Wachstum als Zerfall

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Ein Leser schreibt uns:

"Wie kann die IKS behaupten, dass der Kapitalismus seit 1914 ein dekadentes System ist, wenn es seither ein so enormes Wachstum im kapitalistischen System gegeben hat?"

Diese Frage wurde uns auf unterschiedliche Weise schon oft gestellt: Was ist mit dem enormen Wachstum nach dem Zweiten Weltkrieg? Was ist mit dem enormen Wachstum in China in den letzten Jahrzehnten? Spricht das nicht alles gegen die Vorstellung, dass der Kapitalismus ein System im Niedergang, im Verfall, in der Dekadenz sei?

Wir sind der Meinung, dass diese Fragen wichtig sind, dass man aber bei ihrer Beantwortung richtig an sie herangehen muss.

Schauen wir uns dazu eine recht bedeutsame Passage in Marx' Grundrissen an: "(...) Während das Kapital also einerseits dahin streben muss, jede örtliche Schranke des Verkehrs, i.e. des Austauschs niederzureißen, die ganze Erde als seinen Markt zu erobern, strebt es andererseits danach, den Raum zu vernichten durch die Zeit, d.h. die Zeit, die die Bewegung von einem Ort zum andren kostet, auf ein Minimum zu reduzieren. Je entwickelter das Kapital, je ausgedehnter daher der Markt, auf dem es zirkuliert, der die räumliche Bahn seiner Zirkulation bildet, desto mehr strebt es zugleich nach größrer räumlicher Ausdehnung des Markts und nach größrer Vernichtung des Raums durch die Zeit (...). Die universelle Tendenz des Kapitals erscheint hier, die es von allen früheren Produktionsstufen unterscheidet. Obgleich seiner Natur nach selbst borniert, strebt es nach universeller Entwicklung der Produktivkräfte und wird so die Voraussetzung neuer Produktionsweise, die gegründet ist nicht auf die Entwicklung der Produktivkräfte, um einen bestimmten Zustand zu reproduzieren und höchstens auszuweiten, sondern wo die – freie, ungehemmte, progressive, und universelle Entwicklung der Produktivkräfte selbst die Voraussetzung der Gesellschaft und daher ihrer Reproduktion bildet; wo die einzige Voraussetzung das Hinausgehen über den Ausgangspunkt. Diese Tendenz – die das Kapital hat, aber die zugleich ihm selbst als einer bornierten Produktionsform widerspricht und es daher zu seiner Auflösung treibt – unterscheidet das Kapital von allen früheren Produktionsweisen und enthält zugleich das in sich, daß es als bloßer Übergangspunkt gesetzt ist. Alle bisherigen Gesellschaftsformen gingen unter an der Entwicklung des Reichtums – oder was dasselbe ist der gesellschaftlichen Produktivkräfte.[1]

Diese Passage kann natürlich unterschiedlich interpretiert werden, und die Grundrisse waren alles andere als ein fertiges Werk. Unserer Meinung nach war dies jedoch ein großartiger Vorausblick auf den Punkt, an dem der Kapitalismus zu einem dekadenten System würde. Erstens betont Marx den Drang des Kapitals, den gesamten Planeten zu erobern, und zwar durch eine gewaltige Entwicklung der Produktivkräfte, in diesem Fall die zunehmende Fähigkeit, Waren so schnell wie möglich von einem Ende der Erde zum anderen zu transportieren. Diese Dynamik, dieses Potenzial für eine sehr schnelle Ausdehnung und technologische Entwicklung, unterscheidet das Kapital von früheren Produktionsweisen, die eher statisch und auf bestimmte Regionen der Erde beschränkt waren. Diese universalisierende Tendenz des Kapitals schafft auch notwendigerweise ein Weltproletariat, eine internationale revolutionäre Klasse, und ist somit eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die menschliche Gesellschaft eine qualitativ neue Etappe in ihrer Geschichte erreichen kann. Wie Marx es in einem anderen Abschnitt desselben Kapitels der Grundrisse ausdrückt:
"Dass die äußerste Form der Entfremdung, worin, im Verhältnis des Kapitals zur Lohnarbeit, die Arbeit, die produktive Tätigkeit zu ihren eigenen Bedingungen und ihrem eignen Produkt erscheint, ein notwendiger Durchgangspunkt ist – und damit an sich, nur noch in verkehrter, auf den Kopf gestellter Form schon enthält die Auflösung aller bornierter Voraussetzungen der Produktion, und vielmehr die unbedingten Voraussetzungen der Produktion schafft und herstellt, daher die vollen materiellen Bedingungen für die totale, universelle Entwicklung der Produktivkräfte des Individuums, wird später betrachtet werden.[2]

