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Buchrezension: Bärbel Reetz‘ Lenins Schwestern
Die (Ohn)Macht der Idee?
"Menschen sind stark, solange sie eine starke Idee vertreten;
sie werden ohnmächtig, wenn sie sich ihr widersetzen.”
Dieses Zitat Sigmund Freuds steht dem Roman Lenins Schwestern von Bärbel Reetz[1] voran. Was ist von diesem Ausspruch zu halten? Der nachfolgende Artikel beschäftigt sich mit eben jener These, dass Menschen eine starke Idee brauchen – im Roman, aber auch für uns Menschen heute.
Lenin hatte drei leibliche Schwestern: Olga, Anna und Maria. Auch sie kämpften für große Ideen und doch kennt sie heute kaum noch einer. Und Lenin konnte sich glücklich schätzen, denn im Geiste hatte er noch ungleich mehr Schwestern, die, wie er, ihr Leben einer großen Idee (und damit der ganzen Gesellschaft) widmeten: der Wissenschaft, der Kunst und/ oder der Politik. Auf Grundlage sorgfältig studierter Quellen in Form von Büchern, Artikeln, Briefwechseln und Tagebüchern ebnet Reetz neben bekannteren historischen Frauen wie Rosa Luxemburg, Alexandra Kollontai oder Sabine Spielrein auch heute (zu Unrecht) weniger bekannten Frauen und ihrem Wirken die Rückkehr in das gegenwärtige kollektive Erinnern. Fast beiläufig erzählt sie anhand dieser Frauenbiographien aber auch die Geschichte Russlands wie Europas von 1873 bis 1944, die markiert waren von drei großen Phasen: 1. die Hoffnung auf revolutionären Wandel, 2. Der Wandel – Russische Revolutionen 1905 und 1917, 3. Beginn der Konterrevolution und des 2. Weltkriegs.
"Hier werden Ideen bewegt, Zukünftiges gedacht und ins Werk gesetzt."
Geschafft. Gemeinsam ist den Schwestern Sofia und Anjuta Kowalewskaja die Flucht gelungen: vor den strengen Eltern, den alten Denkstrukturen und Lebensweisen in Russland. Wir schreiben das Jahr 1873. Sie haben einen hohen Preis dafür gezahlt. Sofia musste eine Scheinehe eingehen, damit ihr der Weg in die Wissenschaften und ihrer Schwester der Weg in die Politik eröffnet wurde. Nun aber sind sie in der Schweiz. Das Heimweh ist groß, doch hier dürfen sie als Frauen studieren. Wenigstens hier. "Hier (...) werden neue Ideen bewegt, Zukünftiges gedacht und ins Werk gesetzt." (S. 12) In der Tat herrscht Aufbruchstimmung. Ständig trifft man sich und diskutiert über die großen Fragen wie bei dem politischen Frauenzirkel der Fritschen. Begeistert erzählt Anjuta ihrer Schwester: "Dort, beim Fritschi, kommen regelmäßig ein Dutzend Studentinnen zusammen, um sozialistische Literatur, politische Ökonomie und die Geschichte der Arbeiterbewegung zu studieren." (S. 18) Es herrscht ein weitverbreiteter Wille, sich mit sich selbst und der Welt auseinanderzusetzen und beides zu verändern. Statt aber allein zu Hause über die Welt zu sinnieren, trifft man sich regelmäßig in Cafés und Salons und diskutiert gemeinsam über neueste Entwicklungen in Forschung und Medizin, wie der Psychologie, aber auch über die Divergenzen zwischen Marxismus und Anarchismus oder über neueste Entwicklungen in der Kunst. Und stets wird ein Bezug zu allen Bereichen hergestellt, denn eins haben sie gemeinsam: Die Auseinandersetzung mit Politik, Wissenschaft und Kunst ändert Sein und Bewusstsein. Diese Kultur des vertieften und solidarischen Debattierens entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten und von Generation zu Generation. Mira Gincburg erinnert sich Jahre später an die Zeit um die Jahrhundertwende in Zürich: "Im Cabaret Voltaire waren wir jedoch so oft es ging, in der Galerie Dada, im Terrase und Odeon. Emil und ich sahen den spitzbärtigen Uljanow-Lenin grämlich durchs Niederdorf streichen, hörten von Trotzkis Ausweisung wegen seiner fortgesetzten Agitation, redeten uns mit den Künstlern über deren Manifeste nächtelang die Köpfe heiß. Aktionen, Ausstellungen, Soireen. Nie zuvor Gehörtes, nie zuvor Gesehenes." (S. 221) Der Roman macht deutlich, dass historisch bekannte Revolutionäre wie Rosa Luxemburg, Trotzki oder Lenin keinesfalls Einzelerscheinungen waren, sondern Teil dieser politischen Zirkel und Debatten, und somit Teil eines kollektiven Prozesses. Selbst vor der Familie machte diese Entwicklung nicht Halt. Sweta erzählt von ihrer Olga Uljanowa, deren Brüder und Schwestern in revolutionären Zirkeln aktiv sind. Sie alle haben, trotz aller Widerstände, einen großen Lebenswillen, weil sie sich für etwas Großes einsetzen. Was wird nun aus den großen Ideen innerhalb der sich zuspitzenden gesellschaftlich-wirtschaftlichen Lage des Kapitalismus?
