Der Parteivorsitzende der SPD ist gegangen worden. Nicht er, sondern Außenminister Steinmeier wird als Kanzlerkandidat der Partei gegen die Kanzlerin Merkel bei der Bundestagswahl 2009 antreten. Und der neue Chef der Sozialdemokratie ist einer der Alten, Müntefering. Nachdem die SPD seit Monaten in den Umfragen gegen 20% (ein historisches Tief) tendiert, war es ohnehin klar, dass der chancenlose Kurt Beck nicht die Partei in den Wahlkampf führen wird. Auch rechnete man damit, dass Franz Müntefering nach dem Tod seiner Frau so oder so an die Spitze der Partei zurückkehren würde. Überraschend an diesen Vorgängen war lediglich der Zeitpunkt, nachdem man vereinbart hatte, die „K-Frage“ (sprich: die Frage der Kanzlerkandidatur) erst in einigen Monaten zu regeln. Warum also plötzlich diese Eile? Wir werden uns darauf beschränken, einige Aspekte herauszugreifen, die aus unserer Sicht eine Rolle dabei gespielt haben könnten.
Die Krise im Kaukasus
Mit den jetzigen Änderungen haben die Anhänger des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder die Macht innerhalb der SPD wieder übernommen. Während der sieben Jahre Kanzlerschaft Schröders galt Müntefering als seine rechte Hand in der Partei, Steinmeier als sein engster Mitarbeiter in der Außenpolitik. Somit gelten Müntefering, v.a. aber Steinmeier als Partisanen einer Fortsetzung der Schröderpolitik einer „strategischen Partnerschaft“ mit Russland. Wie tief diese Politik in diesen Kreisen verankert ist, zeigt der weitere Werdegang des Altkanzlers selbst. Inzwischen arbeitet Schröder unverhohlen für die russische Energiewirtschaft. In dieser Eigenschaft betreibt er ein Lieblingsprojekt seiner Regierungszeit: den Bau einer Pipeline zwischen Russland und Deutschland, welche Polen und die baltischen Staaten umgeht (und daher durch diese Länder nicht unterbrochen werden kann). Somit liegt die Vermutung nahe, dass die überstürzte Vorverlegung der Nominierung Steinmeiers als Kanzlerkandidat etwas mit dem Krieg in Georgien zu tun hat. Im Ausland kann es als Signal gelten, wie sehr es der deutschen Bourgeoisie am Herzen liegt, trotz der Krise im Kaukasus an der „strategischen Partnerschaft“ mit Moskau festzuhalten. Seit der Auflösung des Ostblocks 1989 ist sein westlicher Gegenpart, einschließlich seines Herzstücks – die Allianz zwischen den USA und der Bundesrepublik –, hinfällig geworden. Seitdem versucht Washington als einzig verbliebene Weltmacht seine ehemaligen Bündnispartner v.a. in Westeuropa an sich zu ketten, indem es die Regionen der Welt unter seine direkte militärische Kontrolle bringt, von der die widerspenstigen „Freunde“ strategisch und wirtschaftlich am meisten abhängig sind: die Lieferanten von Energie und anderen entscheidenden Rohstoffen. Für Deutschland ist eine enge Zusammenarbeit mit Russland der nahe liegendste Weg, um diese totale Abhängigkeit von den USA zu umgehen. Nun hat Russlands Krieg in Georgien für Berlin die unangenehme Nebenwirkung, dass eine Reihe von neuen Mitgliedern in der Europäischen Union in Osteuropa – von Amerika und Großbritannien ermuntert – einschneidende Einschränkungen der europäischen Zusammenarbeit mit Russland fordern. Von Frankreich, Italien und Spanien unterstützt, hat Deutschland auf dem EU-Sondergipfel Anfang September in Brüssel unmissverständlich klargemacht, dass es keine Sanktionen gegen Russland geben wird, und dass die Aufnahme von Georgien und die Ukraine in die EU (und in die NATO) de facto hinausgezögert wird. Zu diesem Bild passt der überstürzte Führungswechsel in der SPD. Denn Kurt Beck ist nicht nur kein Anhänger der Schrödergruppe in der Partei. Er ist auch noch Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, das wie kein anderes Bundesland jahrzehntelang wirtschaftlich von der Anwesenheit der US Armee abhängig war und deshalb traditionell besonders enge transatlantische Beziehungen pflegte. Damit soll nicht unterstellt werden, dass Beck ein „Transatlantiker“ wäre oder Einwände gegen die strategische Partnerschaft