Submitted by InternationaleRevue on
Bevor die Flutwelle der Covid-19-Krise über den Planeten fegte, waren die Kämpfe der Arbeiterklasse in Frankreich, Finnland, den USA und anderswo Anzeichen für eine neue Stimmung im Proletariat, für einen Unwillen, sich den Forderungen einer sich ausbreitenden Wirtschaftskrise zu beugen. Insbesondere in Frankreich haben wir Anzeichen einer Wiedererlangung der Klassenidentität gesehen, die durch jahrzehntelangen kapitalistischen Zerfall, durch das Aufkommen einer populistischen Strömung untergraben wurde, die die tatsächlichen Spaltungen in der Gesellschaft verzerrte und die in Frankreich mit einer gelben Weste auf die Straße ging.
In diesem Sinne hätte die Covid-19-Pandemie zu keinem schlechteren Zeitpunkt für den Kampf des Proletariats kommen können: Gerade als die Arbeiterklasse begann, auf die Straßen zu strömen, sich zu Demonstrationen zusammenzuschließen, um wirtschaftlichen Angriffen zu widerstehen, deren Ursprünge in der kapitalistischen Krise schwer zu verbergen sind, hatte die Mehrheit der Arbeiterklasse kaum eine andere Wahl, als sich in die vier Wände zurückzuziehen, große Versammlungen zu vermeiden, sich unter den Augen eines mächtigen Staatsapparates "selbst zu isolieren", der in der Lage war, angesichts eines unsichtbaren Feindes, der – wie man uns sagt – nicht zwischen Arm und Reich, Boss und Arbeiter unterscheidet, lautstark zur "nationalen Einheit" aufzurufen.
Die Schwierigkeiten, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist, sind real und tiefgreifend, und wir werden sie in diesem Artikel weiter untersuchen. Aber was in gewisser Weise bemerkenswert ist, ist die Tatsache, dass trotz der allgegenwärtigen Furcht vor Ansteckung, trotz der scheinbaren Allmacht des kapitalistischen Staates, die Anzeichen der Kampfbereitschaft der Klasse, die wir im Winter gesehen haben, nicht einfach verflogen sind, sondern dass wir in einer ersten Phase und angesichts der schockierenden Nachlässigkeit und der mangelnden Vorbereitung der Bourgeoisie sehr weit verbreitete Abwehrbewegungen der Arbeiterklasse gesehen haben. Die Arbeiter und Arbeiterinnen auf der ganzen Welt haben sich geweigert, wie "Lämmer auf die Schlachtbank" zu gehen, vielmehr haben sie einen entschlossenen Kampf zur Verteidigung ihrer Gesundheit, ihres Lebens selbst geführt und angemessene Sicherheitsmaßnahmen oder die Schließung von Unternehmen gefordert, die nicht in der wesentlichen Produktion tätig sind (wie z.B. Autofabriken).
Die Hauptmerkmale dieser Kämpfe sind die folgenden.
Sie haben auf globaler Ebene stattgefunden angesichts des globalen Charakters der Pandemie, aber eines ihrer wichtigsten Elemente ist, dass sie in den zentralen Ländern des Kapitalismus, insbesondere in den Ländern, die am stärksten von der Krankheit betroffen sind, deutlicher zutage getreten sind: In Italien beispielsweise erwähnt die Internationalistische Kommunistische Tendenz spontane Streiks im Piemont, in Ligurien, in der Lombardei, im Veneto, in der Emilia Romagna, in der Toskana, in Umbrien und in Apulien[1]. Es waren vor allem die italienischen Fabrikarbeiter, die als erste die Parole "Wir sind keine Lämmer zum Schlachten" erhoben. In Spanien: Streiks bei Mercedes, FIAT, Balay-Haushaltsgeräten; Streiks bei Telepizza gegen die Schikanierung von Arbeitern und Arbeiterinnen, die bei der Auslieferung von Pizzas nicht ihr Leben riskieren wollten, und weitere Proteste von Lieferarbeitern und -arbeiterinnen in Madrid. Das vielleicht Wichtigste von allem – nicht zuletzt, weil es das Bild einer amerikanischen Arbeiterklasse in Frage stellt, die sich unkritisch hinter der Demagogie von Donald Trump versammelt habe – gab es in den USA weit verbreitete Kämpfe: Streiks bei FIAT in Indiana, bei Warren Trucks, von Busfahrern in Detroit und Birmingham Alabama, in Häfen, Restaurants, in der Lebensmittelverteilung, in der Abwasserentsorgung, im Baugewerbe; Streiks bei Amazon (welches Unternehmen auch in einigen anderen Ländern von Streiks betroffen ist), bei Whole Foods, Instacart, Walmart, FedEx usw. Auch in den USA haben wir eine große Zahl von Mietstreiks erlebt. Dies ist eine Form des Kampfes, die zwar nicht automatisch Proletarier und Proletarierinnen einbezieht, aber auch keineswegs klassenfremd ist (wir könnten zum Beispiel die Mietstreiks von Glasgow anführen, die ein integraler Bestandteil der Arbeiterkämpfe während des Ersten Weltkriegs waren, oder den Merseyside-Mietstreik 1972, der die erste internationale Welle von Kämpfen nach 1968 begleitete). Und insbesondere in den USA besteht eine reale Gefahr der Zwangsräumung, die über vielen der "eingesperrten" Sektoren der Arbeiterklasse schwebt.
