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Schon seit 1968, aber besonders seit dem Zusammenbruch des Ostblocks haben viele, die für die Revolution wirken wollen, den Erfahrungen der Russischen Revolution und der 3. Internationale den Rücken gekehrt, um in einer anderen Tradition nach Lehren für den Kampf und die Organisation des Proletariats zu suchen: im „revolutionäre Syndikalismus" (gelegentlich bekannt als „Anarcho-Syndikalismus"). [1]
Diese Strömung tauchte Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts auf und spielte in einigen Ländern bis in die 30er Jahre hinein eine wichtige Rolle. Ihr Hauptkennzeichen war die Ablehnung (oder zumindest die beträchtliche Unterschätzung) der Notwendigkeit für das Proletariat, eine politische Partei zu schaffen, ob für den Kampf innerhalb des Kapitalismus oder für den revolutionären Sturz des Kapitalismus: Die Gewerkschaft wurde als die einzige in Frage kommende Organisationsform betrachtet. Tatsächlich entspringt das Vorgehen jener, die sich der syndikalistischen Tradition zuwenden, größtenteils der Diskreditierung, die die eigentliche Idee einer politischen Organisation infolge der Erfahrungen aus dem Stalinismus erlitten hat: erst die brutale Repression in der UdSSR selbst, schließlich die Repression der Arbeiteraufstände in Ostdeutschland und in Ungarn in den 50er Jahren, die Okkupation der Tschechoslowakei 1968, die Sabotage der Arbeiterkämpfe im Mai 1968 durch die französische KP und dann die Repression gegen die polnischen Arbeiterkämpfe zu Beginn der 70er Jahre, etc. Diese Situation verschlimmerte sich nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 durch eine widerwärtige Kampagne der Bourgeoisie, die das Ziel verfolgte, den Stalinismus mit dem Bankrott des Kommunismus und mit dem Marxismus gleichzusetzen und dabei zum großen Schlag gegen jegliche Idee einer politischen Umgruppierung auf der Grundlage marxistischer Prinzipien auszuholen.
Die Lehren der Geschichte
Eine der großen Stärken des Proletariats ist seine Fähigkeit, ständig auf seine vergangenen Niederlagen und Irrtümer zurückzukommen, um sie zu verstehen und die entsprechenden Lehren daraus zu ziehen, die sie für den gegenwärtigen und zukünftigen Kampf beinhalten. Wie Marx sagte: „Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche (...)" (Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, S. 118). Die Erfahrung des revolutionären Syndikalismus in der Arbeiterbewegung ist keine Ausnahme von dieser Notwendigkeit einer kritischen Überprüfung, um seine Lehren zu begreifen. Um so zu verfahren, müssen wir die syndikalistischen Ideen und Handlungen in ihren historischen Kontext stellen, denn nur dies gestattet uns, ihre Ursprünge innerhalb der Geschichte der Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit zu lokalisieren.
Daher haben wir uns entschlossen, eine Artikelreihe (mit diesem Artikel als Einleitung) über die Geschichte des revolutionären Syndikalismus und des Anarchosyndikalismus in Angriff zu nehmen. Wir wollen versuchen, Antworten auf folgende Fragen zu geben:
Welche Prinzipien und Methoden zeichnen die syndikalistische Strömung aus?
- Hat der Syndikalismus irgendwelche gültigen Lehren für den historischen Kampf der Arbeiterklasse hinterlassen?
- Welche Schlussfolgerungen können wir aus seinen Treuebrüchen, besonders 1914 (ein Teil der französischen CGT nahm seit Kriegsbeginn an der nationalen Regierung des „Burgfriedens" teil) und 1937 (Beteiligung der spanischen CNT an den Regierungen sowohl der katalanischen Generalidad als auch der Madrider Republik während des Bürgerkriegs), ziehen?
- Hat der Syndikalismus der Arbeiterklasse von heute eine Perspektive anzubieten?
Grundlage unserer Entgegnung auf die konkrete Erfahrung des Syndikalismus durch die Arbeiterklasse ist die Analyse einiger wichtiger Episoden im Leben des Proletariats:
- die Geschichte der französischen Confédération Générale du Travail (CGT), die seit ihrer Bildung vor dem Krieg von 1914-18 von den Anarchosyndikalisten stark beeinflusst, wenn nicht gar dominiert wurde;
- die Geschichte der Industrial Workers of the World (IWW) in den Vereinigten Staaten bis in die 1920er Jahre;
- die Geschichte der Shop Steward-Bewegung in Großbritannien vor und während des I. Weltkrieges;
- die Geschichte der spanischen Confederación National del Trabajo (CNT) während der revolutionären Welle nach der Russischen Revolution und bis zu ihrem Zusammenbruch im Bürgerkrieg 1936/37.
- Schließlich wollen wir mit einer Untersuchung der konkreten Realität des Syndikalismus heute und jener Strömungen schließen, die dieser Tradition anzugehören behaupten.
Ziel dieser Reihe ist es nicht, eine detaillierte Chronologie der verschiedenen syndikalistischen Organisationen anzufertigen, sondern zu demonstrieren, dass sich die Prinzipien des Syndikalismus als Kompass für den Emanzipationskampf des Proletariats nicht nur als ungeeignet erwiesen haben, sondern unter bestimmten Umständen sogar dazu beigetragen haben, Letzteres auf das Terrain der Bourgeoisie zu locken. Diese historische, materialistische Vorgehensweise wird den profunden Unterschied zwischen Anarchismus und Marxismus aufzeigen, der sich besonders in ihrer unterschiedlichen Haltung gegenüber dem Verrat offenbarte, der sowohl innerhalb der sozialistischen Bewegung als auch innerhalb der anarchistischen Bewegung begangen worden war.
Viele Anarchisten zögern nie, auf den schlimmen Verrat der sozialistischen und kommunistischen Bewegung hinzuweisen: die Beteiligung der sozialdemokratischen Parteien am Krieg von 1914-18 und die stalinistische Konterrevolution in den 20er und 30er Jahren. Sie behaupten, dass dies das unvermeidliche Resultat des „autoritären" Erbes von Marx, Lenin und Stalin sei, kurz: eine „Erbsünde", womit sie vollkommen mit der ganzen bürgerlichen Propaganda über den „Tod des Kommunismus" übereinstimmen. Ganz anders verhalten sie sich jedoch, wenn es um die eigenen, anarchistischen Treuebrüche geht: Weder der anti-deutsche Patriotismus von Kropotkin oder James Guillaume 1914 noch die treue Unterstützung der Regierung des Burgfriedens während des Krieges von 1914-18 durch die französische CGT oder die Beteiligung der spanischen CNT an den bürgerlichen Regierungen der spanischen Republik kann in ihren Augen die „ewigen" Prinzipien des Anarchismus in Frage stellen.
Im Gegensatz dazu wurde der Verrat in der marxistischen Bewegung stets von der Linken bekämpft und erklärt. [2] Der Kampf der Linken beschränkte sich niemals auf ein bloßes „Erinnern" an die marxistischen Prinzipien. Er war immer auch ein praktisches und theoretisches Bestreben, zu verstehen und aufzuzeigen, wo die Ursprünge des Verrats liegen, dass er mit Veränderungen in der historischen, materiellen Situation des Kapitalismus erklärt werden kann und vor allem dass die veränderte Lage die Kampfmethoden obsolet gemacht hat, welche sich bis dahin als geeignete Mittel im Kampf der Arbeiterklasse erwiesen hatten.