In dem Maße, in dem das Kapital die Produktivkräfte bis zu dem Punkt entwickelt, an dem eine globale kommunistische Produktion und Verteilung möglich wird, kann die Verdrängung früherer Produktionsweisen durch das Kapital, so brutal und rücksichtslos sie auch sein mag, als Zeichen eines aufsteigenden oder fortschrittlichen Gesellschaftssystems angesehen werden. Aber sobald dieser Punkt erreicht ist, muss die weitere "Entwicklung der Produktivkräfte" eine ganz andere Bedeutung annehmen, in der der Reichtum nicht mehr in gestohlener Zeit, sondern in freier Zeit gemessen wird; nicht mehr in Geldbegriffen oder der Anhäufung von konstantem Kapital oder den Abstraktionen des "Wertes", sondern als Entwicklung der schöpferischen Fähigkeiten jedes und jeder Einzelnen in Verbindung mit anderen.
Aber es geht nicht nur darum, die Geschichte des Kapitals ab einem bestimmten Punkt zu betrachten und zu beklagen, dass die Dinge so viel besser hätten sein können. Marx argumentiert auch, dass dieser kulminierende Moment genau der Punkt ist, an dem die widersprüchliche Art und Weise, in der sich das Kapital universalisiert, es "zur Auflösung treibt". Die geschichtliche Entwicklung seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat deutlich gemacht, welche Form dieser "Auflösungsprozess" annimmt: Von diesem Zeitpunkt an konnte das Kapital die Produktionskräfte nicht mehr weiterentwickeln, ohne eine Spirale der Zerstörung, eine Reihe von Weltwirtschaftskrisen, globale Kriege und, wie in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher wurde, die Verwüstung der natürlichen Umwelt in Gang zu setzen. Man kann sogar sagen, dass, solange das Kapital in einer Epoche, in der es obsolet geworden ist, weiter wächst und sich anhäuft, dieses Wachstum die Gefahr erhöht, dass es die Menschheit zerstört und jede Möglichkeit einer kommunistischen Zukunft zunichte macht. Dies wird deutlich, wenn wir uns die Perfektionierung der Militärproduktion ansehen, die im letzten Jahrhundert und darüber hinaus zu einem so zentralen Bestandteil der kapitalistischen Wirtschaft geworden ist. Es ist ebenso offensichtlich, wenn wir die ökologischen Folgen der kapitalistischen Expansion bis in die letzten Winkel des Planeten sehen. Wir müssen auch erkennen, dass gerade die Mittel, die eingesetzt werden, um das Wachstum in einer Zeit fortzusetzen, in der die Wirtschaftskrise tendenziell zum Dauerzustand geworden ist, von der Obsoleszenz des Systems zeugen. Dies gilt insbesondere für den Rückgriff auf gigantische Verschuldung, um eine Art künstlichen Markt zu schaffen. Das Kapital wächst, indem es sich über seine eigenen Gesetze hinwegsetzt.

