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Seit nunmehr fast einem Jahr berichten wir in dieser Zeitung ununterbrochen über den Stand der aktuellen Rezession, angefangen mit dem Zusammenbruch des Immobilien- und Hypothekenmarktes in den USA (die berüchtigte subprime crisis) über den Kollaps des internationalen Finanzmarktes bis zur Rezession der sog. Realwirtschaft. Seit derselben Zeit ist dies auch ein Thema der bürgerlichen Medien mitsamt ihrer Experten. Und dennoch kann auch heute niemand mit Sicherheit sagen, ob bzw. wann die Talsohle erreicht ist. Kommt die Wende im kommenden Sommer, oder wird sich die Rezession noch bis ins nächste Jahr hinziehen? Ist das Schlimmste vorüber, oder wartet es noch auf uns? Darüber hinaus steht immer drängender die bange Frage im Raum: Ist der Staat wirklich der Rettungsanker, den er heute angesichts einer weltweiten Rezession, wie sie der Nachkriegskapitalismus noch nicht erlebt hatte, zu sein vorgibt? Hat er die Lage überhaupt noch unter Kontrolle, greifen seine Krisenbewältigungsstrategien? Und überhaupt: gelten seine Maßnahmen wirklich dem Schutz der Bevölkerung oder nicht vielmehr der Aufrechterhaltung der bestehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung?
Die Rezession: kein Silberstreifen am Horizont
Die Hiobsbotschaften reißen nicht ab. Es gibt kaum eine Wirtschaftsbranche, die nicht massive, zweistellige Umsatz- und Gewinneinbrüche zu verzeichnen hat. Im Maschinenbau, der mit 976.000 Beschäftigten größten Industriebranche, brachen im Januar die Bestellungen im Vergleich zum gleichen Vorjahresmonat um 42 Prozent weg. Ähnlich in der Stahlindustrie: Hier sanken die Bestellungen aus Automobilindustrie und Maschinenbau um 47 Prozent, der stärkste Auftragseinbruch seit Ende des II. Weltkrieges. Desgleichen die Elektro- und Chemieindustrie. Die Zahl der Insolvenzen ist allein im vergangenen Dezember gegenüber dem Vorjahresmonat um über zwölf Prozent auf 12 568 hochgeschossen. Prominenteste Konkursfälle sind drei mittelständische Traditionsunternehmen: der Unterwäschehersteller Schiesser, der Modelleisenbahnbauer Märklin und die Porzellanmanufaktur Rosenthal. Alle drei sind Opfer der trotz milliardenschweren staatlichen Rettungsschirms immer noch äußerst restriktiven Kreditvergabepraxis der Banken.
Die Rezession ist längst zu einem autokatalytischen Prozess geworden. Die Krise einer Branchen zieht in ihrer Folge eine ganze Reihen anderer Branchen und Betriebe in Mitleidenschaft, die ihrerseits den Krisenvirus an ihre Lieferanten weitergeben und so weiter. Ein Ende dieses fatalen Prozesses ist noch nicht abzusehen. Quasi im Monatstakt müssen die bürgerlichen Wirtschaftsinstitute ihre Prognosen über das sog. Minuswachstum korrigieren. Mittlerweile gehen die so genannten Wirtschaftsweisen davon aus, dass die Wirtschaft in diesem Jahr um 3,5 Prozent schrumpfen wird; der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Walther, prognostiziert gar minus fünf Prozent.
Hypo Real Estate, Opel und die Frage der Systemrelevanz
Das Krisenmanagement der Großen Koalition lässt sich exemplarisch an zwei Konzernen darstellen, deren drohender Konkurs die staatliche Exekutive in höchst unterschiedlicher Weise begegnet: Hypo Real Estate (HRE) und Opel.
HRE ist (oder besser: war) mit einer Bilanzsumme von fast 400 Milliarden Euro einer der größten Finanzkonzerne Deutschlands und besonders auf dem sog. Pfandbriefmarkt tätig. Ihr Hauptgeschäft war die Refinanzierung von Großprojekten wie Flughäfen, Hotelanlagen und Bürogebäude. Die Ironie an der Geschichte ist, dass die HRE 2003 von der Hypo Vereinsbank (HVB) mit dem einzigen Zweck gegründet wurde, als Mülleimer (oder Bad Bank, wie man heute zu sagen pflegt) für die hochriskanten Immobiliengeschäfte der HVB zu fungieren. Nachdem die HRE zunächst erfolgreich mit Ramschkrediten in die internationale Immobilienfinanzierung eingestiegen war und im April 2006 einen Börsenwert von 7,7 Milliarden Euro erzielt hatte, geriet sie 2007 in den Sog der Finanzkrise – mit der Folge, dass ihr Aktienwert abstürzte, von fünf Euro pro Aktien auf 90 Cent. HRE drohte nicht nur der Ausschluss aus der Börse, sondern schlicht und einfach der Konkurs.
