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Die Schwierigkeiten der herrschenden Klasse mit sich selber
Ein Thema, das die Medien der Schweiz in den vergangenen Monaten immer wieder beschäftigte, war die Amtsführung des Justizministers Christoph Blocher, welcher der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) angehört. Es ging dabei insbesondere um folgende Fakten und Äusserungen:
- Im Januar 2006 sprach der Justizminister an der so genannten Albisgüetlitagung der zürcherischen SVP von zwei "kriminellen Albanern" und meinte damit zwei anerkannte Flüchtlinge, von denen die albanischen Behörden behaupten, sie hätten sich des Mordes schuldig gemacht. Blocher wörtlich: "Die haben zwei Morde auf dem Buckel." Die Medien schalten darauf den Justizminister, dass er trotz seines Amtes nicht einmal wisse, dass ein Beschuldigter, solange er nicht durch ein ordentliches Gericht rechtskräftig verurteilt sei, als unschuldig gelte.
- Anfang Oktober reiste Blocher in die Türkei und versuchte bei der dortigen Regierung gute Stimmung zu machen, indem er das schweizerische Antirassismusgesetz kritisierte. Er bedaure, dass in der Schweiz eine Strafuntersuchung gegen den türkischen Historiker Yusuf Halacoglu laufe, welcher den Völkermord an den Armeniern geleugnet haben soll. In den Schweizer Medien brach ein Entrüstungssturm darüber los, dass ein Justizminister ein demokratisch verabschiedetes Gesetz öffentlich kritisierte, und dies auch noch im Ausland. Die Aussenpolitische Kommission des Parlamentes verzichtete aber darauf, Blocher eine formelle Rüge für das nicht mit dem Gesamtbundesrat abgesprochene Vorgehen zu erteilen, da sie anerkannte, dass der Blocher-Besuch zu einer Entkrampfung des Verhältnisses zwischen der Türkei und der Schweiz geführt habe. Früher geplante Besuche der sozialdemokratischen Aussenministerin Calmy-Rey und des christlichdemokratischen ehemaligen Volkswirtschaftsministers Deiss waren von der Türkei mit Hinweis auf die Völkermorddiskussion annulliert worden.
- Ebenfalls im Oktober wurde bekannt, dass sich Blocher in einer Sitzung der Staatspolitischen Kommission kritisch über den Nutzen der Entwicklungshilfe in Afrika geäussert habe. "Wie man mit Afrika verfahren soll, weiss ich nicht … Es sich selbst zu überlassen wäre eine Möglichkeit …". Auch darauf folgte ein mehrere Wochen dauerndes Hickhack zwischen dem linken und rechten Flügel des bürgerlichen Apparates.
Diese verschiedenen Aufschreie der Entrüstung fanden vor dem Hintergrund einer Verschärfung des Ausländer- und Asylrechts statt. Am 24. September 2006 wurde eine Volksabstimmung über eine entsprechende Gesetzesänderung durchgeführt, bei der sich zwei Drittel derjenigen, die an der Abstimmung teilnahmen, für die Verschärfung aussprachen: Arbeiter von ausserhalb der EU haben nach dem neuen Gesetz kaum mehr eine Möglichkeit, eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten, insbesondere wird auch der Familiennachzug erschwert, Asylsuchende ohne Ausweispapiere können ohne Prüfung der Fluchtgründe in ihr Heimatland zurückgeschickt werden. In diesem Fall waren es eher die Medien im Ausland, die sich über so viel institutionellen Rassismus erstaunt zeigten. Der Spiegel titelte: "Schweiz schottet sich ab." Und The Economist: "Ein erfolgreicher populistischer Angriff auf die Schweizer Asyl- und Ausländergesetze". In der Schweiz ging man nach der Annahme dieser Gesetze schnell zur Tagesordnung über; und die Sozialdemokraten, die sich vorher vordergründig noch dagegen gewehrt hatten, begannen nun die Vorteile der neuen Rechtslage zu rühmen - es sei damit einfacher, die Einwanderer zu integrieren.
Es geht uns im vorliegenden Artikel nicht in erster Linie darum, den Zynismus der Rechten und die Heuchelei der Linken anzuprangern, sondern genauer zu analysieren, was hinter dem ideologischen Rauch steckt, den die Bourgeoisie mit diesen Kampagnen aufsteigen lässt.
Die Schweizer Bourgeoisie steht vor zwei Problemen, die in diesen Zwischenfällen und insbesondere in ihrer Aufbereitung in den Medien zum Ausdruck kommen: Das eine betrifft die Stellung des Kleinstaates Schweiz gegenüber dem Ausland, besonders gegenüber der Europäischen Union; das zweite den Umgang mit rechtspopulistischen Tendenzen.
