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1. Die historische Chance des deutschen Kapitals und die besonderen Beziehungen nach 1989
Nach dem Zusammenbruch der DDR im Zuge des Kollapses der Sowjetunion hat sich für die deutsche Bourgeoisie eine historische Chance ergeben, die die Bourgeoisie tief zusammengeschweißt und vereint hat. Sechs Pfeiler (die Wiedervereinigung, die Osterweiterung der EU und die besonderen Beziehungen zu Frankreich, Russland, USA und China) wollen wir in Erinnerung rufen:
Die sogenannte Wiedervereinigung ermöglichte die Vergrößerung des Staatsgebietes und der Bevölkerung (ganz ohne Krieg!), welches dem Streben nach höheren politischen Weihen z.B. (ständiger Sitz im UN – Sicherheitsrat) und insgesamt dem Anspruch auf eine größere Bedeutung im imperialistischen Gerangel im Zeitalter des Zerfalls und damit der allgemeinen Tendenz des Jeder-für-sich-selbst Vorschub gab. Deutschland war plötzlich (wieder) größer als sein historischer Rivale Frankreich, der ja zum größten Freund mutiert war. Doch die deutsch-französische Achse war schon zuvor als alternativlose Stütze des europäischen Marktes (und weiterer Ambitionen, auf die wir später eingehen werden) herausgearbeitet worden. Die Achse Kohl-Mitterrand stellte schnell die Weichen für die Stärkung Europas als ökonomische und imperialistische Macht.
Die Osterweiterung der EU, die sich immer weiter Richtung des imperialistisch gewissermaßen verzwergten Russlands ausdehnte, war ein Eldorado insbesondere für das deutsche Kapital. Mit riesigen Direktinvestitionen wurde eine Zulieferindustrie aufgebaut, ohne die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Autoindustrie kaum vorzustellen wäre. Gleichzeitig öffnete sich ein riesiges Arbeitskräftereservoir für den europäischen (insbesondere britischen und deutschen) Arbeitsmarkt, ohne welches die Gesundheits-, Pflege- und Transportsektoren, aber auch viele industrielle Kernbereiche kaum den Output geliefert hätten, der in den letzten 30 Jahren gebracht wurde.
Schon vor dem Eintritt in den Zerfall hatte die BRD (die DDR eher aus Blockzwängen) eine strategische ökonomische Beziehung zur Sowjetunion aufgebaut (Brandts neue Ostpolitik!), der Ausbau dieser besonderen Beziehung war insbesondere im Rohstoff- und Energiesektor eine bewusste Entscheidung, die sich mit der imperialistischen Schwächung der Führungsrolle der USA und der imperialistischen Verzwergung Russlands erklärt.
Der Ausbau der EU war ein strategisches Projekt der Achse Frankreich-Deutschland, die die historische Chance erkannt hatten. Beide allein waren zu schwach; Deutschland militärisch ein Zwerg, Frankreich ökonomisch zu schwach, doch mit der französischen Atombewaffnung (unabhängig von der NATO!) und der deutschen Industrie konnte man sich der Illusion höherer imperialistischer Gelüste hingeben.
Doch die zerstörerische Kraft des Jeder-für-sich-selbst machte auch vor Europas Türen nicht halt und mit dem Gemetzel im ehemaligen Jugoslawien und der Bombardierung durch NATO-Truppen machte die USA deutlich, dass trotz ihrer Schwächung die militärische Dominanz über die NATO auch in Europa nicht aus den Augen gelassen würde. Insbesondere die neuen ost-europäischen Länder („neu“ insofern als durch den Kollaps des Ost-Blocks von der Dominanz der Sowjetunion „befreit“) waren offen für die militärische Zusammenarbeit mit den USA.
Gemeinsam mit der Euphorie in den USA hat auch Deutschland massiv in China investiert[1], Produktion ausgelagert, Zulieferung und Vorproduktion aufgebaut und seine eigene Wirtschaft eng mit der chinesischen Werkbank, die zum Fließband und Markt wurde, ausgebaut.
Zusammengefasst kann man feststellen, dass mit dem Eintritt in den Zerfall das imperialistische Gewicht Deutschland zugenommen hat, und dafür zentral waren die ökonomische Stärkung und Ausweitung der EU, der Ausbau einer besonderen Beziehung zu Russland und der Aufbau einer speziellen Beziehung zu China.