In Frankreich und Großbritannien sind solche Bewegungen weniger verbreitet gewesen. Aber wir haben auch in diesen Ländern inoffizielle Streiks von Postangestellten und von Bauarbeitern gesehen, von Lagerarbeitern und bei der Müllabfuhr in Großbritannien, Streiks auf den Werften von Saint Nazaire in Frankreich, bei Amazon in Lille und Montelimar, bei ID Logistics usw. In Lateinamerika sind als Beispiele Chile (Coca-Cola), Hafenarbeiter in Argentinien und Brasilien, Packer in Venezuela zu nennen. In Mexiko: "In der mexikanischen Stadt Ciudad Juárez, die an El Paso, Texas, grenzt, haben sich Streiks ausgebreitet, an denen Hunderte von Maquiladora-Arbeitern beteiligt haben, die die Schließung nicht lebenswichtiger Fabriken forderten, die trotz der wachsenden Zahl von Todesopfern durch die COVID-19-Pandemie offen gehalten wurden, darunter 13 Beschäftigte des US-amerikanischen Autositzherstellers Lear. Die Streiks ... folgen ähnlichen Aktionen von Arbeitern in den Grenzstädten Matamoros, Mexicali, Reynosa und Tijuana"[2]. In der Türkei finden Proteststreiks in der Textilfabrik Sarar (gegen den Rat der Gewerkschaften), in der Galataport-Werft sowie von Post- und Telegrafenarbeitern statt. In Australien: Streiks der Hafen- und Vertriebsarbeiter. Die Liste ließe sich leicht erweitern.
Einige der Streiks waren spontan, wie z.B. in Italien, in den US-Autofabriken und in den Zentren von Amazon, und die Gewerkschaften wurden wegen ihrer offenen Zusammenarbeit mit der Unternehmensleitung heftig kritisiert und manchmal frontal bekämpft. Dies geht aus einem Artikel auf libcom.org hervor, der ein breites Panorama der jüngsten Kämpfe in den USA bietet[3]: "Die Arbeiter in den Fiat-Chrysler-Montagewerken Sterling Heights (SHAP) und Jefferson North (JNAP) in Metro Detroit nahmen die Sache gestern Abend und heute Morgen selbst in die Hand und erzwangen eine Produktionsstilllegung, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen.
Die Arbeitsniederlegungen begannen gestern Abend in Sterling Heights, nur Stunden, nachdem die United Auto Workers und die Autohersteller in Detroit eine miese Abmachung getroffen hatten, um die Werke während der globalen Pandemie geöffnet und in Betrieb zu halten... Am selben Tag weigerten sich zahlreiche Beschäftigte des Lear-Seating-Werks in Hammond, Indiana, zu arbeiten und erzwangen die Schließung der Teilefabrik und des nahe gelegenen Montagewerks in Chicago". Der Artikel enthält auch ein Interview mit einem Autoarbeiter:
"Die UAW sollten eigentlich dafür kämpfen, dass wir von der Arbeit freikommen. Die Gewerkschaft und das Unternehmen kümmern sich mehr um die Herstellung von Lastwagen als um die Gesundheit aller. Ich habe das Gefühl, dass sie nichts tun werden, wenn wir nichts unternehmen. Wir müssen uns zusammenschließen. Sie können uns nicht alle entlassen".
