Begründung der vom Kongress abgelehnten Änderungsanträge des Genossen Steinklopfer

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IKS-Präsentation

In Fortsetzung der Diskussionsdokumente, die nach dem 23. IKS-Kongress[1] veröffentlicht wurden, veröffentlichen wir weitere Beiträge, die Differenzen zur Resolution zur internationalen Lage des 24. IKS-Kongresses[2] zum Ausdruck bringen. Wie beim vorangegangenen Beitrag des Genossen Steinklopfer beziehen sich die Meinungsverschiedenheiten auf das Verständnis unseres Zerfallsbegriffs, auf die interimperialistische Spannungen und die Kriegsgefahr sowie auf das Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Um weitere Verzögerungen unter dem Druck der aktuellen Ereignisse zu vermeiden, veröffentlichen wir die neuen Beiträge der Genossen Ferdinand und Steinklopfer ohne Gegendarstellung zur Verteidigung der Mehrheitsposition in der IKS. Wir werden aber sicherlich zu gegebener Zeit auf diesen Text eingehen.

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Auf dem 24. Internationalen Kongress habe ich eine Reihe von Änderungsanträgen zur Resolution zur internationalen Lage vorgelegt. Ihre allgemeine Stoßrichtung ist die einer weiteren Ausarbeitung der Divergenzen, die ich in Form von Änderungsanträgen auf dem vorangegangenen 23. Kongress vorgelegt habe. Einige von ihnen wurden vom Kongress akzeptiert, andere wurden abgelehnt, weil der Kongress es für notwendig erachtete, sich Zeit zu nehmen, um sie eingehender zu diskutieren, bevor er darüber abstimmt. Während einige der letztgenannten Änderungsanträge auch wiedergegeben werden, konzentriert sich dieser Artikel hauptsächlich auf jene Änderungsanträge, die abgelehnt wurden, weil der Kongress mit ihrem Inhalt nicht einverstanden war. Diese Divergenzen betrafen vor allem zwei der wesentlichen Dimensionen der Analyse der Weltlage: die imperialistischen Spannungen und das globale Kräfteverhältnis zwischen den beiden Klassen Bourgeoisie und Proletariat. Es gibt einen roten Faden, der viele dieser Meinungsverschiedenheiten miteinander verbindet und sich um die Frage des Zerfalls dreht. Obwohl die gesamte Organisation unsere Analyse des Zerfalls als Endphase des Kapitalismus teilt, treten bei der Anwendung dieses Rahmens auf die gegenwärtige Situation unterschiedliche Interpretationen ans Licht. Wir sind uns alle darin einig, dass diese Endphase nicht nur durch die Unfähigkeit beider großen Gesellschaftsklassen eingeleitet wurde, erstens eine Perspektive für diese Gesellschaft aufzuzeigen und zweitens große Teile der Gesellschaft entweder hinter den Kampf für die Weltrevolution (das Proletariat) oder hinter die Mobilisierung für die allgemeine Kriegsführung (Bourgeoisie) zu vereinen, sondern dass sie auch ihre tiefste Wurzel in dieser Unfähigkeit hat. Für die Organisation scheint es jedoch eine zweite wesentliche Triebkraft dieser Endphase zu geben, die Tendenz ‘jeder gegen jeden’: zwischen Staaten, innerhalb der herrschenden Klasse jedes Nationalstaates sowie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt. Auf dieser Grundlage neigt die IKS, was imperialistische Spannungen anbelangt, dazu, die Tendenz zur Polarisierung zwischen zwei führenden Räuberstaaten, die Tendenz zur Bildung militärischer Bündnisse zwischen Staaten zu unterschätzen, ebenso die wachsende Gefahr der direkten militärischen Konfrontationen zwischen den Großmächten, was eine potenzielle Dynamik in Richtung eines dritten Weltkriegs beinhalten würde, der möglicherweise die Menschheit auslöschen könnte. Auf der gleichen Grundlage neigt die IKS heute in Bezug auf das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen dazu, die Ernsthaftigkeit des gegenwärtigen Verlustes der revolutionären Perspektive seitens des Proletariats zu unterschätzen, was die Organisation zu der Annahme führt, dass die Arbeiterklasse ihre Klassenidentität und ihre kommunistische Perspektive im Wesentlichen durch defensive Arbeiterkämpfe wiedererlangen kann.