2. Eine homogene Position der deutschen Bourgeoisie
Auf allen oben skizzierten Ebenen erzielte die deutsche Bourgeoisie eine tiefe Einigkeit. Auch wenn man sich ideologisch und politisch weiterhin als Teil der „westlichen Wertegemeinschaft“ sah, war die langfristige Entwicklung eher darauf ausgerichtet, die transatlantische Beziehung zu den USA auf den langen Arm zu halten, eine vorsichtige Absetzbewegung, die Raum für den Ausbau des europäischen Projektes schaffen sollte. Deutschland lehnte beispielsweise den Irak-Krieg ab und verweigerte sich der militärischen Unterstützung; der militärischen Ausdehnung der NATO im Osten wurden politische Fesseln angelegt und immer wieder neue europäische Militärprojekte aufgesetzt (dies eher damit die US-dominierte NATO sich nicht weiter ausbreitete). Auch bei den „alten“ Transatlantikern in der CDU (und teilweise SPD) wurde diese Ausrichtung geteilt.
Die engen Beziehungen zu Frankreich wurden vertieft, gemeinsame Regierungsgipfel, der traditionelle gegenseitige Antrittsbesuch, die sogenannte Achse (oder der Motor) der EU verstärkt.
Der Ausbau der strategischen Beziehung zum russischen Rohstoff- und Energiesektor war ein staatlich orchestriertes Projekt, welches aus historischen Gründen (Brandt) von der SPD dominiert wurde[2], welches jedoch von Kohl (CDU) und seiner „Saunadiplomatie“ mit Jelzin[3] ausgebaut und von seinem Ziehkind Merkel vertieft wurde.
Die ökonomischen Investitionen in China wurden von der deutschen Bourgeoisie unter dem Slogan „Wandel durch Handel“ vorangetrieben und legitimiert. Die Möglichkeiten, neue Produktionskapazitäten in China aufzubauen, waren auch ein beliebtes Mittel, um den deutschen Arbeitsmarkt unter Druck zu setzen und die eigene Produktivität auszubauen. Ende der 90er und Anfang der 2000er Jahre war die deutsche Arbeiterklasse mit vielen Werksschließungen und hilflosen Verteidigungskämpfen konfrontiert, da die Produktion verlagert wurde. Dies schuf dann mit der SPD-Grünen-Regierung unter Schröder ab 1998 auch endlich den politischen Raum, um ein lange ersehntes Projekt der deutschen Bourgeoisie umzusetzen, den Umbau des deutschen Sozialstaats, die Etablierung von Hartz IV und die Politik des „Förderns und Forderns“, wie es scheinheilig hieß. Die deutsche Bourgeoisie war mit Eintritt in das neue Jahrhundert in Hochstimmung: Mit den Folgen des Zerfalls war die deutsche Arbeiterklasse politisch geschwächt. Hunderttausende Ost-Deutsche überschwemmten den Arbeitsmarkt, dem folgten Millionen Arbeiter aus Osteuropa, Fabriken wurden geschlossen, ganze ehemalige Staatsbranchen (Post, Bahn …) privatisiert und die soziale Absicherung wurde immer weiter ausgehöhlt. Gleichzeitig taten sich neue Märkte (China, Russland, Osteuropa …) und Produktionsgebiete auf, und der Arbeitsmarkt war in Bewegung gekommen – was in harter Realität bedeutete, dass Millionen von Proletariern und ihre Familien gezwungen waren, für schlechte Löhne irgendwo hinzuziehen, wo sie dann noch mit Ausländerhass konfrontiert wurden. Diese Hochstimmung in der deutschen Bourgeoisie verstärkte trotz der allgemeinen Tendenzen des Zerfalls die Homogenität in der deutschen Bourgeoisie. Die deutsche Bourgeoisie sammelt sich noch konsequenter als eher politisch geprägte nationale Bourgeoisien um die ökonomische Potenz, und der Duft der Akkumulation lässt sie geradezu emotional werden. Dies ist der Hintergrund für die Fähigkeit der langen Perioden der Großen Koalitionen (GROKO) zwischen CDU und SPD, die ab 2005 möglich (aber auch notwendig) wurden.
