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Gewerkschaftsparaden versus Massenstreiks
Wir veröffentlichen hier die Übersetzung einer Erklärung einer Gruppe von ArbeiterInnen in Alicante im Südosten Spaniens, die „empörten Pro-Versammlungs-ArbeiterInnen“ („Pro-Versammlung“ daher, weil sie die Notwendigkeit von Generalversammlungen vertreten, um die Kontrolle über die Kämpfe auszuüben). Sie wurde als Antwort auf die Appelle zu 24-stündigen „Generalstreiks“ herausgegeben (für den 31. Oktober von der CGT, einer Abspaltung von der CNT, die sich selbst anarcho-syndikalistisch nennt, aber faktisch als kleine „radikale“ Gewerkschaft wirkt, und für den 14. November von fünf anderen Gewerkschaften ausgerufen, angeführt von den stalinistischen Arbeiterkommissionen und der sozialistischen UGT, den beiden größten Gewerkschaften). Die Genossen dieser Gruppe, die in den letzten zwei, drei Jahren aktiv gewesen waren, prangern diese Gewerkschaftsparaden an, die allein dazu dienen, die ArbeiterInnen zu demoralisieren, und eine Ergänzung zu den wiederholten Schlägen der Rajoy-Regierung sind. Doch sie belassen es nicht dabei. Sie stellen eine Perspektive vor: den Kampf für den Massenstreik, die umfassenste Tendenz in der Klassenbewegung des vergangenen Jahrhunderts, wie dies jeder bedeutende proletarische Kampf seit 1905 in Russland deutlich veranschaulicht hat.
Es ist völlig falsch zu argumentieren, dass es keine Alternative zu den demobilisierenden Mobilisationen gibt, die von den Gewerkschaften organisiert werden. Wir denken, dass andere Gruppen und Kollektive dem Beispiel der Genossen von Alicante folgen und eine Diskussion über die wahre Alternative zur gewerkschaftlichen Sackgasse beginnen sollten. In Großbritannien spucken die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes (NUT, Gewerkschaft der öffentlichen Angestellten, etc.) angesichts der brutalen Attacken der Regierungskoalition große Töne und versprechen uns Aktionstage und gar einen eintägigen Generalstreik. Doch die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Art von „Aktionen“ schlimmer als nur nutzlos sind; sie sind ein Sicherheitsventil für die wachsende Wut, wo doch das wirkliche Bedürfnis der ArbeiterInnen darin besteht, ihre Unzufriedenheit in einer selbst-organisierten, vereinheitlichenden Bewegung zu fokussieren, die die gesamte Gesellschaftsordnung herausfordern kann. IKS
Gegen 24- stündige „Aktionstage:
Welche Art von Streik wollen wir?
Den Massenstreik!
Wie kann eine 24-stündige Arbeitseinstellung Streik genannt werden? Und eine noch wichtigere Frage ist: Wie kann ein 24-stündiger „Aktionstag“ den Kampf der Arbeiterklasse voranbringen?
Unsere politische Position basiert auf dem Internationalismus und auf dem Bedürfnis nach proletarischer Autonomie: Für uns muss jede Aktion von bewussten Minderheiten dazu dienen, das Bewusstsein, die Einheit und die Selbstorganisation der Arbeiterklasse weiterzuentwickeln.
