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Die Katastrophe von Fukushima im Anschluss an das verheerende Erdbeben in Japan im März dieses Jahres hat weltweit Bestürzung hervorgerufen. Mit Entsetzen nahm die Weltöffentlichkeit die Hilflosigkeit des japanischen Kapitalismus angesichts dieser Katastrophe wahr, eines Hochtechnologielandes, dessen Ingenieure berühmt sind für ihre Kreativität. Doch nirgendwo waren die Reaktionen auf die Ereignisse in Japan so heftig wie in Deutschland: Fukushima war der endgültige Todesstoß für die deutsche Atomenergie; ihre ohnehin geringe Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung fiel angesichts der Bilder von den explodierenden Kraftwerksblöcken in Fukushima auf ein zu vernachlässigendes Maß. Die Folge: Noch nie hatte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine Bundesregierung ein von ihr selbst erlassenes Gesetz so schnell wieder kassiert wie die Merkel-Regierung, die in Windeseile das Gesetz zur Verlängerung der AKW-Laufzeiten, das sie gegen den heftigen Widerstand von erheblichen Teilen der Öffentlichkeit im Herbst vergangenen Jahres durchgepaukt hatte, im Juni dieses Jahres durch eine Novelle ersetzte, die das faktische Aus der Kernenergie in Deutschland in gut einem Jahrzehnt (2022) bedeutet. Hinter dieser ostentativen Abwendung von der Kernenergie, die sie noch Wochen zuvor noch als „Brückentechnologie“ auf dem Weg zu einer „nachhaltigen“ Energiepolitik gepriesen hatte, steckt zweifellos das Kalkül Merkels, ihre Regierung aus der Schusslinie der nun überwältigenden Mehrheit der Atomkraftgegner in der Bevölkerung zu bugsieren. Indem Merkel gegen innerparteiliche Widerstände und gegen die sich sträubende FDP versuchte, die Grünen, die Anti-Atomkraft-Partei schlechthin, links zu überholen (die nun verabschiedeten Restlaufzeiten der AKW sind kürzer als die ursprünglich von der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen), bewies sie lediglich, dass ihr das eigene politische Überleben allemal wichtiger ist als das wirtschaftliche Wohlergehen der Energiekonzerne.
Doch es wäre zu kurz gegriffen, würde man diese überraschende Wende allein dem opportunistischen Machterhalt bestimmter Teile der politischen Klasse zuschreiben. Fukushima kam zwar unerwartet, aber durchaus nicht unwillkommen für die herrschende Klasse Deutschlands. Die 1800-Wende der Merkel-Regierung wurde von einer breiten Mehrheit nicht nur der Bevölkerung, sondern auch des deutschen Kapitals getragen (sehen wir einmal von den Energiekonzernen ab, denen jetzt natürlich ein äußerst lukratives Geschäft durch die Lappen geht). Worauf ist dieser krasse Unterschied in der Wahrnehmung dieser Katastrophe zwischen Deutschland und dem Rest der Welt (eingeschlossen Japan) zurückzuführen? Was sind die tieferen Hintergründe für den deutschen Alleingang in der Kernenergie-Frage? Und welche Folgen wird er innen- und außenpolitisch haben?
Die Rolle des Umweltschutzes in Deutschland
Die deutsche Umweltschutzbewegung ist nicht nur mittlerweile Vorreiter der modernen internationalen ökologischen Bewegung; sie ist bis heute auch ihre führende und erfolgreichste Kraft geblieben. Ihr politischer Arm – die Grünen – hat es bereits in etliche Landesregierungen und sogar den Sprung in die höchsten Machtebenen der Bundespolitik geschafft (dazu später mehr). Der lange Arm der privaten Naturschutzorganisationen und Umweltverbände wie auch der Umweltbehörden reicht weit bis in jedes kleine und größere Infrastrukturvorhaben. Kein größeres Unternehmen kann heute auf eine Umweltzertifizierung seiner Produkte und Produktion mehr verzichten. Die deutsche Bourgeoisie hat – mit einem Wort – die Ökologie für sich entdeckt. Dabei markierte Fukushima gewiss nicht den Beginn ihres Lernprozesses in Sachen Umwelt, sondern beschleunigte ihn bestenfalls.
Wie ist dieser Erfolg der Umweltbewegung in Deutschland zu erklären? Und warum hat sie in den anderen traditionellen Industrieländern nicht – oder zumindest nicht in einem vergleichbaren Ausmaß - Fuß gefasst? Einen Teil der Antwort findet man sicherlich in der Entstehungsgeschichte der Nachkriegs-Umweltbewegung in Deutschland. Letztere hatte, nachdem ihre ersten Vorläufer bereits Anfang der 1970er Jahre aufgekommen waren, ihre eigentliche Initialzündung mit dem Kampf gegen das geplante Atomkraftwerk Whyl, der 1973 begann und sich Mitte der 1970er, Anfang der 1980er Jahre zu einer Massenbewegung auswuchs. Auffällig dabei sind der Ort ihrer Entstehung und der Zeitpunkt ihrer Ausbreitung. Whyl, der Standort des geplanten (und dann doch nicht gebauten) AKW, befindet sich am Kaiserstuhl im Südwesten von Baden-Württemberg, einem traditionellen Weinanbaugebiet, fernab jeder Industrie. Ihren ersten Höhepunkt erlebte die Umweltbewegung mit der Bauplatzbesetzung von Whyl 1975 und der ersten Großdemonstration in Brokdorf 1976, Jahre nachdem Deutschland die letzten großen Arbeiterkämpfe erlebt hat. Die Öko-Bewegung war mithin im Schatten der Arbeiterkämpfe Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre entstanden, ihren Aufstieg zu einer Massenbewegung verdankte sie dem Abflauen derselben. Wie der Terrorismus der RAF und die Massenblüte der erzstalinistischen K-Gruppen war der massenhafte Zulauf zur Umweltbewegung in gewisser Hinsicht der aufkommenden Resignation vieler junger, militanter ArbeiterInnen gegenüber ihrer Klasse geschuldet, der es nicht gelang, ihre Kämpfe zu politisieren, sprich: in einen antikapitalistischen Zusammenhang zu stellen.