"Nach dem ersten Schreck, den ersten Tagen der Revolution, schien es mir wirklich, dass etwas Neues beginnt, dass sich etwas Großartiges ereignet hat."
Der mittlere Teil des Romans behandelt die Russischen Revolutionen von 1905 und 1917. Mira Gincburg ist eine junge Frau voller Hoffnungen. Sie verfolgt mit gespannter Aufmerksamkeit die Massenstreiks der Arbeiter, die Meuterei der Matrosen und den ersten Sowjet in Petersburg. Sie hofft auf die junge Generation, hofft, dass sich jetzt mit der Revolution die Gesellschaft wirklich zum Besseren ändern wird. Zugleich beschäftigt sie sich mit neuen Forschungsansätzen in der Medizin. Sie selbst möchte sich auf die Nervenkrankheiten spezialisieren, und diskutiert oft mit anderen über Freuds Psychoanalyse. In einem Gespräch mit der Ärztin Dr. Erismann erfährt Mira, dass auch Tatjana Rosenthal in der Schweiz Medizin studierte, als in Russland die Revolution ausbrach. Da war sie nicht mehr zu halten, fuhr nach Moskau, "...wurde politische Sprecherin der Studentinnenvereinigung der Moskauer Frauenuniversität und hat sich aktiv an der Februar-Revolution in Piter beteiligt, gemeinsam mit Anna Jelisarowa und Maria Uljanowa, Lenins Schwestern." (S.129) Nach der Niederlage der Revolution war sie "zermürbt, enttäuscht, zutiefst deprimiert". Sie hoffen, dass Tatjana Rosenthal dennoch ihr Studium der Medizin und der Psychoanalyse wieder aufnimmt. Aber Frau Erismann ist zuversichtlich: "Vermutlich, sagt sie zögernd, spüren wir, dass nicht nur in der Idee des Sozialismus das revolutionäre Potential unseres Jahrhunderts steckt, sondern auch in der neuen Seelenlehre Freuds." (S.130) Und in der Tat, Rosenthal lebt für diese beiden starken Ideen und arbeitet für ihre Umsetzung. Mit der erfolgreichen Revolution in 1917 als Auftakt zur Weltrevolution ist sie wieder sofort zur Stelle, kämpft für die Revolution, aber sie behandelt in Petersburg auch verstörte und kranke Kinder nach Freuds Methode.
Dennoch, viele Fragen sind noch offen. Und solch eine starke Idee wie der Kommunismus lässt sich nicht weltweit von jetzt auf gleich umsetzen. Das Proletariat, die Revolutionäre, sie kämpfen mit ganzer Kraft für eine bessere, menschlichere, also klassenlose Gesellschaft. Aber nach dem Scheitern der Revolution in Deutschland und Ungarn, bleibt die Revolution in Russland isoliert. Mann/Frau kämpft weiter, aber allein der Wille, sich für eine starke Idee einzusetzen, reicht nicht, um die Weltrevolution noch durchzusetzen. Wie wird es nun weitergehen?
"Es ist, als ob man gegen den Ozean ankämpft."
Der letzte Teil des Romans markiert bereits die Phase der Konterrevolution. Was ist geworden aus den großen Zielen und Ideen? Man hört nur noch vereinzelt Stimmen für die Weltrevolution, etwa von starken Frauen wie Raissa Adler. (Vgl. S. 224) Besonders frappierend im Vergleich zu den Jahren zuvor ist eines: die allgemeine Sprachlosigkeit. In den faschistischen und stalinistischen Ländern herrscht Schweigen aus Angst vor der offenen Gewalt und Repression und unzählige Regimekritiker sind schon (mund)tot.