Diese Bewegungen sind grundsätzlich auf dem Terrain der Arbeiterklasse: Es geht um die Arbeitsbedingungen (Forderung nach angemessener Sicherheitsausrüstung), aber auch um Krankengeld, unbezahlte Löhne, gegen Sanktionen gegen Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich weigerten, unter unsicheren Bedingungen zu arbeiten, usw. Sie zeigen eine Verweigerung der Selbstaufopferung für das Kapital, also eine Haltung, die in Kontinuität mit der Fähigkeit der Klasse steht, dem Drang zum Krieg zu widerstehen, der seit dem Wiederaufleben der Klassenkämpfe 1968 ein grundlegender Faktor in der Weltsituation ist.
Obwohl die Beschäftigten des Gesundheitswesens ein außerordentliches Verantwortungsbewusstsein gezeigt haben, das ein Element proletarischer Solidarität ist, haben sie auch ihre Unzufriedenheit mit ihren Bedingungen, ihre Wut über die heuchlerischen Appelle und das Lob der Regierungen zum Ausdruck gebracht, auch wenn dies hauptsächlich in Form von individuellen Protesten und Erklärungen[4] geschah; es gab jedoch auch kollektive Aktionen, einschließlich Streiks, so in Malawi, Simbabwe, Papua-Neuguinea und Demonstrationen von Krankenschwestern in New York.
Die Pandemie-Krise als ein Schlag gegen den Klassenkampf
Aber dieses proletarische Verantwortungsbewusstsein, das auch Millionen dazu veranlasst, die Regeln der Selbstisolierung zu befolgen, zeigt, dass die Mehrheit der Arbeiterklasse die Realität dieser Krankheit akzeptiert, selbst in einem Land wie den USA, das das "Kernland" verschiedener Formen der Verleugnung der Pandemie ist. So haben sich die Kämpfe, die wir gesehen haben, notwendigerweise entweder auf die "wesentlichen" Arbeiter und Arbeiterinnen beschränkt, die für sicherere Arbeitsbedingungen kämpfen – und diese Kategorien werden zwangsläufig eine Minderheit der Klasse bleiben, wie wichtig ihre Rolle auch sein mag – oder auf Arbeiter und Arbeiterinnen, die schon sehr früh in Frage stellten, ob ihre Arbeit wirklich notwendig war, wie die Beschäftigten der Autowerke in Italien und den USA; und so war ihre zentrale Forderung, nach Hause geschickt zu werden (mit dem Lohn des Unternehmens oder des Staates, statt wie viele andere entlassen zu werden). Aber diese Forderung, so notwendig sie auch sein mochte, konnte nur eine Art taktischen Rückzug im Kampf bedeuten, nicht aber seine Intensivierung oder Ausweitung. Es hat Versuche gegeben – z.B. unter den Angestellten von Amazon in den USA –, Kampfversammlungen online abzuhalten, Streikposten unter Einhaltung von Sicherheitsabständen aufzustellen usw., aber es lässt sich nicht vermeiden, dass die Bedingungen der Isolation und Schließung ein riesiges Hindernis für jede unmittelbare Entwicklung des Kampfes darstellen.
Und unter den Bedingungen der Isolation ist es schwieriger, dem gigantischen Sperrfeuer der Propaganda und der ideologischen Verschleierung zu widerstehen.
