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Dieser Artikel ist Teil der Serie „Das verborgene Erbe der Linken des Kapitals“, in der wir uns damit befassen wollen, wie mit etwas umzugehen sei, was für zahlreiche Gruppen und Militante der Kommunistischen Linken schwierig ist: Es geht nicht nur darum, mit allen politischen Positionen der Parteien des Kapitals (populistisch, faschistisch, rechts, links, extrem links) zu brechen, sondern es ist auch notwendig, mit ihren Organisationsmethoden, ihrer Moral und ihrer Denkweise zu brechen. Dieser Bruch ist absolut notwendig, aber er ist schwierig, weil wir täglich mit den ideologischen Feinden der Befreiung der Menschheit leben: der Bourgeoisie, der Kleinbourgeoisie und dem Lumpenproletariat. In diesem fünften Artikel der Reihe befassen wir uns mit der entscheidenden Frage der Debatte[1].
Das Proletariat, die Klasse der Debatte
Die Debatte ist die Quelle des Lebens des Proletariats, einer Klasse, die keine unbewusste Kraft ist, die blind kämpft und vom Determinismus der objektiven Bedingungen angetrieben wird. Sie ist im Gegenteil eine bewusste Klasse, deren Kampf von einem Verständnis der Notwendigkeiten und Möglichkeiten auf dem Weg zum Kommunismus geleitet wird. Dieses Verständnis ergibt sich nicht aus absoluten Wahrheiten, die ein für alle Mal im Manifest der Kommunistischen Partei formuliert wurden oder dem privilegierten Geist brillanter Führer entstammen, sondern es ist ein Produkt "der intellektuellen Entwicklung der Arbeiterklasse (die aus gemeinsamer Aktion und Diskussion hervorgehen muss)". Die Ereignisse und das Auf und Ab des Kampfes gegen das Kapital, Niederlagen mehr als seine Erfolge, können die Kämpfer nur die Unzulänglichkeiten all ihrer Mittel spüren lassen und sie zu einem grundlegenden Verständnis der wirklichen Bedingungen der Emanzipation der Arbeiter führen"[2].
Die revolutionären Proletarier und Proletarierinnen stützen sich auf die gigantischen Debatten der Massen. Die autonome und selbstorganisierte Aktion der Arbeiterklasse beruht auf Debatten, an denen Hunderttausende von Arbeitern, Jugendliche, Frauen, Rentnerinnen und Rentner aktiv teilnehmen. Die Russische Revolution von 1917 basierte auf einer permanenten Debatte mit Tausenden von Diskussionen vor Ort, auf den Straßen, in den Straßenbahnen... Die Tage des Jahres 1917 haben uns zwei Bilder hinterlassen, die die Bedeutung der Debatte für die Arbeiterklasse gut veranschaulichen: die blockierte Straßenbahn, weil ihre Insassen, einschließlich des Fahrers, beschlossen, anzuhalten und über ein Thema zu diskutieren; oder ein Fenster zur Straße, aus dem ein Redner eine Rede hält, vor dem sich eine Menge von Hunderten von Menschen versammelt, die zusammenkommen, um zuzuhören und zu diskutieren.
Auch der Mai 68 war eine ständige Debatte der Massen. Es besteht ein eklatanter Kontrast zwischen den Diskussionen der Arbeiter bei den Streiks im Mai, bei denen über die Zerstörung des Staates, die Schaffung einer neuen Gesellschaft, um Gewerkschaftssabotage usw. diskutiert wurde, und von "radikalen" Maoisten kontrollierte "Studentenversammlungen" in Deutschland im Jahr 1967, bei der es drei Stunden dauerte, um zu entscheiden, wie eine Demonstration organisiert werden sollte. "Wir reden miteinander und wir hören einander zu" war einer der beliebtesten Slogans vom Mai 68.
Die Bewegungen von 2006 und 2011 (Kampf gegen den CPE in Frankreich und die Bewegung der Indignados in Spanien[3]) basierten auf der lebendigen Debatte von Tausenden von Arbeitern, Jugendlichen usw. und auf uneingeschränkter Diskussion. An besetzten Orten wurden "fliegende Bibliotheken" organisiert, die an eine Aktion erinnerten, die während der Russischen Revolution von 1917 mit großer Wucht auftrat, wie John Reed 10 Tage, die die Welt erschütterten unterstrich: "Ganz Russland lernte lesen. Und es las – Politik, Ökonomie, Geschichte. Das Volk wollte wissen. In jeder Großstadt, fast in jeder Stadt, an der ganzen Front hatte jede politische Partei ihre Zeitung, manchmal mehrere. Hunderttausende von Flugblättern wurden von Tausenden Organisationen verteilt, überschwemmten die Armee, die Dörfer, die Fabriken, die Straßen. Der Drang nach Wissen, so lange unterdrückt, brach sich in der Revolution mit Ungestüm Bahn. Allein aus dem Smolny-Institut gingen in den ersten sechs Monaten Tonnen, Wagenladungen Literatur ins Land. Russland saugte den Stoff auf, unersättlich, wie heißer Sand das Wasser. Und es waren nicht Fabeln, die verschlungen wurden, keine Geschichtslügen, keine verwässerte Religion oder der billige Roman, der demoralisiert – es waren soziale und ökonomische Theorien, philosophische Schriften, die Werke Tolstois, Gogols und Gorkis“ [4].