Selbst Alexandra Kollontai weiß, dass sie trotz, oder vielmehr wegen ihrer einstigen Verdienste um die Revolution bespitzelt wird und gefährdet ist. Es ist das Jahr 1944, die Moskauer Schauprozesse, die Ermordung Trotzkis haben längst stattgefunden. Einst hatte sie sich der Arbeiterbwegung angeschlossen, als sie all das Elend und die unmenschlichen Bedingungen der Arbeiterschaft erlebt hatte. Sie las Marx. Nun ist sie alt, sowjetische Diplomatin in Stockholm. Es ist der 20. September. Endlich haben die Finnen das Friedensabkommen unterzeichnet. Dafür hatte sie ihre ganze Energie eingesetzt, trotz Schlaganfall weitergearbeitet. Eigentlich ein Erfolg. Aber Freude mag sich nicht so recht bei ihr einstellen. Wieso lässt sie sich bloß zum Karolinischen Friedhof fahren, an ihrem Tag des Erfolgs, fragt sich ihr Fahrer. Sie setzt sich vor das Grab der Mathematikern Sofia Kowalewskaja, denkt nach. Werden künftige Generationen verstehen, was passiert ist, was sie erreichen wollten. Werden sie es verstehen, obwohl sie selbst so lange ertragen hat, "...anders zu sprechen als zu denken." (S. 258) Kollontai kritisiert, dass der Stalinismus offene Debatten, innovative Kultur und Kunst, Moral oder auch wissenschaftliche Methoden wie die Psychoanalyse verunmöglicht hat. Wo die nackte Angst herrscht, können Menschen nicht debattieren, nachdenken, lernen, kreativ sein, sprich, die Welt aktiv gestalten. "Und während sie durch den trüben Nachmittag zurückfahren, fragt sie sich, was sie erreicht, ob sich der Kampf gelohnt hat, was ich getan oder gedacht habe, müssen andere entscheiden." (S.259)
Aber selbst jene, die über den großen Teich in die Vereinigten Staaten fliehen konnten, leiden. Sie leben jetzt zwar in einem demokratischen Staat, aber gerade in dieser Atmosphäre der kollektiven Angst, in Zeiten der nackten Konterrevolution und des Krieges, wollen und können viele nicht sprechen, offen debattieren. Dies muss auch Dr. Mira Gincburg erfahren, die sich als Jüdin gezwungen sah, mit ihrer Familie in die Staaten zu emigrieren. Im Oktober 1939 ist sie auf eine Feier eines Kollegen eingeladen. Ihr Schwager stimmt sie auf die „angemessene Gesprächsführung“ bei diesem geselligen Anlass ein: "Man redet nicht über Probleme (...) Sprich meinetwegen über das Wetter, aber nicht über Politik oder Krankheiten. Kein Schürfen in der Tiefe. Bleib an der Oberfläche und mach nicht so ein Gesicht." (S. 211) Sie soll schweigen darüber, dass die Nazis gerade in Polen wüten, dass die Juden aus ihren Wohnungen getrieben werden und zusammen mit den Kommunisten in die Konzentrationslager gesteckt werden. Auf der Feier betonen alle immer wieder, es gehe ihnen gut. Vielleicht zu sehr. Dann ein unerwartetes Wiedersehen. Mira trifft dort Raissa Adler, Kommunistin und Frau von Alfred Adler. Beide sind einsam, und so tauchen sie gemeinsam ein in die Vergangenheit, sprechen über Ziele und tatsächlich eingeschlagene Wege - des eigenen Lebens, aber auch der Revolution, in die beide große Hoffnungen gesetzt hatten. Raissa gesteht, dass sie weinen musste "...um die verlorene Heimat Wien, die zurückgelassenen Freunde und Genossen, die verfolgt werden, um das Scheitern unserer politischen Ziele." (S. 236) Dies klingt sehr resigniert. Allerdings wird in dem Roman nicht ganz deutlich, ob die Protagonistinnen ihre große Idee aufgeben und somit ohnmächtig werden. Zudem kann eine solch starke Idee, wie die klassenlose Gesellschaft, nicht von einer Generation allein gelöst werden.