Jeden Tag werden in den Medien Hymnen an die nationale Einheit gesungen, die auf der Idee beruhen, dass das Virus ein Feind sei, der nicht diskriminiere: In Großbritannien wird die Tatsache, dass Boris Johnson und Prinz Charles mit dem Virus infiziert waren, als Beweis dafür angeführt[5]. Die Bezugnahme auf den Krieg, den Geist des "Blitzkriegs" während des Zweiten Weltkriegs (selbst das Produkt einer großen Propagandaübung, die darauf abzielte, jegliche soziale Unzufriedenheit zu verbergen), ist im Vereinigten Königreich unaufhörlich zu hören, insbesondere mit den Lobeshymnen auf einen 100 Jahre alten Luftwaffenveteranen, der Millionen für den NHS sammelte, indem er 100 Längen seines großen Gartens vollendete. In Frankreich hat sich Macron auch als Kriegsführer präsentiert; in den USA bemühte sich Trump, Covid-19 als das "chinesische Virus" zu definieren und lenkte damit von dem beklagenswerten Umgang seiner Regierung mit der Krise ab und spielte mit dem gewohnten Thema "America First". Überall – auch im Schengen-Raum der Europäischen Union – wurde die Schließung der Grenzen als das beste Mittel zur Eindämmung der Ansteckung hervorgehoben. Regierungen der nationalen Einheit wurden dort gebildet, wo einst scheinbar unlösbare Spaltungen herrschten (wie in Belgien) oder wo Oppositionsparteien mehr denn je "loyal" gegenüber den nationalen "Kriegsanstrengungen" werden.
Der Appell an den Nationalismus geht Hand in Hand mit der Darstellung des Staates als der einzigen Kraft, die die Bürger und Bürgerinnen schützen kann, sei es durch die energische Durchsetzung der Abriegelung oder in seiner freundlicheren, sanfteren Gestalt als Helfer der Bedürftigen, sei es durch die Billionen, die zur Aufrechterhaltung entlassener Arbeiter und Selbständiger, deren Unternehmen schließen mussten, ausgegeben werden, oder durch die vom Staat verwalteten Gesundheitsdienste. In Großbritannien ist der "National Health Service" seit langem eine heilige Ikone fast der gesamten Bourgeoisie, vor allem aber der Linken, die ihn als ihre besondere Errungenschaft betrachtet, da er von der Labour-Regierung der Nachkriegszeit eingeführt wurde, die ihn trotz der bösen Übergriffe der Privatunternehmer irgendwie als außerhalb der kapitalistischen Kommodifizierung stehend darstellt. Dieses Lob auf den NHS und ähnliche Institutionen wird unterstützt durch die wöchentlichen Beifallsrituale und das unaufhörliche Loben der Gesundheitsangestellten als Helden, vor allem von denselben Politikern, die im letzten Jahrzehnt und darüber hinaus maßgeblich dazu beigetragen haben, die Gesundheitsdienste in den Ruin zu treiben.
Laut dem linken Labour-Politiker Michael Foot war Großbritannien dem Sozialismus nie näher als während des Zweiten Weltkriegs, und heute, wo der Staat die Sorge um die unmittelbare Rentabilität beiseite schieben muss, um die Gesellschaft zusammenzuhalten, hat die alte Illusion, dass "wir heute alle Sozialisten sind" (eine Idee, die von der herrschenden Klasse während der revolutionären Welle nach 1917 allgemein geäußert wurde), durch die massiven Ausgaben, die den Regierungen durch die Covid-19-Krise auferlegt wurden, neuen Auftrieb erhalten. Der einflussreiche linke Philosoph Slavoj Zizek scheint in einem Youtube-Interview mit dem Titel "Kommunismus oder Barbarei"[6] zu implizieren, dass die Bourgeoisie selbst nun gezwungen sei, Geld als bloßen Abrechnungsmechanismus zu behandeln, als eine Form von Arbeitszeitgutscheinen, völlig losgelöst vom tatsächlichen Wert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Barbaren zu Kommunisten werden. In Wirklichkeit ist die zunehmende Trennung von Geld und Wert das Zeichen der völligen Erschöpfung des kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisses und damit die Notwendigkeit des Kommunismus, aber die Missachtung der Marktgesetze durch den bürgerlichen Staat ist alles andere als ein Schritt zu einer höheren Produktionsweise: Sie ist der letzte Wall dieser zerfallenden Ordnung. Und es ist vor allem die Funktion des linken Flügels des Kapitalismus, dies vor der Arbeiterklasse zu verbergen, sie von ihrem eigenen Weg abzulenken, der den Ausbruch aus der Umklammerung durch den Staat und die Vorbereitung seiner revolutionären Zerstörung erfordert.