Opel ist im Gegensatz zu seinen Konkurrenten gleich auf zweifache Weise von der weltweiten Krise in der Automobilindustrie betroffen: zum einen direkt als Anbieter auf dem europäischen Markt, zum anderen indirekt durch den drohenden Konkurs des Mutterkonzerns General Motors (GM), der die Opel-Werke in Rüsselsheim, Bochum, Eisenach, Kaiserslautern und Antwerpen mit in den Untergang zu reißen droht.
Beide Konzerne eint ihr Ruf nach Staatsknete. Doch was die Resonanz angeht, auf die sie bei den staatlichen Behörden stoßen, so trennen sie Welten. „Vater Staat“ ist bei seiner Fürsorge sehr wählerisch: HRE hat bisher staatliche Hilfe in Höhe von 92 Milliarden Euro erhalten; Opel dagegen ist mit seiner Bitte nach drei (!) Milliarden bei der Bundesregierung bisher abgeblitzt. Eigens für HRE hat Letztere ein Gesetz entworfen, das noch im März vom Bundestag verabschiedet werden soll und die Verstaatlichung von HRE sowie die Enteignung ihrer Aktionäre ermöglicht; im Fall Opel hingegen hat die Bundesregierung jeglichen Einstieg des Staates in das Unternehmen kategorisch abgelehnt. Und während das staatskapitalistische Regime zu jedem Tabubruch bereit ist, um HRE zu retten, haben die beiden Bundesminister Schäuble und Guttenberg die Insolvenz Opels vorgeschlagen.
Die Erklärung für die staatliche Ungleichbehandlung von HRE und Opel lieferte Bundeskanzlerin Merkel, als sie darauf verwies, dass im Unterschied zur HRE Opel nicht „systemrelevant“ sei. Oder wie der Spiegel schreibt: „Die HRE ist nicht irgendeine Bank. Sie ist eine der größten Emittenten von Pfandbriefen, deren Gesamtmarkt auf rund 900 Milliarden Euro geschätzt wird. Pfandbriefe gelten in Deutschland als das solideste Finanzprodukt überhaupt. Banken refinanzieren sich damit, viele Anleger investieren dort ihr Geld: Sparkassen, Bürger, Versicherungen. Und bislang galten sie als wirklich sicher, weil sie mit einem Stock aus Immobilien gedeckt sind. Doch was, wenn die Bank dahinter in die Insolvenz ginge? Es würde viele andere Unternehmen und Privatanleger mit ins Nichts reißen. Es würde dem Finanzgeschäft das letzte Vertrauen nehmen. Es würde zudem ein billionenschweres Sicherungsnetz aus komplexen Finanzinstrumenten gefährden. Die HRE kann pleitegehen. Aber sie darf es nicht.“ (Nr, 6, 2. Februar 2009) Denn „diese Bank nicht zu retten hätte schlimmere Folgen als die Pleite von Lehman Brothers“, warnte der Chef des staatlichen Finanzmarktstabilisierungsfonds Soffin, Hannes Rehm, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 15. März. Mit anderen Worten: es geht bei der Rettung von HRE um nichts Geringeres als um die Aufrechterhaltung des Finanzsystems des deutschen und internationalen Kapitalismus, des Blutkreislaufes der Gesamtwirtschaft.
Im Gegensatz dazu wäre ein Konkurs von Opel wirtschaftlich betrachtet kein Beinbruch für den deutschen und internationalen Kapitalismus. Ja, angesichts der enormen Überkapazitäten auf dem Automarkt wäre er für die deutschen Konkurrenten Opels hochwillkommen, die daher auch gegen jegliche staatlichen Hilfen für Opel Sturm laufen. Die Kettenreaktion, die ein solcher Konkurs auslösen würde, würde sich auf einige Zulieferer und Autohändler beschränken, keinesfalls aber die Gesamtwirtschaft in Mitleidenschaft ziehen. Hier geht es nicht um die Aufrechterhaltung des Systems, sondern „lediglich“ um die Interessen von rund 400.000 ArbeiterInnen in Europa, deren Arbeitsplätze im Fall eines Konkurses von Opel verloren gingen.
Für den Staat im Kapitalismus gilt: Das Hemd ist ihm näher als die Hose, die Wahrnehmung des Interesses der Kapitalistenklasse an ein funktionierendes Finanzsystem allemal wichtiger als der Schutz der Interessen von ArbeiterInnen. Das eine ist ihm unzählige von Milliarden Euro wert, das andere ein paar Absichtserklärungen. Entgegen der Illusionen vieler Angehöriger unserer Klasse über die Unparteilichkeit des Staates ist derselbe alles andere als neutral oder gar auf Seiten der Armen und Besitzlosen. Er ist das Organ der herrschenden Klasse schlechthin, war es stets gewesen und wird es immer bleiben – bis die Arbeiterklasse in einem neuen revolutionären Anlauf neben dem Kapitalismus auch die jahrtausende alte Klassenteilung abgeschafft hat, aus welcher der Staat hervorgegangen war und der er seine Existenzberechtigung verdankt.