mit Russland hätte. Aber die bürgerliche Politik liebt die Sprache des Symbols, und die Rückkehr der Schröderleute spricht eben für sich.Die symbolische Bedeutung des Führungswechsels in der traditionsreichsten Partei der deutschen Bourgeoisie wird im Ausland gut verstanden. Aber er ist noch mehr ein Signal gegenüber der „politischen Klasse“ in Deutschland selbst. Er lässt erkennen, dass mächtige Teile der deutschen Bourgeoisie auf gute Beziehungen zu Russland so viel Wert legen, dass sie es in Betracht ziehen, die Schröderleute wieder ins Kanzleramt zu holen. Das ist eine Warnung auch an die amtierende Bundeskanzlerin. Zwar ist Frau Merkel keineswegs eine Gegnerin einer engen Zusammenarbeit mit Russland. Aber sie ist weniger entschieden dafür. Denn die „Partnerschaft“ mit Russland ist im wesentlichen energiepolitischer und wirtschaftlicher Natur. Sie ist kein Militärbündnis, kann es in absehbarer Zeit auch nicht werden. Als solche lindert sie das Problem der strategischen Abhängigkeit von der Supermacht USA, löst sie aber nicht. Somit muss die deutsche Außenpolitik den Spagat vollziehen, zu Washington auf Distanz zu gehen, ohne es offen herauszufordern. Merkel steht durchaus in dem Ruf, zu denjenigen zu gehören, die im Zweifelsfall gegenüber dem Druck aus Washington lieber einknicken. Es gibt Leute innerhalb der deutschen Bourgeoisie, denen eine solche Haltung in der heutigen Zeit zu zaghaft erscheint. Das muss nicht heißen, dass sie auf Biegen und Brechen einen Steinmeier als Kanzler sehen wollen. Aber sie haben das Bedürfnis, ihre Wünsche unmissverständlich kundzutun.
Das Scheitern des Experiments Beck
Aber die Außenpolitik umfasst nur eine Dimension des Führungswechsels, und nicht mal die Wichtigste. Als Beck die Führung der SPD übernahm, wurde er als jovialer, gerechter, auf „sozialen Ausgleich“ pochender Landesvater in Rheinland-Pfalz verkauft, der seine väterliche Fürsorge der Bundesrepublik insgesamt angedeihen lassen wollte. Mit anderen Worten: nicht nur keiner aus dem Schröder-Stall, sondern auch kein Mann der Agenda 2010, des Frontalangriffs Schröders gegen die Lohnabhängigen. „König Kurt“ sollte die Rolle der SPD bei der Massenverarmung der arbeitenden Bevölkerung vergessen machen und die Partei aus dem Umfragetief herausholen. „Mindestlöhne“, Abmilderungen der „Agenda“ gegenüber „Härtefällen“, ein wenig Offenheit gegenüber Lafontaines Linkspartei als einziger „Agenda-Kritiker“ im Bundestag – das waren seine Themen. Dieses Experiment im kollektiven Vergessenmachen ist gründlich danebengegangen. Die Umfragewerte fielen weiter. Der Trick mit Beck erwies sich als durchsichtig, wurde vom Wahlvolk als unverschämt empfunden. Tatsächlich bleibt die führende Rolle der Sozialdemokratie bei der Verelendung der Arbeiterklasse unvergesslich. Die Führungsquerelen in der SPD sind nicht nur ein Ausdruck außenpolitischer Positionierung und Richtungskämpfe. Sie sind noch mehr ein Produkt einer gewissen Erschütterung der Partei, welche direkt mit deren Rolle bei der „Agenda“ zusammenhängt. Damals, 1998, als Rot-Grün an die Regierung kam, hatte das deutsche Kapital einen deutlichen Verlust der eigenen Konkurrenzkraft auf dem Weltmarkt festgestellt – das Ergebnis der erdrückenden Kosten der „deutschen Wiedervereinigung“. Nach 16 Jahren an der Macht besaß der „Kanzler der Einheit“ Helmut Kohl mit seiner christlich-liberalen Koalition nicht mehr die politische Kraft und Schwung, um den notwendig gewordenen Frontalangriff gegen die proletarischen Lebensbedingungen durchzuführen. Das Chloroform eines Machtwechsels musste her. Es fiel den linken Kräften der Bourgeoisie die Aufgabe zu, die unpopulären Maßnahmen zu treffen, ohne welche das nationale Kapital auf dem Weltmarkt sich nicht hätte behaupten können. Die Rot-Grüne Koalition hat diese Aufgabe glänzend gelöst, und auch noch ohne größere soziale Auseinandersetzungen auszulösen. Aber dieser Erfolg hatte seinen Preis. Wichtige bürgerliche Mythen, welche die arbeitende Bevölkerung ideologisch