Welchen Inhalt sollte die Intervention der Revolutionäre gegen den Krieg in der Ukraine haben?

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Im Folgenden veröffentlichen wir einen Auszug aus einem Leserbrief zu unserem internationalen Flugblatt gegen Krieg in der Ukraine, gefolgt von unserer Antwort.

Leserbrief:

Bemerkungen zum internationalen Flugblatt zum Krieg in der Ukraine

Reaktionen wurden hier und da gesammelt, können aber in keiner Weise eine allgemeine Aussage darüber treffen, wie die Arbeiterklasse oder die Bevölkerung im Allgemeinen diesen Krieg wahrnehmen. Dazu müsste eine Untersuchung natürlich länger dauern und die Methode wissenschaftlicher sein. Daher könnte nur eine "Arbeiterumfrage" einen objektiven Aspekt haben.

Der Krieg in Europa ist nichts Neues, und so fällt es Manchen schwer, den besonderen Charakter dieses Krieges zu verstehen, wenn nicht die offizielle Propaganda wäre die den russischen Imperialismus als den "Bösen" darstellt. (...) Das Flugblatt betont, wie wichtig es für die Arbeiterklasse und damit auch für kommunistische Minderheiten ist, in den Auseinandersetzungen die die verschiedenen imperialistischen Staaten gegeneinander führen, nicht für eine Seite Partei zu ergreifen. Jahrzehntelange stalinistische und/oder Dritte-Welt-Propaganda machen es kompliziert, für eines der beiden Kriegslager Stellung zu beziehen.

Ich bemerkte oft "pro-russische" Stellungnahmen, die in Wirklichkeit aus "anti-amerikanischen" Gründen erfolgten. Für Einige ist es offenbar schwierig, die imperialistische Natur des russischen Staates zu erkennen. "Der Imperialismus" oder "die Imperialisten" werden nur verwendet um über die NATO-Mächte und Westeuropa zu sprechen.

(Die IKS geht auf die Geschichte der vergangenen Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg ein, was aufgrund der Klarheit die es schafft zu begrüssen ist, aber Fragen bezüglich der Gleichwertigkeit der verschiedenen Konflikte aufwirft.)

Krieg an der Peripherie Russlands ist nichts Neues. Die letzten Kriege in Tschetschenien, Georgien, zwischen Armenien und Aserbaidschan, und vor allem der verdeckte Krieg zwischen den beiden ukrainischen Fraktionen - die eine in Kiew und die andere in Donezk.

Das Neue und Überraschende daran ist die direkte Intervention des russischen Staates und das Ausmaß dieser Intervention. Doch während der russische Militarismus als titanische Macht dargestellt wurde, hinterlässt das langsame Voranschreiten des russischen Militärs den Eindruck, dass die russische Militärmacht überschätzt wird. Ich weiß nicht, ob die Analogien zum "Winterkrieg" richtig sind oder ob sie schon zu oft gezogen wurden, aber in diesem Rahmen ist es meines Erachtens angemessen.

Die Mobilisierung der Arbeiterklasse hinter der Verteidigung des "Vaterlandes" oder der "Demokratie" ist hingegen noch nicht erfolgt. Obwohl es offensichtlich ist, dass die Bourgeoisie im Rahmen von Wahlen versucht einen Teil der Bevölkerung hinter sich zu scharen, scheint dies nicht zu gelingen. Ich gebe zu, dass ich den Satz "Das Dilemma heute ist, mit wem man denn Putin ersetzen soll" nicht nur einmal gehört habe. Andererseits sind internationalistische Positionen nach wie vor schwach. Das Desinteresse scheint vor allem unter jungen Menschen groß zu sein.