Es gibt nichts Gleichartiges unter den Anarchisten und Anarchosyndikalisten, die ihren Prinzipien nach wie vor einen ewigen, rein moralischen Wert, bar jeden historischen Inhalts, beimessen. Im Angesicht eines „Verrats" gäbe es nichts anderes zu tun, als dieselben ewigen Werte zu beschwören; daher hat die anarchistische Bewegung, anders als der Marxismus, nie beständige linke Fraktionen produziert (ausnahme bildeten aber internationalistische AnarchistInnen wie Emma Goldman, Alexander Berkmann und andere in England welche angesicht des Kriges die Positionen Kropotkin offen und vehement kritisierten). Daher versuchten auch die wirklichen Revolutionäre in der syndikalistischen Bewegung Frankreichs von 1914 (um Rosmer und Monatte) nicht, eine linke Strömung innerhalb der syndikalistischen Bewegung zu bilden, sondern wandten sich stattdessen dem Bolschewismus zu.
Der historische Kontext
Wie wir oben gesehen haben, steht im Mittelpunkt der Divergenzen zwischen der revolutionären syndikalistischen Bewegung und dem Marxismus die Frage der Organisationsform, der die Arbeiterklasse für ihren Kampf gegen den Kapitalismus bedarf. Tatsächlich konnte diese Frage nicht im Handumdrehen begriffen werden. Das Proletariat ist die revolutionäre Klasse, deren historische Aufgabe der Sturz des Kapitalismus ist; das bedeutet nicht, dass sie völlig ausgereift in die kapitalistische Gesellschaft fiel, wie Athena aus dem Haupt von Zeus. Im Gegenteil, die Arbeiterklasse musste sich ihr Bewusstsein durch enorme Anstrengungen und oft bittere Niederlagen erkämpfen. Von Anfang an hatte sich das Proletariat auf dem langen Weg zu seiner Emanzipation mit zwei fundamentalen Erfordernissen konfrontiert gesehen:
- die Notwendigkeit für alle ArbeiterInnen, bei der Verteidigung ihrer Interessen (zunächst im Kapitalismus, dann für seinen Sturz) kollektiv zu kämpfen;
- die Notwendigkeit, ihr Denken auf die allgemeinen Ziele ihres Kampfes und auf die Frage zu lenken, wie diese erreicht werden können.
In der Tat war die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert vom ständigen Bemühen gekennzeichnet, die geeignetsten Organisationsformen zu finden, um diesen beiden fundamentalen Notwendigkeiten gerecht zu werden, konkret: sowohl eine allgemeine Organisation, die alle ArbeiterInnen im Kampf um sich sammelte, als auch eine politische Organisation zu entwickeln, deren wesentliche Aufgaben darin bestand, diesen Kämpfen eine klare Perspektive zu verleihen.
Die Periode von den ersten Manifestationen der Arbeiterklasse bis zur Pariser Kommune zeichnete sich durch eine ganze Reihe von Bemühungen um eine proletarische Organisation aus; Bemühungen, die im Allgemeinen stark von der spezifischen Geschichte der Arbeiterbewegung in jedem einzelnen Land beeinflusst waren. In dieser Zeit bestand eine der Hauptaufgaben der Arbeiterklasse und ihrer organisatorischen Bemühungen noch in ihrer Behauptung als eine spezifische Klasse, die zwar getrennt ist von den anderen Klassen der Gesellschaft (die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum), mit denen sie aber noch immer gelegentlich gemeinsame Ziele teilte (wie den Sturz der feudalen Ordnung).
In diesem historischen Kontext, der von der Unreife eines sich in der Entwicklung befindlichen und unerfahrenen Proletariats gekennzeichnet war, fanden diese beiden elementaren Bedürfnisse der Arbeiterklasse ihren Ausdruck in Organisationen, die entweder dazu neigten, sich der Vergangenheit zuzuwenden (wie die französischen „compagnons", die auf das feudale System der Gilden zurückblickten), oder sie versäumten es, die Notwendigkeit einer allgemeinen Klassenorganisation zu verstehen, um die kapitalistische Ordnung zu bekämpfen, trotz ihrer wirksamen, radikalen Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft. So waren die ersten politischen Organisationen des Proletariats häufig von einer „sektiererischen" Vision charakterisiert, die die Revolution nicht als eine Aufgabe der gesamten Klasse betrachtete, sondern als die Tat einer Minderheit von Verschwörern, die die Macht in einem Staatsstreich ergreifen würden, um sie danach in die Hände des Volkes zu legen. Aus dieser Tradition kommen solch große Gestalten der Arbeiterbewegung wie Gracchus Babeuf und Auguste Blanqui. In derselben Zeit arbeiteten die utopischen Sozialisten (am bekanntesten Fourier und Saint-Simon in Frankreich und Robert Owen in Großbritannien) ihre Pläne für eine zukünftige Gesellschaft aus, die die kapitalistische Gesellschaft, die sie gnadenlos und oft mit großer Einsicht anprangerten, ersetzen sollte.
Die ersten Massenorganisationen der Arbeiterklasse drückten oftmals sowohl die Tendenz zu einer illusorischen Rückkehr in die Vergangenheit als auch gelegentlich eine Vorahnung des Klassenschicksals aus, das weit über ihre damaligen Fähigkeit hinausging: Einerseits drückten zum Beispiel die klandestinen Gewerkschaftsorganisationen in Großbritannien Ende des 18. Jahrhunderts (die unter dem Namen „Army of Redressers", unter dem Kommando des mythenumrankten Generals Ludd, bekannt waren) häufig eine Sehnsucht der ArbeiterInnen nach einer Rückkehr zu ihrem handwerklichen Status aus. Andererseits treffen wir zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die Grand National Consolidated Union [3], deren Ziel es war, die verschiedentlichen korporatistischen Bewegungen in einem revolutionären Generalstreik zu vereinen - eine utopische Vorwegnahme der Sowjets, die erst ein Jahrhundert später gebildet werden sollten.
Die Bourgeoisie erkannte sehr früh die Gefahr, welche die Massenorganisation der ArbeiterInnen für sie darstellte: 1793, inmitten der Französischen Revolution, verbot das „Loi Chapelier" alle Arten von Arbeiterassoziationen, einschließlich simpler Freundschaftsvereine zum gegenseitigen wirtschaftlichen Beistand in Zeiten der Arbeitslosigkeit oder Krankheit.
Mit seiner Weiterentwicklung behauptete sich das Proletariat immer mehr als autonome Klasse im Verhältnis zu den anderen Klassen der Gesellschaft. Im britischen Chartismus erblicken wir sowohl das Embryo der politischen Klassenpartei als auch die erstmalige Abtrennung des Proletariats vom radikalen Kleinbürgertum. Die Welle von Kämpfen, die in der Niederlage der Revolutionen von 1848 (und somit auch des Chartismus) endeten, hat uns die im Kommunistischen Manifest Eingang gefundenen Prinzipien hinterlassen. Dennoch sollte die Idee einer wirklich politischen Partei des Proletariats erst später aufkommen, nachdem die Erste Internationale in den 1860er Jahren die Merkmale sowohl der politischen Partei als auch der Einheitsorganisationen der Massen kombiniert hatte.
