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Zusammenfassender Auszug aus einem Interview mit Chris Knight (Professor für Anthropologie an der University of East London) auf ReadySteadyBook (2006)
(…) Tatsache ist schlicht und einfach, dass Gene komplexe Moleküle sind, die die Körper, die sie bewohnen, dazu benutzen, um sich zu vervielfältigen. Ein Gen, das die Konkurrenz auf eigene Kosten repliziert, wäre kein Gen. Selbst wenn diese Anomalie aus unerfindlichen Gründen in einer Generation existierte, wäre es schon in der nächsten
Diese Theorie erklärt unter vielen anderen auch Konflikte: Konflikte zwischen den Geschlechtern, zwischen den Eltern und ihrem Nachwuchs und so weiter. Sie zeigt auf, wie Konflikte entstehen und wie widerstreitende Interessen den evolutionären Wandel antreiben. Für Marxisten sollten dies bekannte Themen sein. Der größte Teil der kleinbürgerlichen „Linken“ weigert sich, mehr als den Titel von Dawkins‘ Buch zur Kenntnis zu nehmen. Unfähig zu verstehen, worum es dem Autor ging, dichten sie ihm an, Kapitalismus, Rassismus und Ähnliches zu rechtfertigen. Nichts könnte abwegiger sein. Es war ebendiese Theorie des egoistischen Gens, die die frühere Vorstellung platzen ließ, dass die natürliche Auswahl „Rassen“ gegenüberstellt. Die Antwort der Linken auf diese wissenschaftliche Revolution war in peinlicher Weise ignorant und selbstzerstörerisch. Genau genommen, war sie eine Schande. Man stelle sich vor, was Marx und Engels davon gehalten hätten….
1844, im Anschluss an einer vierjährigen Reise rund um die Welt, teilte Charles Darwin einem engen Freund mit, dass er zu einer gefährlichen Schlussfolgerung gelangt sei. Sieben Jahre lang, schrieb er, habe er sich „mit einer sehr vermessenen Arbeit beschäftigt“, vielleicht „eine sehr törichte“. Er hatte bemerkt, dass auf jeder der Galapagos-Inseln die Finken leicht unterschiedliches Futter fraßen und unterschiedliche Schnäbel hatten. In Südamerika hatte er viele außergewöhnliche Fossilien ausgestorbener Tiere untersucht. Über die Bedeutung all dessen sinnierend, sah er sich veranlasst, seine Meinung über den Ursprung der Arten zu ändern. Darwin schrieb an seinem Freund: „Ich bin entgegen meiner ursprünglichen Auffassung nun beinahe überzeugt, dass die Arten (es ist wie einen Mord zu gestehen) nicht unveränderlich sind.“
In jenen Zeiten war der Glaube an Transmutation – die Idee, dass Arten sich zu anderen Arten entwickeln können – politisch gefährlich. Während Darwin noch an seinen Freund schrieb, ließen Atheisten und Revolutionäre Pfennig-Magazine in Londons Straßen zirkulieren, in denen revolutionäres Gedankengut vertreten wurde, das im Gegensatz zu den etablierten Doktrin von Kirche und Staat stand. Damals war der bekannteste Evolutionstheoretiker Jean-Baptiste Lamarck, der für die Ausstellung von Insekten und Würmern im Naturgeschichtlichen Museum in Paris verantwortlich war. In enger Anlehnung an den Atheismus, den Chartismus und anderen Formen der Subversion, die vom revolutionären Frankreich ausgingen, wurde der Evolutionismus in Großbritannien „Lamarckismus“ genannt. Jeglicher „Lamarckist“ – mit anderen Worten: jeder Wissenschaftler, der die gottgegebene Unveränderlichkeit der Arten in Frage stellte – riskierte, mit Kommunisten, Aufrührern und Aufständischen in einen Topf geschmissen zu werden. Gefangen zwischen seiner vorsichtigen liberalen Politik und seiner Wissenschaft, war Darwin so besorgt, dass er krank darüber wurde und seine Erkenntnisse verheimlichte und unterdrückte, als habe er einen Meuchelmord begangen.