Der Krieg verlässt die Peripherie um sich den Zentren des Kapitalismus zu nähern. Indem er sich den Zentren nähert, stellt er sich der Gefahr die vom Proletariat der fortgeschrittenen Länder ausgeht. Die Reaktion der Arbeiterklasse auf die Einberufung zur Verteidigung der Demokratie scheint den Rahmen des Zerfalls zu bestätigen, nämlich, dass das Proletariat zu schwach sei um sich offensiv zu behaupten, aber noch nicht so besiegt, dass es direkt hinter dem Staat marschieren würde. In diesem Sinne freue ich mich auf die geplanten polemischen Artikel, denn sie werden sicherlich auf den Zerfall zurückkommen, und das wird mir die Möglichkeit einer Vertiefung geben.

Der Krieg erfordert die Intervention von Kommunisten, die die Führung bei der Propaganda gegen den Krieg übernehmen. Allerdings: Welche Perspektiven gibt es für die Politisierung der Arbeiterklasse zu dieser Frage? Die Verbreitung der internationalistischen Positionen und der Interessen des Proletariats ist notwendig, aber das Flugblatt geht nur zu allgemein und zu abstrakt auf die wirtschaftlichen Folgen in Form von künftigen Preissteigerungen ein. Auf diesen Aspekten muss jedoch der Schwerpunkt liegen. Vielleicht sollten wir uns mit dem Reallohn befassen.

Ich weiß nicht, welchen Plan die Organisation hat und ob eventuell weitere Beiträge zu spezifischeren Punkten geplant sind, wie dem wirtschaftlichen Druck der aufgrund der Inflation auf die Arbeitnehmer ausgeübt werden wird, und gegen die Mobilisierung hinter dem demokratischen Kriegsherrn Macron, oder den anderen Kandidaten die eine Sichtweise auf "pazifistischem" oder "multipolarem" Terrain vertreten, etc.

Ich weiß nicht, ob alle Probleme die dieser Krieg mit sich bringt, als Ganzes und aufs Mal behandelt werden können. Ich habe zu wenig Erfahrung um diese Frage zu beantworten.

Die Frage mit welchen Mitteln politisiert wird, sowie der Prozess der Politisierung, beziehen sich auf das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und die "Messung" des Klassenbewusstseins.

Empirisch mag es einige Methoden oder Techniken geben um die "Temperatur" in der Klasse zu messen, aber entscheidend ist die Aufmerksamkeit, die die Klasse den Revolutionären und ihrer Propaganda schenkt. So verstehe ich beim Flugblatt nicht, warum es keine klaren Parolen formuliert die verwendet werden können. Es geht hier keinesfalls um Aktivismus, sondern um Klarheit. Eine Parole ist wichtig für jede Frage die durch den Konflikt aufgeworfen wird, d.h.:

1. Imperialismus und die internationalistische Antwort.

2. Die zukünftigen Folgen für die Arbeiter aller Länder in Bezug auf die Senkung der Kaufkraft.

3. Kampf gegen die Verstrickung hinter der demokratischen Ideologie oder hinter dem Pazifismus.

In der Tat spricht die IKS alle diese Fragen an, so dass es wirklich nur eine Frage der Form des Flugblatts ist, wie klar die vermittelten Parolen sind.

Albert, März 2022 

Antwort der IKS:

Wir begrüßen ausdrücklich den Schritt des Genossen, zu unserem internationalen Flugblatt[1] Stellung zu nehmen und uns über die Diskussionen die er darüber geführt hat zu berichten. Die IKS braucht solche Initiativen, die ihre Intervention durch Unterstützung, Fragen oder Kritik anregen. Dies ist unverzichtbar um unsere Argumentation überzeugender zu machen. Es handelt sich hier nicht um eine "Marotte" der IKS, sondern um die Methode der Arbeiterbewegung. So widmete die Iskra[2] eine Seite jeder ihrer Ausgaben der Veröffentlichung von Korrespondenzen. Die Revue Bilan[3] ließ trotz des sehr ungünstigen Kontextes der Konterrevolution in den 30er Jahren keine Gelegenheit aus, Korrespondenzen zu veröffentlichen. Im Gegenzug muss es der IKS ein Anliegen sein, so klar wie möglich auf die eingehenden Briefe zu antworten.