Während die Debatte der Lebensnerv der Arbeiterklasse ist, so gilt dies umso mehr für ihre revolutionären Organisationen: "Im Gegensatz zu der bordigistischen Auffassung darf die Organisation der Revolutionäre nicht "monolithisch" sein. Wenn es Divergenzen in ihren Reihen gibt, spiegelt das die Tatsache wider, daß es sich um eine lebendige Organisation handelt, die nicht immer eine unmittelbare, fest geformte Antwort auf die Probleme hat, vor denen die Klasse steht. Der Marxismus ist weder ein Dogma, noch ein Katechismus. Er ist ein theoretisches Instrument einer Klasse, die mittels ihrer Geschichte und im Hinblick auf ihre historische Zukunft schrittweise – Höhen und Tiefen durchlaufend – zu einer Bewußtwerdung hin voranschreitet, die die unabdingbare Vorbedingung ihrer Befreiung ist. Wie jedes menschliche Nachdenken und Überlegen, das auch bei der Entwicklung des proletarischen Bewußtseins vorhanden ist, handelt es sich nicht um einen linearen und mechanischen Prozeß, sondern um einen widersprüchlichen und mit Kritiken behafteten Prozeß. Er setzt notwendigerweise die Auseinandersetzung mit kontroversen Argumenten voraus. Tatsächlich ist der berühmte "Monolithismus" oder die viel gepriesene "Invarianz" der Bordigisten eine Illusion, ein Schein (was sich oft in den Stellungnahmen dieser Organisation und ihrer verschiedenen Sektionen widerspiegelt). Entweder ist die Organisation vollständig verkalkt und hat den Bezug zum Leben der Klasse verloren, oder sie ist nicht monolithisch und ihre Positionen sind nicht invariant, unveränderlich."[5]
Warum spricht man von "Debatte", während es sich in Wirklichkeit um einen Kampf handelt?
Die Leute, die in bürgerlichen politischen Parteien waren, haben jedoch selbst erfahren, dass diese "Debatte" eine Farce und eine offensichtliche Quelle des Leidens ist. In allen bürgerlichen Parteien, egal welcher Couleur, nimmt die "Debatte" die Form eines "Duells mit Knüppeln" an wie im berühmten Gemälde von Goya im Prado-Museum in Madrid. Die Wahldebatten sind nur Müll, voll von Beleidigungen, Anschuldigungen, schmutziger Wäsche, Fallen und hinterhältigen Hieben. Es sind Schauspiele der Verunglimpfung und Abrechnung, die als Boxkämpfe konzipiert sind, bei denen Realität und Wahrheit nichts zählen. Es geht nur darum zu sehen, wer gewinnt und wer verliert, wer am besten betrügen und lügen kann, wer mit dem größten Zynismus Gefühle manipulieren kann.[6]
In bürgerlichen Parteien ist die "freie Meinungsäußerung" reiner Humbug. Die Dinge können bis zu einem gewissen Punkt gesagt werden, aber nicht darüber hinaus, wenn die Dominanz der "Führung" in Frage gestellt wird. Wenn diese Schwelle überschritten wird, wird eine Lügenkampagne gegen diejenigen organisiert, die es gewagt haben, selbst zu denken, wenn sie nicht direkt aus der Partei ausgestoßen werden. Diese Praktiken haben in allen Parteien stattgefunden, in denen sowohl die Peiniger als auch ihre Opfer davon Gebrauch machen. Rosa Diez, eine Führerin der baskischen PSOE, ist so zur Zielscheibe einer heftigen Verleumdungskampagne von Spitzeln aus den Reihen der "Genossen" ihrer Partei geworden. Sie wollte sich nicht der damals geltenden Orientierung für eine Zusammenarbeit mit dem baskischen Nationalismus anschließen, und die Parteifreunde machten ihr das Leben bis zu ihrem Austritt aus der Partei unmöglich. Dann gründete sie die UYPD (die versuchte, eine zentristische Position zu halten, die dann von Ciudadanos übernommen wurde), und wenn Rivalen und Gegner in ihrer eigenen Gruppe auftauchten, ereilte sie dasselbe Schicksal, und die Machenschaften erreichten sogar neue Tiefen des Sadismus und Zynismus, die Stalin zum Schaudern gebracht hätten.