Die Periode der revolutionären Erhebungen fand ihren Höhepunkt in den Ereignissen von 1848, als ArbeiterInnen Aufstände planten und die Straßen von London und in ganz Europa eroberten. Nach der Niederlage dieser Aufstände setzte die Konterrevolution ein. Während des folgenden Jahrzehnts schwand die Bedrohung durch die Linken. Um 1858 kam ein anderer Wissenschaftler, Alfred Wallace, unabhängig von Darwin, von sich aus auf das Evolutionsprinzip der natürlichen Auswahl; wenn Darwin nicht veröffentlicht hätte, hätte Wallace all den wissenschaftlichen Ruhm erlangt. Da die Revolution keine unmittelbare Gefahr mehr war, wurde Darwin mutiger, und 1859 veröffentlichte er endlich Über den Ursprung der Arten.
In seinem großen Werk skizzierte Darwin ein Evolutionskonzept, das sich von jenem Lamarcks deutlich unterschied. Lamarck hatte die Evolution als die Folge des ständigen Strebens der Tiere nach Selbstverbesserung in ihrer Lebensspanne erklärt. Darwins grimmigere, grausamere Idee war dem Pastor Thomas Malthus entliehen, einem Ökonomen, der bei der Ostindischen Gesellschaft beschäftigt war. Malthus hatte kein Interesse an dem Ursprung der Arten; seine Agenda war politisch. Menschliche Populationen, argumentierte er, werden ständig schneller als die Nahrungsmittelversorgung wachsen. Kampf und Hunger seien das unvermeidliche Resultat. Öffentliche Wohlfahrt, so Malthus, könne das Problem nur verschärfen: Almosen würden die Armen bequem machen, sie ermutigen, sich zu vermehren. Mehr Mäuler zu ernähren müsse zu noch mehr Armut und so zu noch mehr – unstillbaren – Forderungen nach Wohlfahrt führen. Die beste Politik sei es, die Armen sterben zu lassen.
Darwins Genie war es, Botanik und Geologie mit dieser politisch motivierten Befürwortung des freien Wettbewerbs und des „Überlebenskampfes“ zu verknüpfen. Darwin sah in der ganzen Natur eine Moralität des Laissez-faire am Werk. Das Wachstum von Populationen in der Tierwelt würde stets die lokale Nahrungsmittelversorgung übersteigen; daher die Unvermeidlichkeit des Wettbewerbs, der im Hungertod des Schwächsten ende. Während Moralisten und Gemütsmenschen stets danach getrachtet haben, das Bild einer grausamen und herzlosen Natur abzumildern, folgte Darwin Malthus darin, diese zu zelebrieren. So wie der Kapitalismus die Armen und Bedürftigen brutal bestraft, so merzt die „natürliche Auswahl“ jene Kreaturen aus, die weniger imstande sind, für sich selbst zu sorgen. Da die wenigen Lebensuntüchtigen in jeder Generation aussterben, sei der Nachwuchs der Überlebenden unverhältnismäßig zahlreich, werden doch ihre vorteilhaften ererbten Anlagen an die künftigen Generationen übertragen. Der Hungertod sei also ein positiver Faktor innerhalb einer evolutionären Dynamik, die Versagen unerbittlich bestraft und Erfolg belohnt.
Auf diese Weise gelang es Darwin, die politischen Implikationen der Evolutionstheorie umzuwandeln. Weit davon entfernt, der Rechtfertigung jeglichen Widerstandes gegen die kapitalistische Ausbeutung oder die gesellschaftliche Ungleichheit zu dienen, war diese Malthusianische Version des Evolutionismus dazu bestimmt, einer entgegengesetzten politischen Funktion zu dienen. Darwin schilderte die Natur als eine Welt ohne Moral. Folglich verlieh dies einem Wirtschaftssystem die Existenzberechtigung, das auf hemmungsloser Konkurrenz basierte, frei von jeglicher fehlgeleiteter „moralischer“ Einmischung durch Religion oder Staat. In Darwins Lebenszeit verlief die wichtigste öffentliche Kontroverse über seine Theorie zwischen den Evolutionisten und jenen Philosophen, Klerikern und anderen, die befürchteten, dass solch eine Vision zum Zusammenbruch aller Moral in der Gesellschaft führen könnte.
