Sind Uber-Beschäftigte Teil der Arbeiterklasse?

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Im Folgenden veröffentlichen wir zwei Briefe von IKS-Sympathisanten, die die Überlegungen fortsetzen sollen, die bei einem Treffen in Frankreich am 15. Mai 2021 zum Thema „Wesen und Zusammensetzung der Arbeiterklasse“ entstanden sind. Bei dieser Diskussion stellten einige Teilnehmende die Frage, welche Auswirkungen die "Uberisierung" der Arbeit auf die Zusammensetzung der Arbeiterklasse hat. Mit anderen Worten: Gehören die "uberisierten" Arbeiter und Arbeiterinnen zur Arbeiterklasse?[1] Wir begrüßen die Bemühungen der Genossinnen und Genossen um Reflexion und ihre Bereitschaft, ihre Bedenken zu äußern. Die Briefe der Genossen sind zwei Beiträge zu dieser Debatte, die auf anderen IKS-Treffen fortgesetzt werden wird. Die IKS ist entschlossen, ihre Position zu diesem Thema weiterzuentwickeln, und wir werden in unserer Presse weiteres Material zu diesem Thema veröffentlichen.

Beitrag zur Reflexion über: "Was ist die Arbeiterklasse? Wer ist Teil der Arbeiterklasse?" (L.)

Im Allgemeinen haben sich die Bedingungen der Produktion von Reichtum seit dem 19. Jahrhundert, als der Kapitalismus in den westlichen Ländern aufkam (in Großbritannien im 18. Jahrhundert), nicht geändert. Die Arbeiterklasse ist nach wie vor die Klasse, die den gesamten Reichtum produziert, und sie wird weiter existieren, solange Mehrwert produziert wird. Die Definition von Marx besagt, dass die Arbeiterklasse nicht Eigentümerin der Produktionsmittel ist, sondern nur über ihre Arbeitskraft verfügt, mit der sie im Austausch gegen einen Lohn Mehrwert produziert. Im 19. Jahrhundert konzentrierte sich das Proletariat jedoch hauptsächlich auf den primären Sektor (Gewinnung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen) und sekundären Sektor (Umwandlung von Grundstoffen in Waren). Die Arbeiter arbeiteten Seite an Seite nebeneinander und konnten sich leicht austauschen und organisieren.

Nach dem Aufstieg des Kapitalismus hat sich die Zusammensetzung des Proletariats im Zusammenhang mit der Entwicklung anderer Bereiche verändert. Der tertiäre Sektor, zu dem Beamte gehörten, die das gesellschaftliche Leben verwalteten und organisierten, umfasst heute viel mehr Beschäftigte, die an der Verwertung von Waren beteiligt sind, einen Mindestlohn erhalten und keine Hoffnung mehr auf einen einfachen sozialen Aufstieg haben; dies gilt für die Post (bei der es immer weniger Beschäftigte mit Beamtenstatus gibt), für das Bildungswesen, das Gesundheitswesen und den öffentlichen Verkehr (wo der Beamtenstatus ebenfalls verschwindet).

Die Bourgeoisie ist immer auf der Suche nach "verdeckten" Möglichkeiten, die Arbeiterklasse weiter unter Druck zu setzen: Großbritannien hat eine Politik des "fire and re-hire" eingeführt, die es den Arbeitgebern erlaubt, bestehende Arbeitsverträge zu kündigen und sie durch für die Beschäftigten weit weniger "vorteilhafte" Verträge zu ersetzen. In einem Artikel über die Situation im Vereinigten Königreich[2] wird diese neue hinterhältige Praxis erwähnt, die von Tesco, British Telecom, British Gas und Busunternehmen angewendet wird. In Großbritannien wurde auch erstmals der Status des selbständigen "Arbeitnehmers" eingeführt, der für Uber, Deliveroo und andere Post- und Paketzustelldienste usw. arbeitet.

