraft ist aber insgesamt um keinen Cent gewachsen. Damit ist der Kapitalismus aber auch der Überwindung der Überproduktionskrise nicht näher gekommen. (2)
Gibt es einen Zerfall des Kapitalismus?
Zwei andere Teilnehmer warfen Fragen auf, die mit der vorangehenden zusammenhingen: Was meint die IKS mit Zerfall? Gibt es im gegenwärtigen Kapitalismus tatsächlich eine Tendenz zum Zerfall? Und was bedeutet dies? Zerfall heisst ja noch nicht Zusammenbruch.
Wir können hier aus Platzgründen nicht auf die Ursachen des kapitalistischen Zerfalls eingehen, wie dies an der Diskussionsveranstaltung der Fall war. Da es darüber aber schon mehrere Artikel gibt, ist es hier auch nicht unbedingt nötig, in schriftlicher Form die Argumente zu wiederholen (3). Vielmehr möchten wir uns an dieser Stelle auf zwei Fragen konzentrieren, die aktualitätsbezogen sind und das Wesen des Zerfalls veranschaulichen:
- Wie drücken sich die für den Zerfall typischen Tendenzen heute, z.B. im Libanonkrieg, aus?
- Heisst Zerfall, dass der Kapitalismus von selber zugrunde geht?
Die im vorherigen Abschnitt angesprochene Irrationalität des Krieges drückt sich nicht nur darin aus, dass das kapitalistische System insgesamt der Lösung der z.B. wirtschaftlichen Probleme nicht näher kommt, sondern auch darin, dass selbst die stärksten Grossmächte ihre Kriegsziele nicht mehr erreichen. Dies trifft namentlich auf die USA, die einzig übrig gebliebene Supermacht, zu. Nach dem 11. September 2001 haben sie eine Strategie der Einkreisung Europas und Russlands betrieben und zu diesem Zweck zuerst Afghanistan und dann den Irak besetzt sowie ihre militärischen Stützpunkte in verschiedenen Staaten Zentralasiens auf- und ausgebaut. Als wir im Oktober 2001 in Zürich (in der ersten öffentlichen Veranstaltung nach den Anschlägen auf die Twin Towers und während der Invasion der USA in Afghanistan) die Position vertraten, die Macht der USA befinde sich auf dem absteigenden Ast, lachte uns ein Teilnehmer aus und behauptete vehement das Gegenteil: Die USA würden den 11. September nicht bloss als Vorwand für einen Ausbau ihrer Vormachtstellung benützen, sondern dabei auch Erfolg haben. Das Fiasko dieser Politik ist heute je länger je weniger zu bestreiten. Der Irakkrieg bindet so viele Kräfte, dass die anderen von George W. Bush so genannten "Schurkenstaaten" Iran und Nordkorea den USA auf der Nase herumtanzen können, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen. Und selbst in Afghanistan verlieren die Nato-Truppen zunehmend die Kontrolle: "Der britische Oberkommandierende General Richards erklärte, die Intensität der Kämpfe übersteige jene im Irak und habe ein Gewaltniveau erreicht, wie es die Welt seit dem Koreakrieg nicht mehr gesehen habe." (NZZ 9./10.09.06)
Dies ist eine neue Qualität: Die Siegermächte des 1. und des 2. Weltkrieges hatten zwar ökonomisch je nachdem viel verloren, aber wenigstens in strategischer Hinsicht ihre Position verbessern können. Nicht mehr so die heutigen Kriegsgewinner. Die israelische Armee ist den Streitkräften der Hisbollah weit überlegen. Die Schäden, die jene im Libanon angerichtet hat, übersteigt die durch die Hisbollah und ihre Verbündeten verursachten um ein Vielfaches. Und doch kommt niemand auf die Idee zu behaupten, Israel habe diesen Krieg gewonnen. Vielmehr feiern sich die Hisbollah als die Sieger. Und in strategischer Hinsicht trifft dies wohl zu, insbesondere wenn man auch den Machtzuwachs des Irans mit berücksichtigt.