Tendenzen zum Krieg

Ich für meinen Teil stimme zwar zu, dass das bürgerliche ‘jeder gegen jeden’ ein sehr wichtiges Merkmal des Zerfalls ist. Ein Merkmal, das eine sehr wichtige Rolle bei der Einleitung der Zerfallsphase mit dem Zusammenbruch der nachkriegsimperialistischen Weltordnung im Jahr 1989 spielte. Ich stimme aber nicht zu, dass dies eine der Hauptursachen ist. Vielmehr ist das bürgerliche ‘jeder für sich’ eine dauernde Grundtendenz des Kapitalismus während seiner ganzen Existenz (unter Umständen sogar bis zum Auseinanderbrechen und der Untergrabung des bürgerlichen Staates selbst). Ebenso wie die Gegentendenz die Zusammenführung der bürgerlichen nationalen Kräfte – deren Hauptinstrument der Klassenstaat ist – grundlegend und dauerhaft ist, bis hin zur Tendenz zum staatskapitalistischen Totalitarismus in der Epoche des dekadenten Kapitalismus. Für mich ist die Unfähigkeit sowohl der Bourgeoisie als auch des Proletariats, eine Lösung für die existenzbedrohende Krise unserer Spezies durchzusetzen, der wesentliche Faktor der Phase des Zerfalls insbesondere ab 1989, und nicht die Tendenz ‘jeder gegen jeden’. Ich würde im Gegenteil sagen, dass die zunehmende Brutalität sowohl der Tendenz zur Zersplitterung und zur Zwietracht als auch diejenige zur Durchsetzung eines Mindestmaßes an nationaler Einheit durch den Staatskapitalismus, einschließlich des immer schockartigeren Zusammenpralls dieser beiden gegensätzlichen Tendenzen, auf dieser Ebene charakteristisch eben für diese Endphase sind. Für mich entfernt sich die IKS von unserer ursprünglichen Position zum Zerfall, indem sie dem ‚jeder gegen jeden‘ eine fundamentale und kausale Bedeutung beimisst, die sie in dieser Einseitigkeit nicht hat. So wie ich es verstehe, bewegt sich die Organisation in Richtung der Position, dass es mit dem Zerfall eine neue Qualität in Bezug auf frühere Phasen des dekadenten Kapitalismus gibt, die sich durch eine Art absolute Dominanz der Fragmentierungstendenz auszeichnet. Dagegen gibt es für mich keine wesentliche Tendenz in der Phase des Zerfalls, die es nicht schon vorher gegeben hätte, insbesondere in der Zeit der Dekadenz des Kapitalismus ab dem Ersten Weltkrieg. Deshalb habe ich einen Änderungsantrag eingebracht am Ende von Punkt drei der Resolution zur internationalen Lage (vom Kongress abgelehnt), der wie folgt lautete: „Als solche ist die gegenwärtige Zerfallsphase keine qualitativ neue Periode innerhalb – oder jenseits – des dekadenten Kapitalismus, sondern ist – als Endphase des Kapitalismus – durch die äußerste Verschärfung aller Widersprüche des Kapitalismus im Niedergang gekennzeichnet“. Die neue Qualität des Zerfallsphase besteht auf dieser Ebene darin, dass alle bereits bestehenden Widersprüche einer untergehenden Produktionsweise aufs Äußerste verschärft werden. Dies gilt für die Tendenz „jeder gegen jeden“, die mit Sicherheit durch den Zerfall verstärkt wird. Aber auch die Tendenz zu Kriegen zwischen den Großmächten und damit zum Weltkrieg wird verschärft, ebenso wie alle Spannungen, die durch die Bestrebungen zur Bildung neuer imperialistischer Blöcke und durch die Bestrebungen, diese zu vereiteln, entstehen. Dies nicht zu verstehen, führt heute dazu, dass die Kriegsgefahr stark unterschätzt wird. Diese wird insbesondere durch die Versuche der Vereinigten Staaten geschürt, ihre immer noch bestehende militärische Überlegenheit gegenüber China zu nutzen, um dessen Aufstieg aufzuhalten. Ebenso unterschätzen wir ernsthaft die Gefahr militärischer Zusammenstöße zwischen der NATO und Russland (letzterer Konflikt ist zumindest kurzfristig potenziell noch gefährlicher als der chinesisch-amerikanische, da er ein größeres Risiko birgt, zu thermonuklearen Konflikten zu führen). Während sich die IKS fatalerweise der Unwahrscheinlichkeit eines Weltkrieges wegen der Nichtexistenz imperialistischer Blöcke versichert, besteht die gegenwärtig sehr große Gefahr in größeren Kriegen zwischen führenden Mächten, womit sie versuchen, sich entweder solchen Blöcken zu nähern oder umgekehrt solchen Versuchen zuvorzukommen. Aus Besorgnis über diesen besorgniserregenden Verlauf der Analyse der Organisation schlug ich am Ende von Punkt acht den folgenden Zusatz vor: „Während des gesamten dekadenten Kapitalismus bis heute hat von den beiden Hauptäußerungen des Chaos, das durch den Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft erzeugt wurde – imperialistische Konflikte zwischen Staaten und Kontrollverlust innerhalb jedes nationalen Kapitals – in den zentralen Zonen des Kapitalismus die erstere Tendenz über die letztere gesiegt . Unter der Annahme, von der wir ausgehen,  dass dies auch im Kontext des Zerfalls weiterhin der Fall ist, bedeutet dies, dass nur das Proletariat ein Hindernis für Kriege zwischen den Hauptmächten sein kann, nicht jedoch die Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse in diesen Ländern. Obwohl diese Spaltungen unter bestimmten Umständen den Ausbruch des imperialistischen Krieges verzögern, können sie ihn auch katalysieren.