Nach Darwins Tod 1881 versuchten etliche einflussreiche Denker, Darwins scheinbar harsche, amoralische Argumentation zu entkräften, indem sie nach Wegen suchten, die Evolutionstheorie mit religiösen oder humanistischen Werten zu versöhnen. In Russland schrieb der Anarchist Peter Kropotkin den Text Gegenseitige Hilfe, in dem er argumentierte, dass Kooperation, nicht die Konkurrenz, das fundamentale Naturgesetz sei. Eine sehr populäre Methode, eine „moralische“ Dimension aus Darwins Argumentation zu bergen, bestand in dem Gedanken, dass der kompetitive Antrieb des evolutionären Wandels Gruppen, aber nicht Individuen gegenüberstelle. Die Phrase „Überleben des Stärkeren“ (survival of the fittest) bedeutete demnach das Überleben der stärksten Gesamtgruppe oder Art, was eine enge Kooperation innerhalb jeder Spezies bedingte. Gemäß dieser Argumentationslinie waren Individuen dazu erschaffen, den Interessen der Art dienlich zu sein. Mitglieder jeglicher Art mussten mit anderen kooperieren, ihr individuelles Überleben hing vom Schicksal des größeren Ganzen ab.
Diese Idee war sehr populär um die Jahrhundertwende; sie stieß auf Widerhall in Strömungen der moralischen Philosophie einschließlich des kleinbürgerlichen Sozialismus und des Nationalismus. Nationen wurden mit „Rassen“ assoziiert und mit Tierarten verglichen. Jede Art, Rasse oder Nation sei angeblich in einem Kampf um Leben oder Tod gegen ihre Rivalen verstrickt. Jene, deren Mitglieder unter kollektiven Auflagen miteinander kooperieren, würden überleben; jene, deren Mitglieder „egoistisch“ handelten, würden ausgelöscht werden. Wenn Tiere oder Menschen ein kooperatives Verhalten an den Tag legten, so wurde dies mit „moralischen“ Begriffen unter Bezugnahme auf die Erfordernisse der Gruppe erklärt.
In Großbritannien argumentierte Churchill, dass es dem ärmsten Bereich der Gesellschaft nicht gestattet werden sollte, sich zu vermehren, denn wenn diese Menschen starben, würde dies nur den „nationalen Bestand“ (national stock) schwächen. Eugenetik kam groß in Mode, auch unter vielen Linken; in Deutschland spielte sie eine Schlüsselrolle bei der Formierung der Nazi-Ideologie. In den 1940er Jahren erfreute sich der wegweisende Ethologe Konrad Lorenz großer Beliebtheit unter den Nazipropagandisten, da er argumentierte, dass die Kriegsführung natürlich und von Wert sei. Er verglich den Krieg mit dem weit verbreiteten Verhaltensmuster, das männliche und weibliche Säugetiere während der Paarungszeit an den Tag legen, wenn Erstere sich auf grausame Weise gegenseitig bekämpfen und Letztere sich nur mit den Siegern paaren. Dies, so Lorenz, sei ein gesunder Mechanismus, um Schwache zu eliminieren und damit die Reinheit und Vitalität der Rasse zu bewahren und zu verbessern.
Die Theorie der „Gruppenselektion“ – wie sie nun genannt wird – fand ihren ausgefeiltesten und explizitesten Ausdruck 1962, als der schottische Naturalist V.C. Wynne-Edwards ein Buch veröffentlichte, das den Titel Animal dispersion in relation to social behavior trägt. Für Wynne-Edwards bestand das fundamentale Problem, mit dem sich jede Gruppe oder Art konfrontiert sah, nach Malthus in der schrankenlosen Vermehrung. Die Überbevölkerung würde letztlich zu Nahrungsmittelkürzungen führen, die den Hungertod in einem Maße mit sich bringen würden, das die gesamte lokale Bevölkerung bedrohen könnte. Wo lag die Lösung? Laut Wynne-Edwards lag es an der Spezies in ihrer Gesamtheit, etwas zu unternehmen. Sie müsste besondere Mechanismen entwickeln, um eine Reproduktion über die tragfähigen Kapazitäten ihrer Umwelt hinaus zu vermeiden. Von den Individuen würde erwartet werden, dass sie ihre Fruchtbarkeit im Interesse der Gruppe zügeln.