Auf dem letzten Diskussionstreffen wurde zu Recht die Zugehörigkeit dieser "unabhängigen" Beschäftigten zur Arbeiterklasse verteidigt. Auch wenn sie nicht assoziiert arbeiten, nehmen sie an der Verwertung der Ware Arbeitskraft teil, indem sie anderen Arbeitern Mahlzeiten liefern, Pakete transportieren, Büros reinigen usw.

Auch in Großbritannien hat es in verschiedenen Branchen Kämpfe mit Leiharbeitern gegeben: "Im März 2021 führten 150 Pförtner, Reinigungskräfte, Telefonisten und Catering-Mitarbeiter, die von der Ausrüstungsfirma Mitie im Cumberland County Hospital beschäftigt wurden, über die Gewerkschaft Unison einen ersten Aktionstag durch, weil ihnen die Überstunden nicht bezahlt wurden..."

Heute gibt es immer weniger Industriearbeiter, da die Maschinen sie ersetzt haben. Aber die Techniker, die die Maschinen bedienen und warten, sind Arbeiter, da sie ebenfalls an der Produktion von Wert beteiligt sind.

Mit der Ausbreitung des Kapitalismus auf der ganzen Welt gibt es immer weniger kleine Bauernhöfe. Heute sind sie in großen, industriell geführten Landwirtschaftsbetrieben zusammengefasst; diese (Land-)Arbeiter sind Teil der Arbeiterklasse.

Die Arbeiterklasse war schon immer heterogen, aber die Arbeiter in den peripheren Ländern haben nicht die historische Erfahrung der Arbeiter in den zentralen Ländern und lassen sich eher von den demokratischen Lockrufen beeinflussen, die ihren Kampf auf die Beteiligung an Gewerkschaftsarbeit oder auf die Teilnahme an Wahlen lenken.

Daher werden die Kämpfe der Arbeiter in den zentralen Ländern entscheidend sein, um gegenüber den Arbeitern in der ganzen Welt den Weg zu weisen zur Entwicklung einer vorrevolutionären Situation.

Menschen aus anderen Klassen können sich dem Kampf der Arbeiterklasse anschließen, indem sie revolutionäre Gruppen unterstützen und davon überzeugt sind, dass nur eine kommunistische Revolution eine lebensfähige Zukunft für die Menschheit bringen kann.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Besetzung von Fabriken kein wirksames Mittel des Kampfes mehr ist und dass die Beschränkung auf die Fabrik keine Macht darstellt. Im Gegenteil. Die Ausweitung des Kampfes und die Kommunikation mit anderen Branchen ist das, was den Kampf stärkt. Bei der letzten Bewegung gegen die Rentenreform in Frankreich zum Beispiel gingen die Beschäftigten unterschiedlichster Branchen auf die Straße, darunter der öffentliche und der private Bereich, Leiharbeiterinnen, befristet Beschäftigte, Anwälte und Arbeitslose. Auch wenn ein Teil der Beschäftigten nicht eng assoziiert in großen Unternehmen arbeitet, war der Angriff auf das Rentensystem ein starkes verbindendes Element (und kann es auch in Zukunft sein).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass heute, in der Epoche des Zerfalls des Kapitalismus, alle Arbeitenden, die traditionell an der Produktion des Mehrwerts beteiligt sind, in den Fabriken, aber auch die Leiharbeiter, die Angestellten in der Primar- und Sekundarstufe, die einfachen Verwaltungsangestellten, die prekär Beschäftigten, die (Schein-)Selbstständigen, die isoliert arbeiten, aber in große (Klassen-)Bewegungen eingebunden werden können, alle, die in dem einen oder anderen Maße an der Verwertung der Ware beteiligt sind, Teil der Arbeiterklasse sind. Die Bourgeoisie tut alles, um zu verhindern, dass die Arbeiter:innen ein Zusammengehörigkeitsgefühl verspüren und versucht, sie zu spalten, aber das gemeinsame Interesse der Arbeiter:innen, der Kampf für die Verteidigung der Löhne, der Renten, der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, der Arbeitszeiten, des Urlaubs, der Widerstand gegen Entlassungen, kurzum der Widerstand gegen die Zunahme der Ausbeutung, verbindet sie unaufhaltsam.