3. Das Gewicht der nicht gemachten Hausaufgaben
Dennoch blieben große Herausforderungen bestehen, die nicht konsequent angegangen wurden:
Auch wenn die oben beschriebene massenhafte Zuwanderung von Arbeitskräften ein Segen für die deutsche Bourgeoisie war, konnte diese den demographischen Knick nicht nachhaltig abfedern und der Arbeitskräftemangel bleibt ein strukturelles Kernproblem der deutschen Wirtschaft[4]. Hinzu kommt der notwendige strukturelle Umbau der deutschen Industrie, der durch die speziellen Beziehungen zu Russland und China nur herausgezögert wurde. Die Infrastruktur hinkt den Erfordernissen einer modernen Industrie und der Mobilität und Ausbeutung der Arbeiter hinterher (Gleise, Brücken, Autobahnen, Glasfaser). Die EU wird zwar als politischer Resonanzraum für die imperialistischen Gelüste Deutschlands und Frankreich benötigt, aber es war nicht möglich eine starke europäisch koordinierte Wirtschaftspolitik zu etablieren, trotz großer Geldumverteilungstöpfe scheiterte bisher der Aufbau einer eigenen Halbleiter-, Batterietechnologie- bzw. Wasserstoffindustrie. Die EU ist trotz der historischen Tendenz zur Verstärkung der staatskapitalistischen Maßnahmen von den historischen Widersprüchen des kapitalistischen Zentrums geprägt, eine Dynamik, die durch die wachsenden Widersprüche und Tendenzen des Jeder-für-sich-selbst verstärkt wird.
4. Die Parteienlandschaft in Deutschland
Bevor wir uns anschauen, wie die deutsche Bourgeoisie mit den aktuellen Herausforderungen der Zeitenwende umgeht, werfen wir noch einen Blick auf die Instrumente, die der deutschen Bourgeoisie zur Verfügung stehen. Die Parteienlandschaft hat sich über Jahrzehnte nach dem II. Weltkrieg stabilisiert und ausgeformt: die CDU, SPD und FDP. Doch die Etablierung der Grünen Partei zeigt, wie vital und intelligent die deutsche Bourgeoisie ist. Von einer Protestpartei, die in der Lage war, große Kräfte der politischen Alternativbewegungen der 70er und 80er aufzunehmen (durch viele ehemaligen Kader der maoistischen K-Gruppen, Trittin, Kretschmann bzw. Spontis wie Fischer) entwickelten sich die Grünen relativ schnell zu einer modernisierenden Kraft innerhalb der deutschen Bourgeoisie. Die Grünen waren in der Lage, die Kriegsbeteiligung in Jugoslawien zu legitimieren, die Hartz-Gesetze mit umzusetzen, und gelten derzeit als die treibende Kraft im strukturellen Umbau der deutschen Industrie. Die Partei Die Linke hat die Reste der ostdeutschen Staatspartei SED ruhig gestellt, die Bewegungen gegen den Umbau des Sozialstaats und die Werksschließungen neutralisiert und an den neuen Staat herangeführt; sie musste bisher jedoch zu keinem Zeitpunkt als „linke Alternative“ aufgebaut werden, während die AfD (nach der sogenannten Finanzkrise 2007/08) hauptsächlich die verrotteten Elemente, geprägt von Hass und Neid vertritt und keine reale Perspektive, sondern eher das Gewicht des Zerfalls und der Zerstörung ausdrückt. Die Bourgeoisie hat also nach wie vor ein ausreichendes Instrumentarium zur Verfügung, dennoch liegt der Vertrauensverlust weiter Teile der Bevölkerung wie ein Alp auf ihr. Die große Homogenität innerhalb der deutschen Bourgeoisie und die langen Phasen der Großen Koalitionen haben diesen Vertrauensverlust intensiviert. Es gibt bereits erste Zeichen dafür, dass die relativ neue Partei der Grünen nun auch in diesen Sog gezogen wird, nicht nur Teile der alten Umweltbewegung, sondern insbesondere viele junge Umweltbewegte werfen den Grünen vor, ihre Ziele zu verleugnen. Wir werden darauf in einem späteren Artikel näher eingehen.
5. Offene Widersprüche angesichts der Pandemie
In unseren Artikeln zu dem Chaos angesichts der Corona-Pandemie haben wir ausführlich aufgezeigt, dass auch die deutsche Bourgeoisie von dem allgemeinen Trend zum wachsenden Kontrollverlust über den eigenen Apparat erschüttert wurde.