Im Allgemeinen werden Debatten in bürgerlichen Parteien, unabhängig von ihrer Komplexität, vermieden. Stalin verbot Debatten und profitierte dabei von einem schwerwiegenden Fehler der Bolschewistischen Partei im Jahr 1921: dem Verbot der Fraktionen, einer Maßnahme, die Lenin als falsche Antwort auf Kronstadt vorschlug.[7] Der Trotzkismus blockiert gleichermaßen die Debatte in seinen eigenen Reihen und praktiziert dieselbe Art von Ausschluss und Repression. Ein Beispiel dafür ist ein versuchter Ausschluss aus der Linken Opposition, der in einem stalinistischen Gefängnis geschah(!)[8], wie das Buch von Anton Ciliga[9] bezeugt, das in früheren Artikeln dieser Serie schon zitiert wurde: "Zum ideologischen Kampf im trotzkistischen 'Kollektiv' kam ein organisatorischer Konflikt hinzu, der für einige Monate ideologische Fragen auf eine zweite Ebene verlagerte. Diese Konflikte prägen die Psychologie und die Gewohnheiten der russischen Opposition. Sowohl die Rechte als auch die Mitte stellen den 'bolschewistischen Militanten' das folgende Ultimatum: entweder sie lösen sich auf und stellen ihre Veröffentlichung ein oder sie werden aus der trotzkistischen Organisation ausgeschlossen.
Tatsächlich war die Mehrheit der Meinung, dass es keine Notwendigkeit für eine Untergruppe innerhalb der trotzkistischen Fraktion gäbe. Dieses Prinzip der 'monolithischen Fraktion' war im Grunde dasselbe, das Stalin für die gesamte Partei inspirierte."
Auf den Kongressen solcher Organisationen hört niemand den Vorträgen zu, die aus langweiligen Ausführungen bestehen, in denen gleichzeitig das eine und das andere bekräftigt wird. Es werden Gebietskonferenzen, Seminare und viele andere Veranstaltungen organisiert, die nichts anderes als „public relations“-Veranstaltungen sind.
Die "Debatte" in diesen Organisationen entsteht, wenn es darum geht, die herrschende Clique zu vertreiben und sie durch eine neue zu ersetzen. Dies kann verschiedene Gründe haben: fraktionelle Interessen, Abweichungen hinsichtlich der Verteidigung des nationalen Interesses, schlechte Wahlergebnisse... Von hier aus bricht die "Debatte" aus, die sich als ein Kampf um die Macht erweist. Bei manchen Gelegenheiten besteht die "Debatte" darin, dass eine Fraktion eine verworrene und widersprüchliche "These" erfindet und sich gewaltsam gegen die der Rivalen stellt, wobei sie mit Worten, aufhetzenden Adjektiven ("opportunistisch", "Aufgabe des Marxismus" usw.) und anderen raffinierten Vorwänden zu heftiger Kritik greift. Die "Debatte" wird zu einer bloßen Abfolge von Beleidigungen, Drohungen, dem Streuen von schmutziger Wäsche in der Öffentlichkeit, Anschuldigungen..., die hin und wieder durch diplomatische Zustimmungsakte unterbrochen werden, um den Wunsch nach Einheit "zu zeigen" und zu zeigen, dass man seinen Rivalen schätzt, die letztendlich doch "Genossen" sind[10]. Schließlich kommt ein Moment, in dem sich ein Gleichgewicht zwischen den streitenden Kräften einstellt und die "Debatte" zu einer Summe von "Meinungen" wird, die jeder als sein Eigentum verteidigt, was zu keiner Klärung führt, sondern eher zu einer chaotischen Summe von Ideen oder "versöhnlichen" Texten, in denen gegensätzliche Ideen nebeneinander gestellt werden.[11]
Daraus lässt sich schließen, dass die "Debatte" in den bürgerlichen Organisationen (unabhängig von ihrem Platz auf dem politischen Schachbrett, der von der extremen Rechten bis zur extremen Linken reicht) eine Farce und ein Mittel zur Einleitung persönlicher Angriffe ist, die schwerwiegende psychologische Folgen für die Opfer haben kann und die die auffallende Grausamkeit und das völlige Fehlen moralischer Skrupel der Täter zeigt. Schließlich ist es ein Spiel, bei dem die Täter manchmal zu Opfern werden und umgekehrt. Die schreckliche Behandlung, die sie erlitten haben, kann vielen anderen zugefügt werden, sobald sie die Macht erlangt haben.
