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Unsere Organisation, die IKS, wurde am 16. Oktober 1999 von der Frankfurter Ortsgruppe der anarcho-syndikalistischen FAU-IAA zu einer öffentlichen Veranstaltung nach Frankfurt eingeladen. Das Thema der Veranstaltung war die Gewerkschaftsfrage. Die IKS wurde gebeten, zu diesem Thema ein kurzes Einleitungsreferat zu halten, welches im wesentlichen die Hauptaussagen unserer Broschüre "Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse" zusammenfasste.
Zuvor hielten die Genossen der FAU-Frankfurt zwei einleitende Vorträge, deren Hauptaussagen wir hier kurz wiedergeben wollen, weil dort Fragen berührt werden, welche für die aktuelle Debatte zwischen dem Linkskommunismus und den Teilen unter den Anarchisten, welche proletarische Klassenpositionen vertreten, sehr wesentlich sind,.
Eine Verteidigungsrede zugunsten proletarischer Klassenpositionen
Das erste Referat fasste die politischen Positionen zusammen, welche der erste Referent der FAU persönlich vertritt, wobei er erklärte, dass diese Positionen teilweise von anderen Genossen der Ortsgruppe geteilt werden.
Die reformistischen Gewerkschaften – so das Referat - entsprachen einer bestimmten Phase in der Geschichte der Arbeiterbewegung, während der die Arbeiterklasse bedeutende Reformen mittels ökonomischer Kämpfe, aber auch im Parlament erringen konnte.
Obwohl die Gewerkschaften bereits damals keine revolutionären Organe waren, und sich den Sozialismus, wenn überhaupt, als ein staatliches Projekt vorstellten, erwiesen sie sich in dieser Phase des Kampfes der Arbeiterklasse immerhin als nützlich. Dies änderte sich grundlegend mit dem 1. Weltkrieg, der zur Integration der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie in den bürgerlichen Staatsapparat führte. Deshalb habe auch die 1919 in Deutschland gegründete, anarcho-syndika-listisch gefärbte FAUD fortan nicht allein das Kapital und den Staat, sondern ebenfalls die traditionellen Parteien und Gewerkschaften als Klassenfeinde betrachtet und stellte ihnen die Vollversammlungen und Arbeiterräte des Proletariats entgegen.
Dies bedeutet: Aus der Sicht des Referates ist nicht die Gewerkschaftsform als solche reaktionär geworden, sondern lediglich die staatlich organisierten Gewerkschaften, welche aufgrund ihrer hierarchischen Struktur und der neuen Wirtschaftslage am Anfang des 20. Jahrhunderts vom bürgerlichen Staat aufgesogen werden. Wirklich unabhängige, anti-staatliche, von den Arbeitern selbst kontrollierte Gewerkschaften hingegen können weiterhin Organe des Arbeiterkampfes sein. Der Genosse fügte allerdings hinzu: für manche von uns stellt die Gewerkschaftsform per se, die permanente Organisation des ökonomischen Abwehrkampfes, ein Problem dar.
Des weiteren hob das Referat die Abschaffung des Staatskapitalismus und der Lohnarbeit als Fernziele hervor sowie die Ablehnung jeglicher Parteidiktatur und die Bekämpfung des Parlamentarismus und der bürgerlichen Demokratie, so wie die Ablehnung aller Formen des Nationalismus (so auch der "nationalen Befreiungskämpfe") und des imperialistischen Krieges (so auch des 2. Weltkrieg). Zwischen Faschismus, Stalinismus und bürgerlicher Demokratie bestehen keine Wesensunterschiede. Zwar kämpft man auch gegen den Faschismus als Fraktion des Kapitals, aber auf dem Boden des proletarischen Klassenkampfes, nicht im Bündnis mit „bürgerlichen Demokraten“ oder zur Verteidigung der bürgerlichen Demokratie.
Die Frage der permanenten Organisation des Klassenkampfes
Das zweite Referat befasste sich vornehmlich mit der Struktur und dem Organisationsverständnis der FAU, und vertrat hier eher die klassischen Konzepte des Anarchismus und Anarchosyndikalismus: die Zentralität des ökonomischen Kampfes, die Verwerfung des Zentralismus als Ausdruck der Machtkonzentration, den internationalen Zusammenschluss weitgehend autonomer Betriebs- und Ortsgruppen, die Befürwortung von Streiks, Betriebsbesetzungen, Boykotte usw. bis hin zum Generalstreik (aber "ohne Barrikadenromantik").
