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Schon Marx stellte fest, dass die Krise im Kapitalismus im Grunde der stärkste Stachel des Klassenkampfes ist. Sie zwingt sie zur Aufgabe ihrer Illusionen und drängt sie zum Nachdenken über das Gesellschaftssystem, das ihr solches Ungemach bereitet. Wie sehr diese Binsenweisheit noch heute Gültigkeit besitzt, zeigt sich auch und gerade im Kontext des schweren Kriseneinbruchs Ende 2008. Eine sehr kleine, aber immerhin wachsende Minderheit innerhalb der Arbeiterklasse nimmt die Krise zum Anlass, zu den Basics des Marxismus zurückzukehren. Workshops, die sich mit dem „Kapital“ von Marx befassen, schießen wie Pilze aus dem Boden. Bücher werden verfasst, Diskussionsrunden abgehalten, alle mit der Absicht, Licht in das Dunkle der kapitalistischen Krise zu bringen.
Die „Thesen zur
Krise“ von Kosmoprolet: Ein Abgesang
auf den Operaismus
Einen besonders wichtigen Beitrag in diesem Zusammenhang leistet die zweite Ausgabe von Kosmoprolet(1), die im Sommer dieses Jahres herauskam. Ihren „Thesen zur Krise“ ist das ehrliche Bemühen abzulesen, offen und ohne Scheuklappen die aktuelle Krise in ihrem ganzen Ausmaß zu analysieren. In vielen ihrer Aussagen können wir uns uneingeschränkt wiedererkennen – sei es die Entlarvung des Mythos des Keynesianismus als Ausweg aus der Krise, das Zurechtrücken der Rolle des Neoliberalismus, die Ablehnung der Verstaatlichung und Betriebsübernahmen durch die Beschäftigten als Lösungsansätze gegen die Krise, um nur einige Punkte zu nennen.
Doch was vor allem auffällt, das ist ihre Analyse der Ursachen der aktuellen wie auch der vergangenen Wirtschaftskrisen des Kapitalismus. Bereits in These 2 kommt Kosmoprolet ohne viel Umschweife auf des Pudels Kern zu sprechen: „Zwei Widersprüche des Kapitals schlingen sich auf fatale Weise ineinander: ihr Drang, über die Schranken des Marktes hinaus zu produzieren, und ihre Tendenz, lebendige Arbeit – die alleinige Quelle von Wert und Mehrwert – beständig durch Maschinerie zu ersetzen (...) Das Ergebnis ist eine massive Überakkumulation.“ Die Überproduktion und der tendenzielle Fall der Profitrate machen in der Tat das marxistische Erklärungsmuster der ökonomischen Krise des Kapitalismus aus. Das eine ist das Resultat der – wie Marx es nannte – „antagonistischen Distributionsverhältnisse“, die es der Arbeiterklasse verbieten, das Produkt ihrer Ausbeutung, ihrer unbezahlten Mehrarbeit selbst zu verzehren. Das andere ist das Ergebnis der erbitterten Konkurrenz unter den Einzelkapitalien, die zu einer immer höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals und somit zu einer stetigen Verringerung des variablen Kapitals, des Mehrwertproduzenten im Kapitalismus, der Lohnabhängigen also, führt. Mit diesem Instrumentarium gelangt Kosmoprolet völlig zu recht zum Schluss, dass der aktuelle Kriseneinbruch weder vom Neoliberalismus zu verantworten ist noch von den Jongleuren an den globalen Finanzmärkten verschuldet wurde. „Die Ausweitung der Finanzsphäre, die im öffentlichen Bewusstsein und großen Teilen der Linken als Krisengrund gilt, ist ihrerseits Folge der schwächeren Akkumulationsdynamik: Sie dient als Zufluchtsort für überschüssige Kapitalmassen, die nicht mehr produktiv investiert werden können.“ (These 5)
Neben der großen Klarheit, mit der die GenossInnen von Kosmoprolet die aktuelle Krise sezieren, beeindruckt vor allem ihre Bereitschaft, auch in ihren eigenen Reihen vorhandene Positionen angesichts dieses dramatischen Ereignisses kritisch zu hinterfragen. In These 4 rechnet Kosmoprolet mit einem zentralen Bestandteil des „klassischen“ Operaismus ab, wonach nicht „die objektiven Bewegungsgesetze, sondern die Kämpfe der Arbeiterinnen (...) das Kapital in die Krise getrieben“ hatten. Misst Kosmoprolet den Arbeiterkämpfen der 70er Jahre immerhin noch eine Krisen verschärfende Wirkung bei, räumen die Genossen, was die aktuelle Krise anbetrifft, vorbehaltlos ein: „Heute läuft jeder Versuch, die Krise auf den Klassenkampf zurückzuführen, auf theoretische Verrenkungen hinaus; selbst das Platzen der Subprime-Blase muss als Existenzbeweis einer renitenten Arbeiterklasse herhalten. Die gegenwärtige Krise nötigt tendenziell zu dem, was den Autonomen als ‚Objektivismus‘ galt: Sie verdankt sich keiner Offensive der Proletarierinnen, sondern wurzelt tatsächlich in den objektiven Widersprüchen des Kapitals. Mehr noch: Ihre Brisanz besteht nicht nur darin, dass sie alle Sektoren und die ganze Welt erfasst und diese Welt proletarisierter ist denn je; sie folgt überdies auf eine Serie von Niederlagen der Lohnabhängigen“. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Krise und Klassenkampf: Was macht dieArbeiterklasse zum revolutionären Subjekt?
