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Im Juni 2010 konnte die herrschende Klasse in der Schweiz zwei ihrer größten Probleme, wenigstens für den Moment, für beendet erklären.
Diese Probleme hielten sie während gut einem Jahr so in Atem, dass ihre Medien jetzt laut über eine Auswechslung von verschiedenen Regierungsmitgliedern nachdenken. Immerhin hat die herrschende Klasse im Steuerstreit mit den USA um Bankkonten von amerikanischen Kunden der Schweizer Bank UBS eine bittere Pille geschluckt und in der so genannten Libyenaffäre vor vielen anderen Staaten das Gesicht verloren.
Welche Bilanz ist heute zu ziehen? War es nur ein Sturm im Wasserglas? Zur Ablenkung von der wahren Krise, derjenigen der Wirtschaft?
Die Geiseln von Gaddafi und das Hickhack der Schweizer Bourgeoisie
Die im letzten Artikel angesprochene Affäre Libyen mit den sich in der Wirkung widersprechenden Positionen der Innen- und Außenpolitik ist für die Schweizer Bourgeoisie mit einem großen Prestigeverlust zu Ende gegangen. Vorausgegangen sind diverse Ereignisse eines Schlagabtauschs, die das absurde Leben der kleinen Staaten im Zerfall des Kapitalismus gut demonstrieren.
Die Schweizer Bourgeoisie tritt nicht mehr nur als einheitlicher neutraler und diplomatischer Staat auf, sondern ist immer mehr geprägt durch die Einzelinteressen verschiedener Parteien und Fraktionen mit ihren Exponenten. Die Homogenität der Bourgeoisie leidet in jedem Fall darunter. Ausdruck davon ist der Verlauf der Affäre Libyen.
Auf den abgeschlossenen Staatsvertrag zwischen den Staaten im Herbst 2009 wurde von libyscher Seite her nicht reagiert. In der Folge hat die Schweiz die Visumsvorschriften für Libyer verschärft und im Februar „hochrangige“ libysche Staatsangehörige an der Einreise gehindert.
Am 31. Januar wurde die eine Schweizer Geisel in Libyen freigesprochen und die andere zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Zudem verschärfte sich der Konflikt im Februar durch die Visa-Sperre von Libyen für die meisten Länder der Schengen Zone. Der Konflikt weitete sich somit auf die EU aus, die sich wiederum von der Schweiz distanzierte.
Am 25. Februar ruft Gaddafi an einer Rede zum heiligen Krieg gegen die Schweiz auf - als Reaktion auf das Minarettverbot der Schweiz Ende November 2009. Dies ist ein weiterer heikler Punkt der Schweizer Bourgeoisie, die diese Abstimmung ideologisch unterschätzt und weltweit viel Kritik geerntet hat.
Nach einem „totalen Wirtschaftsboykott“ von der Seite Libyens gegen die Schweiz im März wurde die zweite Geisel im Juni schließlich freigelassen. Bedingung war, dass die Schweiz auf ein deutsches Sperrkonto eine Kaution von 1.5 Millionen Franken einbezahlt. Dies als Sicherheit dafür, dass derjenige, der die Polizeifotos von Hannibal Gaddafi publizierte, in der Schweiz gerichtlich zur Rechenschaft gezogen wird. Die Schweiz beugte sich schlussendlich, wobei die Verhandlungen mit Libyen vor allem durch die EU mit ihren Exponenten Berlusconi und Co. geführt wurden. Selbst der schlechte Deal mit dem Gesichtsverlust für die Schweiz kam also nur deshalb zustande, weil sich prominente Mittelsleute für eine Schlichtung des Streits einsetzten. Die Schweiz allein hätte nicht einmal für eine schlechte Lösung genügend Gewicht in die Waagschale werfen können.
Während Bundesrat H.-R. Merz in August 2009 das erste Mal versuchte, die beiden Geiseln freizukriegen und dabei sichtlich scheiterte, war es diesmal Bundesrätin Calmy-Rey der Sozialdemokraten, die sich vor den Medien als Befreierin profilierte. Das Scheitern des einen und der Erfolg der anderen können als Episoden der Konkurrenz innerhalb der Schweizer Regierung verstanden werden und sind bezeichnend für die Situation innerhalb des Bundesrats, wie wir sie im letzten Artikel beschrieben.