Die Prinzipien und Mittel der proletarischen Debatte
Die proletarische Debatte ist grundlegend anders. Die Debatte innerhalb proletarischer Organisationen reagiert nach radikal anderen Prinzipien als denjenigen, die wir soeben in bürgerlichen Parteien gesehen haben.
Allein das Klassenbewusstsein des Proletariats (d.h. das selbst entwickelte Wissen um die Ziele und Mittel seines historischen Kampfes) bringt eine unbegrenzte und ungehinderte Debatte hervor: Dieses Bewusstsein kann „nicht ohne solidarische, öffentliche, internationale Debatte entwickelt werden“, wie wir in unserem Text Die Debattenkultur: Eine Waffe des Klassenkampfes[12] bekräftigt haben. Kommunistische Organisationen, die die fortschrittlichste und dauerhafteste Anstrengung für die Entwicklung des Bewusstseins in der Klasse ausdrücken, brauchen die Debatte als eine lebenswichtigen Waffe: "Eine der ersten Forderungen, die sie erhoben, war, dass die Debatte nicht als ein Luxus betrachtet werden dürfe, sondern als eine dringende Notwendigkeit; dass jene, die sich an ihr beteiligen, den Anderen ernstnehmen und lernen sollten, sich einander zuzuhören; dass Argumente die Waffen dieser Auseinandersetzung sind, und nicht die brutale Gewalt oder der Appell an moralische bzw. theoretische ‘Autoritäten’", fährt der genannte Text fort.
In einer proletarisch-politischen Organisation muss die Diskussion das Gegenteil der verwerflichen Methoden sein, die wir oben angeprangert haben. Es geht darum, eine gemeinsame Basis einer geteilten Wahrheit zu finden, wo es keine Gewinner oder Verlierer gibt und wo der einzige Triumph der der gemeinsamen Klarheit ist. Die Diskussion basiert auf Argumenten, Hypothesen, Analysen, Zweifeln – Irrtümer sind Teil des Weges, der zu tauglichen Schlussfolgerungen führt. Anschuldigungen, Beleidigungen, die Personalisierung von Genoss*innen oder Organisationsstrukturen müssen kategorisch untersagt werden, denn es geht nicht darum, wer etwas sagt, sondern was gesagt wird.
Meinungsverschiedenheiten sind notwendige Momente, um zu einer Position zu kommen. Nicht weil es ein "demokratisches Recht" gibt, sondern eine Pflicht, sie zu äußern, wenn man von einer Position nicht überzeugt ist oder sie als unzureichend oder verworren empfindet. Im Laufe einer Debatte werden Positionen gegeneinander gestellt, und manchmal gibt es Minderheitenpositionen, die mit der Zeit zu denen der Mehrheit werden. Das war der Fall bei Lenin mit seinen Aprilthesen, die, als er sie 1917 bei seiner Ankunft in Russland vorstellte, eine Minderheitsposition innerhalb einer bolschewistischen Partei waren, die von opportunistischen, vom Zentralkomitee aufgezwungenen Abweichungen beherrscht wurde. Durch eine intensive Diskussion, an der sich alle Mitglieder beteiligten, wurde die Partei von der Gültigkeit der Positionen Lenins überzeugt und nahm sie an.[13]
Die unterschiedlichen Positionen, die innerhalb einer revolutionären Organisation zum Ausdruck kommen, sind keine festen Haltungen, die Eigentum derer sind, die sie verteidigen. In einer revolutionären Organisation widerspiegeln "die Divergenzen keinesfalls die verschiedenen materiellen, persönlichen oder die Interessen von "Pressure groups" […], sondern [sie sind] der Ausdruck eines lebendigen und dynamischen Prozesses der Klärung der Probleme […], vor denen die Klasse steht und die als solche mit der Vertiefung der Diskussion und im Lichte der Erfahrungen überwunden werden müssen" (Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre, bereits oben zitiert).
In proletarischen Organisationen kann es keine "aufgeklärten Köpfe" geben, denen man, ohne etwas zu hinterfragen, folgen muss. Es ist klar, dass es Genoss*innen geben kann, die über größere Fähigkeiten verfügen oder die sich in bestimmten Themenbereichen besser auskennen. Es gibt sicherlich Militante, deren Hingabe, Überzeugung und Begeisterung eine gewisse moralische Autorität beinhaltet. Aber nichts von alledem verleiht ihnen einen besonderen privilegierten Status, der diese oder jene Militante zu einer "brillanten Führerin", zu einer Fachperson in dieser oder jener Frage oder zu einer "großen Theoretikerin" macht. „Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun, Uns aus dem Elend zu erlösen können wir nur selber tun!“, sind Worte aus der Kampfhymne der Zweiten Internationale.