Die „Thesen zur Krise“ beschränken sich nicht nur darauf, die (wohlbemerkt: objektiven) Ursachen der Krisen im Kapitalismus ausfindig zu machen. Sie erkunden auch den Zusammenhang zwischen der Wirtschaftskrise und dem Klassenkampf. In These 1 wird die Erwartung geäußert, dass mit Fortdauer der krisenhaften Erscheinungen der Widerstand gegen den Kapitalismus immer größere Kreise ziehen wird. Gleichwohl stellt die These klar, dass es keine mechanische Verknüpfung zwischen Krise und Klassenkampf gibt. Sie verweist dabei auf die Große Depression von 1929, als die Arbeiterklasse nicht, wie von vielen damaligen Revolutionären sehnlichst erhofft, einen neuen revolutionären Anlauf nahm. „Der Verlauf des 20. Jahrhunderts hat die Marxsche Krisentheorie als Revolutionstheorie zu dramatisch außer Kurs gesetzt, als dass man etwa Karl-Heinz Roth widersprechen wollte, wenn er davor warnt, auf die ‚Beschleunigung und Vertiefung der Krisendynamik‘ zu setzen, da die ‚Automatik von Krise und Revolution... spätestens seit dem Ausgang der Großen Depression des vergangenen Jahrhunderts widerlegt‘ sei.“ Und in These 9 wird enttäuscht konstatiert, dass es trotz der vielen Kämpfe der Arbeiterklasse, die in den letzten Jahren weltweit aufgeflammt sind, „keine Anzeichen dafür (gibt), dass sich aus diesen Auseinandersetzungen die Perspektive einer anderen Gesellschaft herausschält.“
Bleibt immer noch die Frage zu beantworten, welche Umstände die Arbeiterklasse nun denn zum revolutionären Subjekt machen. Es ist völlig richtig, dass es, wie 1929 zeigt, keinen Automatismus zwischen Krise und Klassenkampf oder gar Revolution gibt. Zwar bleibt die ökonomische Krise des Kapitalismus auch weiterhin die Grundvoraussetzung für die Entstehung einer revolutionären Dynamik; sie ist die materielle Grundlage für die Entwicklung eines breiten Klassenbewusstseins. Doch damit ein solches Klassenbewusstsein, eine solche revolutionäre Dynamik tatsächlich Wirklichkeit wird, müssen sich zur Wirtschaftskrise noch weitere Faktoren hinzugesellen.
Eine gewichtige Rolle spielt dabei zweifellos die Krise des politischen Überbaus der Herrschenden. Mit der fortdauernden und zunehmenden Erosion der Glaubwürdigkeit seiner Institutionen (Staat, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Medien, etc.), seiner Ideologie, Moral und Werte können die Zweifel, die immer mehr Lohnabhängige bereits heute gegenüber dieser krisenhaften Produktionsweise ergriffen haben, in eine allgemeine Infragestellung dieser Gesellschaft münden. Dabei handelt es sich nicht um einen Vorgang, der sich quasi über Nacht ereignet; der Prozess der Bewusstwerdung unserer Klasse über den wahren Charakter dieser Gesellschaft verläuft zunächst nur unmerklich, im Schatten des falschen Bewusstseins, das noch weite Teile unserer Klasse beherrscht. Es ist ein Denkprozess, der lange Zeit unsichtbar fürs Auge bleibt, da keine spektakulären Aktionen aus ihm unmittelbar resultieren. Doch dieser Prozess hat bereits begonnen. Auch in Deutschland: in den letzten Jahren kann man einen geradezu dramatischen Verlust an Illusionen innerhalb der Arbeiterklasse beobachten, der vor allem die eigenen Perspektiven im Alter, aber auch die Aussichten für die eigenen Kinder in dieser Gesellschaft betrifft.