Außenpolitik: Integration in die EU oder Isolationismus?
Der Nationalstaat Schweiz steckt in seiner Politik gegenüber dem Ausland in einem Dilemma. Geographisch gehört das Land zweifellos zu Europa; es ist aber eines der letzten westeuropäischen Länder, das noch nicht der EU beigetreten ist. Insbesondere wirtschaftlich ist es völlig abhängig vom Handel mit den EU-Ländern. Die Schweizer Wirtschaft ist stark auf den Export ausgerichtet; die Exporte (Güter und Dienstleistungen zusammen) umfassen fast die Hälfte des ganzen Bruttoinlandprodukts der Schweiz. Der Güterexport in die EU machte 2005 rund 63% der Gesamtgüterexporte der Schweiz aus; die Tendenz ist steigend.
Das Dilemma besteht darin, dass sowohl ein EU-Beitritt als auch der Sonderkurs ernsthafte Nachteile mit sich bringen. Ein EU-Beitritt würde heissen, dass die Schweiz wesentlich mehr Geld bezahlen müsste, als sie umgekehrt erhielte. Das Bruttoinlandprodukt pro Kopf liegt in der Schweiz um rund 70% über dem Durchschnitt der EU-25, so dass die Schweiz bei einem Beitritt vor allem zur Kasse gebeten würde<!--[if !supportFootnotes]-->[i]<!--[endif]-->. Das Preisniveau ist hierzulande höher als in der EU. Weiter müsste das Bankgeheimnis aufgegeben werden, was unweigerlich zu einem erheblichen Abfluss der vom Schweizer Finanzkapital verwalteten ausländischen Vermögen führen würde.
Der immer noch eingeschlagene Sonderkurs umgekehrt setzt die Schweizer Bourgeoisie einem ständigen Druck zum Nachgeben auf den verschiedensten Gebieten aus: Alpentransit, Personenfreizügigkeit, Luftverkehr, Steuerdelikte usw. Die Pleite der Swissair ist ein Ausdruck dieser Schwierigkeiten<!--[if !supportFootnotes]-->[ii]<!--[endif]-->. Trotz einer vergleichsweise hohen Produktivität ist die Schweiz viel zu klein, um aus einem günstigen Kräfteverhältnis heraus ihre Bedingungen zu diktieren. Längerfristig bleibt also nichts anderes übrig, als sich Schritt für Schritt der EU anzunähern.
Wie mit diesem Dilemma umgegangen werden soll, stellt für die Regierenden in der Schweiz ein objektives Problem dar. Ein offen isolationistischer Kurs, wie ihn die SVP fährt, entspricht nicht den langfristigen Interessen der Schweizer Bourgeoisie, auch deshalb, weil das Image der Schweiz im Ausland, von dem sie so abhängig ist, leidet.
Bei den Propagandaschlachten werden immer wieder Sündenböcke gesucht: Für Blocher und seinesgleichen sind es "kriminelle Ausländer", für die Linken ist es Blocher. Insbesondere die linken Kräfte der Bourgeoisie (SP, Grüne, Linksextreme) versuchen, der Schweiz ein offenes, gegenüber Immigranten freundlich gesinntes Image zu verpassen. Die Realität ist aber gerade bei der Einwanderung eine andere. Wenn es um die Sache, und nicht bloss um schöne Worte geht, sind sich die Parteien und Medien von links bis rechts einig. Wie dies das linksliberale Tagesanzeiger-Magazin nach der Annahme des verschärften Ausländergesetzes durchaus zustimmend festhielt: "Mit dem neuen Ausländergesetz dürften mehr Bessergebildete aus der Mittelschicht einwandern, und die sind nun mal einfacher zu integrieren." (11.11.06) So wird Blocher bei der Frage der Einwanderung auf einmal vom Sündenbock zum Vorreiter dessen, was eigentlich auch die Linken wollen, aber nicht so laut sagen dürfen.
Der Apparat der Bourgeoisie
Das zweite Problem der herrschenden Klasse in der Schweiz betrifft die Disziplinierung der rechtspopulistischen Tendenzen, welche auch in anderen Ländern zu einem unberechenbaren Faktor geworden sind. Die SVP steht für diesen Trend, worüber wir in der Weltrevolution Nr. 122 - nach der Wahl Blochers in den Bundesrat - bereits berichtet haben.