L, 19/05/2021

Leserbrief von Genosse Patche

Auf dem letzten IKS-Treffen (Samstag, 15. Mai 2021) warfen einige Genoss:innen die Frage nach dem Wesen der Arbeiterklasse in einer Gesellschaft auf, in der sich in den letzten zehn Jahren ein Phänomen etabliert hat, das als "Uberisierung" (benannt nach dem Unternehmen Uber, einem Pionier dieser Branche) in der so genannten "Gig Economy" bezeichnet wird. Es ist wichtig zu fragen, ob diese neuen Beschäftigten zum Proletariat gehören oder ob sie aus Klassen außerhalb des Proletariats kommen, die zum Kleinbürgertum gehören, denn die Antwort auf diese Frage hat wichtige Konsequenzen, insbesondere politische. Sie bestimmt, ob wir diese Beschäftigten verteidigen sollten oder nicht, je nachdem, ob sie sich auf dem Terrain der Arbeiterklasse oder auf einem Terrain außerhalb der Arbeiterklasse befinden.

Die IKS schreibt in ihrer Resolution zum Kräfteverhältnis zwischen den Klassen (2019): „Die Zunahme von Arbeitslosigkeit und Unsicherheit hat auch das Phänomen der „Uberisierung“ der Arbeit hervorgebracht. Indem die Uberisierung eine Internetplattform zur Arbeitssuche nutzt, verschleiert sie den Verkauf der Arbeitskraft an einen Chef hinter der Form von „selbständig Erwerbenden“ und verstärkt gleichzeitig die Verarmung und Unsicherheit dieser „Unternehmer“. Die „Uberisierung“ der individuellen Arbeit ist ein Schlüsselfaktor für die Atomisierung und die Schwierigkeiten, in den Streik zu treten, denn die Selbstausbeutung dieser Arbeiter*innen fesselt ihre Fähigkeit, kollektiv zu kämpfen und untereinander Solidarität gegen die kapitalistische Ausbeutung zu entwickeln.“

Mehrere Punkte sind in dieser Resolution wichtig. Erstens heißt es darin, dass die Uberisierung "den Verkauf von Arbeitskraft an einen Chef verschleiert". Nach Ansicht der IKS ist diese Form der Selbständigkeit nur ein juristischer Kunstgriff. Darüber hinaus hat der Oberste Gerichtshof in Großbritannien beschlossen, Uber-Fahrer als Arbeitnehmer einzustufen, was zeigt, dass selbst die Rechtsorgane des bürgerlichen Staates nicht auf einen solchen Trick hereinfallen. Wenn die Uber-Beschäftigten nicht als Selbstständige betrachtet werden und umgekehrt ihre Arbeitskraft an einen Chef verkaufen, können sie dann nicht als Teil der Arbeiterklasse betrachtet werden? Der Rest der Resolution ist in dieser Frage weniger eindeutig.

Sie argumentiert, dass "die 'Uberisierung' der individuellen Arbeit ein Schlüsselfaktor für die Verstärkung der Atomisierung ist und die Schwierigkeit, in den Streik zu treten", und dass sie "ihre Fähigkeit, kollektiv zu kämpfen" gegen die kapitalistische Ausbeutung erheblich behindert. Es ist unbestreitbar, dass die Art der ausgeführten Aufgabe, die sich je nach Dienstleistung unterscheidet – die wichtigsten sind jedoch das Ausliefern von Mahlzeiten oder die Arbeit als Fahrer:innen – sowie der mystifizierte Glaube, dass die Uber-Beschäftigten ihre eigenen Chefs sind und niemandem außer sich selbst Rechenschaft ablegen müssen, eine Rolle bei der Atomisierung der Klasse spielen und die notwendige Solidarität zwischen den Beschäftigten brechen. Erinnern wir uns daran, dass für Marx der Kapitalismus durch die Konzentration und Zentralisierung des Kapitals zu assoziierter Arbeit führt, die letztlich das Klassenbewusstsein der Arbeiter stärkt, die kollektiv mit der gleichen Realität der brutalen Ausbeutung konfrontiert sind. Dies unterscheidet das Proletariat grundlegend von der Kleinbauernschaft, die ebenfalls ausgebeutet wird, aber über das Land verstreut ist, was sie daran hindert, solidarische Bande zu knüpfen.