„Somit belegen die Entwicklung der Pandemie, das Wuchern der Corona-Proteste, das Wuchern der Rechten im Staat, die Zerstrittenheit und der Grabenkrieg der bürgerlichen Parteien, einen tiefergreifenden Fäulnisprozess..., der sich auch in Deutschland nur noch beschleunigen kann. Dies bedeutet für die deutsche Wirtschaft auf mittlere Sicht enorme Schwierigkeiten und Unsicherheiten. Es erhöht die Notwendigkeit, durch weitere starke staatskapitalistische Maßnahmen stützend und schützend einzugreifen, doch schwindet ebenso die Fähigkeit der Bourgeoisie den Staat unter voller Kontrolle zu halten. Der ehemalige „sichere Hafen“ muss sich auf weitere Zerfallserscheinungen einstellen.“[5]
Die ausgeprägte Fähigkeit, die Wirtschaft von den zerstörerischen Einflüssen des Zerfalls abzuschirmen, war erschüttert worden.[6] Die deutsche Bourgeoisie, die alles tut und jede Chance nutzt, um die Potenz der deutschen Industrie auszuweiten, und hierüber eine möglichst große Homogenität herstellt, hat einen tiefgreifenden Schock erfahren und sich zerrissen und zersplittert erlebt. Doch die wirkliche Herausforderung stand noch bevor.
6. Der Schock der Zeitenwende
Der Krieg in der Ukraine hat die materiellen Pfeiler der ökonomischen Potenz Deutschlands zutiefst erschüttert, und dennoch (oder gerade deswegen!) war die deutsche Bourgeoisie geeint in der Lage, eine politische Kehrtwende hinzulegen: Die „Zeitenwende“ einte die SPD-FDP-Grünen-Regierung, die zuvor noch von Partikularinteressen zerrüttet war mit der CDU/CSU bis weit in die Institutionen hinein. Bevor wir uns mit der derzeitigen Lage der deutschen Bourgeoisie näher beschäftigen, müssen wir unterstreichen, dass die anfangs angesprochenen Grundpfeiler, die den Höhenflug der deutschen Bourgeoisie ermöglichten, teilweise weggeschlagen, teilweise am wackeln sind.
Die jahrzehntealte spezielle Beziehung zu Russland, die immer ein Pfeiler und ein Ausdruck der Tendenz der Unabhängigkeit von den USA waren, ist nachhaltig zerstört.
Jede Illusion über eine militärische Option neben der NATO ist zerstört.[7]
Die besondere Beziehung zu China wird nun als Abhängigkeit von China begriffen und ist unter Bombardement der USA, für die China der Hauptfeind bleibt.[8]
Die USA nutzen die nationalen Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland aus, um die Widersprüche innerhalb der europäischen Achse zu eskalieren.
Die militärische Dominanz der USA verschärft die Widersprüche innerhalb der EU und stärkt die Bedeutung der USA.
Ökonomisch versucht China immer größeren Einfluss in Osteuropa zu erhalten und hier Deutschland in „seinem Hinterhof“ herauszufordern.
Hinzu kommen die im dritten Punkt angesprochenen strukturellen Herausforderungen, die nun massiv zum Tragen kommen.