Neben der Schwäche der Arbeiterklasse in Deutschland gibt es aber auch historische Gründe für die verhältnismäßig große Bedeutung des Natur- bzw. Umweltschutzes in Deutschland. Schon in der Romantik eines Heinrich Heine u.a. und in den deutschen Mythen und Märchen (Gebrüder Grimm) spiegelt sich das besondere Verhältnis der Deutschen zum Wald als Symbol der unberührten Natur wider. „Entstanden sind die ersten umweltrelevanten Organisationen um die Jahrhundertwende (zum 20. Jahrhundert) im Kontext der Naturschutz-, Lebensreform- und Heimatbewegung. Prägend war für sie vor allem die Kritik an der technischen Moderne und der Zersiedelung der Landschaft infolge der Industrialisierung. Naturschutz- und Heimatbewegung lassen sich durchaus als antimodernistische soziale Bewegung verstehen, die überwiegend vom Bildungsbürgertum und dem städtischen Mittelstand getragen wurden.“[1] Auch die deutsche Arbeiterbewegung blieb nicht unberührt von dieser Frage. In zahlreichen Texten setzten sich ihre Vordenker – Marx, Engels, aber auch Bebel und andere – mit dem Verhältnis des Menschen zu seiner „äußeren Natur“ (Marx) im Allgemeinen und mit den verheerenden Folgen der kapitalistischen Produktionsweise für die natürliche Umwelt im Besonderen auseinander, wobei sie allerdings zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und ihren Produktivkräften zu unterscheiden wussten und somit der Maschinenstürmerei des Kleinbürgertums nicht auf den Leim gingen.[2]
Diese Affinität der Deutschen zur Natur hat auch mit dem Umstand zu tun, dass Deutschland zurzeit der Industrialisierung Europas der Entwicklung lange Zeit hinterhergehinkt war, um dann das Versäumte umso schneller aufzuholen. Während Länder wie England, Belgien, die Niederlande Jahrhunderte Zeit für ihre kapitalistische Transformation gehabt hatten und sich die Intensität der Umwelteingriffe somit auf einen verhältnismäßig langen Zeitraum verteilt hatte, erlebte Deutschland, nachdem es gegen Mitte des 19. Jahrhunderts aus seinem Dornröschenschlaf erwacht war, die Entwicklung zu einem Industrieland fast im Zeitraffer. Weniger als zwei Generationen waren Zeuge und Opfer einer abrupten Veränderung ihrer eigenen Lebensumstände und der natürlichen Umwelt. Dies wird besonders deutlich in der Frage der Urbanisierung. Während sich in England, dem Vorreiter der industriellen Revolution, die Urbanisierungsrate von 1500 bis 1800 kontinuierlich von drei auf zwanzig Prozent erhöhte, legte sie im deutschsprachigen Raum im selben Zeitraum nur um etwas mehr als zwei Prozent zu (von 3,2 auf 5,5 Prozent), um dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts regelrecht zu explodieren. „Hatten bei der Gründung des Deutschen Reichs 1871 lediglich acht Städte mehr als 100.000 Einwohner, waren es 1910 bereits 48 Städte“.[3] Es liegt nahe, dass sich dieser plötzliche Einbruch der Moderne in die überwiegend agrarisch geprägte Gesellschaft Deutschlands in weiten Teilen der Bevölkerung als eine traumatische Erfahrung niederschlug. Eine Erfahrung, die bleibende Spuren hinterließ: zunächst in Gestalt einer antimodernistischen kleinbürgerlichen Naturschutz- und Heimatbewegung, die sich in der Idealisierung der Natur und der bäuerlichen Kultur äußerte, und schließlich in Form der Umweltbewegung von heute, der es mittlerweile gelungen ist, zum moralischen Imperativ von Politik und Wirtschaft zu avancieren.
Die Hintergründe der grünen Häutung der deutschen Bourgeoisie
Der Prozess der „Ökologisierung“ der deutschen Bourgeoisie begann gegen Mitte der 1980er Jahre. Die bürgerlichen Massenmedien begannen sich zunehmend des Themas des Umweltschutzes zu bemächtigen. Daneben sorgten Umweltkatastrophen wie die von Bhopal (1984) in Indien und Tschernobyl (1986) für eine weitere Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Umweltfragen. Sichtbarster Ausdruck dafür, dass die Umweltbewegung in der bürgerlichen Gesellschaft angekommen war, war sicherlich die Ernennung von Joschka Fischer zum Umwelt- und Energieminister in der hessischen Landesregierung 1985.