Aber im Zeitalter des Populismus hat die Linke kein Monopol auf vorgetäuschte Systemkritik. Die unzweifelhafte Realität, dass der Staat diese Krise überall dazu nutzen wird, seine Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung zu verstärken – und damit die Realität einer herrschenden Klasse, die sich unaufhörlich "verschwört", um ihre Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten – gibt Anlass zu einem neuen Auftrieb von "Verschwörungstheorien", nach denen die wahre Gefahr von Covid-19 abgelehnt oder gar geleugnet wird: Es handle sich um einen "Scamdemic", der von einer finsteren Kabale von Globalisten unterstützt werde, um ihre Agenda einer "Weltregierung" durchzusetzen. Und diese Theorien, die in den USA besonders einflussreich sind, sind nicht auf den Cyberspace beschränkt. Die Trump-Fraktion in den USA hat diese Suppe mit der Behauptung angereichert, es gebe Beweise dafür, dass Covid-19 aus einem Labor in Wuhan entkommen sei – auch wenn die US-Geheimdienste dies bereits ausgeschlossen haben. China hat mit ähnlichen Anschuldigungen gegen die USA geantwortet. Auch in den USA gab es große Proteste, die eine Rückkehr an den Arbeitsplatz und ein Ende des Lockdown forderten, die von Trump angefeuert und oft durch die umliegenden Verschwörungstheorien (sowie durch religiöse Phantasien: Die Krankheit ist real, aber wir können sie mit der Kraft des Gebetes besiegen) inspiriert wurden. Es hat auch einige rassistische Angriffe auf Menschen aus dem Fernen Osten gegeben, die für das Virus verantwortlich gemacht werden. Es besteht kein Zweifel, dass solche Ideologien Teile der Arbeiterklasse betreffen, insbesondere diejenigen, die keinerlei finanzielle Unterstützung von Arbeitgebern oder dem Staat erhalten, aber die Demonstrationen zur Rückkehr an den Arbeitsplatz in den USA scheinen hauptsächlich von kleinbürgerlichen Elementen angeführt worden zu sein, die bestrebt sind, ihre Unternehmen wieder zum Laufen zu bringen. Wie wir gesehen haben, haben viele Arbeiter und Arbeiterinnen dafür gekämpft, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen!
Diese gewaltige ideologische Offensive verstärkt die objektive Atomisierung, die durch den Lockdown auferlegt wird, die Angst, dass jemand außerhalb seines Haushalts eine Quelle von Krankheit und Tod sein könnte. Und die Tatsache, dass der Lockdown wahrscheinlich noch einige Zeit dauern wird, dass es keine Rückkehr zur Normalität geben wird und dass es weitere Zeiträume der Gefangenschaft geben kann, wenn die Krankheit eine zweite Welle durchläuft, wird die Schwierigkeiten, denen sich die Arbeiterklasse gegenübersieht, eher noch verschärfen. Und wir können es uns nicht leisten, zu vergessen, dass diese Schwierigkeiten nicht mit dem Lockdown begannen, sondern eine lange Geschichte hinter sich haben, vor allem seit Beginn der Periode des Zerfalls nach 1989, die einen tiefgreifenden Rückzug sowohl der Kampfbereitschaft als auch des Bewusstseins, einen wachsenden Verlust der Klassenidentität, eine Verschärfung der Tendenz des "Jeder-für-sich" auf jeder Ebene erlebt hat. Somit markiert die Pandemie als klares Produkt des Zerfallsprozesses eine neue Etappe in diesem Prozess, eine Intensivierung all seiner charakteristischsten Elemente[7].