Genauer gesagt, wie es im Text über Struktur und Funktionsweise heißt: "In der Organisation gibt es keine 'erhabenen' und dann 'zweitrangige', 'weniger würdevolle' Aufgaben. Die Aufgabe der theoretischen Herausarbeitung wie die Verwirklichung der praktischen Aufgaben, die Arbeit innerhalb der Zentralorgane wie auch die spezifische Arbeit in den örtlichen Sektionen sind ebenso wichtig für die Organisation. Sie dürfen deshalb nicht hierarchisch geordnet werden (nur der Kapitalismus errichtet solche Hierarchien)."
In einer kommunistischen Organisation ist es notwendig, gegen jede Tendenz zur blinden Gefolgschaft zu kämpfen, ein Fehler, der darin besteht, sich ohne nachzudenken an der Position eines "klaren Militanten" oder an einem Zentralorgan auszurichten. In einer kommunistischen Organisation muss jeder Militante einen kritischen Geist bewahren, darf nicht alles blind übernehmen, sondern soll analysieren, worum es geht, einschließlich dessen, was von der "Führung", den Zentralorganen oder den "fortgeschrittensten Militanten" kommt. Das ist das Gegenteil von dem, was in den bürgerlichen Parteien und vor allem bei ihren Vertretern in der Linken der Fall ist. In diesen letzteren Organisationen sind blinde Gefolgschaft und der extremste Respekt vor den Führern die Norm; und in der Tat existierten diese Tendenzen bereits in der trotzkistischen Opposition: „Die Briefe, in denen Trotzki und Rakowski zu aktuellen Problemen Stellung nahmen, wurden im Gefängnis lebhaft kommentiert. Man war nicht wenig betroffen über den Geist der Hierarchie und des unbedingten Gehorsams gegen den Führer, von dem die russische Opposition durchdrungen war. Jedes Wort Trotzkis galt als Evangelium. Übrigens, die Rechts- ebenso wie die Links-Trotzkisten legten diese Worte offensichtlich tendenziös aus. Der völligen Unterwerfung der Partei unter Lenin und Stalin entsprach bei der Opposition die Unterwerfung unter Lenin und Trotzki: alles übrige war eine ‚Einflüsterung des Teufels’.“ (Anton Ciliga, a.a.O. – zu finden unter www.kommunismus.narod.ru/knigi/pdf/Ante_Ciliga_-_Im_Land_der_verwirrenden_Luege.pdf, S. 59)
Es gibt eine sehr gefährliche Idee, die man strikte verwerfen muss: Es gebe "fachkundige" Militante, die, wenn sie einmal gesprochen hätten, "alles gesagt haben", man "könnte es nicht besser sagen", und andere beschränken sich darauf, Notizen zu machen und zu schweigen.
Diese Sichtweise lehnt eine proletarische Debatte radikal ab, die ein dynamischer Prozess ist, in dessen Verlauf viele, auch irrtümliche Anstrengungen unternommen werden, um Probleme zu bewältigen. Die oberflächliche Sichtweise, die in der kapitalistischen Logik verwurzelt ist, nur das "Produkt" oder das Endergebnis zu sehen, ohne es von allem zu unterscheiden, was zu seiner Ausarbeitung geführt hat, sich nur auf den abstrakten und zeitlosen Wert des Austauschs zu konzentrieren, führt dazu, dass man denkt, dass alles von "brillanten" Führern kommt. Marx teilte diese Sichtweise nicht. In einem Brief an Wilhem Blos schrieb er 1877: „Ich »grolle nicht« (wie Heine sagt) und Engels ebensowenig. Wir beide geben keinen Pfifferling für Popularität. Beweis z.B., im Widerwillen gegen allen Personenkultus, habe ich während der Zeit der Internationalen die zahlreichen Anerkennungsmanöver, womit ich von verschiedenen Ländern aus molestiert ward, nie in den Bereich der Publizität dringen lassen, und habe auch nie darauf geantwortet, außer hie und da durch Rüffel. Der erste Eintritt von Engels und mir in die geheime Kommunistengesellschaft geschah nur unter der Bedingung, daß alles aus den Statuten entfernt würde, was dem Autoritätsaberglauben förderlich. (Lassalle wirkte später grade in der entgegengesetzten Richtung.)“[14]
Im Verlauf einer Debatte werden Hypothesen und Gegenpositionen formuliert. Es werden einige Annäherungen gemacht, einige Fehler begangen und es gibt einige klarere Interventionen; aber das globale Ergebnis kommt nicht von dem "weitsichtigsten Militanten", sondern ist eine dynamische und lebendige Synthese aller in die Diskussion integrierten Positionen. Die schließlich angenommene Position ist nicht die derjenigen, die "recht" hatten, und sie impliziert keinen Antagonismus zu denen, die "falsch" lagen; sie ist eine neue und weiter fortgeschrittene Position, die kollektiv zur Klärung der Dinge beiträgt.