Die Pariser Kommune von 1871, gefolgt vom Haager Kongress der Ersten Internationale 1872, markierte einen Wendepunkt in der Entwicklung der Arbeiterorganisationen. Die Fähigkeit der arbeitenden Massen, über die konspiratorische Praxis der Blanquisten hinauszugehen, wurde deutlich von ihrer Organisationskapazität demonstriert, sowohl beim Erfolg der ökonomischen Kämpfe der in der Internationalen Arbeiterassoziation organisierten Arbeiter als auch bei der Schaffung der Kommune, der ersten Arbeitermacht in der Geschichte. Seither blieben lediglich die Anarchisten mit ihrer Ideologie der „exemplarischen Aktion", insbesondere die Anhänger Bakunins [4], Adepten der Konspiration einer winzigen Minderheit als Handlungsmittel. Gleichzeitig hatte die Kommune die Absurdität des Gedankens demonstriert, dass die ArbeiterInnen die politischen Aktivitäten (mit anderen Worten: unmittelbare Forderungen an den Staat und die revolutionäre Perspektive der politischen Machtergreifung) einfach ignorieren können.
Das Abebben des Kampfes und des Klassenbewusstseins nach der niederschmetternden Niederlage der Kommune bedeutete, dass diese Lehren nicht sofort gezogen werden konnten. Doch die 30 Jahre, die der Kommune folgten, erlebten eine Reifung im Verständnis des Proletariats, wie es sich organisieren muss: einerseits in den gewerkschaftlichen Organisationen zur Vertretung der ökonomischen Interessen jeder Korporation und jeden Gewerbes [5] und auf der anderen Seite in der Organisation der politischen Partei sowohl für die Vertretung der unmittelbaren allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse durch die politische Aktion im Parlament (Kämpfe zur Durchsetzung einer gesetzlichen Einschränkung der Kinder- und Frauenarbeit oder des Arbeitstages zum Beispiel) als auch für die Vorbereitung und Propaganda für das „Maximalprogramm", mit anderen Worten: für den Sturz des Kapitalismus und die sozialistische Umwandlung der Gesellschaft.
Weil der Kapitalismus sich in seiner Gesamtheit immer noch im Aufstieg befand - was merklich durch eine nie dagewesene Expansion der Produktivkräfte demonstriert wurde (die letzten 30 Jahre des 19. Jahrhunderts erlebten eine Expansion und Ausweitung der kapitalistischen Produktivkräfte weltweit) -, war es der Arbeiterklasse noch möglich, der Bourgeoisie dauerhafte Reformen abzuringen[6]. Der Druck auf die bürgerlichen Parteien innerhalb des parlamentarischen Rahmens ermöglichten die Annahme von arbeiterfreundlichen Gesetzen sowie die Rücknahme der anti-sozialistischen Gesetze, die die Organisierung der ArbeiterInnen in Gewerkschaften und politischen Parteien verboten hatten.
Doch erwies sich der Erfolg der Arbeiterparteien im Kapitalismus auch als äußerst tückisch. Die reformistische Strömung behauptete, dass diese Situation endgültig sei - eine Situation, in der der Einfluss der Arbeiterorganisationen, der sich auf der Grundlage von für die Arbeiterklasse errungenen Reformen entwickelt hatte, unübersehbar war -, obwohl er tatsächlich bloß temporärer Natur war. Die Reformisten, für die „die Bewegung alles, das Ziel nichts" war, fanden ihren Hauptausdruck Ende des 19. Jahrhunderts, abhängig vom Land, entweder in den politischen Parteien oder in den Gewerkschaften. So wurde in Deutschland der Versuch der Strömung um Bernstein, eine opportunistische Politik, die sich vom revolutionären Ziel abwenden sollte, offiziell zur Parteipolitik zu küren, energisch vom linken Flügel in der sozialdemokratischen Partei um Rosa Luxemburg und Anton Pannekoek bekämpft. Dagegen gewann die revisionistische Strömung viel leichter in den großen deutschen Gewerkschaftsorganisationen einen starken Einfluss. In Frankreich verhielt es sich genau umgekehrt; die sozialistische Partei war viel stärker als in Deutschland von der reformistischen und opportunistischen Ideologie gezeichnet. Dies wurde durch die Einbeziehung des sozialistischen Ministers Alexandre Millerand [7] in der Regierung Waldeck-Rousseau 1899-1901 demonstriert. Diese Regierungsbeteiligung wurde von der gesamten Sozialdemokratie auf den Kongressen der Zweiten Internationale abgelehnt, jedoch nur unter Schwierigkeiten (und für einige mit großen Bedauern) von den französischen Sozialisten rückgängig gemacht. Es ist daher kein Zufall, dass beim Bruch mit den Arbeiterorganisationen, die zum Feind übergelaufen waren (die sozialistischen Parteien und die Gewerkschaften), die internationalistische Linke aus der deutschen Partei (die Spartakus-Gruppe um Luxemburg und Liebknecht) und aus den französischen Gewerkschaften (die u.a. von Rosmer, Monatte und Merrheim repräsentierte internationlistische Tendenz) hervorkam.
Allgemein betrachtet, war der Opportunismus am präsentesten in den Parlamentsfraktionen der sozialistischen Parteien und in dem ganzen Apparat, der in der Parlamentstätigkeit involviert war. Dieser Apparat übte dabei eine große Anziehungskraft auf all jene karrieristischen Elemente aus, die der Partei in der Hoffnung beigetreten waren, vom wachsenden Einfluss der Arbeiterbewegung zu profitieren, und die natürlich kein Interesse am revolutionären Sturz der herrschenden Ordnung hatten. Folglich gab es eine Tendenz in der Arbeiterklasse, die die politische Arbeit mit parlamentarischer Aktivität, parlamentarische Tätigkeit mit Opportunismus und Karrierismus, den Karrierismus mit der kleinbürgerlichen Intelligentsia von Anwälten und Journalisten und schließlich den Opportunismus mit dem eigentlichen Begriff der politischen Partei identifizierte.
Angesichts der Entwicklung des Opportunismus bestand die Antwort vieler revolutionärer ArbeiterInnen darin, die politische Tätigkeit als solche abzulehnen und sich in die Gewerkschaften zurückzuziehen. Und wie wir sehen werden, war es das Ziel der revolutionären syndikalistischen Bewegung als originäre Strömung in der Arbeiterklasse, Gewerkschaften aufzubauen, die die Einheitsorgane der Arbeiterklasse bilden und in der Lage sein sollten, Letztere für die Vertretung ihrer ökonomischen Interessen zu sammeln, sie auf den Tag vorzubereiten, an dem sie mittels des Generalstreiks die Macht ergreift, und die als organisatorische Struktur für die künftige kommunistische Gesellschaft dienen. Diese Gewerkschaften sollten Klassengewerkschaften sein, frei vom Karrierismus einer Intelligentsia, die die Arbeiterbewegung benutzen wollte, um sich selbst auf parlamentarischen Bänken Platz zu verschaffen, und unabhängig von allen politischen Parteien - wie die französische CGT 1906 auf dem Kongress von Amiens betonte.
Kurz, so wie Lenin sagte: „In Westeuropa war der revolutionäre Syndikalismus in vielen Ländern das direkte und unvermeidliche Resultat des Opportunismus, des Reformismus, des parlamentarischen Kretinismus. Bei uns verstärkten die ersten Schritte der „Dumatätigkeit" ebenfalls in gewaltigem Masse den Opportunismus, es kam dahin, dass die Menschewiki vor den Kadetten auf dem Bauche krochen. (...) Der Syndikalismus muss sich, als Reaktion auf das schändliche Treiben „hervorragender" Sozialdemokraten, zwangsläufig auf russischem Boden entwickeln." [8].