Als das Parlament im Dezember 2003 Christoph Blocher in die Landesregierung wählte, verfolgte es das Ziel, die SVP "verstärkt in die Regierungsverantwortung einzubinden, um sie einerseits der Narrenfreiheit einer Oppositionspartei zu berauben und andererseits gerade dadurch tendenziell zu diskreditieren und wieder auf eine ‚vernünftige' Grösse zurückzuwerfen"<!--[if !supportFootnotes]-->[iii]<!--[endif]-->. Nach drei Jahren zieht die Bourgeoisie eine durchzogene Zwischenbilanz. "Das Kalkül ist aufgegangen, der Schaden mit Blocher im Bundesrat ist deutlich geringer als mit einem Blocher draussen", meint der ehemalige Chefredaktor der Weltwoche, der 1999 vorgeschlagen hatte, Blocher zwecks "Domestizierung" in den Bundesrat zu wählen<!--[if !supportFootnotes]-->[iv]<!--[endif]-->. Tatsache ist aber, dass die SVP zwar eine der drei grossen Bundesratsparteien geworden, aber gleichzeitig eine Partei in einer Oppositionsrolle geblieben ist. Ihre rechtspopulistischen Tendenzen sind keineswegs gebremst worden. Die Bourgeoisie steht weiterhin vor der Herausforderung, die irrationalen, den Zusammenhalt der Bourgeoisie untergrabenden Tendenzen einer SVP zurück zu binden.
Es ist nur ein scheinbares Paradox, dass die offen nationalistisch und fremdenfeindlich auftretende Rechte den "vernünftigen" nationalen Interessen der herrschenden Klasse zuwider handelt. Für die massgebenden Teile der Schweizer Bourgeoisie kann durchaus die Meinung des Chefredaktors des Tagesanzeiger-Magazins als repräsentativ erachtet werden: "Tatsache bleibt, dass die humanitäre Tradition die einzige halbwegs realistische Vision der Schweizer Aussenpolitik ist. Die Schweiz wird in einer Welt mit verschiedenen Blöcken mangels Gewicht künftig kaum mehr eine eigene Aussenpolitik betreiben können. (…) Umso wichtiger wäre es für die Schweiz, die humanitäre Tradition aufrechtzuerhalten. Allein Finanzplatz der Welt zu sein, wird der Schweiz langfristig ein Identitäts- und Imageproblem schaffen, vergleichbar mit jenem der Schweizer Grossbanken in der Debatte um die nachrichtenlosen Konti. Zum humanitären Engagement gehört auch ein Mitwirken an bewaffneten Einsätzen zur Friedenssicherung in den Pufferzonen zwischen Kriegsparteien mit einem Uno-Mandat. (…) Was hat Blocher im Bundesrat zu dieser Vision beigetragen? Nichts. (…) Als dominanter Bundesrat, demnächst gar Bundespräsident, schadet er diesem Land im 21. Jahrhundert mehr als er nützt."<!--[if !supportFootnotes]-->[v]<!--[endif]-->
Die eingangs erwähnten Medienkampagnen um Blocher haben also einerseits ein propagandistisches Ziel: Sie sollen gegenüber dem Proletariat und dem Ausland ein demokratisches und humanitäres Bild vermitteln. Andererseits geht es aber auch darum, das Regierungsmitglied Blocher an seine Verantwortung zu erinnern und zu disziplinieren.
Auch hier zeigen sich die typischen Tendenzen des kapitalistischen Zerfalls. Die Bourgeoisie ringt darum, die Kontrolle über alle Teile ihres politischen Apparates aufrecht zu erhalten.
Cassin, 15.11.06
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<!--[if !supportFootnotes]-->[i]<!--[endif]--> Obwohl die Schweiz noch nicht zur EU gehört, soll sie im Rahmen der bilateralen Verträge mit der EU über fünf Jahre eine Milliarde Schweizer Franken an die 10 neuen EU-Mitglieder bezahlen - als so genannten Kohäsionsbeitrag. Darüber wird am 26. November 2006 in einem Referendum abgestimmt, wobei die Parteien des bürgerlichen Apparats von links bis rechts die Ja-Parole herausgegeben haben - mit Ausnahme der SVP.
<!--[if !supportFootnotes]-->[ii]<!--[endif]--> Vgl. dazu den Artikel in Weltrevolution Nr. 136 "Die Schweizer Fluggesellschaft als Symbol für den bankrotten Kapitalismus"
<!--[if !supportFootnotes]-->[iii]<!--[endif]--> Weltrevolution Nr. 122: "Bundesratswahlen in der Schweiz - die herrschende Klasse vor Herausforderungen"
<!--[if !supportFootnotes]-->[iv]<!--[endif]--> zit. nach Tagesanzeiger-Magazin 16.09.06