Die Hindernisse für die Entwicklung der proletarischen Debatte
Offensichtlich ist die Debatte innerhalb einer proletarischen Organisation nicht einfach. Sie entwickelt sich nicht in einer Welt für sich, sondern sie muss das ganze Gewicht der herrschenden Ideologie und der von ihr mitgetragenen Auffassung von Debatte tragen. Es ist unvermeidlich, dass "Formen der Debatte", die der bürgerlichen Gesellschaft angehören und die uns jeden Tag durch die Spektakel ihrer Parteien, ihr Fernsehen und ihre Müllsendungen, soziale Netzwerke, Wahlkämpfe usw. überfallen, in das Leben proletarischer Organisationen eindringen. Gegen diese zerstörerische Infiltration muss ein ständiger Kampf geführt werden. Wie unser zuvor zitierter Text über die Debattenkultur zeigt:
"Da die spontane Tendenz innerhalb des Kapitalismus nicht die Klärung von Ideen, sondern Gewalt, Manipulation und das Erringen von Mehrheiten ist (am beispielhaftesten im Wahlzirkus der bürgerlichen Demokratie), enthält die Infiltration dieses Einflusses in proletarischen Organisationen die Keime der Krise und Degeneration. Die Geschichte der bolschewistischen Partei veranschaulicht dies perfekt. So lange wie die Partei die Speerspitze der Revolution war, war die lebendigste, oft kontroverse Debatte eines ihrer Hauptmerkmale. Im Gegensatz dazu war die Verbannung realer Fraktionen (nach dem Massaker von Kronstadt 1921) ein unübersehbares Anzeichen und aktiver Faktor ihrer Degenerierung".
Dieser Text wies auf das giftige Erbe hin, das der Stalinismus in den Reihen der Arbeiter hinterlassen hat und das auf den Kommunisten lastet, von denen nicht wenige ihr politisches Leben in stalinistischen, maoistischen oder trotzkistischen Organisationen begannen und denken, "dass der Austausch von Argumenten mit dem 'bürgerlichem Liberalismus' identisch sei, dass ein 'guter Kommunist' jemand sei, der seinen Mund hält sowie seinen Kopf und seine Gefühle ausschaltet. Die Genossen, die heute entschlossen sind, die Auswirkungen dieses todgeweihten Produkts der Konterrevolution abzuschütteln, verstehen in wachsendem Masse, dass dies die Ablehnung nicht nur ihrer Positionen, sondern auch ihrer Mentalität erfordert."
In der Tat müssen wir die Mentalität bekämpfen, die die Debatte verfälscht und die aus jeder Pore der bürgerlichen Welt und insbesondere des vulgären Stalinismus und all seiner Anhängsel hervorquillt, vor allem von denen, die eine größere "Offenheit" vortäuschen, wie den Trotzkisten. Es ist notwendig, bei der Verteidigung einer Position klar und entschieden zu sein, aber das bedeutet nicht Arroganz und Brutalität. Eine Diskussion kann kämpferisch sein, aber das bedeutet nicht streitsüchtig und aggressiv. Man kann die Dinge beim Namen nennen, aber daraus kann man nicht ableiten, dass man beleidigend und zynisch sein sollte. Man muss nicht nach Aussöhnung von Argumenten oder nach Kompromissen suchen, aber das darf nicht mit Sektierertum und der Weigerung, sich die Argumente anderer anzuhören, verwechselt werden. Wir müssen ein für alle Mal einen Weg finden, der dem Morast der Verwirrung und Entstellung entgeht, den der Stalinismus und seine Avatare geschaffen haben.
Individualismus: der Feind der Debatte
Obwohl der bürokratische Kollektivismus der bürgerlichen Parteien mit seinem Monolithismus und seinen brutalen Zwängen ein Hindernis für die Debatte darstellt, ist es notwendig, sich vor dem zu schützen, was als sein Gegensatz erscheint, während es in Wirklichkeit sein Ergänzungsstück ist. Wir beziehen uns hier auf die individualistische Vision der Debatte.
Diese besteht darin, dass jeder "seine eigene Meinung" hat und diese "Meinung" ist Privateigentum. Folglich wird die Kritik an der Position eines Genossen zu einem Angriff: sein "Privateigentum" ist verletzt worden, weil es ihm gehört. Diese oder jene Position dieses oder jenes Genossen zu kritisieren, wäre gleichbedeutend damit, ihn zu bestehlen oder ihm sein Essen wegzunehmen.