Auch dieses Referat verteidigte die Notwendigkeit von permanenten, kämpferischen Gewerkschaften als Gegengewicht zur Vereinzelung, als Vehikel der Beteiligung an den Tageskämpfen und als Schule der Selbstorganisation. Die internationale, anarchosyndikalistische IAA, deren Mitglied die FAU ist, stelle eine solche branchenübergreifende, permanente, gewerkschaftliche Kampforganisation der Arbeiterklasse dar. Somit sei die FAU keine "Ideengemeinschaft", sondern ein potentielles Einheitsorgan des gesamten Proletariats, welches für andere Denkrichtungen – auch die marxistische – offen bleibe, vorausgesetzt man respektiere die Satzungen der IAA.
Zwar erkannte das zweite Referent durchaus die Gefahr, dass eine permanente Gewerkschaftsorganisation ins "reformistische Fahrwasser" gerate. Es sei aber möglich, diese Gefahr zu bekämpfen, indem man jegliche Stellvertreterpolitik, und sei es auch aus den eigenen Reihen, konsequent bekämpfe.
Ein hohes Niveau der politischen Debatte
Bereits diese Einleitungen lassen erkennen, welches hohe Niveau der politischen Auseinandersetzung mit der Geschichte und den programmatischen Positionen des Proletariats innerhalb der Frankfurter Ortsgruppe der FAU anzutreffen ist. Aber auch die anschließende Diskussion entsprach durchaus diesen Vorgaben. Anstatt die üblichen Vorwürfe zu hören, welche immer wieder erhoben werden, sobald Anarchosyndikalisten und Marxisten zusammentreffen (beispielsweise dass der Marxismus zwangsweise zum Stalinismus führen müsse), erlebten wir hier eine sehr ernste Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Herangehensweisen unserer jeweiligen politischen Traditionen.
Diese fruchtbare Debatte hängt unsere Überzeugung nach auch damit zusammen, dass diese Genossen sich z.T. seit geraumer Zeit mit den Positionen und Traditionen des Linkskommunismus auseinandersetzen. So luden die Genossen den letzten grossen, noch lebenden Vertreter des "deutsch-holländischen" Linkskommunismus, Cajo Brendel nach Frankfurt ein, um dort eine Veranstaltung abzuhalten.
Diese Offenheit innerhalb Teile des anarchistischen Lagers gegenüber dem Linkskommunismus ist unserer Meinung nach kein Zufall. In Anbetracht der bürgerlichen Gleichsetzung des Kommunismus und des Marxismus mit dem Stalinismus, welche vor allem durch die Ereignisse seit 1989 noch immer einen großen Widerhall in der Klasse findet, schließen sich heute viele nach politischer Klarheit Ringende dem Anarchismus an, um sich deutlicher vom Stalinismus abgrenzen zu können. Dieses rein negative Abgrenzungsbedürfnis führt solche Genossen also dazu, sich außerhalb der Tradition des Marxismus zu stellen. Andererseits fühlen sie sich nicht unbedingt positiv zu den klassischen, oft stark kleinbürgerlich geprägten Thesen des Anarchismus hingezogen, dessen Ideale von absoluter Autonomie der lokalen Gruppen und absoluten Freiheit des Einzelnen eher wie eine Karikatur der heutigen Gesellschaft erscheinen. Vor allem spüren solche Genossen, dass der Anarchismus keine wirkliche Orientierung für den proletarischen Klassenkampf von heute bieten kann, dass die anarchistischen Alternativen wie genossenschaftliche Wirtschaftsweise oder gewerkschaftlicher Zusammenschluss längst überholt sind.
Solche Genossen sind positiv überrascht zu entdecken, dass es innerhalb der Geschichte der marxistischen Strömung eine Tradition gibt, welche von Anfang an und mit nicht zu überbietender Entschlossenheit gegen die Degeneration der Russischen Revolution und gegen den Stalinismus gekämpft hat und dabei programmatische Thesen formulierte, welche dem heutigen Klassenkampf eine wirkliche Orientierung zu geben imstande sind: der Linkskommunismus.
Eine widersprüchliche Annäherung an die programmatischen Ergebnisse des Linkskommunismus
Da diese Genossen aber - unter dem Eindruck der Propaganda der Bourgeoisie - den Marxismus sprichwörtlich fürchten wie der Teufel das Weihwasser, versuchen sie, die programmatischen Positionen des Linkskommunismus in das anarchistische Weltbild zu integrieren. Wir stoßen heutzutage immer häufiger auf solche Versuche, eine anarchistische Weltauffassung und marxistische Klassenpositionen miteinander zu vermählen: nicht nur bei der FAU in Frankfurt, sondern ebenso bei den Genossen der KRAS-IAA in Moskau oder den "Gravediggers" ("Totengräber") des Kapitalismus in Budapest.