Genosse Albert meinte, dass unser Flugblatt zu abstrakt sei und nicht genug mit den aktuellen Überlegungen in der Arbeiterklasse und ihren unmittelbaren Bedürfnissen angesichts der Situation zu tun habe. Genosse Albert argumentiert insbesondere, dass die wirtschaftlichen Folgen des Krieges und der daraus resultierende Druck auf die Arbeiterklasse stärker hervorgehoben werden müssten. Seiner Meinung nach wäre ein solcher Schwerpunkt besser geeignet um die Arbeiterklasse konkret zu orientieren. Bevor wir weiter auf die Kritik des Genossen eingehen, möchten wir insbesondere das Anliegen dieses Briefes unterstützen, dass Revolutionäre vor allem in "heißen" Momenten, in denen es gilt, grundlegende Prinzipien wie den proletarischen Internationalismus zu verteidigen, intervenieren sollten.

Wenn unser Flugblatt, das am 27. Februar veröffentlicht wurde, nicht sofort auf die wirtschaftlichen Folgen des Krieges für die Arbeiterklasse eingeht, dann deshalb, weil dies zu diesem Zeitpunkt nicht die Priorität war. Angesichts eines Ereignisses von solcher Bedeutung für die Zukunft, konnte sich die Priorität unserer Meinung nach nur um folgende Achsen drehen:

- die Bekräftigung der proletarischen Prinzipien angesichts des Krieges;

- die Entlarvung der Lügen der Kriegspropaganda und der imperialistischen Natur aller Staaten;

- die Bekräftigung echter Solidarität durch die Entwicklung massiver und bewusster Arbeiterkämpfe überall auf der Welt.

Sich in einem Flugblatt zu diesem Zeitpunkt nicht an diese Priorität zu halten, wäre ein schwerer politischer Fehler unsererseits gewesen.

Wie unser Leser sind auch wir davon überzeugt, dass der Schlüssel zum Problem in der Mobilisierung der Arbeiterklasse für die kompromisslose Verteidigung ihrer Lebensbedingungen gegen die zunehmenden Angriffe des krisengeschüttelten Kapitalismus liegt. Denn um zu überleben ist der Kapitalismus gezwungen, die Lebensbedingungen des Proletariats immer stärker anzugreifen, und das Proletariat wird, um zu überleben, ebenfalls gezwungen sein, sich immer massiver, bewusster und geschlossener zu verteidigen... bis zur Überwindung des Kapitalismus oder seiner eigenen Niederlage.

Aus diesem Grund hat die Frage der notwendigen Entwicklung des Klassenkampfes sehr schnell einen größeren Raum in unserer Intervention eingenommen und wird auch zunehmend der Fall sein[4]. Aber nicht auf abstrakte Weise, oder durch Losungen die nicht den unmittelbaren Möglichkeiten der Arbeiterklasse entsprechen, welche bei Ausbruch des Krieges in der Ukraine eine gewisse politische Lähmung infolge der Pandemie noch nicht vollständig überwunden hatte. Darüber hinaus hat der Krieg, die Entfesselung der Barbarei, und zum Teil auch die demokratischen Kampagnen, die Arbeiterklasse zunächst in einen Zustand der Betäubung versetzt.

Die Streiks in Großbritannien in den letzten Monaten haben eine deutliche Veränderung der Situation aufgezeigt, wie wir in einem neuen, international verbreiteten Flugblatt bekräftigt haben, in dem wir insbesondere die Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes und der Solidarität zwischen den verschiedenen Sektoren hervorgehoben haben, wohingegen die Gewerkschaften die Kämpfe ständig isolieren und spalten.

Die Intervention einer revolutionären Organisation kann sich jedoch nicht auf Flugblätter oder Artikel über den Klassenkampf beschränken, auch wenn diese unverzichtbar sind.