Arbeiterklasse, Krise und die Frage der Systemrelevanz
Wenn die politische Klasse Opel nicht kurzerhand seinem Schicksal überlässt, sondern ein ganzes Feuerwerk von zum Teil Scheinaktivitäten (die Gespräche des Bundeswirtschaftsministers Guttenberg und des NRW-Ministerpräsidenten Rüttgers in den USA, die Gespräche zwischen der Bundesregierung und dem Europa-Chef von General Motors, die in den Medien groß herausgeputzte Suche nach einem privaten Investor) entfacht, so hat dies sicherlich auch mit den Bundestagswahlen Ende 2009 zu tun, die bereits ihren Schatten werfen. Aber wir sind überzeugt davon, dass die wahren Beweggründe woanders liegen. Zum einen muss es der politischen Klasse darum gehen, den Kredit, der ihr durch die Vertrauensseligkeit großer Teile der Bevölkerung gegenüber dem Staat in den Schoß gefallen ist, nicht leichtfertig zu verspielen. Zwar sieht sich das staatskapitalistische Regime außerstande, diesem Vertrauen auch nur annähernd zu entsprechen, doch ist es bemüht, dem drohenden Vertrauensverlust durch allerlei Schaumschlägerei und Leerlaufhandlungen, durch Solidaritätsbekundungen und leere Versprechungen entgegenzuwirken.
Zum anderen hat es sich auch im Kanzleramt in Berlin herumgesprochen, dass Opel ein ganz heißes Pflaster ist. Gerade die Beschäftigten von Opel Bochum und Rüsselsheim haben in der Vergangenheit, zuletzt vor drei Jahren, oftmals ihre Kampfkraft und –bereitschaft unter Beweis gestellt. Bislang ist die deutsche Bourgeoisie relativ glimpflich davongekommen. Anders als in Großbritannien, Frankreich, Griechenland, China, Russland etc. sind größere Reaktionen der Arbeiterklasse bis heute ausgeblieben. Neben der politischen Cleverness der deutschen Bourgeoisie spielt dabei sicherlich die Tatsache eine Rolle, dass die Rezession noch nicht richtig angekommen ist in Deutschland und die hiesige Arbeiterklasse bisher noch weitestgehend verschont geblieben ist.
Die auffällige „Zurückhaltung“ der deutschen Bourgeoisie gegenüber dem Schicksal Opels im Vergleich zu HRE bedeutet jedoch nicht, dass es keine Fraktionen der deutschen Bourgeoisie gibt, welche an einer Rettung Opels interessiert sind. Dieses Interesse ist in erster Linie vorhanden bei den direkt betroffenen Landesregierungen, die in Konkurrenz zueinander sich um die industriellen Grundlagen ihres jeweiligen Standortes Sorgen machen müssen. Darüber hinaus aber teilen diese Landesfürsten eine andere Sorge mit der gesamten herrschenden Klasse, nämlich dass das Verschwinden Opels zu einer nachhaltigen Gefährdung des sozialen Friedens am „Standort“ führen könnte. Eins jedenfalls steht fest: Ob ein Wirtschaftsunternehmen „gerettet“ werden soll - wie HRE - oder ob es fallen gelassen bzw. zerschlagen wird (um einige wenige „Filetstücke“ zu bewahren, die gegebenenfalls sogar von einem deutschen Konkurrenten geschluckt werden könnten), wie dies möglicherweise bei Opel der Fall sein wird, auf jeden Fall wird dies alles auf Kosten der Beschäftigten und der gesamten Arbeiterklasse geschehen. So hat man längst von den ‚Opelanern’ einen zweistelligen Lohnverzicht abverlangt, ein Ausmaß an Verzicht, welcher bei den Mitarbeitern der Finanzinstitute zum Teil auch schon praktiziert wird.
Die Lage der deutschen Bourgeoisie ähnelt in gewisser Weise jenem Menschen, der sich von einem zehnstöckigen Hochhaus stürzt und in Höhe des dritten Stockwerks denkt: ‚Bisher ist alles gut gegangen‘. Schon jetzt gilt es im Ausland als ausgemachte Sache, dass Deutschland als eines der Hauptexportländer ungleich stärker von der Krise betroffen sein wird als seine Konkurrenten. Überflüssig zu sagen, was dies für die Lage der Arbeiterklasse hierzulande bedeutet. Nur eine Zahl: das Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel erwartet einen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf deutlich über vier Millionen. Sollten sich die Prognosen der bürgerlichen Experten bewahrheiten, sollten sie gar übertroffen werden – und vieles spricht dafür -, werden die Zweifel der Arbeiterklasse an dieser Gesellschaftsform, die bis dahin eher verhalten waren, neue Nahrung erhalten. Spätestens dann könnte ein Denkprozess in unserer Klasse ausgelöst werden, an dessen Anfang der Verlust des Vertrauens in den bürgerlichen Staat steht und an dessen Ende möglicherweise die Frage der Systemrelevanz auf eine ganz andere Weise formuliert wird.
19. März 2009