“ Auch diese Änderung wurde vom Kongress abgelehnt. Die Änderungskommission des Kongresses schrieb, diese Änderung laufe in letzter Instanz auf eine Infragestellung des Zerfalls hinaus; es könnten neue Wohlstandszonen entstehen“. Ziel dieses Änderungsantrages war es jedoch nicht, neue Wohlstandszonen in Aussicht zu stellen, sondern vor der Illusion zu warnen, dass die Spaltungen innerhalb der unterschiedlichen nationalen herrschenden Klassen zwangsläufig ein Hindernis für Kriege zwischen Nationalstaaten darstellen. Weit davon entfernt, durch unsere Zerfallstheorie ausgeschlossen zu werden, bestätigen Konflikte zwischen den Großmächten eindrucksvoll gerade die Gültigkeit dieser Analyse. Der Zerfall ist die Beschleunigung, die barbarische Verschärfung aller Widersprüche des dekadenten Kapitalismus. Was die IKS einst wusste, aber jetzt zu vergessen droht, ist, dass das imperialistische ‘jeder gegen jeden’ nur der eine Pol des Widerspruchs ist. Der andere Pol ist die imperialistische Bipolarität durch das Auftauchen eines führenden Herausforderers der bestehenden Hauptmacht (eine Tendenz, die den Keim zur Bildung gegensätzlicher imperialistischer Blöcke in sich trägt, ohne damit identisch zu sein). Auf dieser Ebene leiden wir unter einem Mangel an theoretischer Aneignung unserer eigenen Position (oder an einem Verlust des Angeeigneten). Unter der Annahme, dass das ‘jeder gegen jeden’ grundlegend und konstitutiv für die Phase des Zerfalls ist, muss die bloße Vorstellung, dass der entgegengesetzte Pol der Bipolarität sich selbst verstärken und schließlich sogar die Oberhand gewinnen könnte, unsere Analyse in Frage stellen. Zwar wurde um 1989 mit dem Zerfall des Ostblocks (der den Westblock überflüssig machte) in der einleitenden Phase des Zerfalls die vielleicht stärkste Explosion aller gegen alle in der modernen Geschichte ausgelöst. Aber dieses ‘jeder gegen jeden’ war mehr das Ergebnis als die Ursache dieser historischen Kette von Ereignissen. Die Hauptursache war jedoch die Perspektivlosigkeit, das alles beherrschende „no future“, das diese Endphase kennzeichnet. In Bezug auf die herrschende Klasse hängt dieses „no future“ mit ihrer wachsenden Tendenz zusammen, im dekadenten Kapitalismus „irrational“, also gegen die eigenen Klasseninteressen, zu handeln. So gingen alle Hauptakteure des Ersten Weltkriegs geschwächt aus ihm hervor, und im Zweiten Weltkrieg wurden die zwei imperialistischen Hauptmächte der militärischen Offensive (Deutschland und Japan) beide besiegt. Aber diese Tendenz war noch lange nicht allumfassend, wie das Beispiel der Vereinigten Staaten zeigt, die sowohl militärisch als auch wirtschaftlich von ihrer Teilnahme an beiden Weltkriegen profitierten und dank ihrer überwältigenden wirtschaftlichen Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion in gewissem Sinne in der Lage waren, den Kalten Krieg zu gewinnen, ohne einen weiteren Weltkrieg führen zu müssen. Im Gegensatz dazu es ist schwer vorstellbar, wie die heutige Rivalität zwischen den USA und China langfristig verhindern kann, dass es zu einem Krieg zwischen ihnen kommt oder wie beide Seiten von einem solchen Ergebnis profitieren könnten. Im Gegensatz zur UdSSR ist China nicht nur auf militärischer, sondern auch (und derzeit noch vor allem) auf wirtschaftlicher Ebene ein ernstzunehmender Herausforderer der amerikanischen Vorherrschaft, so dass es unwahrscheinlich ist, dass dieser Herausforderung ohne irgendwelche militärische Zusammenstöße wirksam begegnet werden kann. Genau aus diesem Grund ist die gegenwärtige chinesisch-amerikanische Rivalität eine der dramatischsten Ausdrucksformen der verallgemeinerten Zukunftslosigkeit der Endphase des Kapitalismus. Die chinesische Herausforderung an die USA hat offensichtlich das Potenzial, unsere Spezies Mensch an den Rand des Abgrunds zu bringen. In der vorliegenden Analyse der Organisation jedoch ist und kann China niemals ein ernsthafter globaler Herausforderer der USA werden, und zwar weil seine wirtschaftliche und technologische Entwicklung als „Zerfallsprodukt“ angesehen wird. Nach dieser Deutung kann China nicht mehr sein oder werden als ein halbentwickeltes Land, das nicht in der Lage ist, mit den alten Zentren des Kapitalismus in Nordamerika, Europa oder Japan Schritt zu halten. Bedeutet diese Interpretation nicht, dass die Organisation die Idee wenn nicht gerade eines Stillstands der Produktivkraftentwicklung – den wir mit Recht als Merkmal des dekadenten Kapitalismus immer ausgeschlossen haben – so zumindest von etwas nicht weit davon Entferntem für die Endphase der Dekadenz postuliert? Wie der/die aufmerksame LeserIn feststellen wird, verurteilt der 24. Kongress nicht nur die Idee einer globalen imperialistischen Herausforderung durch China als eine Infragestellung der theoretischen Zerfallsanalyse – die bloße Idee, dass China seine Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten seiner Rivalen verstärkt hat, wird als Ausdruck meiner angeblichen Illusionen über die Gesundheit des chinesischen Kapitalismus zurückgewiesen. Ebenso gilt meine Einschätzung, dass China im Umgang mit der Covid-Pandemie zumindest bisher besser abgeschnitten hat als sein amerikanischer Rivale, als Beleg für meine „Leugnung“ des globalen Charakters des Zerfalls. In Bezug auf die Pandemie habe ich die folgende Änderung zu Punkt fünf der Resolution vorgeschlagen (vom Kongress abgelehnt): „Für