Eine ebenfalls nicht unwichtige Rolle bei der Bestimmung des Kurses, den die Menschheit steuert – hin zur Revolution oder zurück in die Barbarei –, spielt die ‚Psychologie’. 1929 war die Arbeiterklasse nicht nur physisch geschlagen (immerhin hatten Tausende der kämpferischsten Arbeiter ihr Leben im Feuer der Konterrevolution gelassen), sondern auch mental am Boden zerstört. Der Schock vieler ArbeiterInnen über den Verrat, den ihre eigene Partei, die SPD, an der Novemberrevolution 1918 begangen hatte, saß noch tief. Hinzu kam, dass der „Bruderkrieg“ zwischen SPD und KPD in den zwanziger Jahren das Klima in der Arbeiterklasse vergiftet und das Vertrauen untereinander zerrüttet hatte; durch viele Arbeiterfamilien ging ein tiefer ideologischer Riss. Die Arbeiterklasse der dreißiger Jahre war derart demoralisiert und traumatisiert, dass die Hoffnungen etlicher damaliger Revolutionäre (wie Trotzki) auf eine Neuauflage der revolutionären Welle im Nachhinein grotesk erscheinen. Ganz anders dagegen die heutige Arbeiterklasse: Sie ist frei von dem Trauma einer verratenen Revolution, unbelastet von der Demoralisierung einer vernichtenden Niederlage. Sie ist trotz vieler Rückschläge in den letzten 30 Jahren ungebrochen in ihrer Kampfbereitschaft. Und dies ist einer der Gründe, warum der historische Kurs (wie ihn die Italienische Linke bezeichnete), der vor achtzig Jahren in Richtung Weltkrieg ging, heute in Richtung einer weiteren Verschärfung des Klassenkampfes geht.
Uns scheint, dass die GenossInnen von Kosmoprolet bei der Wiederaneignung des sog. „Objektivismus“ des Marxismus als Erklärungsansatz für die Krisen im Kapitalismus etwas übers Ziel hinausgeschossen sind. So unerheblich die subjektiven Faktoren – in diesem Fall der Klassenkampf - für die ökonomischen Krisen sind, so ausschlaggebend sind sie bei der Entstehung und Entwicklung des Klassenbewusstseins. Den Blick allein auf die ökonomische Krise als Geburtshelfer des revolutionären Klassenkampfes gerichtet, besteht die Gefahr, die sog. „weichen“ Faktoren, an erster Stelle das Klassenbewusstsein, zu übersehen.
Wir haben den Eindruck, als ob die GenossInnen angesichts des Paukenschlages der aktuellen Krise insgeheim doch automatisch eine spektakuläre Antwort der Arbeiterklasse erwartet hatten und dabei übersehen haben, dass sich in den Kämpfen unserer Klasse seit 2004 durchaus erste – wenn auch noch leise und weniger spektakuläre – „Anzeichen für die Perspektive einer neuen Gesellschaft“ herausgebildet haben. So ist in etlichen Kämpfen der letzten Jahre ein Gedanke wiederbelebt worden, der in der neunziger Jahre Gegenstand des Spotts und der Belustigung war: der Solidaritätsgedanke. Solidarität in allen Variationen: Da streikten die Alten für die Jungen (Streik der U-Bahn-Beschäftigten in New York), die Jungen für die Alten (BVG-Streik in Berlin), traten ArbeiterInnen der einen Konzernfiliale aus Solidarität mit ihren von der Entlassung bedrohten Kollegen einer anderen Filiale in den Streik, obwohl sie selbst Nutznießer dieser Entlassungen gewesen wären (Daimler-ArbeiterInnen in Bremen), schlugen die ArbeiterInnen eines Großbetriebes eine Solidaritätsdemonstration für ArbeiterInnen eines branchenfremden, von der Schließung bedrohten Betriebes (Opel-Arbeiter gegen die Nokia-Schließung in Bochum) vor, demonstrierten die ArbeiterInnen verschiedener miteinander verfeindeter Konfessionen (Postangestellte in Belfast) und einheimische sowie ausländische Arbeiter gemeinsam (Großbritannien), eilten die Arbeiter benachbarter Betriebe den Besetzern eines von der Polizei angegriffenen Betriebes zu Hilfe, wobei sie Kopf und Kragen riskierten (Ssangyong in Südkorea). Jüngstes Beispiel: die Protestbewegung der StudentInnen in Österreich, die sich auch aus dem Widerstand gegen das Vorhaben der Regierenden speist, deutschen StudentInnen den Zugang zu österreichischen Universitäten zu verwehren.
Die Solidarität der Arbeiterklasse ist mehr als eine sympathische Goodwill-Aktion, sie ist eine höchst politische Tat. Sie ist das Ergebnis der Erkenntnis, Teil einer Schicksalsgemeinschaft, einer besonderen gesellschaftlichen Klasse zu sein, die gemeinsam siegt oder untergeht. Sie ist somit ein wichtiger Bestandteil der Klassenidentität, die ihrerseits wiederum eine unerlässliche Vorbedingung für die Ausreifung eines spezifischen Klassenbewusstseins ist. Darüber hinaus steht diese Solidarität auch als Gegenmodell zum Konkurrenzprinzip des Kapitalismus; sie ist in gewisser Weise die Antizipation eben jener „neuen Gesellschaft“, die die GenossInnen von Kosmoprolet genauso wie wir anstreben. 20.11.2009