Der seitdem beständig wachsende Stellenwert der Ökologie in Politik und Wirtschaft war jedoch nicht in erster Linie das Ergebnis einer echten Einsicht und Umkehr der Herrschenden. Wann immer ökologische Bedenken gegen infrastrukturelle Maßnahmen (wie z.B. den Ausbau von Autobahnen durch Naturschutzgebiete) geäußert wurden, wann immer heimischen Industrien Beeinträchtigungen von außen drohten (wie beispielsweise die Sonderbesteuerung PS-starker Pkw durch Brüssel), verfuhren die Herrschenden in Deutschland noch unter jeder Regierungskonstellation nach dem Motto: ‚Was kümmert mich mein Öko-Geschwätz von gestern…‘ und ließen ihre umweltpolitischen Vorsätze fallen. Dennoch erkannten Teile der Wirtschaft in Deutschland schon recht früh, dass sich Teilbereiche der Ökologie durchaus mit den Akkumulationsbedürfnissen des Kapitals vereinbaren lassen. Schließlich kristallisierte sich im Rahmen der Umweltbewegung in Deutschland eine Schicht von Menschen heraus – eine Schicht von sehr gut, oftmals akademisch ausgebildeten Menschen, die fälschlicherweise von den bürgerlichen Soziologen ausnahmslos dem Mittelstand zugerechnet werden, in Wahrheit aber mehrheitlich „nur“ den höher gebildeten Teil der modernen Arbeiterklasse in Deutschland verkörpern -, die sich durch zwei Eigenschaften auszeichnet: einen relativ hohen Wohlstand und die Bereitschaft, für Bioprodukte und umweltverträgliche Produktion tiefer in die Tasche zu greifen. Diese solvente Gesellschaftsgruppe bildete die Grundlage für die Entstehung eines kleinen, aber lukrativen und vor allem wachsenden Absatzmarktes für Öko-Produkte. Darüber hinaus erwies sich der bundesdeutsche Staat, gleichgültig wer die Regierungsgeschäfte tätigte, mit zunehmender Dauer als der wichtigste Impulsgeber für das grüne Wachstum. Heute ist die Umweltindustrie in Deutschland auch und gerade dank staatlicher Lenkungspolitik in Form des gesetzgeberischen Instrumentariums, von Subventionen, Steuernachlässen und staatlichen Investitionen „für die deutsche Wirtschaft zum großen Geschäft (geworden). Mehr als 1,8 Millionen Beschäftigte verdienen mittlerweile ihr Einkommen damit - mehr als je zuvor. Das geht aus dem ersten ‚Umweltwirtschaftsbericht‘ des Bundesumweltministeriums hervor. Demnach hängt jeder zwanzigste Job in Deutschland an Gütern und Dienstleistungen rund um die Umwelt. Auch dient inzwischen jedes zwanzigste deutsche Industrieprodukt in irgendeiner Form dem Umweltschutz, mit wachsender Tendenz: Allein zwischen 2005 und 2007 wuchs die Produktion um 27 Prozent.“[4]
Die politische Klasse Deutschlands hatte mit ihrer Umweltpolitik jedoch von Anfang an mehr im Sinn als die Schaffung eines neuen Segments im Binnenmarkt, d.h. die Abschöpfung der Kaufkraft der „Ökos“. Mit der staatlichen Förderung der „ökologischen Modernisierung“ der deutschen Industrie bezweckte sie auch und vor allem eins: Die deutsche Wirtschaft sollte fit gemacht werden für den „grünen Weltmarkt“. Dank dieser – für bürgerliche Verhältnisse – weitsichtigen Politik gelang es dem deutschen Kapital, sich eine starke Stellung in diesem Markt zu sichern. Mittlerweile ist die deutsche Industrie mit 16 Prozent Weltmarktführer im Umweltbereich. „Besondere Stärken weist Deutschland bei der nachhaltigen Energiewirtschaft und bei der Abfall- und Kreislaufwirtschaft auf. Hier entfällt mehr als ein Viertel des Weltmarktes auf deutsche Unternehmen.“[5] Und nachdem die regionalen Auswirkungen der Umweltverschmutzung (wie der saure Regen und das Waldsterben in den 1980er Jahren) von der globalen Umweltkrise – die Erderwärmung - abgelöst wurden, wittert die deutsche Bourgeoisie nun das große Geschäft. Nichts Geringeres als einen „Green New Deal“ verspricht sie sich von den internationalen Klimaschutzprogrammen, zu denen sich ein Großteil der internationalen Staatengemeinschaft verpflichtet hat. Große deutsche Unternehmen bauen derzeit ihre Konzernstrukturen um, indem sie sich von Produktionssparten verabschieden, die im Verdacht stehen, die Umwelt zu belasten, und neue, „grüne“ Geschäftsfelder gründen. Der Siemens-Konzern beispielsweise plant per 1. Oktober dieses Jahres eine neue Produktionssparte namens „infrastructure & cities“, die laut Siemens-Vorstand das ehrenwerte Ziel verfolgt, die Megacities dieser Welt ökologisch umzubauen. „Idealismus? Tatsächlich geht es um dicke Geschäfte, den Kampf um Umsätze und Renditen. Zu einem erträglichen Leben gehören zum Beispiel U-Bahnen, leistungsfähige Stromnetze und eine Gebäudetechnik, die viele Menschen sicher auf engem Raum unterbringt. Siemens schätzt das Volumen dieses Marktes auf jährlich 300 Milliarden Euro, und will hier — wie überall — Marktführer sein. Auf 100 Milliarden Euro veranschlagt Siemens das Volumen allein von öffentlichen Auftraggebern.“[6] Schätzungen gehen davon aus, dass der Gesamtumsatz von Umwelttechnologien, der im 2005 noch eine Billion Euro betrug, auf 2,2 Billionen Euro im Jahr 2020 steigen wird. „Davon wird die deutsche Umweltindustrie kräftig profitieren", frohlockten das Bundesumweltministerium und das Umweltbundesamt in ihrem Bericht von 2009.