Es gab in letzter Zeit einen Haufen Mobilisierungen und viele Anstrengungen des Proletariats, sich selbst zu organisieren. Im Mai 2011 begann symbolisch eine neue Periode der Mobilisierungen. Dies war der Beginn einer Antwort auf die immer brutaleren Angriffe gegen den Lebensstandard der gesamten Bevölkerung. Doch es gibt keinen gradlinigen Fortschritt. Es war eine Periode gewesen, die von diversen Momenten geprägt war. Es gab einen großen Drang zur Selbstorganisation in Generalversammlungen, selbst in Bewegungen, die sehr embryonal und oft diffus waren. Doch dann kehrten die Gewerkschaften und die linken Organisationen auf die Bühne zurück, wobei sie von einer Ermattung und einem Rückgang in der Massenmobilisierung profitierten, und führten die Mobilisierungen auf ausgetretene Pfade: Mobilisierungen, die gut kontrolliert, alles andere als einig, partikularistisch und demotivierend sind, nichts gewinnen und die Teilnehmer ermüdet und isoliert zurücklassen. Angesichts all dessen denken wir, dass die Nicht-Beteiligung der Mehrheit der ArbeiterInnen an Mobilisierungen, die sie als fremd gegenüber ihren Interessen betrachten, vollkommen logisch ist. Und es ist ganz normal, dass wir uns nun in einem Denkprozess befinden.
Wir müssen reflektieren, begreifen, was geschehen ist, und nach einem Weg suchen, der zu unserer Selbstorganisation führt, ein Weg, der nicht von irgendeiner „aufgeklärten“ Elite oder durch irgendeine Art von konditioniertem Reflex entdeckt wird.
Der einzige Streik, den wir als effektiv erachten, den wir für notwendig halten, muss von den ArbeiterInnen selbst ausgerufen und auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt werden, muss die Kontrolle über den gesamten öffentlichen Raum ausüben, alles besetzen, neue Arten der gesellschaftlichen Verhältnisse und neue Formen der Kommunikation schaffen. Diese Art von Streik stoppt nicht das Leben, er beginnt es von neuem; dies ist der Massenstreik, der sich durch das vergangene Jahrhundert hinweg in einer Reihe von Gelegenheiten manifestiert hatte, auch wenn all unsere Gegner (all die Bourgeoisien, ob privater oder staatlicher Art) alles Mögliche angestellt hatten, ihn der Vergessenheit zu auszuliefern, ganz einfach deshalb, weil ein Streik, der die wahre Stärke des Proletariats zeigt, sie mit Furcht erfüllt.
Ein wirklicher Streik ist eine massive, tiefgehende Bewegung, die sich selbst nicht auf eintägige Arbeitseinstellungen beschränkt. Er ist die grundlegende Waffe der Arbeiterklasse, das Mittel für die Klasse, Kontrolle über ihr eigenes Leben auf allen Ebenen der Gesellschaft zu erlangen, mit der wir es zu schaffen haben, alle Aspekte einer menschlichen Gesellschaft auszudrücken, die sie anstrebt. Es liegt auf der Hand, dass dies nicht etwas ist, das von irgendjemanden ausgerufen werden kann, so gut seine Absichten auch sein mögen; es ist Teil des Prozesses, durch den die ArbeiterInnen sich ihrer selbst bewusst werden. Die Frage ist nicht, ob der Streik 24 Stunden, 48 Stunden oder unbegrenzt andauert. Sein radikaler Charakter ist nicht eine Zeitfrage. Es geht vielmehr darum, Bestandteil der wirklichen Bewegung der Arbeiterklasse zu sein, der ArbeiterInnen, die ihren eigenen Kampf organisieren und lenken.
Was ist ein Massenstreik?
Der Massenstreik ist das Resultat einer Periode im Kapitalismus, der Periode, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte. Rosa Luxemburg war die erste Revolutionärin, die dies am klarsten begriff, indem sie ihr Verständnis auf die Grundlage der revolutionären Bewegung der ArbeiterInnen in Russland 1905 stellte. Der Massenstreik ist „eine historische Erscheinung (…), die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt“ („Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“).
Der Massenstreik ist nichts Zufälliges; er ist nicht das Ergebnis einer Propaganda oder von Vorausplanungen, er kann nicht willkürlich zustandegebracht werden. Er ist vielmehr das Produkt einer bestimmten Periode in der Evolution der Widersprüche des Kapitalismus.