Es ist nicht bloss paradox, sondern nachgerade absurd: Wenn die Starken auf den Einsatz ihrer Streitkräfte verzichten, freuen sich die Rivalen und bauen ihre Macht aus; wenn die Starken umgekehrt ihre Macht demonstrieren, untergraben sie damit zuerst einmal ihre eigene Machtposition. Was sie auch tun - sie verlieren an Macht. Und die Unordnung nimmt zu. Kein Imperialist, ob gross oder klein, ist mehr in der Lage, etwas von Bestand zu gestalten, aufzubauen. Wie in der Physik scheint sich das Gesetz der Entropie durchzusetzen. Die Bourgeoisie wird sich dessen selber zunehmend bewusst: "Militärische Schläge, deren Ziele unklar, unerreichbar und schlicht nicht vorhanden sind, bergen jedoch die Gefahr, nur die Zerstörung des angegriffenen Landes zu bewirken und damit zu einem neuen gescheiterten Staat zu führen." (Arnold Hottinger in der NZZ vom 6.09.06) Es ist unübersehbar, dass diese Logik auf einen Untergang zusteuert: "Wie gross muss die kritische Masse von gescheiterten Staaten sein, damit die noch überlebenden Länder von der Zersetzung erfasst werden und die ganze Region in den Zusammenbruch hineingezogen wird?" (ebenda)
Doch führt dieser "Zusammenbruch" nicht zu einer neuen Gesellschaftsordnung. Der Kapitalismus verfault zwar zunehmend und verbreitet seinen Gestank über die ganze Erde. Er wird aber nicht von selbst einer neuen Gesellschaft Platz machen. Vielmehr braucht es dazu die bewusste Tat derjenigen Klasse, die im Kapitalismus die ausgebeutete Klasse ist und den Schlüssel für eine andere Produktionsweise in der Hand hält - eine Produktionsweise, in der nicht mehr für die zahlungskräftige Nachfrage produziert wird, sondern für die Bedürfnisse der ganzen Menschheit.
Die Fragen nach dem aktuellen Zustand des Kapitalismus und seinen Tendenzen sind für diejenigen, die die Welt verändern wollen, existenziell. "Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist" (4); und eine Revolution "ist nur in den Perioden möglich, wo (…) die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten." (5) Es ist also zunächst wichtig zu wissen, ob das System, das man revolutionär überwinden will, noch eine wirtschaftliche Zukunft hat.
Weiter ist es aber auch wichtig zu wissen, ob sich die Bedingungen für die Revolution noch verbessern oder nur noch verschlechtern. Der kapitalistische Zerfall ist die Periode, in der die Zeit begonnen hat, gegen uns zu laufen.
Gerade auch deshalb begrüssen wir die kritischen und bohrenden Fragen von Genossen, die der Sache auf den Grund gehen wollen. Die Klärung ist unabdingbar für die Bewusstseinsentwicklung. Und die Debatte ist eines der besten Mittel dazu.
WG, 14.09.06
(1) Marx, Kapital Band 2, MEW 24 S. 409
(2) An der öffentlichen Veranstaltung in Zürich hat niemand in Frage gestellt, dass der Kapitalismus an einer Überproduktionskrise krankt. Diejenigen, die daran zweifeln, dass es ein Problem der Sättigung der Märkte überhaupt gibt, verweisen wir auf die aktuelle Debatte mit CWO in der kommenden International Review Nr. 127 (engl./frz./span. Ausgabe) bzw. unter
https://fr.internationalism.org/ir/127/cwo_intro_economie_guerre.
(3) z.B. "Thesen über den Zerfall" in Internationale Revue Nr. 13; und "Den Zerfall des Kapitalismus verstehen" in Internationale Revue Nr. 34
(4) Marx, MEW 13 S. 9
(5) Marx, MEW 7 S. 440