Die Hauptcharakteristiken der syndikalistischen Strömungen
Was war schließlich der revolutionäre Syndikalismus, dessen Entwicklung Lenin voraussah? Zunächst teilten seine verschiedenen Komponenten eine gemeinsame Vision dessen, was eine Gewerkschaft sein sollte. Um diese Konzeption zusammenzufassen, können wir nichts Besseres tun, als die Präambel der zweiten Konstituierung der International Workers of the World (IWW) zu zitieren, die 1908 in Chicago verabschiedet wurde: „Die historische Mission des Proletariates ist die Überwindung des Kapitalismus [9]. Die Masse der Produzenten muss nicht nur für den täglichen Kampf gegen die Kapitalisten organisiert werden, sondern auch um die Produktion in die eigenen Hände zu nehmen, wenn der Kapitalismus überwunden werden soll. Indem wir uns in der Industrie organisieren formen wir die Struktur der neuen Gesellschaft innerhalb der alten" [10].
Die Gewerkschaft soll also die Einheitsorganisation der Klasse zur Verteidigung ihrer unmittelbaren Interessen, für die revolutionäre Machtergreifung und für die Organisation der künftigen kommunistischen Gesellschaft sein. Gemäß dieser Sichtweise ist die politische Partei bestenfalls irrevelant (Bill Haywood behauptete, dass die IWW ein „Sozialismus im Blaumann" seien) und schlimmstenfalls eine Brutstätte für Bürokraten.
Es gibt zwei Kritiken an dieser syndikalistischen Sichtweise zu üben, auf die wir später noch detaillierter eingehen werden.
Die erste betrifft die Idee, dass es möglich sei „die Struktur der neuen Gesellschaft innerhalb der alten" zu bilden. Diese Idee, wonach es möglich sei, mit dem Aufbau der neuen Gesellschaft innerhalb der alten zu beginnen, entspringt einer tiefgehenden Unkenntnis über das Ausmaß der Antagonismen zwischen dem Kapitalismus, der letzten ausbeutenden Gesellschaft, und der klassenlosen Gesellschaft, die ihn ersetzen soll. Dieser schwerwiegende Irrtum verleitet zur Unterschätzung des Ausmaßes der gesellschaftlichen Umwandlung, das notwendig ist, um den Übergang zwischen diesen beiden Gesellschaftsformationen zu bewerkstelligen, und er unterschätzt auch den Widerstand der herrschenden Klasse gegen die Machtübernahme durch die Arbeiterklasse.
Jeglicher Gedanke, dass es möglich ist, willkürlich eine Abkürzung zu finden und somit die unvermeidlichen Zwänge zu umgehen, die der Übergang vom Kapitalismus zur klassenlosen Gesellschaft erfordert, spielt in der Tat in die Hände solch reaktionärer Auffassungen wie die Selbstverwaltung (in Wahrheit: Selbstausbeutung) oder der Aufbau des Sozialismus in einem Land, was Stalin besonders am Herzen lag. Wenn heutige Anarcho-Syndikalisten die Bolschewiki beschuldigen, keine radikalen Maßnahmen bei der gesellschaftlichen Umwandlung im Oktober 1917 durchgesetzt zu haben, als die ökonomische Vorherrschaft des Kapitalismus sich noch über den ganzen Planeten erstreckte, einschließlich Russland, so enthüllen sie bloß ihre reformistische Sichtweise sowohl der Revolution als auch der neuen Gesellschaft, die die Revolution etablieren soll. Dies ist wenig überraschend, da die syndikalistische Vision tatsächlich auf den Wechsel des Eigentümers von privatem Eigentum beschränkt bleibt: Das Privateigentum der Kapitalisten wird zum Privateigentum einzelner Arbeitergruppen, da jede Fabrik, jedes Unternehmen im Verhältnis zu den anderen autonom bleibt. Diese Vision der künftigen gesellschaftlichen Umwandlung ist so beschränkt, dass sie sogar vorsieht, dass dieselben ArbeiterInnen weiter in derselben Industrie und somit unter denselben Umständen arbeiten werden.
Unsere zweite Kritik am revolutionären Syndikalismus betrifft seine völlige Ignoranz gegenüber der realen revolutionären Erfahrung der Arbeiterklasse. Für die Marxisten war die Russische Revolution von 1905 ein enorm wichtiger Moment, besonders ihre spontane Bildung von Arbeiterräten. Für Lenin waren die Sowjets „die endlich gefundene Form der Diktatur des Proletariates". Rosa Luxemburg, Trotzki, Pannekoek, im Grunde der gesamte linke Flügel der Sozialdemokratie, der später die Kommunistische Internationale bilden sollte, widmeten der Analyse dieser und auch anderer Ereignisse, wie die großen Streiks in den Niederlanden 1903, große Aufmerksamkeit. Die politische Erfahrung aus 1905 wurde durch die Propaganda der linken Strömungen der Zweiten Internationale zu einem vitalen Element im Bewusstsein der Arbeiterklasse, was im Oktober 1917 in Russland (wo die anarchistische Bewegung übrigens nur eine marginale Rolle spielte) und in der revolutionären Welle Früchte trug, die das Entstehen von Sowjets in Finnland, Deutschland und Ungarn erlebte. Die „revolutionären" Syndikalisten blieben dagegen in ihren abstrakten Schemata gefangen, die auf der Erfahrung des reformistischen Gewerkschaftskampfes in der Aufstiegsepoche des Kapitalismus beruhten und die sich als komplett inadäquat für den revolutionären Kampf im dekadenten Kapitalismus erwiesen. Es trifft zu, dass die Anarchisten gern behaupten, dass die spanische „Revolution" in Sachen gesellschaftlichen Wandels viel tiefgehender als die Russische Revolution gewesen sei. Wie wir sehen werden, ist nichts falscher als dies.
Die heutigen revolutionären Syndikalisten setzen dieselben Traditionen fort und ignorieren völlig die realen Erfahrungen aus den Arbeiterkämpfen seit 1968. Insbesondere gehen sie mit keiner Silbe auf die Tatsache ein, dass einerseits die organisatorische Form, die von den Kämpfen geschaffen wurde, nicht die Gewerkschaft, sondern die souveräne allgemeine Versammlung mit ihren gewählten und jederzeit abwählbaren Delegierten ist [11] und dass andererseits der bürgerliche Staat sich die Gewerkschaften direkt einverleibt hatte [12].
Wir haben gesehen, dass die revolutionären Syndikalisten eine gemeinsame Vision der Gewerkschaft als den Ort teilen, wo die Arbeiterklasse sich organisiert. Werfen wir nun einen Blick auf die drei Schlüsselelemente, die regelmäßig in syndikalistischen Organisationen zum Vorschein kommen und die wir detaillierter in den nächsten Artikeln untersuchen werden.
Direkte Aktion
Man mag denken, dass heute die Frage der direkten Aktion von der Geschichte beantwortet worden sei. Als der revolutionäre Syndikalismus zum ersten Mal von sich reden machte, wurde die direkte Aktion als Gegenteil zur Aktion der „Führer", mit anderen Worten: der parlamentarischen Führer der sozialistischen Parteien und der Gewerkschaftsbürokraten vorgestellt. Doch seit dem Eintritt des Kapitalismus in seine dekadente Epoche haben die „sozialistischen" und „kommunistischen" Parteien nicht nur endgültig das Proletariat verraten; zudem bedeuten die reellen Bedingungen des Klassenkampfes, dass jede Aktion auf dem Terrain des Parlaments oder zur Eroberung politischer „Rechte" unmöglich geworden ist. In diesem Sinne ist die Debatte zwischen „direkter Aktion" und „politischer Aktion" völlig irrelevant. Manche mögen daraus folgern, dass die Geschichte die Frage geregelt habe und dass Marxisten und Anarchisten darin übereinstimmen könnten, die direkte Aktion der Arbeiterklasse im Kampf zu vertreten.
Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Frage der „direkten Aktion" steht im Mittelpunkt der Divergenzen zwischen den marxistischen und anarchistischen Auffassungen über die Rolle der revolutionären Minderheit. Für die Marxisten ist die Aktion der revolutionären Minderheit eine Tat der politischen Avantgarde der Arbeiterklasse und hat absolut nichts mit jener Art von Minderheitsaktion zu tun, die in der Nachfolge der „exemplarischen Aktion" der Anarchisten steht, welche die Tat der gesamten Arbeiterklasse durch das stellvertretende Handeln einer Minderheit ersetzen wollen. Die politischen Orientierungen, die die marxistische Organisation ihrer Klasse vorstellt, hängen stets vom Niveau des Klassenkampfes in seiner Gesamtheit ab, von der mal größeren, mal kleineren Fähigkeit des gesamten Proletariats, als Klasse gegen die Bourgeoisie zu handeln und die Prinzipien und Analysen der Kommunisten anzunehmen (um „sich die Waffe der Theorie anzueignen", wie es Marx formulierte). Der Anarchosyndikalismus dagegen bleibt infiziert von der im Kern moralischen und minoritären Vision der Anarchisten. Für diese Strömung gibt es keinen Unterschied zwischen der „direkten Aktion" der Arbeitermassen und der Aktion einer Minderheit, wie klein auch immer.
Der Generalstreik
Die Idee des Generalstreiks ist nichts Spezifisches des Anarchosyndikalismus, kommt doch dieser Begriff zum ersten Mal in den Schriften des utopischen Sozialisten Robert Owen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor. Doch abgesehen davon ist er zu einem Hauptmerkmal der syndikalistischen Theorie geworden und kann anhand dreier Hauptaspekte dargestellt werden [13]:
- die Fähigkeit der Arbeiterklasse, den Generalstreik erfolgreich durchzuführen, hängt vom zahlenmäßigen Wachstum und von der wachsenden Macht der (natürlich revolutionären) Gewerkschaftsorganisationen ab;
- die Revolution ist keine Frage der Politik: In der anarchosyndikalistischen Sichtweise lähmt der Generalstreik den bürgerlichen Staat einfach, der schließlich die ArbeiterInnen bei der Umwandlung der Gesellschaft unbehelligt lässt;
- die Theorie des Generalstreiks ist eng mit der Selbstverwaltung verknüpft, die überall in der Fabrik und am Arbeitsplatz vorgebracht wird.
In Wahrheit hat keine dieser Ideen die Prüfung der konkreten Erfahrung der Arbeiterklasse bestanden.
Zunächst einmal hat sich die Theorie, derzufolge die kontinuierliche Stärkung der Gewerkschaften der revolutionären Epoche vorausgehen werde, als völlig falsch erwiesen. Weder in der Russischen noch in der Deutschen Revolution waren die Gewerkschaften Organe des Kampfes oder der Ausübung proletarischer Macht. Im Gegenteil, sie stellten sich bestenfalls als konservative Bremse der Revolution heraus (zum Beispiel die Eisenbahnergewerkschaft in Russland, die sich der Revolution von 1917 widersetzte). In allen am I. Weltkrieg beteiligten Ländern kontrollierten die Gewerkschaften die Arbeiterklasse zugunsten des bürgerlichen Staates, um die Kriegsproduktion zu gewährleisten und jegliche Entwicklung eines Widerstandes gegen das Gemetzel zu verhindern. Diese Rolle wurde ohne Zögern auch von der Führung der anarchosyndikalistischen CGT angenommen, sobald Frankreich in den Krieg getreten war.
Das Resultat aus der Verweigerung des revolutionären Syndikalismus gegenüber der „Politik" war die Entwaffnung der ArbeiterInnen bei der Konfrontation mit diesen Fragen, die sich in den kritischen Momenten des Krieges und der Revolution unweigerlich stellten. All diese Fragen, die sich zwischen 1914 und 1936 stellten, waren politische Fragen: Worin bestand der Charakter des Krieges, der 1914 ausbrach? War er ein imperialistischer Krieg oder ein Krieg zur Verteidigung der demokratischen Rechte gegen den deutschen Militarismus? Welche Haltung sollte gegenüber der „Demokratisierung" der absolutistischen Staaten im Februar 1917 (Russland) und 1918 (Deutschland) eingenommen werden? Welche Haltung sollte gegenüber dem demokratischen Staat in Spanien 1936 eingenommen werden? War er ein bürgerlicher Feind oder ein antifaschistischer Verbündeter? In allen Fällen erwies sich der revolutionäre Syndikalismus als unfähig, Antworten zu geben; er endete schließlich in einem faktischen Bündnis mit der Bourgeoisie.
Die Erfahrung aus dem Streik in Russland 1905 stellte die Theorie in Frage, die bis dahin sowohl von den Anarchisten als auch von den Sozialdemokraten (den damaligen Marxisten) vertreten wurde. Doch nur der linke Flügel des Marxismus zeigte sich im Stande, die Lehren aus dieser eminent wichtigen Erfahrung zu ziehen. „Die russische Revolution (von 1905), dieselbe Revolution, die die erste geschichtliche Probe auf das Exempel des Massenstreiks bildet, bedeutet nicht bloß keine Ehrenrettung für den Anarchismus, sondern sie bedeute geradezu eine geschichtliche Liquidation des Anarchismus. (...) So hat die geschichtliche Dialektik, der Fels, auf dem die ganze Lehre des Marxschen Sozialismus beruht, es mit sich gebracht, dass heute der Anarchismus, mit dem die Idee des Massenstreiks unzertrennlich verknüpft war, zu der Praxis des Massenstreiks selbst in einen Gegensatz geraten ist, während umgekehrt der Massenstreik, der als der Gegensatz zu der politischen Betätigung des Proletariats bekämpft wurde, heute als die allmächtige Waffe des politischen Kampfes um politische Rechte erscheint. Wenn also die russische Revolution eine gründliche Revision des alten Standpunkts des Marxismus zum Massenstreik erforderlich macht, so ist es wiederum nur der Marxismus, dessen allgemeine Methoden und Gesichtspunkte dabei in neuer Gestalt den Sieg davontragen. Moors geliebte kann nur durch Moor selber sterben." (Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, R. Luxemburg Werke, Bd. 2, S. 95 und 97, das Zitat ist Shakespeares Stück Othello entnommen).
Internationalismus oder Antimilitarismus?