Auf der Grundlage dieser Theorie trachtete Wynne-Edwards danach, die zahllosen verwirrenden Merkmale des tierischen und menschlichen sozialen Verhaltens zu erklären. Insbesondere behauptete er, scheinbar abscheuliche Verhaltensweisen wie Kannibalismus, Kindsmord oder (Banden)-Krieg erklären zu können. Auf den ersten Blick negativ, bilden solche Praktiken, näher betrachtet, eine Bandbreite von nützlichen Anpassungen, durch die jede Art danach strebt, ihre Population zu begrenzen. Viele Naturalisten waren verblüfft darüber, als sie beobachteten, wie Vögel in großen Kolonien den Nachwuchs anderer zerstörten oder wie Löwen gerade geborene Jungen tot bissen. All dies, sagt Wynne-Edwards, könne nun verstanden werden. Solche Verhaltensweisen seien nicht egoistisch oder anti-sozial; sie nutzten der Art, indem sie die Population im Zaum hielten. Im Falle der Menschen dienten gewaltsame Handlungen wie die Kriegsführung einer ähnlichen Funktion. Irgendwie musste die menschliche Population niedergehalten werden; der Krieg half zusammen mit anderen Gewaltformen, dies zu erreichen.
„Gruppenselektionistische“ Denkweisen dieser Art blieben bis in die 1960er Jahre hinein einflussreich innerhalb des Darwinismus. Doch genau weil er sie mit solch strittigen, zugespitzten Begriffen formulierte, gab Wynne-Edwards seine Überlegungen zu den Artvorteilen ungewollt einer klar akzentuierten Attacke preis, die das gesamte Denkgebäude dieser Theorie untergrub. Sobald Wissenschaftler über die angeblich „die Populationen reduzierenden Mechanismen“ nachzudenken begannen, wurde aus rein theoretischen Gründen ersichtlich, warum diese nicht funktionieren. Wie konnte eine ganze Spezies ihre Mitglieder für eine kollektive Handlung mobilisieren, so als ob sie mit Voraussicht auf künftige Nahrungsmittelkürzungen antwortet? Angenommen, dass es – um des Arguments willen – ein Gen gibt, das ein Verhalten auslöst oder erleichtert, das folgende zwei Merkmale hat: (a) es dient der Spezies in künftiger Zeit, während es (b) den Reproduktionserfolg seiner Träger von heute vermindert. Wie kann solch ein Gen jemals in die Zukunft übermittelt werden, wo sein angeblicher Nutzen verwirklicht werden würde? Ein Gen für eine verringerte Reproduktionsrate ist schlicht und einfach ein Widerspruch in sich. Es würde nicht weitergereicht werden. Sein angeblicher künftiger Nutzen könnte niemals realisiert werden. Die ganze Theorie der „Gruppenselektion“ war einfach unlogisch.