Diese Sichtweise ist ziemlich falsch. Wissen entspringt nicht der "persönlichen Vernunft" oder der " inneren Überzeugung" eines jeden Einzelnen. Was wir denken, ist Teil einer historischen und sozialen Anstrengung, die mit der Arbeit und der Entwicklung der Produktivkräfte verbunden ist. Was jeder Einzelne sagt, ist nur dann "originell", wenn es auf kritische Weise in eine kollektive Denkanstrengung eingebunden ist. Das Denken des Proletariats ist das Produkt seines historischen Kampfes auf Weltebene, eines Kampfes, der sich nicht auf seine ökonomischen Kämpfe beschränkt, sondern der, wie Engels sagte, drei miteinander verbundene Dimensionen enthält: den ökonomischen, den politischen und den ideologischen Kampf.
Jede proletarisch-politische Organisation ist in der kritischen historischen Kontinuität einer langen Kette verbunden, die vom Bund der Kommunisten (1848) bis zu den kleinen existierenden Organisationen der kommunistischen Linken reicht. In dieser historischen Linie sind Positionen, Ideen, Auffassungen und die Beiträge eines jeden Militanten eingebunden. Während jeder Militante darauf abzielt, das Wissen noch weiter zu erweitern, betrachten sie dies nicht als individuelle Anstrengung, sondern mit dem Ziel, die Klärung von Positionen und Orientierungen für die Gesamtheit der Organisation des Proletariats so weit wie möglich zu bringen.
Die Vorstellung, dass "jeder seine Meinung hat", ist ein ernsthaftes Hindernis für die Debatte und ist komplementär zum bürokratischen Monolithismus der bürgerlichen Parteien. In einer Debatte, in der jeder seine Meinung hat, kann das Ergebnis entweder ein Konflikt zwischen Siegern und Besiegten sein, oder es kann eine Summe von verschiedenen, nutzlosen, widersprüchlichen Meinungen sein. Individualismus ist ein Hindernis für Klarheit, und wie in einer monolithischen Partei bedeutet die Frage "hier ist meine Meinung, nimm sie oder lass es", dass es keine Debatte gibt, wenn jeder seine "eigene Meinung" vertritt.
Für die Entwicklung einer internationalen proletarischen Debatte
Die proletarische Debatte hat einen historischen Charakter; sie nimmt das Beste der wissenschaftlichen und kulturellen Diskussion auf, die es in der Geschichte der Menschheit gegeben hat: "Grundsätzlich ist die Debattenkultur ein Ausdruck des eminent sozialen Charakters der Menschheit. Sie ist insbesondere eine Auswirkung des spezifisch menschlichen Gebrauchs der Sprache. Der Gebrauch der Sprache als ein Mittel zum Informationsaustausch ist etwas, was die Menschheit mit vielen Tieren teilt. Was die Menschheit jedoch vom Rest der Natur unterscheidet, ist die Fähigkeit, Argumentationen (die mit der Entwicklung der Logik und der Wissenschaften verknüpft sind) zu pflegen, auszutauschen und die anderen kennenzulernen (die Kultivierung des Mitgefühls, das unter anderem. mit der Entwicklung der Kunst verknüpft ist)".
Die Kultur der Debatte hat ihre Wurzeln im Urkommunismus, machte aber im antiken Griechenland einige entscheidende Fortschritte: "Engels verweist beispielsweise auf die Rolle der allgemeinen Versammlungen der Griechen der homerischen Phase, der frühen germanischen Stämme oder der Irokesen Nordamerikas und lobt ausdrücklich die Debattenkultur der letzteren."
"Die Debatte entstand aus einer praktischen Notwendigkeit heraus. In Griechenland entwickelt sie sich durch den Vergleich verschiedener Wissensquellen. Verschiedene Denkweisen, Untersuchungsmethoden und deren Ergebnisse, Produktionsmethoden, Sitten und Gebräuche werden miteinander verglichen. Sie erweisen sich als widersprüchlich, bestätigen oder ergänzen sich gegenseitig. Sie treten miteinander in Kampf oder unterstützen sich gegenseitig, oder beides. Absolute Wahrheiten werden durch den Vergleich relativiert".