Neben den ökonomischen Motiven spielen aber auch strategische Gründe eine wichtige Rolle beim ökologischen Umbau von Teilen der deutschen Wirtschaft. Dies wird besonders in der Energiepolitik der herrschenden Klasse in Deutschland deutlich. Der deutsche Imperialismus hat in seiner Geschichte nie einen direkten Zugriff auf fossile Energiequellen wie Erdöl oder Erdgas besessen, was seine Großmachtambitionen von Anbeginn stark beeinträchtigte. Die Erdölförderung befand sich stets in der Hand seiner anglo-amerikanischen und niederländischen Kontrahenten; und auch heute, wo neue Tiefseeölfelder erschlossen werden und die Gruppe der global player im Großen Spiel ums Erdöl um neue Mitstreiter – von Norwegen über Venezuela bis Brasilien – erweitert wurde, hat Deutschland das Nachsehen. Auch in Sachen Kernkraft ist das deutsche Kapital schon längst aus dem Geschäft. Das letzte kommerzielle Kernkraftwerk in Deutschland wurde vor über 22 Jahren fertiggestellt; der so genannte Atomkonsens zwischen der rot-grünen Bundesregierung unter Schröder und der Energiewirtschaft im Jahr 2000 segnete den Ausstieg aus der Kernkraft auch politisch ab, und 2001 beschloss Siemens indirekt den Ausstieg „aus dem sogenannten heißen Teil der Nukleartechnik“.[7] Angesichts dieser Abhängigkeit Deutschlands von fremden Energiequellen war es stets allgemeiner Konsens in der politischen Klasse der Bundesrepublik, die nationale Energiewirtschaft besonders zu fördern. Hier ist der Grund dafür zu suchen, dass die Strompreise in Deutschland die mit Abstand höchsten unter den Industrieländern sind. Die Mondpreise auf dem deutschen Strommarkt sind nicht ökonomisch bedingt, sondern politisch gewollt. Die vier Energieriesen E.on, RWE, EnBW und Vattenfall[8] gehören zu den strategisch relevanten Unternehmen des deutschen Staatskapitalismus. Ihr staatlich begünstigter Extraprofit dient nicht nur als Kriegskasse für den Erwerb ausländischer Energiekonzerne, sondern verfolgte auch stets den Zweck, dem deutschen Imperialismus eine größere Unabhängigkeit in der Energieversorgung zu ermöglichen – einst durch den milliardenschweren Ausbau der Kernenergie, nun durch die Forcierung der Nutzung alternativer, nicht-fossiler Energiequellen, insbesondere der Windenergie, aber auch anderer alternativer Energiequellen. Schon liegen in den Schubläden deutscher Stromkonzerne mehr oder minder konkrete Pläne zur Ausbeutung der Sonnenenergie in Gestalt riesiger „Solarfarmen“ in Nordafrika („Desertec“) und Südeuropa vor. Doch solange die alternative Energie noch nicht die fossile Energie vollständig ersetzen kann, soll eine Diversifizierung der Energiequellen (der berühmte „Energiemix“) einstweilen die einseitige Abhängigkeit des deutschen Imperialismus vom Erdöl mindern: Neben dem Neubau von Kohlekraftwerken (!) soll dies hauptsächlich durch Erdgaslieferungen aus Russland, ein Kernbestandteil der so genannten strategischen Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland, geschehen.
Der überstürzte Ausstieg aus der Kernenergie, der nun von der Merkel-Regierung beschlossen wurde, hat im Ausland viel Kopfschütteln ausgelöst. Für die imperialistischen Rivalen fügt sich dieser Alleingang in der Energiepolitik in das Bild eines Deutschlands, das sich allmählich von seiner Einbindung und Unterordnung in das Gleichgewicht der Kräfte löst, das die alliierten Sieger des II. Weltkriegs festgezurrt hatten. In der Tat versucht der deutsche Imperialismus schon seit geraumer Zeit seinen Platz in einer Welt zu finden, in der – nach der Aufhebung der alten Nachkriegsordnung des Kalten Krieges – die Karten neu gemischt werden. Da kommt die Ökologie wie gerufen. Sollte vor hundert Jahren die Welt noch am „deutschen Wesen“ genesen, so geriert sich die deutsche Bourgeoisie nun als das grüne Gewissen der Welt. Ginge es nach ihr, sollen deutsche Umweltstandards und –technologien die Welt vor der Umweltkatastrophe bewahren. Geschickt setzt sie die Ökologie auch als Mittel ein, um ihre imperialistischen Kontrahenten wie die USA (Kyoto) oder China (Kopenhagen) unter Druck zu setzen. Damit nicht genug. Auch auf innenpolitischer Ebene, im ideologischen Kampf gegen die Arbeiterklasse, erfindet sich der deutsche Nationalismus derzeit neu.