Die ökonomischen Bedingungen hinter dem Massenstreik sind nicht auf ein Land beschränkt, sondern besitzen eine internationale Dimension. Es sind die historischen Umstände, die solch eine Form des Kampfes hervorrufen, der eine Grundvoraussetzung für die proletarische Revolution ist. Kurz, der Massenstreik ist nichts Geringeres als „eine allgemeine Form des proletarischen Klassenkampfes, die sich aus dem gegenwärtigen Stadium der kapitalistischen Entwicklung und der Klassenverhältnisse ergibt“ (ebenda).
Dieses „gegenwärtige Stadium“ besteht in der Tatsache, dass der Kapitalismus die letzten Jahre seiner Prosperität erlebte. Die Entwicklung interimperialistischer Konflikte und die Drohung des Weltkrieges, das Ende jeglicher nachhaltigen Verbesserung in den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse – mit einem Wort, die wachsende Bedrohung, die die Arbeiterklasse für den Kapitalismus darstellte, waren die neuen historischen Umstände, die den Ausbruch des Massenstreiks begleiteten.
Der Massenstreik war das Produkt veränderter Lebensbedingungen auf einer historischen Ebene – was wir nun als das Ende des Aufstiegs des Kapitalismus und den Beginn seiner Niedergangsepoche erleben.
Zu jener Zeit gab es bereits mächtige Zusammenballungen der Arbeiterklasse in den fortentwickelten kapitalistischen Ländern, erfahren im kollektiven Kampf und mit Lebens- und Arbeitsbedingungen, die sich überall anglichen. Infolge der ökonomischen Entwicklung wurde auch die Bourgeoisie immer verdichteter; sie identifizierte sich immer mehr mit dem Staatsapparat. Wie das Proletariat hatten auch die Kapitalisten gelernt, wie sie sich zusammentun können, um sich mit ihrem Klassenfeind auseinanderzusetzen. Die ökonomischen Umstände erschwerten es den ArbeiterInnen immer mehr, Reformen auf der ökonomischen Ebene zu erlangen, während gleichzeitig der Ruin der bürgerlichen Demokratie es dem Proletariat immer schwerer machte, seine Errungenschaften durch parlamentarische Aktivitäten zu konsolidieren. So war der politische wie auch der ökonomische Kontext des Massenstreiks nicht der des russischen Absolutismus, sondern die nahende Dekadenz der bürgerlichen Herrschaft in allen Ländern.
Der Kapitalismus hat auf der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Ebene die Fundamente für gewaltige globale Klassenkonfrontationen gelegt.
Die Form des Massenstreiks
Das Ziel der Gewerkschaften (die Erzielung von Verbesserungen innerhalb des Systems) ist im dekadenten Kapitalismus immer schwieriger zu verwirklichen. In dieser Epoche tritt das Proletariat nicht mit der sicheren Perspektive in den Kampf, reale Verbesserungen zu erringen. Die Streiks und die wichtigsten Bewegungen von heute können auf dem Wege der Verbesserungen nur wenig gewinnen.
Infolgedessen ist die Rolle der Gewerkschaften, ökonomische Verbesserungen innerhalb des System zu erlangen, verschwunden. Es gibt weitere revolutionäre Auswirkungen aus der Infragestellung der Gewerkschaften durch den Massenstreik:
1) Der Massenstreik kann nicht im Voraus geplant werden: Er ergibt sich ohne einen vorgefassten Plan, ohne einen Satz von Methoden für die proletarischen Massen. Die Gewerkschaften, ihrer permanenten Organisation ergeben, um ihre Bankkonten und Mitgliederlisten besorgt, können nicht einmal damit beginnen, die Aufgabe der Organisierung des Massenstreiks wahrzunehmen, der sich in und für den Kampf herausbildet.
2) Die Gewerkschaften haben die ArbeiterInnen und ihre Interessen in all die unterschiedlichen Industriebranchen aufgespalten, während der Massenstreik „zusammen(fließt) aus einzelnen Punkten, (…) aus anderen Anlässen, in anderen Formen“ und somit dazu tendiert, alle Spaltungen im Proletariat zu überwinden.