Unser Text über die Struktur und Funktionsweise der Organisation fasst die Grundprinzipien der proletarischen Debatte zusammen:
- "Verwerfung jeglicher disziplinarischer oder ‚administrativer’ Maßnahmen seitens der Organisation gegenüber Mitgliedern, die mit bestimmten Punkten nicht einverstanden sind. Genauso wie die Minderheit lernen muss, wie man sich als Minderheit innerhalb der Organisation verhält, muss die Mehrheit wissen, was sie als Mehrheit zu tun hat, und vor allem darf sie nicht die Tatsache ausnutzen, dass ihre Position zu der Position der Organisation geworden ist, um die Debatte irgendwie zu ersticken, indem z.B. Mitglieder der Minderheit gezwungen werden, als Sprecher für Positionen aufzutreten, die sie nicht unterstützen.
- Die gesamte Organisation muss danach streben, dass die Diskussionen (selbst wenn es sich um Divergenzen zu Prinzipen handelt, die nur zu einer organisatorischen Spaltung führen können) auf die deutlichste Art geführt werden (ohne dass dadurch natürlich die Organisation gelähmt oder sie bei der Verwirklichung ihrer Aufgaben geschwächt würde), um sich dadurch gegenseitig von der Gültigkeit der jeweiligen Analysen zu überzeugen. Oder dass zumindest dadurch die grösste Klarheit über das Wesen und die Tragweite der Unstimmigkeiten und Divergenzen geschaffen wird.
Weil die Debatten, die in der Organisation stattfinden, im allgemein die gesamte Arbeiterklasse betreffen, so müssen diese auch nach außen getragen werden..."
Das Proletariat ist eine internationale Klasse und deshalb muss seine Debatte einen internationalen und zentralisierten Charakter haben. Wenn die Debatte nicht eine Addition von Einzelmeinungen ist, kann sie auch nicht die Summe einer Reihe von lokalen Meinungen sein. Die Stärke des Proletariats ist seine Einheit und sein Bewusstsein, das darauf abzielt, sich auf der Weltebene auszudrücken.
Die internationale Debatte, die die Beiträge und Erfahrungen des Proletariats aller Länder integriert, ist das, was Klarheit und eine globale Vision schafft, die den proletarischen Kampf stärker machen.
C. Mir, 11. Juli 2018
[1] Die Teile eins bis vier der Serie sind auf unserer Internetseite veröffentlicht.
[2] Vorwort zur deutschen Ausgabe des Kommunistischen Manifests von 1890, Engels.
[3] Siehe unsere Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006 und unser 2011 verbreitetes internationales Flugblatt Von der Empörung zur Hoffnung.
[4] John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten; zitiert nach http://www.derfunke.at/html/pdf/geschichte/klassiker/Reed-10_Tage.pdf, S. 18
[5] Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre, Internationale Revue Nr. 22 (ein Text vom Januar 1982).
[6] Siehe unseren Artikel auf Spanisch "Die Wahldebatte ist das Gegenteil einer echten Debatte". https://es.internationalism.org/cci-online/200802/2185/debates-electorales-lo-contrario-de-un-verdadero-debate
[7] In der Garnison von Kronstadt, in der Nähe von Petrograd, erhoben sich Matrosen und Arbeiter. Die Sowjetmacht schlug diese Bewegung brutal nieder, was einen sehr wichtigen Schritt zur Degeneration der proletarischen Bastion Russland bedeutete (siehe https://en.internationalism.org/specialtexts/IR003_kron.htm). In einer falschen Schlussfolgerung aus diesen Ereignissen beschloss die bolschewistische Partei, die sich nun in voller opportunistischer Degeneration befand, auf ihrem Zehnten Kongress, vorübergehend Fraktionen innerhalb der Partei zu verbieten.
[8] Ein "Isolations"-Gefängnis in Werchneuralsk am Ural.
[9] Das russische Enigma
[10] Im Krieg um die Nachfolge in der spanischen konservativen Volkspartei (PP) verkündeten die sechs Kandidaten täglich, dass sie "Freunde" seien.
[11] Ein aktuelles Beispiel dafür war die Feier des letzten Parteitags der ERC (Esquerra Republicana de Catalunya – Linke Republik Katalonien, einer unabhängig agierenden Partei), bei der die Führung eine "versöhnliche" Linie mit der spanischen Zentralregierung vertrat. Allerdings erlaubte sie ihrer Basis, ihre Intervention mit einem Sammelsurium von "unabhängigen" und "ungehorsamen" Änderungsanträgen zu radikalisieren, die sich sowohl auf die "Autonomie" innerhalb Spaniens als auch auf die Unabhängigkeit von Spanien bezogen.
[12] Die Debattenkultur: eine Waffe des Klassenkampfes, Internationale Revue 41.
[13] Vgl. Lenins Aprilthesen, Wegweiser zur proletarischen Revolution, International Review (engl./frz./span. Ausgabe) Nr. 89
[14] Marx an Wilhelm Blos, 10. Nov. 1877, in: MEW, Bd. 34, S. 308f.