Das ist es, worauf Marx unserer Meinung nach hinaus will, wenn er die erste zitierte Passage fortsetzt, indem er sagt: "Die höchste Entwicklung dieser Basis selbst (die Blüte, worin sich verwandelt, es ist aber doch immer diese Basis, diese Pflanze als Blüte; daher Verwelken nach der Blüte und als Folge der Blüte) ist der Punkt, worin sie selbst zu der Form ausgearbeitet ist, worin sie mit der höchsten Entwicklung der Produktionskräfte vereinbar, daher auch der reichsten Entwicklung der Individuen. Sobald dieser Punkt erreicht ist, erscheint die weitere Entwicklung als Verfall, und die neue Entwicklung beginnt von einer neuen Basis."[3]

Das Wachstum Chinas in den letzten Jahrzehnten ist ein klassisches Beispiel für diese "Entwicklung als Verfall": Verwaltet von einem rücksichtslosen totalitären Staatsapparat, finanziert durch eine astronomische Verschuldung, geschützt durch eine riesige Armee und ein Arsenal an Atomwaffen, Aufbau neuer Industriezentren und Megastädte auf schreckliche Kosten für die Umwelt, sowohl lokal als auch global: Wir können getrost sagen, dass dies alles die Kennzeichen eines dekadenten Systems sind.

Warum das Jahr 1914 als endgültiger Wendepunkt? Erinnern wir uns daran, dass dies nicht die rückblickende Schlussfolgerung der IKS ist, sondern die Position der Revolutionäre war, die die Kommunistische Internationale gründeten und die erkannten, dass der Kapitalismus tatsächlich in seine Epoche des "inneren Zersetzung" eingetreten war, die Epoche der Kriege und Revolutionen. Der Krieg von 1914-18 zeigte, dass der Kapitalismus unaufhaltsam in immer grausamere imperialistische Kriege getrieben wurde, die die Menschheit vor die Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei stellten.  Und die Antwort der internationalen Arbeiterklasse ab 1917 zeigte, dass die neue Epoche tatsächlich die Epoche der "kommunistischen Revolution des Proletariats" war (Richtlinien der Kommunistischen Internationale, März 1919).

Nochmals sei betont, dass der Krieg nicht bedeutete, dass der Kapitalismus keine weiteren Expansionsmöglichkeiten mehr hatte. Rosa Luxemburg wies 1913 in ihrem Buch Die Akkumulation des Kapitals darauf hin, dass das Kapital noch immer nur einen kleinen Teil des Planeten direkt beherrsche und dass es objektiv gesehen noch viele Überreste des vorkapitalistischen Milieus zu absorbieren und neue Märkte zu erobern gäbe.  Sie betonte aber auch, dass es keinen rein wirtschaftlichen Zusammenbruch des Systems gibt.

Je gewalttätiger das Kapital vermittelst des Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der Existenz nichtkapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen in Gestalt der Krisen die Fortsetzung der Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalsherrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist.[4]

Zusammenfassend: Wir haben immer die Idee abgelehnt, dass der Kapitalismus erst dann im Niedergang oder in der Dekadenz sein könne, wenn die Entwicklung der Produktivkräfte vollständig zum Stillstand gekommen sei.[5] Selbst in den niedergehenden Epochen der Sklaverei und des Feudalismus konnte es bedeutende Momente und Zentren des Wachstums geben, nicht zuletzt das krebsartige Wachstum der Staatsmacht, die zu monströsen Proportionen aufgebläht wurde, um zu versuchen, die Widersprüche, die die Gesellschaft zerrissen, einzudämmen. Aber es blieben Gesellschaften, in denen die Krise der Wirtschaft die Form der Unterproduktion annahm, im Gegensatz zum Kapitalismus, wo die Krise als Krise der Überproduktion (oder, was letztlich auf dasselbe hinausläuft, als Krise der Überakkumulation) erscheint. Weniger als jede frühere Produktionsweise kann der Kapitalismus aufhören, die Produktivkräfte zu "revolutionieren". Aber Revolutionäre, die sich auf eine wissenschaftliche Methode berufen, müssen in der Lage sein, den Punkt zu erkennen, an dem die Perspektive des Kommunismus die Bereiche des Möglichen und des Notwendigen vereint, d.h. wann die bestehenden Produktionskräfte mehr und mehr zu Kräften der Zerstörung werden[6] und wenn die Menschheit sich nur erhalten kann, wenn sie eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse vornimmt, so dass die Entwicklung der Produktivkräfte nun mit "der totalen, universellen Entwicklung der Produktivkräfte des Individuums" zusammenfällt.