eine marxistische Analyse ist es wichtig, diese Unterschiede zu berücksichtigen, insbesondere insofern sie wesentliche Tendenzen aufzeigen, die bereits vor der Pandemie bestanden und durch sie forciert wurden. Drei solcher Tendenzen sind von besonderer Bedeutung: Erstens die Errichtung eines dritten großen Zentrums des Weltkapitalismus im Fernen Osten (neben Europa und Nordamerika), das auf einigen Ebenen die bereits etablierten Zentren an Modernität und kapitalistischer Effizienz sogar übertrifft. Zweitens der Aufstieg Chinas auf Kosten der Vereinigten Staaten. Drittens das Fiasko des „neoliberalen“ Staatskapitalismus angesichts der Pandemie (dessen Modell des „schlanken Staates“ ohne Reserven – „Just-in-Time-Produktion“ und -Lieferung – radikaler in den alten kapitalistischen Ländern angewandt wurde).“ Ich habe den Eindruck, dass für Organisation derzeit die unveränderlichen Gesetze des Kapitalismus in seiner Zerfallsphase nicht mehr gelten. Gibt es nicht immer Gewinner und Verlierer des bürgerlichen Konkurrenzkampfes? Wir haben bisher auch nie geleugnet, dass es in verschiedenen Ländern und Situationen unterschiedliche Entwicklungsgrade des Zerfalls geben kann. Warum das nicht mehr so ​​sein soll, ist mir ein Rätsel. Ob in Bezug auf die Pandemie oder die Situation im Allgemeinen, unsere Anwendung des Etiketts des Zerfalls riskiert, eine Tendenz zu theoretischer Oberflächlichkeit und Faulheit zu begünstigen. Unser Verständnis von Zerfall gibt den Rahmen für die Analyse der Pandemie vor, ebenso wie für die Phase insgesamt, ebenso wie unser Verständnis von Dekadenz oder Kapitalismus insgesamt es tun. Dieser Rahmen, absolut notwendig, ist jedoch noch nicht die Analyse selbst. Wir riskieren, die beiden zu verwechseln, weil wir denken, dass wir die Analyse bereits durchgeführt haben, wenn wir den Rahmen angeben. Und was bedeutet es zu sagen, dass die „Entwicklung Chinas das Produkt des Zerfalls“ ist? Dass die Proletarisierung von 600 Millionen Bauern (ein bedeutender Teil einer kommenden proletarischen Weltrevolution) ein Produkt des Zerfalls ist? Wäre es nicht richtiger zu sagen, dass der Entwicklungsaspekt in China TROTZ Zerfall stattfindet? 

Was die lebenswichtige Frage der Gefahr militärischer Zusammenstöße zwischen führenden Mächten wie den Vereinigten Staaten und China betrifft, so geht es nicht um eine Prognose, denn niemand weiß genau, was die Zukunft bringt. Was die Organisation ernsthaft unterschätzt, ist das, was im Hier und Jetzt vor ihren Augen real vor sich geht. Wie führende Vertreter der amerikanischen Bourgeoisie kürzlich selbst öffentlich gemacht haben, erwartete die chinesische Regierung noch vor dem Ende der ersten Amtszeit von Donald Trump einen amerikanischen Militärschlag. Zu diesem Schluss führte nicht nur die kriegerische Rhetorik des Weißen Hauses, sondern auch die große Eile, mit der Washington begann, seine Truppen aus dem Nahen Osten (Syrien) abzuziehen und zusätzliche Kräfte im Fernen Osten zu stationieren. Es ist daher eine plausible Hypothese, dass eines der Mittel der chinesischen herrschenden Klasse auf diese Bedrohung zu reagieren darin bestand, zu Beginn der Pandemie zuzulassen, dass das neue Virus als Mittel zum Chaosstiften an den Rest der Welt weitergegeben wurde, um die Pläne seines amerikanischen Rivalen zu durchkreuzen. Angesichts der Kritik an Aspekten von Trumps Außenpolitik durch die Demokratische Partei in den USA in dieser Phase ist davon auszugehen, dass Peking nach der Ablösung Trumps durch Joe Biden im Oval Office zunächst eine abwartende Politik eingeschlagen hat. Der jüngste noch kopflosere Rückzug Bidens aus Afghanistan, gefolgt von der Bildung des Militärbündnisses AUKUS, wird es davon überzeugt haben, dass Biden der gleichen Konfrontationslogik folgt wie Trump. Während laut dem berühmten US-Enthüllungsjournalisten Bob Woodward Trump den Einsatz von Atomwaffen gegen China erwog, diskutiert nun die US-„Sicherheitsgemeinschaft“ vor allem die politische Destabilisierung des bestehenden chinesischen Regimes, insbesondere durch die Verfolgung einer systematischen Provokationspolitik in der Taiwan-Frage. Dahinter steht die Annahme, dass, wenn Xi Jin Ping nicht militärisch auf Unabhängigkeitsbestrebungen Taiwans reagieren würde, oder aber wenn China zwar militärisch, aber erfolglos reagierte, dies in beiden Fällen zu einem immensem „Gesichtsverlust“ führen könnte. Und dieser könnte so groß sein, dass der Anfang des Endes der Herrschaft des Stalinismus in China eingeläutet würde (das darauffolgende Chaos im bevölkerungsreichsten Land der Erde würde von Washington als kleineres Übel gegenüber der gegenwärtig drohenden Fortsetzung des Aufstiegs seines chinesischen Herausforderers hingenommen). Im Namen einer vermeintlichen Verteidigung des Konzepts des Zerfalls hat die Organisation in Wirklichkeit begonnen, die Schärfe und Kohärenz der IKS-Analyse der Dekadenz zu untergraben. Bisher haben wir die Zeit des Niedergangs des Kapitalismus nicht nur als eine Epoche der Kriege und Revolutionen, sondern der Weltkriege und Weltrevolutionen verstanden. Die gegenwärtige Unterschätzung der eingebauten, angeborenen Tendenz des niedergehenden Kapitalismus zum Weltkrieg ist wirklich alarmierend.