7. Die deutsche Bourgeoisie heute
Bisher müssen wir feststellen, dass die deutsche Bourgeoisie weiterhin in der Lage ist, ihre Kräfte weitestgehend zu organisieren. Die Beziehung zu Russland ist – spätestens nach der Geheimdienstsabotage von Nord Stream 2 – abgeschrieben. Doch dies ändert nichts daran, dass in weiten Teilen der Bourgeoisie Einigkeit darüber besteht, dass ein eigenes „stärker europäisches Profil“ notwendig ist, was nichts anderes bedeutet, als dass nach einer größtmöglichen Unabhängigkeit von den USA gerungen wird. Dies ist angesichts der Energie- und Rüstungslieferungen, die die USA erpresst haben, ein mittelfristiges Projekt. Die jüngste gemeinsame Erklärung von Macron und Scholz angesichts des 60-jährigen Abschlusses des Elysee-Abkommen formuliert diese imperialistischen Ambitionen trotz des enormen Druckes der USA erneut.[9] Es gibt eine Minderheit in der deutschen Bourgeoisie, ausgedrückt durch die offen-aggressive Pro-Waffen-Fraktion („Falkenfraktion“) von Strack-Zimmermann (FDP), Teilen der CDU und einigen führenden Grünen (Hofreiter), die eine stärkere Anlehnung an die USA befürworten. Doch es muss darauf hingewiesen werden, dass diese Fraktion nicht in Kontinuität mit den „alten Transatlantikern“ in der CDU steht.[10]
Die spezielle Beziehung zu China ist eine Frage des Überlebens für die deutsche Wirtschaft. Auch wenn alle von notwendigen Rückverlagerungen und alternativen Märkten reden, ändert dies nichts an der Zentralität dieser Beziehung[11], die von der deutschen Bourgeoisie auch entsprechend verteidigt wird. Die Investition Chinas in einen Teil des Hamburger Hafens war ein deutliches Zeichen von Scholz, dem Druck stand zu halten. Die Parole „Wandel durch Handel“ nimmt angesichts des staatskapitalistischen Monsters China niemand mehr in den Mund und die Grünen machen mit ihrer Menschenrechte-Ideologie klar Opposition gegen die Kontinuität der deutschen China-Politik. Sie mögen damit ein moderner Ausdruck der deutschen Bourgeoisie sein, aber realistisch betrachtet, dürfte dies eher ein Ausgangspunkt zukünftiger Spannungen sein.
So müssen wir auch die gegenwärtigen Spannungen im deutsch-französischen Verhältnis verstehen. Die Achse Frankreich-Deutschland ist alternativlos, aber es fällt sowohl der deutschen als auch der französischen Bourgeoisie derzeit immer schwerer, den widersprüchlichen Tendenzen, der Verfolgung eigener Partikularinteressen, allgemein der Jeder-für-sich-selbst-Dynamik zu widerstehen. Noch ausgeprägter ist diese Tendenz für die EU als ganzer.
Die Grünen zeigen sich bezogen auf die Umstrukturierung der deutschen Industrie als die modernisierende Kraft der deutschen Bourgeoisie und haben mittlerweile den Großteil des deutschen Kapitals auf ihrer Seite (auch wenn sich angesichts der China-Politik erste Risse aufmachen). Der strukturelle Umbau der deutschen Industrie ist im vollen Gange. Doch das sogenannte Anti-Inflations-Gesetz der USA ist eine offene Kriegserklärung an Europa. Zu diesem komplexen und widersprüchlichen Szenario gehört auch, dass Investitionen nicht nur Kapital benötigen, sondern auch eine gewisse Infrastruktur, qualifizierte Arbeiter, wissenschaftliche Strukturen usw. Es gibt Beobachter[12], die hier hauptsächlich den Pluspunkt für Europa sehen und davon ausgehen, dass ein neuer Innovationsschub nur von Europa ausgehen kann, da sich hier eine einzigartige kulturelle Konzentration und Flexibilität herausgebildet hat. Doch diese Beobachter ignorieren die enorme Destruktivität, die ein zerfallendes Produktionsverhältnis entwickelt.
Zusammengefasst können wir feststellen, dass die deutsche Bourgeoisie im Unterschied zu der Bourgeoisie in vielen anderen Ländern im Augenblick noch die Fähigkeit hat, sich um die nationalen Interessen zu vereinen. Doch es tun sich erste Risse auf; während die SPD weiterhin in der Lage ist, die langfristigen Interessen strategisch auszurichten, damit aber immer mehr in offene Konflikte mit anderen imperialistischen Mächten gerät, droht die neue Kraft der Grünen angesichts ihrer historischen Unerfahrenheit nicht nur neue imperialistische Konflikte anzuheizen, sondern auch die Bourgeoisie selbst zu spalten. Die FDP hat schon während der Pandemie-Krise gezeigt, dass sie stark von den Fliehkräften des Zerfalls unterminiert ist. Die CDU scheint weiterhin ein verlässlicher Faktor zu sein, auch wenn sie kein eigenes Profil gewonnen hat und hauptsächlich von Kritik an der Regierung lebt, ist sie nicht in dem Maße in eine Zerfallsdynamik wie die US-Konservativen eingetreten. Die staatseigene KfW-Bank hat in einer aktuellen Studie vor „andauernden Wohlstandsverlusten“ und „Verteilungskonflikten“ gewarnt und weist neben den oben entfalteten Herausforderungen auf eine drohende soziale Krise hin. Die Rückkehr des Klassenkampfes in Deutschland wird zeigen, wie weit die deutsche Bourgeoisie in der Lage ist, mit den enormen Herausforderungen und ihrer Wechselwirkung umzugehen!