Der Umweltschutz als neuer nationaler Leitgedanke
Eine der vielen Hypotheken, die auf dem deutschen Imperialismus seit den unseligen Tagen des Nationalsozialismus lasteten, war seine Schwierigkeit im Umgang mit dem Nationalismus herkömmlicher Art. Die Monstrosität der Verbrechen im „III. Reich“ machten es den Herrschenden in Deutschland bis in die jüngste Zeit schwer, sich jener patriotischen Symbolik zu bedienen, die für den Rest der Welt so selbstverständlich ist. So mussten sie erst erhebliche Widerstände in der westdeutschen Öffentlichkeit überwinden, ehe sie es wagten, das Bundeswehrgelöbnis, den sog. Fahneneid der Wehrpflichtigen, außerhalb der Kasernen in aller Öffentlichkeit zu veranstalten. Und es bedurfte erst der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland, um die Deutschland-Fahne gewissermaßen gesellschaftsfähig, zu einem selbstverständlichen Utensil für Jedermann zu machen. Auch die Nationalhymne trägt wenig zur Identitätsstiftung bei. Zwar wurde sie schamhaft bis auf eine einzige Strophe gekürzt, doch auch die amputierte Version geht vielen Menschen hierzulande noch immer schwer über die Lippen, verglichen mit der Inbrunst, mit der Franzosen, Amerikaner, Italiener, etc. ihre Hymne singen.
Nicht Schwarz-Rot-Gold oder Nationalflagge sorgten also für eine nationale Identität in der Nachkriegszeit, sondern… die D-Mark. Die D-Mark galt als sog. Hartwährung; im Vergleich zum Franc, zur Lira, zum Pfund oder zum Dollar schien sie ihre ganze Existenz hindurch unbeirrt auf Stabilitätskurs zu bleiben. Die „Deutschmark“ war überall auf der Welt angesehen, ja begehrt; wenigstens auf sie konnte man als Deutscher stolz sein im Ausland. Unvergessen bleiben die Szenen, als 1990, noch vor der offiziellen Wiedervereinigung, die D-Mark in die DDR eingeführt wurde – Szenen, die an Hysterie grenzten, an einen ekstatischen Tanz ums Goldene Kalb. So gehörte denn auch Deutschland zu den Ländern in der EU, in denen sich Widerstand gegen die Einführung des Euro regte. Das Unbehagen darüber, die „geliebte“ D-Mark aufzugeben, war bis weit in die Arbeiterklasse verbreitet und konnte nur durch das Versprechen besänftigt werden, dass der Euro nach denselben Stabilitätskriterien wie die D-Mark geführt werde, dass er quasi die D-Mark auf europäisch sei.
Keine zehn Jahre nach der pompösen Einführung des Euro ist von den guten Vorsätzen der Schöpfer des Euro nicht mehr viel übrig geblieben; alle Stabilitätsversprechen haben sich im Angesicht der aktuellen Schuldenkrise als Makulatur erwiesen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik macht sich in der Bevölkerung so etwas wie Angst vor der Entwertung des Euro bemerkbar, was sich daran ablesen lässt, dass die Sparguthaben der Bundesbürger insgesamt zurückgehen. Das Ersparte ausgeben, ehe es von der Inflation aufgefressen wird, heißt offenbar die Devise. Denn das Krisenmanagement der Regierenden erweckt kein Vertrauen in der Bevölkerung, im Gegenteil. Je länger die „Euro-Krise“ andauert, desto deutlicher wird, dass die Merkel-Regierung und mit ihr die gesamte politische Klasse Getriebene, Geisel der Märkte sind. All ihre Bemühungen, den Bankrott Griechenlands durch Rettungspläne zu verhindern, sind fehlgeschlagen, ja haben den Zustand des griechischen Patienten noch weiter verschlechtert. Die Verschuldung Griechenlands steigt trotz (oder gerade wegen) aller durch die EU aufgezwungenen Sparmaßnahmen im Staatshaushalt unaufhaltsam an. Es gibt zwei Möglichkeiten: Man lässt Griechenland pleitegehen, was von einer Minderheit in der CDU/CSU und FDP gefordert wird. Doch eine solche staatliche Insolvenz hätte unabsehbare Folgen nicht zuletzt für die anderen Wackelkandidaten Italien, Spanien, Portugal und damit auch für die EU selbst. Oder man greift zum sog. haircut, d.h. man erlässt Griechenland einen Großteil seiner Schulden, mit nicht minder heiklen Folgen. Denn auch wenn Merkel vorgibt, die Großbanken für den Fall eines solchen Schuldenerlasses in Regress zu nehmen, auch wenn sie zusammen mit dem französischen Staatspräsidenten Sarkozy neulich ihre Liebe zur Finanztransaktionssteuer entdeckt hat, so wird am Ende die Arbeiterklasse den Löwenanteil der aus einem solchen haircut entstehenden Kosten tragen.