Über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen

Nun möchte ich zur zweiten grundlegenden Hauptdivergenz übergehen, derjenigen, die das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen betrifft. Ich schlug neben anderen Änderungsanträgen zum Klassenkampf die folgende Passage zu Punkt 32 vor, um die Schwere des proletarischen Rückzugs durch die drei wichtigsten politischen Niederlagen zu unterstreichen. Dieser vom Kongress ebenfalls abgelehnte Zusatz lautet wie folgt: „Seit der Rückkehr einer ungeschlagenen Generation auf den Schauplatz des Klassenkampfs im Jahr 1968 hat das Proletariat nacheinander drei wichtige politische Niederlagen erlitten, von denen jede die Schwierigkeiten der Klasse vergrößerte. Die erste Niederlage war die des anfänglichen Politisierungsimpulses. Die Linke und die Politik der „Linken an der Regierung“ (Erhöhung der Sozialausgaben) waren in den 1970er Jahren die Speerspitzen dieses Rollbacks, gefolgt in den 1980er Jahren von der Politik der Linken in der Opposition, die auf dem Terrain gegen die immer noch bestehende Kampfbereitschaft der ArbeiterInnen in Richtung einer Umstellung auf eine „neoliberale“ Regierungs- und Wirtschaftspolitik mobilisierte. Eines der Ziele der letzteren war es, die Inflation einzudämmen, nicht zuletzt, weil sie durch die Erosion der Kaufkraft aller ArbeiterInnen Lohnkämpfe und die Möglichkeit ihrer Vereinigung begünstigte. So geschwächt, war die Arbeiterklasse in den 1980er Jahren nicht in der Lage, sich in die Richtung zu bewegen, die von der wirtschaftlichen Situation (internationale Krise, „Globalisierung“) gefordert und von den gigantischen Kämpfen von Frankreich 1968 bis Polen 1980 objektiv vorbereitet wurde: die Richtung der Massenbewegungen über Landesgrenzen hinweg. Die zweite Niederlage, die von 1989 (bei weitem die größte), die die Phase des Zerfalls einleitete, war durch die Tatsache gekennzeichnet, dass der Stalinismus durch seine eigene angeborene Zerfallsdynamik und nicht durch Arbeiterkämpfe gestürzt wurde. Die dritte Niederlage, die der letzten fünf Jahre, resultiert aus der Unfähigkeit der Klasse, angemessen auf die „Finanz“- und „Euro“-Krise zu reagieren. Sie hinterlässt ein Vakuum, das unter anderem durch Identitarismus und Populismus gefüllt wurde. Während der Schwerpunkt des weltweiten Rückschlags von 1989 in Osteuropa lag, konzentriert sich der jetzige im Moment auf die Vereinigten Staaten (zum Beispiel das Phänomen des Trumpismus) und auf Großbritannien (Brexit). Die Niederlage von 1989 und die jetzige Niederlage tragen die Merkmale einer politischen Niederlage im Kontext des Zerfalls. So schwerwiegend sie auch sind, sie sind keine Niederlagen von der gleichen Art wie jene, die während der Konterrevolution erlitten wurden. Es sind Niederlagen der Art, von denen sich das Proletariat noch erholen kann (deren Konzept wir auf unserem letzten Internationalen Kongress erklärt haben). Obwohl wir noch nicht abschätzen können, wie lange ihre Auswirkungen andauern könnten, können wir nicht länger ausschließen (über drei Jahrzehnte nach dem Beginn des weltweiten Rückzugs der proletarischen Sache im Jahr 1989), dass dieser Rückzug nach 1989 so lange dauern könnte wie die Konterrevolution, die etwa vier Jahrzehnte andauerte (von Mitte der 1920er bis Mitte der 1960er Jahre). Andererseits ist das Potenzial für eine schnellere Überwindung sehr real, denn die Ursache liegt vor allem auf der subjektiven Ebene, in dem dramatischen Trugschluss, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt."