Diese Einsicht führte zu einer wissenschaftlichen Revolution – einer der folgenschwersten Umbrüche in der jüngsten Wissenschaftsgeschichte, mit vielen Implikationen für die Human- und Gesellschaftswissenschaften. Wenn Marx und Engels heute lebten, würden sie sich selbst an die Spitze dieser Entwicklungen stellen. Im Grunde stimmen alle Evolutionswissenschaftler heute darin überein, dass Wynne-Edwards‘ Theorie der „Gruppenselektion“ falsch war. Der Gedanke, dass Sex, Gewalt oder andere Formen tierischen Verhaltens sich „zum Nutzen der Spezies“ entfalten, ist mittlerweile völlig diskreditiert. Tiere praktizieren keinen Sex, um „die Art fortbestehen zu lassen“; sie tun es aus viel profaneren Gründen – um ihre eigenen spezifischen Gene fortbestehen zu lassen. Kein Gen kann dazu bestimmt werden, seine eigene Replikation zu minimieren – in einer Welt der Konkurrenz würde es rasch eliminiert und ersetzt werden. Angenommen, ein Löwe tötet seine eigenen Jungen, um zu helfen, das Bevölkerungsniveau zu reduzieren. Im Verhältnis zu anderen Löwen würde dieses besondere Exemplar einen geringen Reproduktionserfolg erzielen. Ungeachtet dessen, was der gesamten Gruppe zustößt, würden alle Exemplare in einer künftigen Population ausschließlich von den „egoistischeren“ Vervielfältigern abstammen – jenen Löwen, die darauf programmiert bleiben, die Übermittlung ihrer Gene (auf Kosten von rivalisierenden Genen) an künftige Generationen zu maximieren.
Sobald dies einmal vergegenwärtigt war, waren Wissenschaftler in der Lage aufzuzeigen, dass Löwen, die Jungen töten, in Wahrheit nicht ihren eigenen Nachwuchs töten, sondern den Nachwuchs, der von rivalisierenden Männchen gezeugt wurde. Dasselbe traf auch auf andere Beispiele der so genannten „Bevölkerungsregulierung“ zu. In jedem Fall konnte gezeigt werden, dass die verantwortlichen Tiere von einem genetischen Standpunkt aus „egoistisch“ handelten, dass ihre Gene so viel eigene Kopien wie möglich auf die künftigen Generationen übertragen, ganz ungeachtet der langfristigen Konsequenzen für die Populationsdichte. Lebenstüchtigkeit bedeutet, den eigenen Genen eine erfolgreiche Zukunft zu gewährleisten; sie kann nicht anders definiert werden. Eine Konsequenz daraus war, dass eugenetische Ideen wie jene von Winston Churchill keinen darwinistischen Sinn mehr machten. Churchill meinte, dass die Armen sich zu schnell vermehren; da sie „weniger lebenstüchtig“ seien, sollte ihre Fruchtbarkeit gedrosselt werden. Um bei dem Argument zu bleiben – ausgehend davon, dass die Armen zu Churchills Zeiten die Reichen faktisch in ihrer Anzahl übertrumpften, hieße dies gemäß der modernen Darwinschen Standards, dass die Armen „lebenstüchtiger“ waren, und nicht umgekehrt. Dasselbe würde zutreffen, sollten ethnische Minderheiten eine höhere Reproduktionsrate haben als alle anderen um sie herum. „Lebenstüchtigkeit“, wie dieser Begriff von den modernen Darwinisten verstanden wird, kann nur in Bezug auf die Gene gemessen werden – nicht in Bezug auf Rassen oder Arten. In Zukunft werden daher rassistische oder andere reaktionäre Politiker ohne Beistand durch den Darwinismus mit ihren Theorien hausieren gehen.
Der neue Darwinismus machte es von nun an unmöglich, das individuelle Eigeninteresse gegenüber dem Interesse der Art insgesamt zu überhöhen. Gruppenselektionistische Denker verbrämen Kindsmord, Gewalt oder Aggression mit Blick auf die höheren Interessen der „Nation“ oder der „Gruppe“ hartnäckig als „Moral“. Militaristen und rassistische Mörder wurden als Wächter höherer Interessen konzeptualisiert, da sie überschüssige Bevölkerungen „keulen“ oder Schwache für das übergeordnete Wohl eliminieren. Der Darwinismus des „egoistischen Gens“ setzte all dem ein abruptes Ende. Tiergruppen oder Arten konnten von nun an nicht mehr mit Nationalstaaten verglichen oder als kohärentes, moralisch reguliertes Ganzes dargestellt werden. Stattdessen ging man bei Tieren davon aus, dass sie ihre eigenen Interessen verfolgten und dabei bewusst oder unbewusst ihre Gene aussähen. Entsprechend wurde von den sozialen Einheiten erwartet, dass sie nicht nur Kooperation praktizieren, sondern auch Konflikte austragen, in denen periodisch Mann gegen Frau, Jung gegen Alt, selbst der Nachwuchs gegen seine eigenen Eltern ausgespielt werden. Diese Betonung des Kampfes und Konflikts brachte den Darwinismus auf eine Linie mit dem Marxismus, der nicht von Harmonie und Brüderlichkeit ausgeht, sondern von einer durch Klassen, Geschlechter und andere Konfliktarten zerrissenen menschlichen Gesellschaft. Wo die Harmonie herrscht oder sich erfolgreich etabliert, muss dies erklärt werden und kann keineswegs vorausgesetzt werden.