Diese Entwicklung birgt brisante Perspektiven für die deutsche Bourgeoisie in sich. Zum einen ist auch die politische Klasse in Deutschland nicht vor den Gefahren eines Populismus gefeit. Nicht zuletzt der Wahlerfolg der „Wahren Finnen“ zeigt, dass wirtschaftlicher Wohlstand allein nicht vor einem europafeindlichen Rechtspopulismus schützt. Für das deutsche Kapital käme eine solche Entwicklung sehr ungelegen; eine derart engstirnige, den globalen Interessen des nationalen Kapitals zuwiderlaufende Bewegung, wie sie der Populismus auszeichnet, passt auf die Bedürfnisse des aktuellen Exportvizeweltmeisters wie die Faust aufs Auge. Zum anderen besteht, sollten die Lasten aus dem Griechenland-Abenteuer zu ungleich verteilt werden, durchaus die Gefahr einer sprunghaften Entwicklung des Bewusstseins in der Arbeiterklasse hierzulande. Überflüssig zu sagen, dass eine solche Entwicklung den Herrschenden noch viel weniger gefallen kann.
Was die deutsche Bourgeoisie in dieser Situation dringender denn je benötigt, ist ein nationales Projekt, ein nationaler Leitgedanke, in dem die Beherrschten Trost finden können, der sie dazu bringt, sich mit „höheren Interessen“ zu identifizieren und bereitwillig ihre eigenen Ansprüche zu opfern. Hier kommt spätestens die Frage der Ökologie ins Spiel, denn im Umweltschutz schlummert neben dem – wie wir gesehen haben – ökonomischen, strategischen und imperialistischen auch ein ideologisches Potenzial. Die grüne Ideologie bietet all das, was zu den Ingredienzen einer nationalistischen Ideologie gehört. Sie ist nationaler Konsens; ob Proletarier, Kapitalist, Kleinbürger oder Bauer, alle sind im Prinzip damit einverstanden, dass die natürliche Umwelt in Gefahr ist und dass man etwas dagegen unternehmen muss. Oder wie eine Autorin des Berliner Tagesspiegels schreibt: „Die Naturzerstörung ist für meine Generation das, was der Weltkrieg für die meines Vaters war. Die drohende Klimakatastrophe ist unsere größte gemeinsame Angst und unser kleinster gemeinsamer Nenner, und längst ist Sorge um die Umwelt kein parteiliches Alleinstellungsmerkmal mehr.“[9] Mit anderen Worten: der Umweltschutz ist zur Ersatzreligion geworden, zu der sich mehr oder weniger jeder bekennt. Die Rettung der Welt vor der Klimakatastrophe macht sich aber auch gut als nationale Mission, mit der die deutsche Bourgeoisie das eigene Volk für ihre imperialistischen Interessen gewinnen kann. Sie verschafft der Nation ein moralisches Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Rest der Welt und trägt so zur Entfremdung gegenüber anderen Völkern bei. Und nicht zuletzt eignet sich der Umweltschutz geradezu vorzüglich als Mittel zur Auspressung der heimischen Arbeiterklasse. So kann es trotz gegenteiliger Beteuerungen seitens der bürgerlichen Politik keinen Zweifel daran geben, dass der Großteil der immensen Kosten, die der Ausbau der alternativen Energiegewinnung erfordert, von den Verbrauchern getragen werden wird. Ähnlich verhält es sich auf dem Wohnungssektor: Nicht genug damit, dass es durch die derzeitige Verknappung von verfügbaren Mietwohnungen zu erheblichen Mietsteigerungen gekommen ist, droht durch die staatlich geförderte Ausstattung öffentlicher und privater Gebäude mit Wärmedämmung eine neue Lawine von Mietsteigerungen. Unter dem Vorwand des Umweltschutzes können die Herrschenden bei ihren künftigen Angriffen gegen die Lohn- und Gehaltsempfängern einen erheblichen moralischen Druck ausüben. Wer sich dagegen zur Wehr setzt, gerät schnell ins gesellschaftliche Abseits. Keiner will sich nachsagen lassen, ihm sei der Schutz der Umwelt nicht ein paar Euro Mehrausgaben wert.
Es gibt kein Zweifel: Grün ist derzeit en vogue in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, und niemand profitiert politisch derzeit davon mehr als die Grünen – und mit ihnen der deutsche Kapitalismus.
Grüne und FDP – des einen Freud’ ist des andren Leid
Wir sind momentan Zeugen einer Wachablösung im politischen Herrschaftsapparat der deutschen Bourgeoisie. Um seine Bedeutung zu verstehen, ist es notwendig, einen kurzen Blick auf die jüngste Vergangenheit der politischen Klasse Deutschlands zu werfen. In den ersten fünf Jahrzehnten nach ihrer Gründung 1949 galt die Bundesrepublik als ein Hort politischer Stabilität und Kontinuität. Ihre Regierungskonstellationen überstanden oft mehr als zwei, drei Wahlperioden: Die CDU/CSU stellte von 1949 bis 1969 durchweg die stärkste Regierungspartei und errang in den Bundestagswahlen von 1957 sogar die absolute Mehrheit. Die sozialliberale Koalition, die nach einem dreijährigen Intermezzo einer Großen Koalition (von 1966 bis 1969) gebildet wurde, hielt immerhin dreizehn Jahre. Und die Ära Kohl, die 1982 begann, endete erst nach mehr als sechzehn Jahren, mit ihrer Ablösung durch Rot-Grün 1998. Es ist bezeichnend, dass bis zur Wahlniederlage der christlich-liberalen Koalition unter Helmut Kohl 1998 keine dieser Koalitionen durch den Wählerwillen zur Aufgabe gezwungen wurde. Weder die Ablösung der christlich-liberalen Koalition unter Ludwig Erhard durch die Große Koalition unter Kiesinger und Brandt noch das Ende Letzterer durch die Bildung der sozialliberalen Koalition unter Brandt und Scheel 1969 wurde durch Wahlen herbeigeführt. Auch der Wechsel von der sozialliberalen zur christlich-liberalen Koalition 1982 war mitnichten das Ergebnis „demokratischer Wahlen“, sondern das Resultat einer Hinterzimmer-Diplomatie.