Schon in der Resolution des 23. Kongresses fiel auf, dass das Problem der Schwäche, die bald zum Fehlen einer proletarisch-revolutionären Perspektive wird, nicht im Mittelpunkt steht, um die Probleme der Arbeiterkämpfe in den 1980er Jahren zu erklären. In der vorliegenden Entschließung wird die Betonung erneut auf die negativen Auswirkungen des ‘jeder für sich’ und auf den Machiavellismus der Bourgeoisie bei der Förderung einer solchen Mentalität gelegt. Aber weil die Resolutionen sowohl des 23. als auch des 24. Kongresses weiterhin argumentieren, dass der Klassenkampf nach der Niederlage des Massenstreiks in Polen in den 1980er Jahren weiter vorangeschritten sei, können sie nicht vertieft erklären, warum das ‘jeder gegen jeden’ und diese Strategie der Bourgeoisie den Erfolg haben konnten, den sie zweifellos hatten. Diese Unfähigkeit, dieses Festhalten an der Analyse des Fortschritts des proletarischen Kampfes während der 80er Jahre (eine Analyse, die bereits damals falsch, aber angesichts der beträchtlichen Zahl wichtiger Arbeiterkämpfe in gewisser Weise verständlich war, heute jedoch viel weniger einleuchtet) ist umso bemerkenswerter, als dieses Jahrzehnt als dasjenige des „no future“ in die Geschichte eingegangen ist. Wie wir bereits in Bezug auf den Imperialismus festgestellt haben, werden die Kämpfe der 1980er Jahre in erster Linie unter dem Gesichtspunkt dieses „jedes gegen alle“ analysiert, ohne die zentrale Bedeutung des wachsenden Vertrauensverlusts des Proletariats in seine revolutionäre Perspektive jenseits des Kapitalismus anzuerkennen. Die Arbeiterkämpfe der späten 1960er und frühen 1970er Jahre beendeten das, was wir zurecht als die längste Konterrevolution der Geschichte bezeichneten. Nicht nur wegen ihres oft massiven, spontanen und selbstorganisierten Charakters, sondern auch, weil sie begannen, aus der ideologischen Zwangsjacke des Kalten Krieges auszubrechen, in der die einzige Wahl zwischen „Kommunismus“ (gemeint ist der Ostblock – oder alternativ China) oder „Demokratie“ (gemeint der Westblock) bestand. Mit der Erneuerung des proletarischen Kampfes tauchte die oft vage und verworrene, aber sehr wichtige Idee eines Kampfes auf, nämlich die Ablehnung des Ostens wie auch des Westens. Hierdurch wurde der Rahmen, den der Kapitalismus für einen 3.Weltkrieg gesetzt hat, infrage gestellt. Dies war zentral für das, was wir damals richtiger Weise als eine Änderung des Historischen Kurses von einem allgemeinen Krieg hin zu einem zunehmenden Klassenkampf beschrieben haben. Diese anfängliche Politisierung, obwohl im Westen zentriert, erreichte auch den Osten und wurde zu einem Hindernis für den Kriegskurs des Warschauer Paktes: die Idee, nicht nur den westlichen Kapitalismus (wo die Kerngebiete des Weltsystems lagen), sondern ebenso den Stalinismus im Osten herauszufordern und schließlich zu stürzen, durch Selbstorganisation und schließlich durch Arbeiterräte, die auf die Errichtung eines echten Kommunismus hinarbeiten würden. Dieser ersten Politisierung wurde bereits im Laufe der 1970er Jahre von der herrschenden Klasse erfolgreich entgegengewirkt, was dazu führte, dass nach der Niederschlagung des Massenstreiks 1980 in Polen immer mehr Arbeiter im Osten auf westliche Wirtschaftsmodelle zu setzen begannen, während in den zentralen Ländern des Westens die Kämpfe in den 80er Jahren zunehmend von der fatalen Haltung der „Politikverweigerung“ geprägt waren und sich demonstrativ auf rein wirtschaftlichem Terrain positionierten. Angesichts dieser Entpolitisierung erhoffte sich die IKS in den 1980er Jahren, dass diese wirtschaftlichen Kämpfe, insbesondere die Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften, in ihrem Verlauf zum Schmelztiegel einer vielleicht sogar noch höheren Stufe der Neupolitisierung werden könnten, eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte. Die Realität des Scheiterns dieser Neupolitisierung wird, zumindest implizit, bereits (seit den letzten 1980er Jahren) von unserer Zerfallsanalyse erkannt, da sie die neue Phase als perspektivlos definiert. Laut der Resolution hat sich der proletarische Kampf trotz aller aufgetretenen Probleme im Grunde gut entwickelt, bevor er 1989 durch ein weltgeschichtliches Ereignis gestoppt wurde, das ihr als äußere Erscheinung erschien: dem Zusammenbruch des Ostblocks. So gesehen geht die IKS nun im Grunde davon aus, dass die überwältigendsten Auswirkungen dieses Ereignisses mit der Zeit nachlassen würden und es der Klasse ermöglichten, ihren früheren, im Wesentlichen gesunden Weg der Politisierung durch ihre Abwehrkämpfe irgendwie fortzusetzen. Die Organisation geht auch davon aus, dass der Politisierungsprozess im Vergleich zu den 1980er Jahren stärker von der Verschärfung der Wirtschaftskrise vorangetrieben wird, eine Verschärfung, die die Arbeiter sofort zum Kampf zwingt, sie ihrer Illusionen beraubt und ihnen die Augen für die Realität des Kapitalismus öffnet.