Die Notwendigkeit einer politischen Reflexion und Debatte
Nichtsdestotrotz hat die Covid-19-Krise die Aufmerksamkeit in einem noch nie dagewesenen Ausmaß auch auf die politische Dimension gelenkt: Die täglichen Gespräche sowie das unaufhörliche Geplapper der Medien konzentrieren sich fast ausschließlich auf die Pandemie und den Lockdown, die Reaktion der Regierungen, die Notlage der Beschäftigten im Gesundheits- und anderen "lebenswichtigen" Bereichen und die Probleme des täglichen Überlebens eines großen Teils der Bevölkerung insgesamt. Zweifellos ist der Markt der Ideen durch die verschiedenen Formen der vorherrschenden Ideologie weitgehend in die Enge getrieben worden, aber es gibt immer noch Ecken, an denen eine bedeutende Minderheit grundlegende Fragen über das Wesen dieser Gesellschaft stellen kann. Die Frage, was im gesellschaftlichen Leben "wesentlich" ist, wer die lebensnotwendigste Arbeit leistet und dafür so elend bezahlt wird, die Nachlässigkeit der Regierungen, die Absurdität nationaler Spaltungen angesichts einer globalen Pandemie, die Frage, in was für einer Welt wir nach Covid leben werden: Dies sind Fragen, die nicht völlig ausgeblendet oder umgeleitet werden können. Und die Menschen sind nicht völlig atomisiert: Die Eingeschlossenen nutzen soziale Medien, Internetforen, Video- oder Audiokonferenzen nicht nur, um die Lohnarbeit fortzusetzen oder mit Familie und Freunden und Freundinnen in Kontakt zu bleiben, sondern auch, um die Situation zu diskutieren und Fragen nach ihrer tatsächlichen Bedeutung zu stellen. Auch die physische Begegnung (wenn in der erforderlichen sozialen Distanz...) mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des Wohnblocks oder des Viertels kann zum Schauplatz von Diskussionen werden, auch wenn man das wöchentliche Ritual des Applauses nicht mit echter Solidarität oder lokale gegenseitige Hilfsgruppen nicht mit dem Kampf gegen das System verwechseln sollte.
In Frankreich wurde eine Losung populär, die lautete: "Kapitalismus ist der Virus, Revolution ist der Impfstoff". Mit anderen Worten, die Minderheiten der Klasse führen Diskussionen und Überlegungen zu ihrem logischen Abschluss. Die "Avantgarde" dieses Prozesses besteht aus jenen zum Teil sehr jungen Elementen, die klar begriffen haben, dass der Kapitalismus völlig bankrott ist und dass die einzige Alternative für die Menschheit die proletarische Weltrevolution ist – mit anderen Worten, aus jenen, die sich auf kommunistische Positionen und damit auf die Tradition der kommunistischen Linken zubewegen. Das Erscheinen dieser Generation von Menschen "in der Forschung" für den Kommunismus stellt die bestehenden Gruppen der kommunistischen Linken vor eine immense Verantwortung im Prozess des Aufbaus einer kommunistischen Organisation, die in der Lage sein wird, in den zukünftigen Kämpfen des Proletariats eine Rolle zu spielen.
Die Abwehrkämpfe, die wir in der Frühphase der Pandemie gesehen haben, der Reflexionsprozess, der während der Abriegelung vor sich ging, sind Hinweise auf das intakte Potenzial des Klassenkampfes, der zwar ebenfalls für einen beträchtlichen Zeitraum "abgeriegelt" sein kann, der aber längerfristig soweit reifen könnte, dass er sich offen äußern kann. Die Unfähigkeit des Kapitalismus, eine große Zahl der auf dem Höhepunkt der Krise Entlassenen wieder einzugliedern, die Notwendigkeit, dass die Bourgeoisie die "Geschenke" zurückholen muss, die sie im Interesse der sozialen Stabilität verteilt hat, die neue Sparrunde, zu der die herrschende Klasse gezwungen sein wird: Dies wird sicherlich die Realität der nächsten Etappe der Covid-19-Geschichte sein, die gleichzeitig eine Geschichte der historischen Wirtschaftskrise des Kapitalismus und seines fortschreitenden Zerfalls ist. Auch eine Geschichte der sich verschärfenden imperialistischen Spannungen, da verschiedene Mächte versuchen, die Covid-19-Krise zu nutzen, um die globale Hackordnung weiter zu stören: Insbesondere könnte es eine neue Offensive des chinesischen Kapitalismus geben, die darauf abzielt, die USA als führende Weltmacht herauszufordern. Auf jeden Fall kündigen Trumps Versuche, China für die Pandemie verantwortlich zu machen, bereits eine zunehmend aggressive Haltung der USA an. Von den Arbeitern und Arbeiterinnen werden Opfer verlangt, um die Welt nach Covid "wiederaufzubauen" und die nationale Wirtschaft gegen die Bedrohung von außen zu verteidigen.