Denn eine Intervention per Flugblatt ermöglicht zwar aufgrund ihrer Form eine größere Verbreitung, aber keine tiefgehende politische und historische Analyse der Situation. Eine solche Analyse ist aber angesichts von Ereignissen wie dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine, die von weltweiter Bedeutung sind und die Zukunft stark beeinflussen, absolut unerlässlich und vorrangig.

Wenn die IKS, die über eigene Analysen verfügt, nicht auf dieser Ebene interveniert, wird niemand an ihrer Stelle diese Positionen vertreten. Dieser Aspekt unserer Intervention war von Beginn des Konflikts an dominant. Dies war notwendig, um unserer Verantwortung gerecht zu werden, aktiv zur Entwicklung des Bewusstseins in der Arbeiterklasse beizutragen. Wir mussten uns mit folgenden Fragen befassen:

- Die Bedeutung des Krieges in der Periode des kapitalistischen Zerfalls verstehen;

- Die Merkmale der gegenwärtigen Phase des kapitalistischen Zerfalls und ihre Auswirkungen auf die imperialistischen Spannungen verstehen;

- Die imperialistischen Ziele der verschiedenen Kriegslager verstehen;

- Die Anfälligkeit der verschiedenen globalen Teile des Proletariats für nationalistische Propaganda einschätzen.

Tatsächlich ist sich Genosse Albert bewusst, dass die Intervention einer revolutionären Organisation verschiedene Fragen betrifft: «Ich weiß nicht, ob alle Probleme die dieser Krieg mit sich bringt, als Ganzes und aufs Mal behandelt werden können». In diesem Zusammenhang möchten wir betonen, dass die Intervention einer revolutionären Organisation einen Analyserahmen erfordert, der seinerseits anhand der Realität überprüft und bereichert werden muss, um den Herausforderungen der historischen Periode standhalten zu können. Dieser Analyserahmen muss nicht nur unserer Intervention zugrunde liegen, sondern auch dem Leser in geeigneter Weise präsentiert werden.

Schließlich gibt es noch eine wesentliche Dimension unserer Intervention die ebenfalls berücksichtigt werden muss: Der Aufruf an die Gruppen der Kommunistischen Linken, angesichts des Ausbruchs des kriegerischen Chaos in Europa, gemeinsam für den proletarischen Internationalismus einzutreten. Diese Initiative, die später in der Gemeinsamen Erklärung von Gruppen der internationalen Kommunistischen Linken zum Krieg in der Ukraine mündete, stellte sich entschieden in das Erbe der revolutionären Bewegung und insbesondere in die Nachfolge der Konferenz von Zimmerwald 1915. Diese Konferenz war ein wichtiges Ereignis für die Verteidigung des Internationalismus, inmitten von Weltkrieg und nationalistischem Fieber. Unter der Führung der Bolschewiki war die Konferenz aber auch ein Wendepunkt, an dem die politischen Grundlagen für die Umgruppierung der revolutionären Kräfte zur Gründung einer neuen Partei nach dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale gelegt wurden.

Die Intervention durch die Presse ist eine wesentliche und ständige Aufgabe revolutionärer Organisationen. Revolutionäre können ihre Rolle in der Klasse vor allem auf diesem Weg wahrnehmen. Um ihre Rolle so effizient wie möglich zu gestalten, ist es jedoch unerlässlich, dass ihre Stellungnahmen auf die konkreten Bedürfnisse der Klasse eingehen, aber immer mit dem Kompass in die gleiche Richtung zeigen: die Verteidigung der revolutionären Perspektive und die Notwendigkeit einer kommunistischen Gesellschaft.

IKS, Oktober 2022


[1]Imperialistischer Konflikt in der Ukraine: Kapitalismus ist Krieg, Krieg dem Kapitalismus!

[2]Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Es wurde ab 1900 unter der Leitung von Lenin, Martow und Plechanow herausgegeben.

[3]Theoretisches Organ der Linksfraktion der Kommunistischen Partei Italiens.

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