Ideen und Ideale im Marxismus
Wie steht überhaupt der Marxismus dieser These gegenüber, derzufolge Menschen für ein sinnvolles und sinnerfülltes Leben eine starke Idee brauchen, und so auch zur Veränderung der Gesellschaft beitragen können? Welche Bedeutung haben Ideen und Ideale in der Geschichte der Menschheit allgemein und im Klassenkampf insbesondere? Zunächst einmal haben Marx und Engels stets betont, dass die kommunistische Bewegung ohne eine allgemeine Vorstellung von der Gesellschaft, die sie errichten will, blind wäre. Noch dezidierter geht Anton Pannekoek auf die Frage ein: „Der Marxismus leugnet die Macht der sittlichen, geistigen, idealen Kräfte nicht, sondern fragt: woher stammen sie? Nicht vom Himmel, sondern aus der wirklichen Welt selbst.“[2] Real sind für den Marxismus nämlich nicht nur die kapitalistischen Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse oder die Verelendung, sondern Worte der Empörung darüber, wie auch die Ideen über eine neue klassenlose Gesellschaft. Natürlich begründet der Marxismus den Kommunismus nicht mit Moral oder großen Idealen, wie Pannekoek betont, doch er sieht in menschlichen Emotionen wie der sittlichen Empörung über die Welt und die Sehnsucht nach einer besseren Welt eine nicht zu unterschätzende Waffe im revolutionären Kampf. Kein Wunder also, wenn Pannekoek feststellt: „In revolutionären Zeiten sieht man die treibende Kraft großer Ideen.“[3]
“Alles ist so friedlich, als gäbe es keine revolutionäre Zirkel”
Tatsächlich ist das letzte Kapital dieser Geschichte noch nicht geschrieben. Der Roman enthält eine direkte Aufforderung an die LeserInnen, sich als nachfolgende Generationen mit der gemeinsamen Geschichte kritisch auseinanderzusetzen, um dann selbst die Zukunft aktiv mitgestalten zu können. Eines können wir ganz gewiss von diesem Roman lernen: Alle hier dargestellten Frauen widmen ihr Leben einer großen Idee, einem Ziel, das weit über das eigene Leben hinausreicht. Dies ist vielleicht die wichtigste Botschaft des ganzen Romans, denn angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftskrise, der Klimakatastrophe und der unzähligen Kriege zweifeln immer mehr Menschen daran, dass der Kapitalismus die beste Gesellschaftsordnung sei, wie nach 1989 immer wieder behauptet wurde. Es ist heute eine wachsende Minderheit, bei der man wieder eines feststellen kann: Es gibt eine Suche nach neuen starken Ideen, nach einem besseren Weg, um die Gesellschaft zu gestalten. Dies gibt eine Perspektive und ist sinnstiftend. Solch eine Suche ist gepaart mit einem wachsenden Verlangen, sich auszutauschen, solidarisch zu diskutieren und gemeinsam die Welt zu verändern. Nach den langen Jahren der Konterrevolution bis Ende der 1960er Jahre und nach einer Zeit der Desorientierung ab 1989 rückt das Sprechen, das Diskutieren wieder vermehrt in den Mittelpunkt. Die Revolution entsteht nicht im luftleeren Raum, wie der Roman eindrucksvoll zeigt. In der heutigen Zeit krankt die Gesellschaft daran, dass man zwar allgemein gegen den Jetzt-Zustand ist, aber die Alternative, das, wofür man ist, zu fehlen scheint. Ob die klassenlose Gesellschaft weltweit umsetzbar ist, hängt nicht zuletzt davon ab, ob wir gemeinsam in der Lage sind, uns wieder für eine starke Idee zu begeistern: den Kommunismus.
In diesem Sinne ist Bärbel Reetz' Roman Lenins Schwestern ein Plädoyer für das Leben für große Ideen sowie ein literarischer Gedenkstein an jene oft (fast) vergessene Frauen, die für die Revolution lebten und starben: "Über Jahrzehnte waren es fast ausschließlich Russinnen, die studierten, sich politisch engagierten, für die Revolution lebten - und starben. Man sollte ihre Namen auf einen Gedenkstein setzen. Nicht nur den der Kowalewskaja, sondern auch den ihrer Schwester Anna Jaclard, der Kämpferin der Pariser Kommune. Nicht nur die Asche der Krupskaja hätte an der Kremelmauer beigesetzt werden dürfen, sondern die von Lenins mutigen Schwestern (...) und der zahllosen jüdischen Mädchen und Frauen, die sich (...) für eine Veränderung der Verhältnisse engagierten und, wie Rosa Luxemburg, mit ihrem Leben bezahlt haben."(S.252f.) 20.9.08, Anna
[1] Bärbel Reetz: Lenins Schwestern. 2008. Frankfurt am Main und Leipzig. Insel Verlag. Der Anhang “Von der Realität zur Fiktion – Personen und Quellen zum Roman” ist sehr hilfreich, um weitere Information über interessante und wichtige Personen zu erhalten.
[2] Anton Pannekoek: Marxismus und Idealismus. 1921. In: Neubestimmung des Marxismus. Diskussion über Arbeiterräte. Bd.1. 1974.
[3] Ebenda.