Ein wesentlicher Grund für diese Beständigkeit von Regierungskonstellationen und für die Reibungslosigkeit beim Auswechseln von Regierungsmannschaften war die Existenz eines Dreiparteiensystems, das bis in die 1980er Jahre die politische Landschaft der Bundesrepublik beherrschte. Neben den beiden großen Volksparteien SPD und CDU/CSU existierte eine dritte Kraft, die eine Rolle spielte, welche weit über ihre eigentliche Größe hinausging: die FDP. Diese Partei, die selten mehr als zehn Prozent Stimmenanteil bei Bundestagswahlen errang, ist länger in der Regierungsverantwortung als jede andere Partei in Deutschland. Lange Zeit war die FDP mit ihren rechts- bzw. linksliberalen Flügeln das Zünglein an der Waage, das den Ausschlag für die eine oder andere politische Richtung gab. So verhalf die FDP 1949 der von Adenauers CDU betriebenen Westanbindung der noch jungen Bundesrepublik zum Erfolg und verhinderte somit einen Neutralitätskurs, wie ihn die SPD unter Kurt Schumacher vertrat. So sorgte sie aber auch zwanzig Jahre später mit ihrer Beteiligung an der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt für die Durchsetzung der so genannten Entspannungspolitik. Mit den Liberalen besaß die westdeutsche Bourgeoisie ein Instrument, mit dem sie sich von dem Zwang befreite, ihr politisches Schicksal allein den Wahlen zu überlassen, die bei allen Manipulationskünsten der Herrschenden immer auch eine Portion Ungewissheit beinhalten.
Mit der Etablierung der Grünen 1983 und der PDS/Linken 1990[10] als Bundestagsparteien verlor das bewährte Dreiparteiensystem allerdings seine Geschäftsgrundlage. Das nunmehr praktizierte Fünfparteiensystem war Ausdruck sowohl der Schwäche als auch der Stärke der deutschen Bourgeoisie. Es war ein Ausdruck von Schwäche insofern, als dass dies eine Zersplitterung der politischen Landschaft bedeutete und die Unwägbarkeiten im parlamentarischen Prozess vergrößerte. Das politische System war schwerfälliger geworden und komplizierter für die herrschenden Kreise in Deutschland zu handhaben. Es war aber ein Ausdruck von Stärke in dem Sinn, dass wichtige Bevölkerungsschichten, die sich von den etablierten Parteien abgewandt hatten, durch die Grünen und die Linke parlamentarisch gebunden wurden. Zudem wurde der Anschein eines Pluralismus erweckt; in den Medien wurde über alle (theoretisch) möglichen Parteienkonstellationen spekuliert: über Rot-Grün, Schwarz-Gelb, Rot-Rot-Grün und Schwarz-Grün, über Jamaika und Ampelkoalition, sogar über die Wiederauflage der sozialliberalen Koalition. Doch in der Praxis reduzierte sich diese vermeintlich große Auswahl bisher auf die altbekannte Farbenlehre - Schwarz-Gelb gegen Rot-Grün - oder gar auf die unbeliebteste aller Konstellationen - die Große Koalition von SPD und CDU/CSU.
Dies hatte zwei Ursachen: Zum einen zeigte sich schnell, dass die PDS alias Die Linke in ihrer bisherigen Zusammensetzung für eine Regierungsverantwortung auf Bundesebene völlig untauglich ist. Innerlich zerrissen vom Gegensatz zwischen Reformern und orthodoxen Stalinisten, zwischen alten SED-Kadern und westdeutschen Gewerkschaftsaktivisten sowie Trotzkisten, erfüllt die Linke heute allenfalls die Rolle des linken Populismus. Zum anderen ist der FDP unter Guido Westerwelle endgültig ihre Fähigkeit abhanden gekommen, gegenüber beiden großen politischen Lagern koalitionsfähig zu sein. Schlimmer noch: die dramatischen Verluste in den letzten Landtagswahlen und die katastrophalen Umfragewerte auf Bundesebene signalisieren auch das Ende der FDP als Mehrheitsbeschaffer für die Christsozialen. Der Wirtschaftsliberalismus bzw. Neoliberalismus, der seit der Eliminierung des linksliberalen Flügels uneingeschränkt in der FDP herrschte, ist spätestens seit dem Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise unwiderruflich diskreditiert. Die FDP hat somit ihre letzte Grundlage verloren; ihr droht der Absturz in die politische Bedeutungslosigkeit. Panisch versucht die neue Führung zu retten, was zu retten ist, und flüchtet sich dabei gar in populistische Ausfälle gegen den Euro. So ist die FDP dabei, auch ihr letztes Pfund zu verspielen, mit dem sie bisher wuchern konnte: das Vertrauen, das sie in der deutschen Bourgeoisie genoss.