Als gäbe es in dieser Sache nicht schon genug Fehltritte und Widersprüche innerhalb der Regierung, wurde nach der Freilassung durch eine Indiskretion ein Plan für eine militärische Befreiung der Geiseln bekannt. Dass die „neutrale“ Schweiz einen inoffiziellen bewaffneten Einsatz im Ausland plant, zeigt einerseits ihre Verzweiflung in der isolierten Situation und macht andererseits auch die Impotenz des Schweizer Militärs deutlich. Die anschließende Diskussion über die völkerrechtliche Legimitation eines solchen Einsatzes lenkt großmäulig vom Umstand ab, dass es der Schweiz gar nicht möglich ist, militärisch im Ausland zu intervenieren, nicht einmal eine Polizeioperation des Geheimdienstes wäre realisierbar.
An diesem Beispiel, aber auch im unten angesprochenen Steuerstreit zeigt sich, wie die Schweiz in Konflikten mit anderen Staaten alleine dasteht. Nicht nur in Auseinandersetzung mit als „verrückt“ geltenden Führern und symbolischen Geiselnahmen, sondern auch in anderen Konflikten mit einschneidendem ökonomischem Einfluss auf das Budget der Schweizer Bourgeoisie.
Zum Streit mit den USA
Ohne Zweifel war das Problem mit den USA weit ernsthafter als dasjenige mit Libyen: Es ging um die Herausgabe von Bankkundendaten der UBS, die eigentlich dem Bankgeheimnis unterstehen, an die US-Steuerbehörden. Damit sind nicht nur das Bankgeheimnis - als Garantie der Schweizer Banken, ihre Kunden gegenüber anderen Staaten geheim zu halten - betroffen, sondern erhebliche wirtschaftliche Interessen der Schweizer Bourgeoisie. Gerade die Aussicht von Reichen der ganzen Welt, einen Teil ihres Vermögens unversteuert durch Schweizer Banken verwalten zu lassen, führte zu einem Vorteil des Finanzplatzes Schweiz gegenüber anderen Staaten, die weniger diskret mit den Daten ausländischer Bankkunden umgingen.
Dieses Angebot hat auch eine Nachfrage. Die bisherige Diskretion der Schweizer Banken befriedigte Bedürfnisse von Kapitalisten der ganzen Welt mindestens in dreifacher Hinsicht:
- als Steuerparadies, als Anlagemöglichkeit für Reiche, die steuerlich unbehelligt davonkommen;
- als Geldwaschanlage für kriminelle Aktivitäten, die Mafias, Drogen- und Waffenhändler usw.
- als Drehkreuz für Geldzahlungen, die aus imperialistischen Gründen Diskretion erfordern, z.B. zur Finanzierung von terroristischen / antiterroristischen Aktivitäten, Geheimdienstaktionen, die nicht kontrolliert werden sollen.
Gerade bei Finanzströmen der letzten Art müssen die USA als Weltpolizist ein Interesse daran haben, freien Zugang zu sämtlichen Bankdaten in anderen Ländern zu bekommen. Bei den USA liegt dieser Aspekt im Vordergrund, während beim Druck, den die deutschen Steuerbehörden gegenüber der Schweiz (Razzias bei der Credit Suisse in Deutschland) und Liechtenstein ausüben, eher direkte ökonomische und ideologische Interessen eine Rolle spielen - bankrotte Staaten müssen ihre Löcher stopfen und Sünder vorweisen.
Der im Juni 2010 vom Parlament genehmigte Staatsvertrag zwischen den USA und der Schweiz über die Herausgabe von UBS-Akten (vgl. dazu die Einzelheiten in „Weltrevolution“ Nr. 156) ist aus der Perspektive der Arbeiterklasse auch in wirtschaftlicher Hinsicht interessant: Was heißt die faktische Aufhebung des Bankgeheimnisses für die Wirtschaft? Wird sich die Krise in der Schweiz aus diesem Grund zusätzlich verschärfen?