Auch hier müssen wir vor jeglichem Immediatismus (der Illusion gegenüber unmittelbaren Lösungen) warnen. Eine wahrscheinliche Gefahr – angesichts der gegenwärtigen Schwäche der Klassenidentität und des wachsenden Elends, von dem alle Schichten der Weltbevölkerung betroffen sind – besteht darin, dass die Antwort auf weitere Angriffe auf den Lebensstandard in Form von klassenübergreifenden, "Volksaufständen" erfolgen könnte, bei denen die Arbeiter nicht als eigenständige Klasse mit ihren eigenen Methoden und Forderungen auftreten. Wir haben vor dem Lockdown eine Welle solcher Aufstände gesehen, und selbst während der Abriegelung sind sie im Libanon und anderswo bereits wieder aufgetaucht, was die Tatsache unterstreicht, dass diese Art von Reaktion in den "peripheren" Regionen des kapitalistischen Systems ein besonderes Problem darstellt. Ein kürzlich veröffentlichter UN-Bericht warnte davor, dass Teile der Welt, insbesondere in Afrika und in vom Krieg verwüsteten Ländern wie Jemen und Afghanistan, infolge der Pandemiekrise Hungersnöte "biblischen Ausmaßes" erleben werden, was auch die Gefahr verzweifelter Reaktionen ohne Perspektive erhöht[8].
Wir wissen auch, dass die Massenarbeitslosigkeit in einer ersten Phase die Arbeiterklasse tendenziell lähmen kann: Die Bourgeoisie kann sie nutzen, um die Arbeitenden zu disziplinieren und Spaltungen zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen zu schaffen, und es ist an sich ohnehin schwieriger, die Schließung von Unternehmen zu bekämpfen, als sich Angriffen auf Löhne und Arbeitsbedingungen zu widersetzen. Und wir wissen, dass die Bourgeoisie in Zeiten offener Wirtschaftskrisen immer nach Alibis suchen wird, die das kapitalistische System vom Haken nehmen: Anfang der 70er Jahre war es die "Ölkrise", 2008 waren es "die gierigen Bankiers". Wenn man heute den Job verloren hat, wird man dem Virus die Schuld geben. Aber diese Ausreden sind gerade deshalb nötig, weil die Wirtschaftskrise und insbesondere die Massenarbeitslosigkeit eine Anklage gegen die kapitalistische Produktionsweise ist, deren Gesetze sie letztlich daran hindern, ihre Sklaven und Sklavinnen zu ernähren.
Mehr denn je müssen Revolutionäre Geduld haben. Wie es im Kommunistischen Manifest heißt, zeichnen sich Kommunisten und Kommunistinnen durch ihre Fähigkeit aus, "die Marschrichtung, die Bedingungen und die allgemeinen Endergebnisse der proletarischen Bewegung" zu verstehen. Die Massenkämpfe unserer Klasse, ihre Verallgemeinerung und Politisierung, ist ein Prozess, der sich über einen langen Zeitraum entwickelt und viele Fortschritte und Rückschritte durchläuft. Aber wir praktizieren nicht bloße Wunscherfüllung, wenn wir, wie am Ende unseres internationalen Flugblatts über die Pandemie, darauf bestehen, dass "die Zukunft dem Klassenkampf gehört"[9].
Amos 12.05.2020
[1] https://www.leftcom.org/en/articles/2020-03-14/italy-we-re-not-lambs-to-the-slaughter-class-struggle-in-the-time-of-coronavirus
[3] https://libcom.org/article/workers-launch-wave-wildcat-strikes-trump-pushes-return-work-amidst-exploding-coronavirus
[4] Siehe die Reaktionen von Gesundheitspersonal in Belgien und Frankreich: https://fr.internationalism.org/content/10107/covid-19-des-reactions-face-a-lincurie-bourgeoisie. Die Erklärung des belgischen Arbeiters ist in englischer Sprache in unserem Internetforum, Post 59, zu finden: https://en.internationalism.org/forum/16820/corona-virus-more-evidence-capitalism-has-become-danger-humanity
[5] Dieser Verzicht wurde bis zu einem gewissen Grad durch die sich mehrenden Hinweise darauf untergraben, dass die ärmsten Elemente der Gesellschaft, einschließlich ethnischer Minderheiten, von dem Virus viel härter getroffen werden.
[7] Wir haben einige dieser Schwierigkeiten in der Klasse in verschiedenen Texten untersucht, zuletzt unter https://en.internationalism.org/content/16707/report-class-struggle-formation-loss-and-re-conquest-proletarian-class-identity