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Leserbrief:
Werte Genossen,
Ich bin leider jetzt erst zum lesen der Weltrevolution Nr. 138 gekommen (by the way, freue ich mich schon auf die Internationale Revue, wobei ich schon mal in die englische Ausgabe reingelesen habe).
Ich bin sehr einverstanden mit euren Artikeln zum Krieg im Libanon und der Internationalität der Klasse. Beides zudem wichtige Themen angesichts des grassierenden Nationalismus.
Weniger zufrieden bin ich mit dem Artikel, der den Zustand der Klasse in Deutschland behandelt. Zweiffellos habt ihr im Grunde erst einmal recht mit der Konstatierung der Desillusionierung, die ja auch in allen bürgerlichen Blättern beklagt wird. Allerdings ist dies bei euch zu positiv gewendet. Wenn ihr schreibt, dass die Herrschenden nichts mehr zu fürchten hätten als den Verlust ihrer Glaubwürdigkeit und Legitimität, dann blendet ihr m.e. einen wichtigen Aspekt aus: den der Verzweiflung und des Fatalismus, der auch Folge des Individualisierungsprozesses seit Ende der 70er Jahre ist. Nur ein kurzes Beispiel: Wir haben in den letzten Wochen relativ intensiv die Kämpfe in der Charité und bei BSH verfolgt und in sie interveniert. Während es im Krankenhaussektor so gut wie überhaupt keine Initiative von unten gegeben hat und die Beschäftigten trotz unglaublich autoritären Auftretens der Gewerkschaften stramm gestanden haben, musste die IG Metall die Kollegen bei BSH am Ende ja sogar auf der Autobahn abfangen und gegen die Mehrheit der Streikwilligen den Streik absagen. Im Ergebnis jedoch ist eines klar: Die Legitimität der Gewerkschaften war in beiden Fällen nicht völlig gebrochen, aber relativ schwach (erst recht, wenn man dies mit Zuständen vor 20 oder 30 Jahren vergleicht). Um das Selbstbewusstsein der Klasse ist es jedoch auch nicht viel besser bestellt. Die lokale Begrenzung, fehlende solidarische Praxis, die Massenarbeitslosigkeit als Druckfaktor, das Fehlen einer gesellschaftlichen Perspektive und wahrnehmbaren kommunistischen Organisation, und auch das abhanden gekommene Gefühl Produzent aller Gebrauchswerte zu sein, sind hier Steine, die im Weg liegen. Ihr habt recht, das Vertrauen ist erschüttert (bei BSH traute keiner irgendeiner der Parteien über den Weg, der Ruf der Gewerkschaft war etwas besser), aber entscheidend ist das Selbstbewusstsein der Klasse als Klasse der Negation. Das fehlt leider nach wie vor völlig. So long für's erste.
A.
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Antwort der IKS
Lieber Genosse,
wir haben uns sehr über deine Reaktion auf unsere Presse gefreut. Das bestärkt uns in unserem Bestreben, Publikationen herauszugeben, welche einen Beitrag zum Nachdenken und zur Debatte innerhalb der Klasse leisten. Weder wir noch irgend ein anderer politisierter Teil der Arbeiter-klasse haben fertige Antworten auf die Probleme des Klassenkampfes. Aber das kollektive und öffentliche Bestreben, die Probleme zu diskutieren und zu klären, ermöglicht es unserer Klasse, doch noch Antworten zu finden, welche immer bes-ser den Anforderungen des Lebens ge-recht werden können.
Jetzt zum Inhalt deines Schreibens. Du stimmst uns zu, dass es heute einen weit-verbreiteten Prozess der Desillusionierung gibt, der beispielsweise Ausdruck findet in der relativ niedrigen Legitimität der Gewerkschaften in den Augen der Arbei-ter. Du wirft uns aber vor, die Verzweif-lung und den Fatalismus der Klasse aus-zublenden, welche mit dem heute noch allgegenwärtigen niedrigen Selbstbe-wusstsein des Proletariats, mit dem Man-gel an Einsicht, einer gemeinsamen Klasse anzugehören, einhergehen. Diese Frage des Selbstbewusstseins aber sei das Entscheidende, so deine Schlussfolge-rung.
Fangen wir mit dem Wichtigsten an: Wir sind mit deiner Darstellung der Lage ganz und gar einverstanden. Wir verfolgten mit besagten Artikel das Ziel, auf den oben erwähnten Prozess der Desillusionierung hinzuweisen, einerseits weil dies einer der wichtigsten, zukunftsweisenden Elemente der heutigen Situation ist, andererseits weil dieser Aspekt unserer Meinung nach oft übersehen oder unterschätzt wird. Es war aber keineswegs unsere Absicht, den Fatalismus und die Verzweifelung, die du u.a. anhand der Lage in der Charité oder bei der BSH (Bosch-Siemens-Haushaltsgeräte) in Berlin beschreibst, auszu-blenden. Jedenfalls stimmen wir dir zu, dass diese beiden Tendenzen sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern Seite an Seite nebeneinander existieren.