3) Die Gewerkschaften organisieren lediglich eine Minderheit der Arbeiterklasse, während der Massenstreik all die unterschiedlichen Schichten der Klasse, gewerkschaftliche und nicht-gewerkschaftliche Arbeiter in seinen Bannkreis zieht.
Die Dekadenz des Kapitalismus
Der Kampf ist mit der Realität verbunden, in der er sich entfaltet: Man kann ihn nicht von ihr trennen. Seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts hat die Auszehrung der vor-kapitalistischen Märkte das unersättliche Streben des Kapitals nach Vermehrung gebremst und damit eine permanente Krise, ein permanentes gesellschaftliches Desaster (Kriege und ein nie dagewesenes Elend) provoziert.
Die Periode seit Ende der 1960er Jahre war der Höhepunkt der permanenten Krise des Kapitalismus gewesen: die Unmöglichkeit für das System zu expandieren, die Beschleunigung der interimperialistischen Antagonismen, deren Konsequenzen die gesamte menschliche Zivilisation in Gefahr bringen.
Überall hat der Staat mit seinem beeindruckenden Repressionsapparat die Interessenn der Bourgeoisie in Obhut genommen. Sie sieht sich einer Arbeiterklasse gegenüber, die, obwohl im Verhältnis zur restlichen Gesellschaft seit den 1900er Jahren zahlenmäßig schwächer, immer noch hoch konzentriert ist und deren Lebensbedingungen sich in allen Ländern auf einem beispiellosen Niveau angeglichen haben. Auf politischer Ebene ist der Ruin der bürgerlichen Demokratie so unübersehbar, dass sie kaum ihre wahre Rolle als Nebelwand für den Terror des kapitalistischen Staates verbergen kann.
Die Bedingungen des Massenstreiks entsprechen der objektiven Lage des Klassenkampfes von heute, da die Merkmale der gegenwärtigen Periode am schärfsten die Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung über das vergangene Jahrhundert hinweg ausdrücken.
Die Massenstreiks der ersten Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren eine Antwort auf das Ende der Periode des kapitalistischen Aufstiegs und den Beginn der Bedingungen, die die Dekadenz des Kapitalismus kennzeichen. Diese Bedingungen sind heute völlig klar und chronisch geworden. Der objektive Drang zum Massenstreik ist heute tausendmal stärker.
Die „allgemeinen Resultate der internationalen kapitalistischen Entwicklung“, die das historische Aufkommen des Massenstreiks bedingt haben, haben seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nicht aufgehört zu reifen.
Was können wir tun?
Wie können wir die Entwicklung des Massenstreiks, die internationale Selbstorganisation und Vereinigung des Proletariats fördern? Unser Beitrag kann lediglich der Beitrag einer bewussten Sektion der Arbeiterklasse sein – nicht mehr oder nicht weniger.
Eine der Formen dieses Beitrags besteht darin, fehlerhafte Formen der Aktivitäten zu kritisieren, die eine Barriere gegen die Selbstorganisation und der Vertiefung des Bewusstseins sind. Trotz der besten Absichten ihrer Mitstreiter sind Aktivismus, Basisgewerkschaftstum und Linksextremismus… Bestandteil dieser Barrieren, die die ArbeiterInnen niederreißen müssen, um ihre Klassenautonomie zu erlangen.
Ein weiterer Beitrag besteht darin, zum Nachdenken zu ermuntern, zur Klärung dessen, was wir durchlebt haben. Doch es bedeutet auch, für die Ausweitung realer Kämpfe, ihre Koordination, die Verbreitung von Information über sie sowie für das Zusammenkommen und die Organisation der Revolutionäre zu arbeiten. Es bedeutet vor allem die Wiederbelebung der Erinnerung an unsere Kämpfe und ihre wichtigsten Waffen wie den Massenstreik.
Empörte, selbstorganisierte Pro-Versammlungs-ArbeiterInnen
für eine Arbeiterklasse und eine anti-kapitalistische 15-M (1)
(1) 15-M bezieht sich auf die Bewegung, die im Mai 2011 begann.