Auf dem ersten Blick mag es rein akademisch erscheinen, zwischen dem Internationalismus und dem Antimilitarismus zu unterscheiden. Muss im Grunde nicht jeder, der gegen die Armee ist, für die Brüderlichkeit zwischen den Völkern sein? Ist beides, wenn es darauf ankommt, nicht derselbe Kampf? In Wahrheit rühren diese beiden Prinzipien aus völlig unterschiedlichen Vorgehensweisen her. Der Internationalismus beruht auf dem Verständnis, dass der Kapitalismus, obwohl er ein Weltsystem ist, dennoch unfähig bleibt, über den nationalen Rahmen und der zunehmend frenetischen Konkurrenz zwischen den Nationen hinauszugehen. Insofern erzeugt er eine Bewegung, die auf den internationalen Sturz der kapitalistischen Gesellschaft durch eine Arbeiterklasse abzielt, die ebenfalls international vereint ist. Seit 1848 war der Hauptschlachtruf nicht antimilitaristisch gewesen, sondern stets internationalistisch: „Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!" (Kommunistisches Manifest) Doch für die marxistische Linke der Sozialdemokratie vor 1914 war es unmöglich, sich den Kampf gegen den Militarismus als etwas anderes als einen Aspekt eines viel breiteren Kampfes vorzustellen. „Indessen betrachtet die Sozialdemokratie, entsprechend ihrer Auffassung vom Wesen des Militarismus, die völlige Beseitigung des Militarismus allein für unmöglich: Nur mit dem Kapitalismus - der letzten Klassengesellschaftsordnung - zugleich kann der Militarismus fallen. (...) dass der Zweck der antimilitaristischen Propaganda der Sozialdemokratie nicht die isolierte Bekämpfung und ihr Endziel nicht die isolierte Beseitigung des Militarismus ist" (Karl Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus, Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 1, S. 432 und 433).
Der Antimilitarismus dagegen ist nicht notwendigerweise internationalistisch, da er dazu neigt, nicht den Kapitalismus als solchen zum Feind zu erklären, sondern nur einen Aspekt des Kapitalismus. Für die Anarchosyndikalisten in der französischen CGT vor 1914 wurde die antimilitaristische Propaganda vor allem durch die unmittelbare Erfahrung mit einer Armee motiviert, die gegen Streikende eingesetzt wurde. Sie betrachtete es als notwendig, sowohl den jungen Proletariern während ihres Militärdienstes Unterstützung zu gewährleisten als auch die Truppen davon zu überzeugen, den Einsatz ihrer Waffen gegen Streikende zu verweigern. An sich gibt es nichts an solchen Absichten auszusetzen. Doch die Anarchosyndikalisten zeigten sich nicht im Stande, den Militarismus als ein integrales Phänomen des Kapitalismus zu begreifen, als ein Phänomen, das in der Periode vor 1914 immer schlimmer werden sollte, als die imperialistischen Großmächte den I. Weltkrieg vorbereiteten. Typisch für dieses Unverständnis ist der Gedanke, dass der Militarismus faktisch nichts anderes sei als eine Ausrede, um die Repressionskräfte gegen die Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten, ein Gedanke, der von den anarchosyndikalistischen Führern Pouget und Pataud so ausgedrückt wurde: „Die Regierung will die Kriegsführung erhalten - denn die Furcht vor dem Kriege war für sie das beste Mittel für ihre Vorherrschaft. Dank der Angst vor dem Krieg, die geschickt geschürt wurde, konnten sie stehende Heere im ganzen Land aufrechterhalten, die unter dem Vorwand, die Grenzen zu schützen, in Wahrheit nur das Volk bedrohten und nur die herrschende Klasse beschützten." (Pouget und Pataud, Comment nous ferons la révolution, eigene Übersetzung)
In der Tat war der Antimilitarismus der CGT dem Pazifismus in dessen Eigenschaft sehr ähnlich, eine 180°-Kehrtwende zu vollziehen, sobald „das Vaterland in Gefahr" war. Im August 1914 entdeckten die Antimilitaristen über Nacht, dass die französische Bourgeoisie „weniger militaristisch" sei als die deutsche Bourgeoisie und dass es daher notwendig sei, die französische „revolutionäre Tradition" von 1789 gegen die barbarischen Stulpen der preußischen Militaristen zu verteidigen, statt den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg umzuwandeln, wie Lenin sagte.
Es ist klar, dass die Frage des Militarismus nicht mehr auf dieselbe Weise gestellt werden konnte nach dem schrecklichen Gemetzel von 1914-18, das an Schrecken alles übertraf, was die Antimilitaristen sich 1914 vorstellen konnten. Die antimilitaristische Ideologie wurde somit von der Ideologie des Antifaschismus verdrängt, wie wir sehen werden, wenn wir auf die Rolle der CNT im spanischen Bürgerkrieg in den 1930er Jahren zu sprechen kommen. In beiden Fällen wählten die Syndikalisten ein Lager - die demokratischere Bourgeoisie - gegen das andere, das der autoritären, diktatorischen Bourgeoisie.
Der Unterschied zwischen Anarchosyndikalismus und revolutionärem Syndikalismus
Ihren Zeitgenossen war durchaus nicht klar, dass es überhaupt Unterschiede zwischen beiden Strömungen gab, die ansonsten in vielerlei Hinsicht miteinander verknüpft waren. In der Tat konnte man vor 1914 sagen, dass die französische CGT als Leitstern für andere syndikalistische Strömungen diente, so wie es die deutsche SPD für andere Parteien der Zweiten Internationale war. Es scheint uns - mit der nachträglichen historischen Einsicht -dennoch geboten, zwischen den Positionen der Anarchosyndikalisten und denen der revolutionären Syndikalisten zu unterscheiden. Diese Unterscheidung fällt größtenteils mit den Unterschieden zwischen den industriell weniger entwickelten Ländern (Frankreich und Spanien) und den zwei wichtigsten und entwickeltsten kapitalistischen Ländern des 19. Jahrhunderts (Großbritannien) und des 20. Jahrhunderts (Vereinigte Staaten von Amerika) zusammen. Während der Anarchosyndikalismus eng mit dem größeren Einfluss innerhalb der Arbeiterbewegung weniger entwickelter Länder, mit dem anarchistischen Merkmal des Kleinbürgertums und der kleinen Handwerkerschichten im Proletarisierungsprozess verhaftet war, war der revolutionäre Syndikalismus eher die Antwort auf die Probleme eines Proletariats, das sich hoch konzentriert in großen Industrien befand.
Wir möchten kurz drei wichtige Elemente untersuchen, die es uns gestatten, zwischen diesen beiden Strömungen zu unterscheiden.
Für oder gegen Zentralisierung. Der Anarchosyndikalismus hatte stets eine föderalistische Sichtweise gehabt, in der die Föderation nicht mehr als eine lose Ansammlung unabhängiger Gewerkschaften war: Die Konföderation besaß gegenüber den Gewerkschaften keine Autorität. Besonders in der CGT passte den Anarchosyndikalisten dieser Umstand perfekt, da sie vor allem die kleinen Gewerkschaften dominierten; das System, das jeder Gewerkschaft eine Stimme gab, verlieh ihnen ein Gewicht in der CGT, das ihre numerische Bedeutung weit übertraf.