In dem Moment, als der „Gruppenselektionismus“ gestürzt war, waren die Wissenschaftler gezwungen, das Leben neu zu betrachten, indem sie eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Puzzles angingen, klärten und oftmals lösten. Wie begann das Leben auf der Erde? Wann und warum entwickelte sich der Sex? Wie werden die sozialen Insekten so kooperativ? Warum werden wir – wie alle lebenden Organismen – krank und sterben letztendlich? Von jetzt an musste jede Theorie ihre Stimmigkeit mit dem unnachgiebigen, kompromisslosen „Egoismus“ der Gene demonstrieren. Das Resultat war eine spektakuläre Serie von intellektuellen Durchbrüchen, die auf eine wahrhaftige Revolution in den Biowissenschaften hinauslief, welche noch immer im Gange ist. Richard Dawkins‘ Buch Das egoistische Gen fasste viele der neuen Entdeckungen zusammen, als es 1976 zur großen Freude – und zur gleichermaßen lautstarken Anklage der kleinbürgerlichen „Linken“ – veröffentlicht wurde.
Ungefähr so wie sich Karl Marx und Friedrich Engels gegen die utopischen Sozialismus-Theorien wandten, so entschieden sind die modernen Darwinisten in ihrer Ablehnung aller nebulösen, unrealistischen Evolutionstheorien. Der „utopische“ Sozialismus scheiterte, weil er den Kapitalismus nie zu Leibe rückte. Er erklärte nie, wie man von „A“ nach „B“ kommt – von der Konkurrenzlogik des Kapitalismus zu seiner sozialistischen oder kommunistischen Antithese. Stattdessen stellten die „utopischen“ Träumer ihre idealistischen Visionen einfach den grausamen Realitäten des zeitgenössischen Lebens entgegen und plagten sich niemals damit ab zu ergründen, wie der Kapitalismus funktioniert. Ähnlich hatten sich Biologen vor der Revolution des „egoistischen Gens“ in den Biowissenschaften auf die „Kooperation“ in der Tierwelt als ein erläuterndes Prinzip berufen, ohne jemals erklärt zu haben, woher das Prinzip selbst kam. Der große Wert des neuen Darwinismus bestand darin, dass er nicht „utopisch“ war. Wenn Tiere, wie sich herausstellte, sich gegenseitig beistehen oder gar ihr Leben für andere aufs Spiel setzen – wie es häufig geschah -, dann musste solch ein Altruismus erklärt werden und konnte nicht einfach vorausgesetzt werden. Vor allem musste jeglicher Altruismus auf der Ebene des sozialen Verhaltens mit dem replikatorischen „Egoismus“ dieser tierischen Gene in Einklang gebracht werden.
