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Nahezu jeden Tag Bilder von gestrandeten, gesunkenen oder aufgebrachten Schiffen, die unzählige Flüchtlinge von Afrika zu einem Außenposten Europas bringen sollen. Die Bilder von den Kanarischen Inseln oder aus dem Mittelmeer gehören längst zum Alltag, wo jedes mal erschöpfte, ausgehungerte, dem Tod durch Ertrinken oder Verdursten Entronnene, von der Polizei aufgegriffen und meist sofort in streng bewachte Lager eingesperrt werden, bevor sie dann gewaltsam abgeschoben werden. Immer mehr Menschen versuchen vor ihrem Elend zu flüchten. Welch ein Kontrast der Perspektiven des Kapitalismus. Während in der Anfangsphase des Kapitalismus die Kapitalisten nach Afrika einfielen, um dort Millionen Arbeitskräfte als Sklaven nach Amerika zu verschleppen, werden heute an den Küsten Westafrikas und Nordafrikas mit Hilfe der europäischen Regierungen militärische Sperrzonen errichtet. Wenn nicht direkt ein Stacheldraht an der Küste gezogen werden kann, der die Menschen an der Flucht hindern soll, so lauern EU-Patrouillenboote und afrikanische Küstenwache vor der Küste Afrikas, um die verzweifelten Flüchtlinge von ihrer Flucht nach Europa abzuhalten. Die gleiche ‚Befestungspolitik' betreibt auch die US-Regierung an ihrer mexikanischen Grenze. Der Kapitalismus kann heute weder den Elenden in der Peripherie noch den Arbeitern in den Industriestaaten etwas anbieten - außer noch mehr Ausbeutung und Repression. Die Arbeiterklasse darf sich nicht spalten lassen in Migranten und angeblich "einheimische" Arbeitskräfte.
Die massive Flucht Hunderttausender Menschen, die vor dem Hunger und der Armut fliehen, ist kein neues Phänomen. Auch ist es keine auf die unterentwickelten Länder beschränkte Geißel. Die Auswanderung gehört zum kapitalistischen System und lässt sich bis zu den Ursprüngen dieser Produktionsweise zurückführen, die auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen fußt.
Der Kapitalismus hat sich dank der Immigration entfaltet
Schon zu Beginn des Kapitalismus hat sich die neue produzierende Klasse, das Proletariat, sofort als eine Klasse von Migranten gebildet. Dank der Migration konnte die Bourgeoisie ihr Ausbeutungssystem entwickeln, indem sie die überholt gewordenen feudalen Produktionsverhältnisse zerstörte. So fand vom ausgehenden 15. Jahrhundert an, insbesondere in Großbritannien, die primitive Kapitalakkumulation durch die Enteignung der Bauern statt, die brutal vom Land vertrieben und mit Gewalt zur Arbeit in den ersten Manufakturen gezwungen wurden. Nachdem sie von ihrem Grundbesitz durch den aufkommenden Kapitalismus enteignet und mit Gewalt vom Land in die Stadt getrieben worden waren, um dort den Kapitalisten ihre Arbeitskraft zu verkaufen, stellten die Bauern und kleinen Handwerker durch ihre Proletarisierung schon damals die ersten Migranten dar. Diese massive, durch die ungestüme Entwicklung des Kapitalismus hervorgerufene Landflucht, wurde in ganz Europa von einer Reihe von Repressionsmaßnahmen eines nie gekannten Ausmaßes begleitet, die sich gegen all diejenigen richteten, die der aufstrebende Kapitalismus bewusst in den Hunger trieb, sie mit dem Ziel verarmte, sie damit zur Lohnsklaverei zu zwingen. So beschrieb Marx den Terror, den der Kapitalismus gegen all die Flüchtenden ausübte, die, nachdem sie zu umher irrenden Vagabunden geworden waren, mit dem Brandeisen gebrandmarkt, verstümmelt, in Arbeitslager gesteckt oder ganz aufgehängt wurden wegen ihres Widerstandes gegen die Regeln der kapitalistischen Diktatur: "Die durch Auflösung der feudalen Gefolgschaften und durch stoßweise, gewaltsame Expropriation von Grund und Boden Verjagten, dies vogelfreie Proletariat konnte unmöglich ebenso rasch von der aufkommenden Manufaktur absorbiert werden, als es auf die Welt gesetzt ward. Andrerseits konnten die plötzlich aus ihrer gewohnten Lebensbahn Herausgeschleuderten sich nicht ebenso plötzlich in die Disziplin des neuen Zustandes finden. Sie verwandelten sich massenhaft in Bettler, Räuber, Vagabunden, zum Teil aus Neigung, in den meisten Fällen durch den Zwang der Umstände. Ende des 15. und während des ganzen 16. Jahrhunderts daher in ganz Westeuropa eine Blutgesetzgebung wider Vagabundage. Die Väter der jetzigen Arbeiterklasse wurden zunächst gezüchtigt für die ihnen angetane Verwandlung in Vagabunden und Paupers. Die Gesetzgebung behandelte sie als »freiwillige« Verbrecher und unterstellte, daß es von ihrem guten Willen abhänge, in den nicht mehr existierenden alten Verhältnissen fortzuarbeiten."
(Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 761 ff., 3. Blutgesetzgebung gegen die Expropriierten seit Ende des 15. Jahrhunderts, Gesetze zur Herabdrückung des Arbeitslohns)
Dank dieser brutalen Ausbeutung der Bauern und ihrer Umwandlung in Lohnsklaven konnte der Kapitalismus eine erste Quelle für seine Arbeitskräfte erschließen. Während seiner ganzen Aufstiegsphase und bis zu seinem Höhepunkt Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das System fortdauernd dank großer Immigrationsströme der Arbeitskräfte. Im ältesten kapitalistischen Land, in Großbritannien, konnte die neue herrschende Klasse ihren Aufstieg dank einer schrecklichen Ausbeutung der Massen von Hungrigen fortsetzen, die vom Lande in die Städte strömten; insbesondere war dies am Beispiel Irlands ersichtlich. "Die rasche Ausdehnung der englischen Industrie hätte nicht stattfinden können, wenn England nicht an der zahlreichen und armen Bevölkerung von Irland eine Reserve gehabt hätte, über die es verfügen konnte." (F. Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW Bd. 2, S. 320) Diese "Reservearmee", die durch die irische Immigration gebildet wurde, ermöglichte es dem britischen Kapital, innerhalb der Arbeiterklasse Konkurrenten einzuführen, womit es die Löhne senken und die ohnehin schon unerträglichen Ausbeutungsbedingungen der Arbeiter noch mehr verschlechtern konnte.
Bei der Entwicklung eines jeden nationalen Kapitals war das Phänomen der Migration von Anfang an ein wesentlicher Bestandteil der Existenzbedingungen der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse ist von ihrem Wesen her eine Klasse von Migranten, von Flüchtlingen, die aus der blutigen Zerstörung der feudalen Produktionsverhältnisse hervorgehen.
Diese Migration weitete sich über die nationalen Grenzen hinaus aus, als Mitte des 18. Jahrhunderts der Kapitalismus in den großen Arbeiterkonzentrationen Westeuropas anfing, auf das Problem der Überproduktion von Waren zu stoßen. Wie Marx 1857 aufzeigte, entstand mit der Entwicklung der Mehrarbeit, die die Grundlage der kapitalistischen Ausbeutung darstellt, auch die Überbevölkerung.
Die zyklischen Überproduktionskrisen, die das kapitalistische Europa von der Mitte des 19. Jahrhunderts an heimsuchten, zwangen Millionen Proletarier vor Arbeitslosigkeit und Hunger zu flüchten, indem sie in "die neue Welt" auswanderten. Zwischen 1848 und 1914 sind ca. 50 Millionen europäische Arbeiter aus dem alten Kontinent ausgewandert, um ihre Arbeitskraft in diesen Teilen der Welt, insbesondere in Amerika, zu verkaufen.
Genau so wie im England des 16. Jahrhunderts die Entwicklung des Kapitalismus durch die Binnenimmigration ermöglicht wurde, entfaltete sich die erste kapitalistische Weltmacht, die USA, dank des Zustroms von Dutzenden Millionen Einwanderen aus Europa (insbesondere aus Irland, Großbritannien, Deutschland, den Ländern Nordeuropas).
Bis ca. 1890 konnte sich das US-amerikanische Kapital dank einer furchtbaren Ausbeutung der Einwanderer und durch die Rationalisierung in den Fabriken schrittweise auf dem Weltmarkt etablieren. Nach 1890 wurden das Land und die Arbeit immer knapper, und die neuen Einwanderer aus dem Mittelmeergebiet und aus Osteuropa, die beruflich nicht qualifiziert waren, fanden sich in den Ghettos der Großstädte wieder und waren gezwungen, immer geringere Löhne zum Überleben zu akzeptieren.