Diametral entgegengesetzt zum Absturz der FDP verläuft derzeit die Leistungskurve der Grünen. Seit Fukushima schwimmen sie auf einer Erfolgswelle, die Ihresgleichen sucht. Die letzten Landtagswahlen waren für die Grünen geradezu ein Triumphzug: in NRW als gleichberechtigte Regierungsfraktion auf Augenhöhe mit der SPD, im Mecklenburg-Vorpommern zum ersten Mal in den Landtag gewählt, in Berlin Rekordergebnis erzielt und potenzieller Regierungspartner der SPD. Doch der Höhepunkt war zweifellos die Wahl des ersten grünen Ministerpräsidenten, und dies nicht in irgendeinem Bundesland, sondern ausgerechnet in Baden-Württemberg, der – neben Nordrhein-Westfalen und Bayern – wichtigsten industriellen Hochburg des deutschen Kapitalismus. Kurz nach den Vorfällen in Fukushima, die Grünen drohten in den Umfragen die SPD einzuholen, wurde in der Öffentlichkeit gar die Möglichkeit eines grünen Bundeskanzlers ins Auge gefasst. Die Grünen avancierten zum Darling der bürgerlichen Medien; nun wurden sie nicht nur bei „grünen“ Themen um Stellungnahme gebeten, sondern auch zu Fragen der Schulden- bzw. Eurokrise noch vor den SPD-Repräsentanten interviewt – was einem medialen Ritterschlag zur Hauptoppositionspartei gleichkam. Gerüchte gingen um, dass Joschka Fischer wieder zu joggen begonnen habe… Auch Jürgen Trittin, der bad guy der ersten rot-grünen Bundesregierung, wurde plötzlich als grüner Kanzlerkandidat gehandelt.
Nun, mittlerweile hat sich der Medienrummel um die Grünen etwas gelegt. Renate Künast, Spitzenkandidatin der Grünen für die Senatswahlen in Berlin, ist trotz Rekordergebnis mit ihrem ehrgeizigen Unterfangen gescheitert, die CDU als zweitstärkste Kraft, ja gar Wowereit als Regierenden Bürgermeister abzulösen. Auch der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Kretschmann, hat im Zusammenhang mit Stuttgart 21 schon den ersten Gegenwind zu verspüren bekommen. Dennoch scheint sich ein Trend zu verfestigen: Aus dem Fünfparteiensystem, das in den letzten zwei Dekaden dominierte, schält sich allmählich ein Dreiparteiensystem light heraus, in dem die Linke und die FDP zu marginaler Bedeutung, wenn nicht gar zur Bedeutungslosigkeit verdammt sind, während die Grünen im Begriff sind, zum Königsmacher für die beiden Großparteien SPD und CDU/CSU zu werden. Noch betrachtet die Führung der Grünen die SPD als „natürlichen Partner“, was auch damit zu tun hat, dass ein großer Teil der Gründergeneration der Grünen aus dem linksbürgerlichen Milieu – der sog. Spontibewegung und den K-Gruppen – stammt, das eine gewisse Affinität zur SPD besaß. Doch wie man so schön sagt: In der Politik gibt es keine Freundschaft, sondern nur Interessen. Es spricht Einiges dafür, dass die Bindung der Grünen an der SPD nur noch temporärer Natur ist. Eines der Haupthindernisse für eine schwarz-grüne Regierungskoalition auf Bundesebene ist bereits aus dem Weg geräumt: Auch die Konservativen, einst die eifrigsten Befürworter der Kernkraft, haben sich von ihr verabschiedet. Die Ablehnung der Kernkraft im Besonderen und der Schutz der Umwelt im Allgemeinen haben aufgehört, „parteiliches Alleinstellungsmerkmal“ oder Unterscheidungskriterium zwischen dem rechten und linken Lager der politischen Klasse in Deutschland zu sein. Sie sind zum allgemeinen ideologischen Glaubensbekenntnis der deutschen Bourgeoisie geworden.
20.09.2011
[1] Aus: „Umweltgutachten 1996“, Rat der Sachverständigen für Umweltfragen.
[2] Siehe dazu den Text „Der Marxismus und das Mensch-Natur-Verhältnis“, den wir Anfang August auf unserer Homepage veröffentlicht haben.
[4] Süddeutsche Zeitung, 16. Januar 2009.
[5] Aus einem Bericht des Bundesumweltministeriums und des Umweltbundesamtes, Januar 2009.
[6] Nürnberger Nachrichten, 31. März 2011.
[7] Aus einem Interview mit dem Siemens-Vorstandsvorsitzenden Löscher in: Der Spiegel, Nr. 38, 19. Sept. 2011.
[8] Man könnte einwenden, dass im Falle Vattenfalls, dem kleinsten unter den vier Monopolisten, diese Politik keinen Sinn macht, handelt es sich doch bei Vattenfall um einen schwedischen Energiekonzern. Dies ist sicherlich richtig. Doch zeigt die Affäre um die Störfälle im AKW Krümmel im Jahr 2009, dass die herrschende Klasse hierzulande durchaus in der Lage ist, sich auch einen ausländischen Konzern gefügig zu machen, wenn es darauf ankommt.
[9] Der Tagesspiegel, 10. September 2011.
[10] Allerdings war die PDS anfangs nur durch sog. Direktmandate im Bundestag vertreten. Erst bei den Bundestagswahlen 1998 gelang es ihr erstmals, die Fünfprozenthürde zu überspringen.