Aber indem du das Nebeneinander dieser widersprüchlichen Tendenzen themati-sierst, entsteht eine neue, weiterführende Frage: Ihr Verhältnis zueinander. Die Frage lautet: kann der Prozess des Ver-lusts der Illusionen der Arbeiterklasse helfen, eine eigene revolutionäre Per-spektive zu gewinnen bzw. wiederzuge-winnen, und somit der Verzweiflung und dem Fatalismus entgegenzutreten?
Um diese Frage zu beantworten, halten wir es für wichtig zu unterscheiden zwi-schen Desillusionierung und der von den bürgerlichen Medien oft beklagten "Poli-tikverdrossenheit".
Letzteres bedeutet: sich angeekelt ab-wenden von der als durch und durch ver-kommen erkannten Politik der herrschen-den Klasse. Zwar geht dieses Sich-ab-wenden in den Prozess der Desillusionie-rung mit ein, aber es ist nur ein Bestand-teil davon, und unserer Meinung nach lange nicht der Wichtigste.
Desillusionierung nicht gleich Politikverdrossenheit
Die Politikverdrossenheit war eines der Hauptmerkmale der Niedergangsphase z.B. der antiken Gesellschaft. Das Ge-fühl, Opfer einer schamlosen, die gesamte Gesellschaft zugrunde richtenden Aus-beutung zu sein, war am Ende der Römer-zeit so stark und so weit verbreitet, dass selbst die Invasionen der Barbaren aus dem Norden mit Erleichterung aufge-nommen und beinahe als eine Befreiung empfunden wurden. Das kam daher, weil die gesamte auf der Sklaverei beruhende Gesellschaft in einer historischen Sack-gasse ohne Ausweg steckte. Denn es gab keine Klasse innerhalb dieser Gesell-schaft, welche eine alternative Perspek-tive wusste oder in sich trug. Anders als am Ende des Mittelalters gab es keine ausbeutende Klasse, welche einer kapita-listischen Entwicklung hätte Bahn bre-chen können. Aber auch die Ausgebeute-ten boten keinen Ausweg. So wie die Leibeigenen des Mittelalters nicht für die Abschaffung der Leibeigenschaft, sondern lediglich um die Minderung ihrer Dienste und Abgaben kämpften, stritten die Skla-ven der Antike nicht für eine Gesellschaft ohne Sklaverei, sondern für ihre persönli-che Freiheit oder für eine menschlichere Behandlung. So lösten sich die zunächst siegreichen Armeen des Spartakus auf, weil die rebellierenden Sklaven heim wollten, ihrer Unfreiheit jeweils persön-lich entrinnen wollten. So wurde die als Klasse ohne Hoffnung darbende Schicht der Sklaven zum einem der bedeutendste Träger der neu aufkommenden Religion des Christentums, welche einen Kommu-nismus lediglich des Konsums propagierte und die Sklaverei dabei unangetastet ließ. Der Kommunismus war nur als jenseitiger Trost damals denkbar.
Das moderne Proletariat sucht seine Perspektive im Diesseits
Anders als in der Antike gibt es im Kapi-talismus eine Klasse der Gesellschaft, welche eine alternative Gesellschaft im Kern in sich trägt. Anders als im Feuda-lismus ist der Träger dieser neuen Per-spektive keine ausbeutende, sondern die ausgebeutete, allgemeiner die produzie-rende Klasse, das Proletariat. Während also die Sklaven der Antike, die Leibei-genen des Mittelalters von sich aus ge-neigt waren, Opfer von Illusionen zu wer-den, und sogar ohne Illusionen gar nicht leben konnten, liegt im Wesen des Prole-tariats die Tendenz begründet, im Verlauf des eigenen Abwehrkampfes eine erdge-bundene kommunistische Perspektive zu entwickeln. So kam es, dass bereits im Frühkapitalismus, als die ersten proletari-sierten Massen im Kampf auftraten, ei-gentlich um dem Kapitalismus erst den Weg frei zu machen, die Keime dieser kommunistischen Perspektive formuliert wurden. So durch die Levellers in der englischen, durch Babeuf in der französi-schen bürgerlichen Revolution. Sogar da-vor, während der Reformation in Deutschland, war diese eigenständige Perspektive des Proletariats unter der Führung Thomas Münzers aufgetreten. Und als dann 1842 in England die bereits siegreiche Bourgeoisie versuchte, die proletarischen Massen für die Durchset-zung der Ziele ihrer Ausbeuter zu mobili-sieren - für die Abschaffung der Kornge-setze - musste sie erleben, wie schnell sie die Kontrolle verlor. Die Ar-beiter traten millionenfach in den Kampf, for-mulierten aber bereits nicht nur ihre eige-nen Klassenforderungen, sondern auch ihre kommunistischen Endziele. Die Aus-beuter wussten nur durch Einsatz des Mi-litärs der Lage Herr zu werden.