an das herrschende Regime binden sollen, haben gelitten. Allen voran das Ansehen der SPD als Vertreter der „kleinen Leute“. Das ist ein Problem nicht nur für die Sozialdemokratie, sondern für das Kapital insgesamt. Denn die SPD ist zugleich die erfahrenste Partei der deutschen Bourgeoisie und derjenige Flügel des politischen Apparates, welcher zusammen mit den Gewerkschaften traditionell für das Unschädlichmachen des Klassenkampfes zuständig ist. Der schwindende Einfluss der Sozialdemokratie droht, zu einer Schwächung des Einflusses der Ausbeuter über die Ausgebeuteten zu werden. Dass diese Entwicklung sich nicht auf Deutschland beschränkt, sondern mit der Entwicklung der Weltwirtschaftskrise und des internationalen Klassenkampfes zusammenhängt, zeigt z.B. der sinkende Stern der Labourpartei in Großbritannien. In den beiden Ländern Europas, wo die Bourgeoisie politisch am erfahrensten und am besten organisiert ist, beobachten wir ganz ähnliche Probleme der Sozialdemokratie. Das Spagat zwischen der Durchsetzung der immer heftiger werdenden Angriffe gegen die Arbeiterklasse und der Aufrechterhaltung einer politischen Kontrolle über diese Klasse gelingt immer weniger. Die Tatsache, dass die SPD binnen 5 Jahren zum fünften Mal ihren Parteichef austauscht, lässt erkennen, wie instabil die Politik der Partei im Vergleich zu früher geworden ist. Die SPD schwankt von „links“ nach „rechts“ und wieder zurück, weil sie bisher keine Antwort auf das Problem ihres schwindenden Einflusses innerhalb der Arbeiterklasse findet. Der Verlust an Illusionen innerhalb des Proletariats, und nicht die „Illoyalität“ und „Konkurrenz von Links“ ihres ehemaligen Parteichefs Oskar Lafontaines, machen der SPD zu schaffen. Die Linkspartei Lafontaines macht sich dieses Grundproblem lediglich zunutze, um sich als Alternative zur SPD an der „sozialen Front“ anzubieten, wohl wissend, dass die herrschende Klasse es sich nicht leisten kann, sich an dieser Front eine Blöße zu geben.
Die Waffe der Demokratie
Die Tatsache, dass nicht nur die SPD, sondern die etablierten Parteien insgesamt weiterhin an Glaubwürdigkeit gegenüber der Bevölkerung einbüßen, heißt aber noch lange nicht, dass die Waffe der Demokratie gegen den Klassenkampf stumpf geworden wäre. Hier sehen wir einen dritten und sehr wichtigen Grund für das überstürzte Vorgehen der SPD. Man drängt darauf, den Bundestagswahlkampf einzuleiten. Das Vorziehen der Beantwortung der „K-Frage“ gibt der SPD mehr Zeit, um sich auf diesen Wahlkampf vorzubereiten. Denn die Herrschenden haben mindestens zwei gute Gründe, um zu wünschen, dass die Sozialdemokratie halbwegs gut bei diesen Wahlen abschneidet. Zum einen weil das deutsche Kapital insgesamt ein Interesse daran hat, die SPD zu stabilisieren. Die Linkspartei kann die SPD bei der Kontrolle der Arbeiterklasse nur zum Teil ersetzen, denn es sind nach wie vor die Sozialdemokraten, welche die größten (die im DGB organisierten) Gewerkschaften beherrschen. Und als Instrument der Politikgestaltung und als Regierungsalternative zur CDU/CSU ist die SPD derzeit nicht ersetzbar. Nur so kann man verstehen, dass es der „politische Gegner“ war – in Person der Kanzlerin selbst – welche als erste öffentlich die Rückkehr Münteferings an die Spitze der SPD gefordert hatte. Nicht die Außen- sondern die Innenpolitik hatte sie dabei im Blick: Die Stabilisierung des politischen Apparates der deutschen Bourgeoisie. Außerdem ist es für die herrschende Klasse wichtig, ihren Wahlkampf möglichst spannend zu gestalten. Dafür ist es notwendig zu versuchen, die SPD zumindest merklich über die 30% Marke zu heben, damit Steinmeier als eine realistische, aussichtsreiche Alternative zur Merkel erscheinen kann. In dieser Hinsicht hat die amerikanische Bourgeoisie vorgemacht, wie man das demokratische Wahlspektakel einsetzen kann, um trotz Immobilienkrise, Bankenpleiten, steigender Arbeitslosigkeit und sogar Obdachlosigkeit (bisher) relativ erfolgreich vom Boden des Klassenkampfes abzulenken. 22.09.08