Amos, 08.07.2021

Anhang über China

China ist ein sehr gutes Beispiel für die relative Zunahme des Reichtums und für die enormen zerstörerischen Kräfte, die in Gang gesetzt wurden, um diesen relativen Reichtum zu erreichen.
- China gilt als "der fleißigste Henker der Welt" (Amnesty International) und lässt jedes Jahr Tausende von Menschen hinrichten. Jedes Jahr werden in China mehr Menschen hingerichtet als im Rest der Welt zusammen.

- Schätzungen zufolge gibt es in Xinjiang mehr als tausend Internierungslager, in denen bis zu 1,5 Millionen Menschen festgehalten und zur Zwangsarbeit gezwungen werden.

- Die Volksrepublik China ist der weltweit größte jährliche Emittent von Treibhausgasen und Quecksilber. Seit dem Jahr 2000 sind laut New Scientist mehr als 30 Millionen Menschen in China an den Folgen der Luftverschmutzung gestorben.

- Armut: 600 Millionen Chinesen leben immer noch von umgerechnet 5,50 US-Dollar pro Tag.
- Rücksichtslose Ausbeutung der Arbeitskräfte: Extrem lange Arbeitszeiten, körperliche Bestrafung, Geldstrafen und Nichtzahlung der Löhne gehören zu den Missständen, unter denen Millionen chinesischer Lohnabhängiger leiden.

- China hat eine lange Geschichte von Industrieunfällen, die von Fabrikexplosionen über Schlammlawinen bis hin zu Mineneinstürzen reichen.

Es könnte ein ganzer Artikel über das enorme Gewicht des Militärsektors in China und das Ausmaß, in dem sein Wachstum von Schulden angetrieben wurde, hinzugefügt werden.
 

 

[1] Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Heft V, Das Kapitel vom Kapital, Zirkulationsprozess, Auflösung durch Zirkulation, S. 438

[2] a.a.O., Heft V, Das Kapitel vom Kapital, Zirkulationsprozess v. Geld u. v. Kapital, S. 414

[3] a.a.O., Zirkulationsprozess, Auflösung durch Zirkulation, S. 439

[4] Die Akkumulation des Kapitals, Kapitel 32, Ges. Werke Rosa Luxemburg, Band 5, S. 410

[5] Siehe insbesondere das folgende Kapitel aus unserer ursprünglichen Serie über die Dekadenz, die in den frühen 70er Jahren in Révolution Internationale veröffentlicht wurde und auf Englisch (und in anderen Sprachen) als Broschüre erschien: 4. Decadence: A total halt to the productive forces? (4. Dekadenz: Ein totaler Stillstand der Produktivkräfte?)

[6]Hier wird nur bestätigt, was Marx bereits in einem seiner frühesten Werke, der Deutschen Ideologie von 1845/6, in einer Passage vorweggenommen hat, in der er die grundlegenden Schlussfolgerungen aus der materialistischen Geschichtsauffassung zusammenfasst. Die erste dieser Schlussfolgerungen lautet: "Schließlich erhalten wir noch folgende Resultate aus der entwickelten Geschichtsauffassung: 1. In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte (Maschinerie und Geld) - und was damit zusammenhängt, daß eine Klasse hervorgerufen wird, welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, welche aus der Gesellschaft herausgedrängt, in den entschiedensten Gegensatz zu allen andern Klassen forciert wird; eine Klasse, die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein, ausgeht, das sich natürlich auch unter den andern Klassen vermöge der Anschauung der Stellung dieser Klasse bilden kann“ (MEW 3 S. 69).
Man kann Marx und Engels nicht vorwerfen, dass sie in diesem Werk wie auch im Kommunistischen Manifest einige Jahre später den Irrtum begingen, dass dieser epochale Wandel bereits stattgefunden habe, dass die proletarische Revolution bereits auf der Tagesordnung stehe. In der Zeit des Rückzugs nach den heroischen Ereignissen von 1848 konnte Marx diesen Irrtum zu einem beträchtlichen Teil selbst erkennen.

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Dekadenz