Wir begrüßen ausdrücklich die Bemühungen dieser Genossen, sich proletarische Klassenpositionen anzueignen und kämpferisch zu verteidigen. Dass sie sich dabei an die Traditionen des Linkskommunismus anlehnen, bewerten wir nicht als negativ sondern durchaus als positiv. Es handelt sich hierbei um Genossen, welche gegenüber der Frage des imperialistischen Krieges eine proletarisch-internationalistische Position eingenommen haben. Wir rufen diese Genossen vielmehr dazu auf, nicht umzukehren oder auf halbem Wege stehenzubleiben, sondern den begonnenen Prozess der programmatischen Klärung konsequent zu vollenden.
Wir sind unsererseits fest davon überzeugt, dass der Versuch, anarchistische Weltauffassung und programmatische Ergebnisse des Marxismus miteinander zu vermählen, zu einer Reihe unlösbarer Widersprüche führen wird. Einige dieser Widersprüche kamen auch bei der Diskussion auf der Veranstaltung in Frankfurt zur Sprache. Es ging hierbei vor allem darum, dass die Genossen der FAU sich eindrucksvoll für die Selbstorganisierung des Arbeiterkampfes durch Vollversammlung und gewählte, jederzeit abwählbare Streikkomitees ausgesprochen haben - also eine außergewerkschaftliche, ja antigewerkschaftliche Kampfführung -, während andererseits die FAU sich selbst als eine Gewerkschaft, als bereitstehende Kampforganisation der Arbeiter betrachtet. Wozu brauchen die Arbeiter aber noch Gewerkschaften, wenn sie sich selbst, und zwar im Kampf, organisieren müssen? Darauf antworteten die Genossen: unsere Organisation – die FAU- wird genau dazu benötigt, um diese Selbstorganisierung zu propagieren. Das ist natürlich richtig. Aber es handelt sich in dem Fall doch eher um eine politische Gruppe, um eine politische Überzeugungsgemeinschaft Gleichgesinnter, welche jeglicher "Stellvertreterpolitik" im Klassenkampf den Krieg erklärt, und nicht um eine Gewerkschaft, welche vom Prinzip her allen Arbeitern, unabhängig von ihrer politischen Gesinnung offensteht. Wir sind jedenfalls der Meinung, dass das Festhalten an der Gewerkschaftsform unweigerlich zur "Stellvertreterpolitik" führen muss. Weil eine Gewerkschaft eine permanente Struktur darstellt, welche auch außerhalb des Kampfes weiterbesteht, während die Arbeiterklasse sich nur noch im Kampf mobilisieren und selbst organisieren kann, stellt eine Gewerkschaft eine Organisationsform dar, welche für die Arbeiterklasse nicht mehr beherrschbar ist. Weil Gewerkschaften eine bürgerliche Organisationsform geworden sind, und weil der Anarchismus theoretisch-programmatisch nicht imstande ist, dem Druck der bürgerlichen Ideologie standzuhalten, konnte es dazu kommen, dass die CNT während des Spanischen Bürgerkriegs der bürgerlichen Regierung beitrat, wo sie neben den Stalinisten im Kabinett saß und damit in den bürgerlichen Staatsapparat integriert wurde. Wenn die Linkskommunisten hingegen schon damals in der Lage waren, den Verlockungen des bürgerlichen Antifaschismus in Spanien und im darauffolgenden 2.imperialistischen Weltkrieg zu widerstehen, dann, weil sie kleine, dafür programmatisch befestigte, auf theoretischer Klarheit basierende Gruppen bildeten, welche keinen Anspruch mehr erhoben, eine Massenorganisation zu sein oder den Klassenkampf zu organisieren.
Wir wissen, dass wir die Genossen der FAU-Frankfurt mit unseren Argumenten keinesfalls überzeugt haben. Viel wichtiger erscheint uns aber die Tatsache, dass wir uns darüber einig waren, eine proletarische Diskussionskultur miteinander zu pflegen. Dies bedeutet, dass wir die Debatte miteinander fortsetzen wollen, einander zuhören, anregen und ehrlich kritisieren wollen, als Bestandteil einer öffentlichen Debatte einer Klasse, welche nichts zu verlieren und damit auch nichts zu verbergen hat oder vor etwas ausweichen müsste. Die Frankfurter Genossen nahmen sich vor, weitere Veranstaltungen dieser Art abzuhalten, und dafür auch Anhänger der IWW-Tradition oder Leute aus dem Umfeld von Wildcat dafür zu gewinnen.
Wir begrüßen diese Einstellung. Weil sie die öffentliche politische Debatte in einer Zeit des gesellschaftlichen und politischen Autismus fördert, dient dies der Sache des proletarischen Klassenkampfes. Wir unsererseits werden diese Bemühungen weiterhin unterstützen. IKS