So war die englische Bourgeoisie die erste, die verstanden hat, dass diese neue Klasse des modernen Proletariats nur zu bändigen ist, wenn man imstande ist, die-ser Klasse die Perspektive einer Besse-rung ihrer Lage - und sei es nur die Illu-sion einer Besserung - anzubieten. Groß-britannien nutzte seine damalige Lage als führende Kolonialmacht, und als "Werk-statt der Welt" aus, um mit Hilfe des Refor-mismus der Trade Unions der revolutio-nären Bewegung auf der Insel das Wasser abzugraben. Nachdem weder das blutige Abschlachten des Proletariats von Paris 1848 und 1870 noch die Sozialistenver-folgungen in Deutschland unter Bismarck imstande waren, die Entwicklung der so-zialistischen Ideen aufzuhalten, lernte auch die herrschende Klasse des europäi-schen Festlandes dazu. Sie profitierte von den letzten Jahrzehnten der Prosperität vor dem Ersten Weltkrieg, um unter Hint-anstellung der offenen Repression eben-falls den Reformismus zu predigen. Und auch im blutigen 20. Jahrhundert, in der Epoche der Kriege und Revolutionen, kam die Bourgeoisie selten lange ohne solche Illusionen aus. Für solche Illusio-nen mussten die USA in den 20er Jahren, später der angebliche "Realsozialismus" des Ostblocks oder der Wohlfahrtstaat im Westen herhalten. Denn nicht aus theo-retischer Erkenntnis, sondern aus histori-scher Erfahrung weiß die Bourgeoisie nur zu gut, dass man zwar den einzelnen Arbeiter, nicht aber die in den kollektiven Kampf getretene Klasse der Lohnabhän-gigen durch religiösen Trost abspeisen kann.
Die Desillusionierung betrifft heute die Perspektive der Gesellschaft
Was sehen wir heute? Zunächst brach der illusorische Realsozialismus des Ost-blocks zusammen. Es stimmt: Dieses Er-eignis diente zunächst dazu, den Kommu-nismus zu diskreditieren und als ein Re-likt der Geschichte erscheinen zu lassen. Inzwischen aber ist ein zweites Ereignis eingetreten, weniger chaotisch und spektakulär als 1989, aber welthistorisch von nicht geringerer Bedeutung: Das Zerschellen der Illusionen in den westli-chen Wohlfahrtsstaaten. Man sieht: Der Verlust der Illusionen bezieht sich nicht nur auf einzelne Organe des bürgerlichen Staates wie die politischen Parteien oder die Gewerkschaften. Er betrifft die Per-spektive der Gesellschaft insgesamt. Heute kann die herrschende Klasse nicht mehr glaubhaft die Perspektive einer Bes-serung der Lage des Proletariats innerhalb des Kapitalismus anbieten. In den 1980er Jahren waren die kapitalistische Modelle noch Deutschland und Japan. Die erfolg-reichsten Staaten waren zugleich die Län-der, in denen die Reallöhne der Arbeiter am höchsten waren. Die kapitalistischen Modelle von heute - China und Indien - wirken nur noch abschreckend. Sie ver-heißen nichts Gutes für das Weltproleta-riat.
Die Verlust von Illusionen schafft nicht automatisch eine eigene revolutionäre Perspektive. Dazu gehört viel mehr, nicht zuletzt die Heranreifung und die Inter-vention revolutionärer Minderheiten der Klasse. Umgekehrt lässt sich sagen, dass ohne - oft schmerzlichen - Abschied von solchen Illusionen keine kommunistische Perspektive in der Klasse sich entwickeln kann. Marx hat es einst so formuliert, dass die kapitalistische Krise die Dialektik in die Köpfe hämmert. Die Krise lehrt die Klasse, den Kapitalismus nicht als Natur-gegebenheit, als ewige Kategorie zu be-trachten, sondern als vorübergehende ge-schichtliche Erscheinung. Zu diesem Pro-zess des Bewusstwerdens gehören auch die Momente der Verzweiflung und Hilflosigkeit. Ja, auch die Niederlagen gehören dazu, solange sie als Niederlagen verstanden werden und nicht von der Bourgeoisie auch noch als Siege verkauft werden können. Solange die Kampfkraft der Klasse auf Dauer nicht gebrochen wird, und solange der Arbeiterkampf auf die Verteidigung der eigenen Klasseninte-ressen ausgerichtet bleibt, bleibt dies die Ei-gentümlichkeit der proletarischen Revo-lution, wie Rosa Luxemburg sagte, dass der Endsieg durch eine Reihe von Niederlagen vorbereitet wird. Auch dem von dir angesprochenen "Indi-vidualisierungsprozess" muss dabei eine entsprechende Antwort der Klasse entge-gengehalten werden. Da ein wirkungs-voller Abwehrkampf gerade heute ohne eine mächtige Entfaltung der Solidarität gar nicht erst denkbar ist, muss das Pro-letariat immer bewusster den kollektiven Charakter seines Wesen und seines Kampfes zur Geltung bringen. Aber in dieser kollektiven und solidarischen Kampfesweise liegt bereits der Kern der künftigen kommunistischen Gesellschaft angelegt.
Somit hat der Verlust der Illusionen heute großen Anteil daran, den Weg freizumachen für die Entwicklung einer kommunistischen Perspektive - auch wenn die Entwicklung einen langen und zähen Kampf erforderlich machen wird. - Weltrevolution