Aber wenn Uber-Beschäftigte atomisiert und verstreut sind und es für sie äußerst schwierig ist, Solidaritätsbeziehungen zu knüpfen und kollektive Kämpfe oder Streiks zu führen, sind sie dann nicht trotzdem ein Teil der Arbeiterklasse, des Proletariats? Die Tatsache, dass sie aufgrund ihrer prekären Arbeitsbedingungen zur Nachhut der Arbeiterklasse gehören, bedeutet nicht, dass wir diesen Beschäftigten ihren Status als ausgebeutete Proletarier absprechen sollten, die von den Produktionsmitteln getrennt und dazu verurteilt sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, was der Definition des Proletariers nach Marx entspricht. Die Modalitäten ihrer Ausbeutung könnten im Übrigen mit denen des Akkordlohns verglichen werden, die Marx in Band 1 des Kapitals (in Kapitel 21) analysiert hat, wobei die Rentabilität ihrer Arbeit nicht in Arbeitsstunden, sondern in der Anzahl der ausgeführten Aufgaben berechnet wird, was die Konkurrenz zwischen den Arbeitern noch verschärft, da jeder versucht, so viele Aufgaben wie möglich im Laufe des Tages zu erledigen.

Bevor wir zum Schluss kommen, ist es wichtig, die tatsächliche Kampffähigkeit der Uber-Beschäftigten zu betrachten. Wie wir bereits gesagt haben, untergräbt ihre Atomisierung, der Wettbewerb in dieser modernen Form der Akkordarbeit, ständig die Solidarität zwischen diesen Arbeiter:innen. Dennoch haben wir an mehreren Orten auf der Welt gesehen, wie spontane Formen des Kampfes entstanden sind, ohne dass Gewerkschaften, die Instrumente der Zusammenarbeit mit dem bürgerlichen Staat und der Verteidigung der kapitalistischen Produktionsweise, gegründet oder beteiligt wurden. In Los Angeles streikten die Beschäftigten von Uber spontan, um gegen ihre Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Dies ist auch in anderen Ländern und bei anderen (Gig-Economy-)Unternehmen in Italien, Großbritannien usw. der Fall. Es stimmt, dass diese Beschäftigten manchmal Gewerkschaften gründen oder Unterstützung von bestehenden Gewerkschaften suchen. Kommunisten müssen diese Sackgassen ablehnen und stattdessen für die spezifischen Instrumente des Klassenkampfes plädieren, insbesondere den wilden Streik, der jede Beteiligung der Gewerkschaften ablehnt. Aber solche Fehler rechtfertigen es nicht, die "uberisierten Beschäftigten" außerhalb des Proletariats zu stellen und sie dem Kleinbürgertum zuzuordnen.

In den letzten Jahren hat die Zahl der prekären Arbeitsplätze zugenommen und die Arbeiterklasse ist das Opfer dieses Prozesses, und die "Uberisierung" der Arbeiter ist einer der Ausdrücke dafür. Die Behauptung, dass die Uber-Beschäftigten nicht zum Proletariat gehören, weil sie atomisiert sind und Schwierigkeiten haben, sich auf das Terrain der Arbeiterklasse zu begeben, erfordert eine tiefgehende und ernsthafte Diskussion auf der Grundlage einer marxistischen Analyse. Nur durch eine polemische, aber brüderliche Debatte ist die Arbeiterklasse in der Lage, die von der Bourgeoisie und ihren Ideologen gestellten Fallen zu vermeiden und den Kampf für den Sturz des Kapitalismus und die Emanzipation des Proletariats voranzutreiben.

Mit brüderlichen Grüßen, Patche

 

[1] Mehr Info zum Status von Uber-Fahrern/Beschäftigten siehe u.a. https://de.wikipedia.org/wiki/Uber_(Unternehmen)

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Leserbriefe