Nachdem der Kapitalismus seinen Höhepunkt erreicht hatte, war der Mythos Amerikas, das alle Menschen aufnahm, überlebt. Sobald das US-Kapital nicht mehr massiv Arbeitskräfte für die Entfaltung seiner Industrie importieren musste, fing die US-Bourgeoisie an, diskriminierende Maßnahmen zu ergreifen, die dazu dienten, sich die Einwanderer auszuwählen. Nach der großen Einwanderungswelle von italienischen und osteuropäischen Arbeitern, die am Ende des 19. Jahrhunderts in die USA geströmt waren, fing die US-Bourgeoisie 1898 an, ihre Grenzen dicht zu machen, insbesondere gegenüber den asiatischen Immigranten. Deshalb nahm man nicht mehr einfach jeden beliebigen mittellosen Einwanderer auf. Neue Bewerber für die Einwanderung sollten auch für das Kapital fruchtbringend sein; all diejenigen, die nicht gewollt waren, wurden zurückgewiesen und dazu gezwungen, "nach Hause" zurückzukehren. (…)
Die Immigration im Zeitraum der Dekadenz des Kapitalismus
Während des 20. Jahrhunderts wurde die Verlangsamung der Einwanderungsströme zu einem immer offensichtlicheren Zeichen des Niedergangs des Systems, der durch den Ausbruch des 1. Weltkriegs gekennzeichnet war. Mit dem ersten imperialistischen Weltkrieg 1914-18 wurden die massiven Auswanderungswellen, die den Aufstieg des Kapitalismus begleitet und ihn möglich gemacht hatten, rückläufig.
Dieser Rückgang der Auswanderung ist nicht auf eine Fähigkeit des Kapitalismus zurückzuführen, den Arbeitern eine gewisse Stabilität in Europa anzubieten, sondern er ist viel mehr ein Ausdruck der wachsenden Verlangsamung der Entwicklung der Produktivkräfte. In den Vorkriegsjahren und während des 1. Weltkriegs selbst konnte das Kapital den Arbeitern eine Reihe von Opfern auferlegen, die für die Kriegswirtschaft eines jeden kriegsbeteiligten Landes erforderlich waren. Nach dem Krieg konnte die Bourgeoisie der westeuropäischen Staaten (insbesondere die Deutschlands) dank der furchtbaren Ausbeutung eines ausgebluteten und durch die Niederlage in der revolutionären Welle von 1917-23 besiegten Proletariats ihre Volkswirtschaft wieder aufbauen, ohne massiv auf den Zustrom von Einwanderern zurückzugreifen.
Und als die generalisierte Überproduktionskrise in den 1930er Jahren brutal in den Industriestaaten, von Europa bis zu den USA, explosionsartig ausbrach, und ein neuer Weltkrieg sich abzeichnete, war es möglich, mittels massiver Aufrüstung und damit verbundener Waffenproduktion die Explosion massiver Arbeitslosigkeit in allen Ländern einzudämmen.
Mit dem Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg, insbesondere nach den 1950er Jahren, entstand eine neue Einwanderungswelle, hauptsächlich in Westeuropa, die noch durch die Entkolonialisierung verstärkt wurde.
Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die Schweiz, die Benelux-Staaten öffneten die Grenzen für die Arbeiter aus den am meisten unterentwickelten Staaten. Spanier, Portugiesen, Türken, Jugoslawen, Maghrebinier - wurden für diese Staaten billige Arbeitskräfte, die in den Dienst des Wiederaufbaus gestellt wurden. Gleichzeitig konnte so der Aderlass ausgeglichen werden, den der 2. Weltkrieg in den Reihen des Proletariats der kriegführenden Länder hervorgerufen hatte. Millionen Einwanderer wurden von den großen Demokratien Westeuropas angeworben, um sie extrem auszubeuten und sie für miserable Löhne die schmutzigsten und schwierigsten Arbeiten verrichten zu lassen.
Diese Immigrationswelle, die in den 1950er Jahren erneut im Zentrum des Kapitalismus anstieg, erreichte jedoch nie die Ausmaße der Welle, die ein Jahrhundert zuvor die USA erfasste. Während nämlich im 19. Jahrhundert die Auswanderer mit ihrer Familie ihr Ursprungsland mit der Hoffnung verließen, im Zuge der Ausdehnung des Kapitalismus in der neuen Welt einen Zufluchtsort und eine gewisse Stabilität zu finden, war die Öffnung der Grenzen Westeuropas für ausländische Arbeiter nach dem 2. Weltkrieg immer nur eine vorübergehende Überlebensmöglichkeit für Millionen von Arbeiter aus den unterentwickelten Ländern. Die meisten von ihnen (vor allem die Arbeiter aus dem Maghreb oder die asiatischen Ursprungs, die nach der Entkolonisierung nach Frankreich und England zogen) waren gezwungen gewesen, ihre Familien zu verlassen, um eine schlecht bezahlte und schwere Arbeit in dem "Aufnahmeland" anzunehmen. Ohne irgendeine Zukunftsperspektive und einzig mit dem Ziel, ihre Frauen und Kinder "zu Hause" ernähren zu können, waren sie gezwungen, die furchtbarsten Lebens- und Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Ohne Wohnungen, wie Vieh in den Ghettos eingepfercht, ohne Strom und Wasser, oder wo sie der Geldsucht der "Schlafplatzverkäufer" und den Kontrollen und Schikanen der Polizei ausgesetzt waren (….), erinnern die Lebensbedingungen dieser Billigsarbeitskräfte, die der westliche Kapitalismus aus den unterentwickelten Ländern für die Bedürfnisse seines Wiederaufbaus nach dem Krieg importierte, an die schreckliche Barbarei der primitiven Akkumulation.