Im Gegensatz dazu lag die Hauptschwäche der Kämpfe aus meiner Sicht bereits in den 1980er Jahren nicht auf der Ebene ihrer wirtschaftlichen Kämpfe, sondern auf der politischen und theoretischen Ebene. Was die Organisation zu vergessen scheint, ist, dass eine Zunahme der Kampfbereitschaft der ArbeiterInnen nicht notwendigerweise mit einer Zunahme des Umfangs und der Tiefe des Bewusstseins innerhalb des Proletariats einhergeht. Dass sogar das Gegenteil der Fall sein kann, zeigt der Verlauf der gesellschaftlichen Situation vor dem Zweiten Weltkrieg deutlich. In einigen westeuropäischen Ländern (wie Frankreich, Belgien, den Niederlanden und vor allem in Spanien), aber auch beispielsweise in Polen und (was noch wichtiger ist) in den Vereinigten Staaten, war die Kampfbereitschaft der Arbeiter während dieser Zeit in den 1930er Jahren viel stärker als in den 1920er Jahren entwickelt: dem Jahrzehnt der ersten Welle der Weltrevolution mit Zentrum in Russland und Mitteleuropa. Eine der Haupterklärungen für diese paradoxe Entwicklung ist leicht zu finden. Sie liegt in der Brutalität der Wirtschaftskrise, der großen Depression, die ab 1929 die ArbeiterInnen zur Selbstverteidigung zwang. Doch trotz dieser Kampfbereitschaft ging der Historische Kurs in Richtung eines zweiten Weltkriegs, nicht in Richtung einer Verschärfung des Klassenkampfs. Angesichts der Konterrevolution in der UdSSR und des Scheiterns der Revolution in Deutschland und anderswo in Mitteleuropa ging die Kampfbereitschaft der Arbeiter weltweit zurück. Weit davon entfernt, den Weg zum Weltkrieg zu blockieren, war es der herrschenden Klasse sogar möglich, diese Kampfbereitschaft für Kriegszwecke zu nutzen, insbesondere durch den „Antifaschismus“ („Hitler stoppen“) und die Verteidigung des angeblich sozialistischen Vaterlandes in der UdSSR. Nicht einmal die äußerst wichtigen und massiven Streiks in Italien während des Zweiten Weltkriegs konnten helfen, aus dieser politisch-ideologischen Falle auszubrechen. In Nordirland zum Beispiel gab es während des Zweiten Weltkriegs sehr große Streikbewegungen, die sich oft gerade in der Rüstungsindustrie konzentrierten, wobei die dortigen Arbeiter die Stärkung dessen, was Gewerkschafter ihre „Verhandlungsmacht“ nennen, gerade dank des Krieges erkannten, aber leider ohne die patriotische Kriegsstimmung, die auch diese Arbeiter erfasst hatte, in irgendeiner Weise zu schwächen. In diesem Sinne ist die Kampfbereitschaft der ArbeiterInnen, obwohl sie ein unverzichtbarer Faktor ist, unzureichend sowohl für die Entwicklung der Politisierung als auch für die Beurteilung, ob der proletarische Kampf voranschreitet oder nicht. Dies zeigen nicht nur die Erfahrungen der 1930er und 1980er Jahre, sondern nicht weniger die gegenwärtige Situation. Natürlich haben wir in den letzten Jahren wichtige Widerstandskämpfe der ArbeiterInnen erlebt. Natürlich werden wir in der kommenden Zeit noch mehr von ihnen sehen. Selbstverständlich besteht angesichts der in vielen Bereichen immer dramatischer werdenden Verschlechterung der proletarischen Arbeits- und Lebensbedingungen (Auswirkungen der Wirtschaftskrise), angesichts der verbesserten „Verhandlungsposition“ in anderen Sektoren aufgrund eines dramatischen Mangels an ausreichend qualifizierten Arbeitskräften (Auswirkungen der kapitalistischen Anarchie) sogar eine gute Chance auf eine Steigerung solcher Kampfbereitschaft. Und ja, es gibt zahlreiche Beispiele, überdies inhaltlich sehr überzeugende Beispiele in der Geschichte, die beweisen, dass ArbeiterInnen auf Angriffe nicht nur mit großer Kampfbereitschaft reagieren können, sondern mit einer entsprechenden Entwicklung des Klassenbewusstseins (von 1848 bis 1968 – und die revolutionäre Welle, die während des Ersten Weltkriegs begann, war in erheblichem Maße auch eine Reaktion auf wirtschaftliches und soziales Elend). Aber was ist mit den kurzfristigeren Aussichten der proletarischen Politisierung in der gegenwärtigen konkreten Situation? Dass die 1960er und frühen 1970er Jahre gleichzeitig ein Aufwallen von Kampfgeist und Klassenbewusstsein erlebten, beweist nicht mehr, dass das Gleiche heute passiert, als das Beispiel der 1930er oder 1980er Jahre das Gegenteil beweisen würde. Gegenwärtig beruhigt sich die IKS damit, dass das Weltproletariat nicht bereit ist, in einen dritten Weltkrieg aufzubrechen – was