Von diesem Standpunkt aus könnte der neue Darwinismus fast schon als „Wissenschaft der Solidarität“ bezeichnet werden. Egoismus ist leicht zu erklären. Die wahre Herausforderung besteht darin zu erklären, warum Tiere so oft nicht egoistisch sind. Dies ist eine besondere Herausforderung im Falle der Menschen, die sich – vielleicht mehr als jedes andere Tier – in todesmutigen und aufopferungsvollen Handlungen engagieren. Es gibt seriöse Berichte über Soldaten im Ersten Weltkrieg, die sich auf explodierende Handgranaten warfen, um das Leben ihrer Kameraden zu retten. Muss solch ein Mut den Menschen mühsam beigebracht, eingepaukt werden oder speist er sich aus mächtigen Instinkten? Wenn man, wie die meisten Darwinisten, davon ausgeht, dass es in den Menschen steckt, von Natur aus kooperativ und gar heroisch zu sein, dann tut sich hier ein intellektuelles Paradoxon auf. Warum werden die Gene, die Heroismus zulassen oder ermöglichen – jene mutigen Instinkte, die in Krisenzeiten unsere feigeren, egoistischeren Triebe außer Kraft setzen -, nicht allmählich eliminiert? Der Mann, der in der Schlacht stirbt, wird keinen Nachwuchs mehr haben. Im Gegenteil, es wird der Feige sein, der viele Nachfolger hinterlässt. Könnten wir vor diesem Hintergrund nicht erwarten, dass jede Generation weniger heroisch – also: egoistischer – ist als die vorherige? Die utopische Theorie der „Gruppenselektion“ hat dieses Problem verschleiert, indem sie allzu leichte Antworten vorschlägt. Der Heroismus fungiere für das Allgemeinwohl der Gruppe. Das Problem war, dass sie nicht erklären konnte, wie solch ein Mut Bestandteil der menschlichen Natur sein kann, der von Generation zu Generation weitergereicht wird. Es war exakt diese Schwierigkeit, die die neuen Darwinisten dazu ermunterte, mit einer besseren Antwort aufzuwarten. Als die Lösung gefunden wurde, wurde sie zum Eckpfeiler der evolutionistischen Wissenschaft.
Die Lösung für das Puzzle war die Idee der inklusiven Lebenstüchtigkeit (inclusive fitness). Heldenmut in der Schlacht stützt sich auf Instinkte, die sich nicht radikal von jenen unterscheiden, die eine Mutter dazu veranlasst, ihr Leben für den Schutz ihrer Kinder einzusetzen. Eben weil ihre Gene „egoistisch“ sind – nicht trotz dieses „Egoismus“ -, kann der Mut einer Mutter aus tiefen instinktiven Quellen gespeist werden. Tatsächlich schließt eine Mutter, die instinktiv ihr Leben für ihre Kinder riskiert, ihre Kinder als Teil ihres potenziell unsterblichen „Selbst“ ein. In genetischer HinsichtinsichtH ist dies realistisch, da ihre Kinder ihre Gene teilen. Wir können hier unschwer erkennen, warum die „egoistischen“ Gene einer Mutter sie dazu veranlassen können, selbstlos zu handeln – es ist eindeutig im Interesse der Gene selbst. Eine vergleichbare Logik mag Schwester und Bruder dazu veranlassen, selbstlos gegenüber dem anderen zu handeln.
In einem sehr frühen Entwicklungsstadium entfalteten sich die Menschen in verhältnismäßig kleinen Gruppen, die auf Blutsverwandtschaft beruhten. Die statistische Chance, dass die Menschen, mit denen man zusammenarbeitete oder eng verbunden war, dieselben Gene teilten, war groß. Die Gene hätten sozusagen gefordert: „Vervielfältige mich, indem du dein Leben aufs Spiel setzt, um deine Schwestern und Brüder zu retten!“ Wir Menschen sind dazu bestimmt, dem anderen zu helfen – selbst zu sterben für den anderen -, vorausgesetzt, wir haben eine Chance, eine Blutsbande zu knüpfen. Selbst heute, unter Bedingungen, wo wir weitaus weniger verwandtschaftsbezogen sind, stehen wir nach wie vor unter dem mächtigen Einfluss dieser Instinkte. Der Begriff der „brüderlichen Solidarität“ hängt nicht vollkommen von äußeren, sozialen Faktoren wie Bildung oder Propaganda ab. Die Solidarität muss den Menschen nicht gegen ihre innere Natur eingeflößt werden. Sie ist fester Bestandteil einer uralten Tradition, eine evolutionäre Strategie, die vor langer Zeit wesentlich für die menschliche Natur geworden ist. Sie ist ein unschätzbarer Ausdruck der „Selbstsucht“ unserer Gene.