Der revolutionäre Syndikalismus der IWW wurde dagegen sowohl implizit wie auch ausdrücklich auf der Zentralisierung der Arbeiterklasse gegründet. Es ist kein Zufall, dass einer der Schlachtrufe der IWW lautete: „One big union" („Eine große Gewerkschaft"). Selbst der Name der Gewerkschaft („Industrial Workers of the World") machte - auch wenn das ehrgeizige Unterfangen nicht immer der Realität standhielt - ihre Absicht deutlich, die ArbeiterInnen der gesamten Welt in einer einzigen Organisation zu sammeln. Die Statuten der IWW, die 1905 in Chicago verabschiedet wurden, setzten die Autorität des Zentralorgans durch: „Die Unterabteilungen Internationale und Nationale Industrieunionen sollen völlige industrielle Autonomie in ihren besonderen inneren Angelegenheiten haben, unter dem Vorbehalt, dass die Allgemeine Exekutivkommission die Macht hat, diese Industrieunionen in Angelegenheiten zu kontrollieren, die das Interesse des allgemeinen Wohls betreffen" (siehe „Jim Crutchfield's IWW Page", oben zitiert für den vollen Text). [14]
Es gab einen beträchtlichen Unterschied zwischen Anarchosyndikalisten und revolutionären Syndikalisten in ihrer Haltung gegenüber der politischen Aktion. Obgleich es Mitglieder der sozialistischen Parteien in einigen Gewerkschaften der CGT gab, waren die Anarchosyndikalisten selbst „anti-politisch" und sahen in diesen Parteien nichts als parlamentarische Finten oder Manipulationen durch die „Führer". Die berühmte Charta, die vom Kongress in Amiens 1906 verabschiedet worden war, erklärte die totale Unabhängigkeit gegenüber jeglichen Parteien oder „Sekten" (ein Hinweis auf anarchistische Gruppierungen). Diese Verweigerung jeglicher politischer Visionen (die ausschließlich als parlamentarisches Tagesgeschäft verstanden wurden) ist einer der Gründe, warum die CGT politisch völlig unvorbereitet vom Krieg 1914 überrascht wurde, der sich nicht für das Schema des Generalstreiks auf einem rein „ökonomischen" Terrain eignete. Die anarchistische Ablehnung der „Politik" fand keine Parallele bei der Gründung der IWW, auch wenn die Gründer selbst behaupteten, eine Einheitsorganisation der Arbeiterklasse aufzubauen, und ihre völlige Handlungsfreiheit gegenüber politischen Parteien zu erhalten beabsichtigten. Im Gegenteil, die bekanntesten Gründer und Führer der IWW waren häufig Mitglieder einer politischen Partei: Big Bill Haywood war nicht nur Sekretär der Western Federation of Miners, sondern auch ein Mitglied der Sozialistischen Partei von Amerika, so wie auch A. Simons. Daniel De Leon von der Sozialistischen Arbeiterpartei spielte auch bei der Bildung der IWW eine führende Rolle. In dem ziemlich spezifischen Kontext der Vereinigten Staaten wurden die IWW von der Bourgeoisie und von der reformistischen Gewerkschaft AFL (American Federation of Labour) als gewerkschaftlicher Ausdruck des politischen Sozialismus angesehen. Selbst nach der Spaltung von 1908 spielten Mitglieder der SAP auf jenem Kongress, auf dem die IWW ihre Satzung dahingehend modifizierten, dass jegliches Bekenntnis zur politischen (das heißt: Wahl-)Aktion verbannt wurde, eine fundamentale Rolle in den IWW. Insbesondere Haywood wurde 1911 in das Exekutivkomitee gewählt: Seine Wahl stellte darüber hinaus einen Sieg der Revolutionäre über die Reformisten innerhalb der Sozialistischen Partei dar.
Es wäre gleichfalls unmöglich, den Einfluss des revolutionären Syndikalismus unter den Shop Stewards in Großbritannien zu erklären, ohne die Rolle zu erwähnen, die John MacLean und die schottische SLP gespielt hatten. Auch ist es kein Zufall, dass die Bastionen der Shop Steward-Bewegung (der Kohlebergbau und die Stahlindustrie in Südwales, die Industrie entlang des Clyde River in Schottland, die Region um Sheffield in England) auch zu Bastionen der Kommunistischen Partei in den Jahren nach der Russischen Revolution werden sollten.
Schließlich ist die Position, die jede dieser Strömungen gegenüber dem Krieg einnahm, kein geringer Unterschied zwischen beiden. In der Zeit von 1900 und 1940, in welcher der Syndikalismus den größten Einflusses besaß, gab es einen großen Unterschied zwischen dem Anarchosyndikalismus und dem revolutionären Syndikalismus in der Haltung gegenüber dem imperialistischen Krieg:
- Der Anarchosyndikalismus verlor Leib und Seele, als er den imperialistischen Krieg unterstützte: 1914 verpflichtete die CGT die französische Arbeiterklasse für den Krieg, während die spanische CNT 1936/37 durch ihre antifaschistische Ideologie und ihre Regierungsbeteiligung zu einem der Hauptpfeiler der bürgerlichen Republik wurde.
- Der revolutionäre Syndikalismus blieb hingegen seinen internationalistischen Positionen treu: Die IWW in den Vereinigten Staaten und die Shop Stewards in Großbritannien standen im Zentrum des Arbeiterwiderstandes gegen den Krieg.
Sicherlich sollte diese Unterscheidung nuanciert werden: Der revolutionäre Syndikalismus hatte seine Schwächen (besonders eine starke Neigung, die Frage des Krieges allein aus dem beschränkten Blickwinkel des ökonomischen Kampfes gegen dessen Auswirkungen zu betrachten). Dennoch bleibt auf der Ebene der Organisationen die Unterscheidung gültig.
Kurz: während der revolutionäre Syndikalismus trotz seiner Schwächen einige der entschlossensten Streiter der Arbeiterklasse im Kampf gegen den Krieg stellte, stellte der Anarchosyndikalismus Minister für die Regierungen des Burgfriedens in den bürgerlichen Republiken Frankreichs und Spaniens.
Schlussfolgerung
„Gen. Woinow verfolgt deshalb vollkommen richtig seine Linie, wenn er die russischen Sozialdemokraten aufruft, am Beispiel des Opportunismus und am Beispiel des Syndikalismus zu lernen. Die revolutionäre Arbeit in den Gewerkschaften, die Verlegung des Schwerpunktes von parlamentarischen Kunststücken auf die Erziehung des Proletariats, auf die Festigung von reinen Klassenorganisationen, auf den außerparlamentarischen Kampf, die Fähigkeit, den Generalstreik wie auch die „Kampfformen des Dezember" [15] in der russischen Revolution anzuwenden (und die Vorbereitung der Massen auf ihre erfolgreiche Anwendung) - alles das tritt gebieterisch in den Vordergrund als Aufgabe der bolschewistischen Richtung. Die Erfahrungen der russischen Revolution erleichtern uns diese Aufgabe gewaltig, geben uns eine Vielzahl wertvollster praktischer Hinweise und liefern eine Menge historischen Materials, das uns ermöglicht, die neuen Methoden des Kampfes, den Massenstreik und die unmittelbare Gewaltanwendung, ganz konkret einzuschätzen. "Neu" sind diese Methoden des Kampfes am wenigsten für die russischen Bolschewiki, für das russische Proletariat. „Neu" sind sie für die Opportunisten, die mit aller Macht bemüht sind, aus dem Gedächtnis der Arbeiter die Erinnerungen im Westen an die Kommune, in Russland an den Dezember 1905 zu tilgen. Diese Erinnerungen zu festigen, diese großen Erfahrungen wissenschaftlich zu studieren, ihre Lehren und das Bewusstsein der Unvermeidlichkeit der Wiederholung dieser Erfahrungen in neuem Maßstab in den Massen zu verbreiten - diese Aufgabe der revolutionären Sozialdemokraten in Russland eröffnet uns unermesslich inhaltsreichere Perspektiven als der einseitige „Antiopportunismus" und „Antiparlamentarismus" der der Syndikalisten." (Lenin, Vorwort zur Broschüre von Woinow).