Denn das Elend der Immigranten kristallisiert das Elend des Proletariats als Klasse, die nichts anderes besitzt als ihre Arbeitskraft. Die unmenschlichen Bedingungen der Immigranten legen offen, dass ihre Arbeitskraft nur eine einfache Ware ist, die die bürgerlichen Sklavenhändler immer zum niedrigsten Preis gekauft haben.
Sobald der Wiederaufbau nach dem Ende des 2. Weltkrieg Ende der 1960er Jahre beendet war, wurde von den ‚Aufnahmeländern' Westeuropas die Botschaft vermittelt, "das Boot ist voll". Schnell wurden die Grenzen verriegelt. Von 1963 an wurden Einschränkungen für die Schweiz, später in Großbritannien, Deutschland, Frankreich getroffen, die in Anbetracht des Wiederauftauchens der Weltwirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit Anfang der 1970er Jahre beschlossen, die Immigration ganz zu blockieren.
Aber man beließ es nicht bei diesen Maßnahmen. Je mehr der Kapitalismus in die Krise rutschte, desto mehr sollte das Proletariat darunter leiden. Während durch die ersten Entlassungswellen Zehntausende Arbeiter auf die Straße geworfen wurden, wurden die ersten Immigranten ausgewiesen und außerhalb der Grenzen Europas vertrieben. Weil sich die "weichen Methoden" und die "Rückkehrhilfen" als unzureichend erwiesen, wurden später unter dem Vorwand der "Jagd auf Illegale" Tausende Immigranten nach Hause verfrachtet - entweder in Charterflugzeugen oder ganz einfach gewaltsam an die Grenzen befördert. Als ideologische Begleitung entfaltete die herrschende Klasse eine zynische immigrantenfeindliche Propaganda, um die Arbeiterklasse zu spalten.
Gegen die generalisierte Misere im Kapitalismus - Klassensolidarität des Weltproletariats
Die Kampagnen gegen die Einwanderer, die heute überall zu sehen sind, zielen nicht nur darauf ab, die Arbeiterklasse in "einheimische" und "zugewanderte" Beschäftigte zu spalten. Sie stellen einen direkten Angriff gegen das Klassenbewusstsein des Proletariats dar. Mit Hilfe ihrer ekelhaften Propaganda versucht die herrschende Klasse vor allem einen ideologischen Schleier zu errichten, der verhindern soll, dass durch die wachsende Misere des Proletariats der historische, unwiderrufliche Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise offensichtlich wird. Heute versucht die herrschende Klasse zu verheimlichen, dass sie unfähig ist, der Arbeiterklasse auch nur die geringste Perspektive anzubieten. (…) Denn kein Zuwanderungsgesetz kann die unüberwindbare Krise des Systems aus der Welt schaffen. Es wird weiterhin Massenentlassungen geben, die alle Arbeiter treffen, egal woher sie kommen. Nicht die Immigration ist schuld für die Krise und Arbeitslosigkeit. Die Krise und Arbeitslosigkeit, die die Folge des unaufhaltsamen Zusammenbruchs der Weltwirtschaft sind, und die die Existenzbedingungen der Arbeiterklasse immer mehr verschlechtern, lassen die Arbeiterklasse immer mehr zu einer Klasse von ausgeschlossenen, arbeits- und wohnungslosen Migranten werden.
Der Kapitalismus kann heute immer weniger seinen Bankrott verheimlichen. Der Kapitalismus ist zu einer Geißel für die Menschheit geworden. Die Arbeiterklasse kann ihre Interessen nur verteidigen, indem sie überall ihre internationale Klassensolidarität entfaltet und sich nicht zwischen Immigranten und Einheimischen spalten lässt. (leicht gekürzter Artikel aus unserer Zeitung in Frankreich, Révolution Internationale Nr. 206).