Wirtschaftlicher Aspekt der Aufhebung des Bankgeheimnisses
Die Bourgeoisie ist sich einig darin, dass der Staatsvertrag mit den USA der mittelfristigen Aufhebung des Bankgeheimnisses gleichkommt. Obwohl die Schweizer Wirtschaft mit vielen verschiedenen Ländern verknüpft und insofern diversifiziert ist, hat sie zu wenig Rückhalt bei großen und treuen Verbündeten, um wirtschaftlichen Erpressungen Stand zu halten. Deutschland drängt sich zwar als Beschützer geradezu auf. Es ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner, und eine völlige Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft vom deutschen Reich ist auch historisch gesehen viel eher eine romantisierte Staatsideologie (Wilhelm Tell) als Realität. Aber solange Nationalstaaten bestehen, wollen die kleinen nicht von den großen geschluckt werden. Vom besten „Beschützer“ geht also in der nationalstaatlichen Logik gleichzeitig die größte Drohung aus. Gerade aus diesem Widerspruch heraus hat die Schweizer Bourgeoisie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg immer versucht, sich bei den USA einzuschmeicheln, um sich auch da eine „Freundschaft“ zu erhalten.
Was haben die USA nun faktisch getan? Sie stellten die Schweizer Bourgeoisie, die UBS, die Regierung (alle zusammen offen als Einheit auftretend) vor die Alternative: steuerstrafrechtliche Konfiskation der Güter der UBS in den USA und damit wahrscheinlicher Untergang dieser Großbank mit katastrophalen Folgen für die Wirtschaft (vgl. Island) oder Öffnung der unter Bankkundengeheimnis stehenden Konten-Dossiers von US-Steuerpflichtigen. Längst steht die offizielle Schweiz unter etwas sanfter vorgetragenem, aber im Resultat gleich gerichtetem Druck der EU und insbesondere einzelnen Länder aus ihr: Deutschlands, Italiens, Frankreichs, Spaniens etc. Der langen Rede kurzer Sinn: das Schweizer Bankgeheimnis wird begraben. Die tödlichen Spritzen haben die beiden „Patenonkel“ USA und Deutschland gesetzt.
Was bedeutet dies für die Wirtschaft? – Dank dem Steuervorteil, den Reiche mit dem Verstecken ihrer Gelder auf Schweizer Bankkonten genossen, flossen riesige Vermögen auf diesen Finanzplatz. Man braucht nicht Hellseher zu sein, um vorauszusagen, dass dieser Strom abnehmen wird. Je kleiner die auf Schweizer Banken verwalteten Vermögen, desto prekärer wird die Situation unter den kleinen bzw. kapitalschwachen von ihnen. Die Konkurrenz wird zunehmen, es wird Pleiten geben – und mehr Arbeitslose. „Etwa 30’000 der in der Schweiz tätigen Bankangestellten sind im grenzüberschreitenden Vermögensverwaltungsgeschäft tätig. Das ist rund ein Viertel der 110'000 Arbeitsplätze, welche die Schweizer Banken im Inland anbieten.“ (Tagesanzeiger 16.02.2010). Ob aber 30’000 Arbeitsplätze auf dem Finanzplatz Schweiz verloren gehen, hängt auch von anderen Faktoren ab: weitere Entwicklung der Weltwirtschaftskrise, Konkurrenzvorteile für die Schweiz als Investitionsstandort, Stärke der hiesigen Währung gegenüber Dollar, Yen, Euro etc. Während die wirklichen Konsequenzen auf die Wirtschaftslage in der Schweiz unklar sind, können wir umgekehrt sicher sein, dass die Bourgeoisie versuchen wird, eine Verschärfung der Krise in der Schweiz auf diese Veränderungen im Finanzsektor - also auf Sonderumstände - zurück zu führen, damit die Einsicht, das System sei als Ganzes faul, sich nicht zu einfach durchsetzt.
Auf imperialistischer Ebene musste die Schweizer Bourgeoisie in den letzten 12 Monaten einige Kröten schlucken. Sie sprach von Erpressung sowohl durch Gaddafi wie durch die USA - und hatte für einmal recht: So sind nun halt die Verhältnisse für Kleinstaaten im weltweiten Hickhack nach 1989. Der einzige Trost („Rache ist süß“) war die Weigerung der Schweiz, Roman Polanski an die USA auszuliefern. Dass dieser Entscheid zur Chef-Sache erklärt und von Justizministerin Widmer-Schlumpf persönlich eröffnet wurde, ist eine kleine Demonstration - insofern nicht ganz auf der Linie der bisher stets gepflegten Diskretion. Der Schweizer Imperialismus kläfft. Frankreich und Polen (die hinter Roman Polanski stehen) streicheln ihm den Pelz. Bald schon dürften die nächsten Läuse jucken.
17.07.2010, K und H