Für Lenin war der revolutionäre Syndikalismus eine proletarische Antwort auf den Opportunismus und den parlamentarischen Kretinismus der Sozialdemokratie, aber er war eine partielle und schematische Antwort, die nicht in der Lage war, den Gezeitenwechsel im frühen 20. Jahrhundert in seiner ganzen Komplexität zu begreifen. Trotz der historischen Unterschiede, die in den verschiedenen syndikalistischen Strömungen zutage traten, hatten alle diesen Defekt gemeinsam. Wie wir in den kommenden Artikeln sehen werden, erwies sich diese Schwäche als fatal: Im günstigsten Fall war die syndikalistische Strömung unfähig, voll und ganz zur Ausbreitung der revolutionären Welle von 1917-23 beizutragen; im schlimmsten Fall endete er in offener Unterstützung für den imperialistischen Kapitalismus, den er einst zu bekämpfen vorgegeben hatte.
Jens, 4. Juli 2004
[1] Wir werden später auf die Unterscheidung zwischen dem revolutionären Syndikalismus und dem Anarchosyndikalismus zurückkehren. Um es kurz zu machen, können wir sagen, dass der Anarchosyndikalismus ein Zweig des revolutionären Syndikalismus ist. Sämtliche Anarchosyndikalisten betrachten sich selbst als revolutionäre Syndikalisten, während umgekehrt dies nicht der Fall ist. Wo wir den Begriff „Syndikalismus" benutzen, beziehen wir uns unterschiedslos auf beide Strömungen.
[2] Der Verrat durch die sozialistischen Parteien 1914 wurde bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts vom linken Flügel in den sozialistischen Parteien (Luxemburg, Pannekoek, Gorter, Lenin, Trotzki) bekämpft. Der Verrat durch die Kommunistischen Parteien (die die Konterrevolution in den 20er und 30er Jahren anführten) wurde von den Linkskommunisten (die KAPD in Deutschland, die GIK in den Niederlanden, die Linke der italienischen KP um Bordiga, schließlich die Fraktionen der Internationalen Linken in Bilan und Internationalisme) bekämpft.
[3] Die Grand National Consolidated Union wurde 1833 unter aktiver Beteiligung Robert Owens gebildet; laut der Presse dieser Tage organisierte sie 800.000 britische ArbeiterInnen (siehe J.T. Murphy, Preparing for power).
[4] Die Anarchisten widersetzten sich gern dem „libertären" und „demokratischen" Bakunin. In Wahrheit empfand der Aristokrat Bakunin tiefe Verachtung für das „Volk", das von der unsichtbaren Hand geheimer Verschwörer gelenkt werden sollte: „Die wahre Revolution braucht keine Individuen die sich an die Spitze der Massen stellen und sie kommandieren, sondern Männer, die, unsichtbar in ihrer Mitte verborgen, die unsichtbare Verbindung einer Masse mit der anderen ausmachen und so der Bewegung unsichtbar eine und dieselbe Richtung, einen und denselben Geist und Charakter geben. Die vorbereitende geheime Organisation hat nur diesen Sinn, und einzig und allein hierzu ist sie notwendig" (Bakunin, Die Prinzipien der Revolution). Siehe International Revue Nr. 20, deutsche Ausgabe, „Der Kampf des Marxismus gegen das politische Abenteurertum". Für weitere Details über Bakunins organisatorische Ideen siehe die exzellente Biographie von E.H. Carr.
[5] In dieser Periode organisierten sich die Gewerkschaften in Gewerben; darüber hinaus beschränkte sich die gewerkschaftliche Mitgliedschaft auf ausgebildete Arbeiter.
[6] Als ein Beispiel für den Unterschied zwischen der Epoche des Aufstieg und der Epoche der Dekadenz des Kapitalismus können wir die Entwicklung des Arbeitstages anführen. Von 16-17 Stunden am Tag zu Beginn des 19. Jahrhunderts fiel die Arbeitszeit auf zehn oder gar acht Stunden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seither blieb sie (abgesehen vom Schwindel der 35-Stunden-Woche in Frankreich, die heute wieder in Frage gestellt wird) hartnäckig um acht Arbeitsstunden herum verharren, und dies trotz eines phantastischen Anstiegs in der Produktivität. In Ländern wie Großbritannien wird der Arbeitstag momentan wieder verlängert; der typische „Neun-bis-fünf-Job" der 60er Jahre wurde durch einen Arbeitstag ersetzt, der erst um 18 Uhr oder später endet.
[7] Millerand war ein Anwalt, der in der französischen Arbeiterbewegung wegen seiner Qualitäten bei der Verteidigung von Gewerkschaftern vor Gericht hoch geschätzt wurde. Als Protégé von Jaurès kam er 1889 als unabhängiger Sozialist ins Parlament. Doch seine Beteiligung am Kabinett Waldeck-Rousseau entfremdete ihn von den Sozialisten, von denen er sich ab 1905 sukzessive löste. 1909 wurde er Minister für Öffentliche Arbeiten, diente schließlich als Kriegsminister zwischen 1912 und 1915.
[8] Lenins Vorwort zu einem Pamphlet von Woinow (A. W. Lunatscharski) über die Haltung der Partei gegenüber den Gewerkschaften (1907) (Lenin Werke, Bd. 13, S. 162) In Wahrheit entwickelte sich der Syndikalismus nur wenig in Russland, und dies aus einem bestimmten Grund: Die russischen Arbeiter wandten sich einer wirklich revolutionären marxistischen Partei zu, den Bolschewiki. Siehe: https://www.marxists.org/archive/lenin/works/1907/nov/00.htm.
[9] Es sollte angemerkt werden, dass diese Sichtweise einer historischen Mission der Arbeiterklasse weitaus enger mit dem Marxismus als mit dem Anarchismus verbunden ist.
[10] „Jim Crutchfields IWW-Seite" enthält nützliches Material für die Geschichte der IWW. Siehe: https://jdcrutch.home.mindspring.com/i/constitution/1908const.html.
[11] Siehe unsere Artikel über die Klassenkämpfe in Polen 1980/81 in der deutschen Internationalen Revue, Nr. 6 und 8.
[12] Für jene, die die Wahrheit dieser Vereinigung anzweifeln, lohnt sich ein Blick auf den Umfang der Finanzierung der Gewerkschaften in den „demokratischen" Ländern durch den Staat. Zum Beispiel gibt es laut der französischen Zeitung La Tribune vom 23.02.2004 allein 2.500 Zivilangestellte, die vom Bildungsministerium bezahlt werden und sich voll und ganz der Gewerkschaftsarbeit widmen. Derselbe Artikel gibt Details über die vielfältigen, an die Gewerkschaften ausbezahlten Beihilfen preis, einschließlich der etwa 35 Millionen, die jährlich im Namen der „Kooperation Gewerkschaften-Management" gezahlt werden.
[13] Die anarchosyndikalistische Vision eines Generalstreiks wird in Romanform im Buch Comment nous ferons la révolution beschrieben, verfasst von zwei CGT-Führern, Pouget und Pataud, ein Buch, das erstmals 1909 veröffentlicht wurde (Editions Syllepse).
[14] Man sollte bemerken, dass der Grad der Zentralisierung in den IWW-Statuten weit über jene Zentralisierung hinausging, die zurzeit der Zweiten Internationale herrschte.
[15] Mit anderen Worten: die Sowjets.