Gerald, 27. Januar 2023
[1] In den 1980ern wird noch hauptsächlich exil-chinesisches (Taiwan, Hong Kong) und süd-koreanisches Kapital im Textilsektor investiert, Anfang der 90er steigen jedoch die USA, Japan und Deutschland massiv ein. Der XIV. Parteikongress im Oktober 1992 hat das Motto: „Reform, Öffnung und Modernisierung beschleunigen und noch größere Siege für den Sozialismus chinesischer Prägung erringen!“
[2] Der erste Politiker, der Verhandlungen über russische Erdgaslieferungen mit Moskau führte, war in den 1960ern der bayerische Wirtschaftsminister Otto Schedl (CSU), der das agrarische Bayern industrialisieren wollte.
[3] Der deutsche Kanzler Helmut Kohl (CDU) entwickelte mit Boris Jelzin eine enge politisch-persönliche Beziehung, 1992 verkündete Jelzin vor der UNO, dass „der Westen“ ein „Verbündeter“, nicht mehr der „Feind“ sei. 1994 schlossen die EU und Russland das Russland-Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) ab.
[4] Die „Nettozuwanderung müsste von 330.000 im Jahr 2021 auf 1,8 Millionen Zuwanderer im erwerbsfähigen Alter je Jahr steigen“, KfW-Studie, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/kfw-warnt-vor-schrumpfendem-wohlstand-fachkraefte-dringend-benoetigt-18620926.html, 22.02.2023
[5] Pandemie in Deutschland, Mai 2021, IKSonline
[6] Die Weltwirtschaft wird von der Beschleunigung des Zerfalls erfasst, Oktober 2022, Weltrevolution Nr. 185
[7] Siehe die gemeinsame Erklärung der NATO und der EU vom 10. Januar 2023
[8] Achtet auf unsere kommenden Artikel, die unsere Berichte vom letzten Kongress aktualisieren: Bericht über die imperialistischen Spannungen (Mai 2022): Bedeutung und Auswirkungen des Krieges in der Ukraine, Juni 2022, Internationale Revue Nr. 58
[9] „Die erste große Herausforderung ist für uns, zu gewährleisten, dass Europa noch souveräner wird und über die geopolitischen Kapazitäten verfügt, die internationale Ordnung zu gestalten. Für ein starkes Europa von morgen müssen wir jetzt stärker in unsere Streitkräfte und in die Grundlagen unserer Rüstungsindustrie in Europa investieren ...“, FAZ 20.01.2023.
[10] Hier sieht man das Walten der Zerfallskräfte deutlich, spätestens seit den Wirren, Irrationalitäten und wachsenden Unzuverlässigkeit der US-Bourgeoisie unter Trump ist die historische Fraktion der Transatlantiker in der deutschen Bourgeoisie nachhaltig irritiert und geschwächt. Die neuen Kräfte verfügen über keine starken Kontakte in den USA selbst, sondern sind eher wankelmütige Kandidaten offen für Manipulationen.
[11] So weisen beispielsweise Ökonomen aus dem Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) und seinem Umfeld darauf hin, dass die Bundesrepublik annähernd die Hälfte aller strategisch wichtigen Güter, die sie importieren muss, aus China bezieht – 45,1 Prozent. Der Chipproduzent Infineon etwa erwirtschaftete zuletzt 37,9 Prozent seines Umsatzes in der Volksrepublik. Deutschlands drei große Kfz-Konzerne erzielten in China zwischen 31,7 (BMW) und 37,2 Prozent (VW) ihres Gesamtumsatzes. Während letztere darauf angewiesen sind, zunehmend Forschung und Entwicklung in der Elektromobilität in den Branchenleitmarkt China zu verlegen, weist die Chemieindustrie darauf hin, dass sich in dem Land bald die Hälfte des globalen Chemikalienmarktes bündeln wird.
[12] „Aber Europa verfügt über ein hohes Maß an Innovationskraft. Industrietechnik wir unglaublich wichtig sein, und darin ist Deutschland Weltmeister. […] Ich bin optimistisch, weil ich glaube, dass in diesem Geschäft Innovation, Größe, Technologie und Talent die Zukunft bestimmen werden. Und Europa hat das in Hülle und Fülle.“