auch stimmt. Aber auf dieser Ebene ähnelt die Situation nur scheinbar der nach 1968, als eine neue und unbesiegte Generation des Proletariats zum Haupthindernis für einen solchen Krieg wurde. Damals waren zwei rivalisierende imperialistische Blöcke vorbereitet, willens und in der Lage, einen dritten Weltkrieg zu entfesseln. Heute gibt es keine solche Bereitschaft seitens der herrschenden Klasse. Nicht nur das Proletariat will nicht in einen solchen Krieg marschieren, die Bourgeoisie selbst hat nicht die Absicht, mit irgendjemandem in einen dritten Weltkrieg zu marschieren. Das Ziel der chinesischen Bourgeoisie zum Beispiel ist es, die Vereinigten Staaten zu übertreffen und gleichzeitig einen Weltkrieg zu vermeiden, da diese militärisch immer noch weit überlegen sind und dies wahrscheinlich noch einige Zeit bleiben werden. Das Ziel der amerikanischen Bourgeoisie zum Beispiel ist in ihrem Bemühen, den Aufstieg Chinas zu stoppen, zu verhindern, dass China einen militärischen Block (insbesondere mit Russland) bildet, der die Wahrscheinlichkeit erhöhen würde, es schließlich zu wagen, einen dritten Weltkrieg zu beginnen. Wir sehen also, anders als zu Zeiten des Kalten Krieges plant heute niemand mehr einen dritten Weltkrieg. Im Gegenteil, die verschiedenen nationalen Kapitale/Bourgeoisien entwickeln größtenteils ihre unterschiedlichen Strategien, die alle darauf abzielen, ihren eigenen Einfluss und ihr Ansehen zu erhöhen und gleichzeitig den dritten Weltkrieg zu vermeiden. Aber eine der Fragen, die sich Revolutionäre stellen müssen, ist, ob all dies einen dritten Weltkrieg weniger wahrscheinlich macht als in der Zeit des Kalten Krieges? Die Antwort, die die IKS derzeit gibt, ist bejahend: Wir sind sogar so weit gegangen, von der Unwahrscheinlichkeit einer solchen Katastrophe zu sprechen. Diese Ansicht teile ich überhaupt nicht. Ich halte sie sogar für hochgefährlich – vor allem für unsere Organisation selbst. Aus meiner Sicht ist die Gefahr eines dritten Weltkriegs heute genauso groß, wenn nicht größer, als in den letzten zwei Jahrzehnten des Kalten Krieges, wobei die Hauptgefahr gerade darin besteht, dass die verschiedenen strategischen Manöver und taktisch-militärischen Tricks, die angeblich einen Weltbrand verhindern sollen, eben genau dazu führen werden. Vor diesem Hintergrund kann die Frage nach der Bereitschaft des Proletariats zum Aufmarsch in den Weltkrieg nicht mehr so ​​gestellt werden wie während des Kalten Krieges (deshalb hat der 23. Kongress der IKS zurecht festgestellt, dass das Konzept des „Historischen Kurses“ nicht auf die heutige Situation anwendbar ist). Wir können zum Beispiel zustimmen, dass das Proletariat der USA derzeit nicht bereit ist, in China einzumarschieren. Aber wäre es der Bourgeoisie der Vereinigten Staaten in der gegenwärtigen Situation möglich, die Unterstützung der Bevölkerung für eine „harte militärische Aktion“ gegen China zu gewinnen, scheinbar und angeblich unterhalb der Schwelle eines globalen Krieges? Diese Frage ist meines Erachtens viel schwieriger zu beantworten – und die Lage für das Proletariat politisch noch heikler. Aber diese Frage stellt uns die konkrete historische Situation und nicht etwa die gegenwärtig abstrakte Frage einer hypothetischen Bereitschaft zum Weltkriegsaufmarsch. Letzterer kann auch dann stattfinden, wenn keiner der Hauptakteure dies beabsichtigt: Die Tendenz dazu wurzelt viel tiefer im Wesen des Kapitalismus als der Bereich der bewussten oder unbewussten Impulse der herrschenden Klasse, wobei dieser nur einer von vielen wichtigen Faktoren und weit davon entfernt ist, der wichtigste zu sein. In der gegenwärtigen Situation ist es von größter politischer Bedeutung, jeden schematischen, einseitigen Ansatz zu überwinden, der die Existenz imperialistischer Blöcke zur Voraussetzung für militärische Zusammenstöße zwischen den Großmächten macht. Nicht nur deshalb, weil die USA und Australien bereits den Kern eines längerfristigen Militärbündnisses gegen China geschaffen haben, dessen innere Hülle derzeit ihr „AUKUS“-Abkommen mit Großbritannien, dessen äußere Hülle ihr „QUAD“-Abkommen ist in Form der Zusammenarbeit mit Japan und Indien. Vor allem aber, weil dies zu anderen Faktoren von ähnlicher oder sogar noch größerer Bedeutung führt, von denen einer darin besteht, dass die beiden imperialistischen Hauptkonkurrenten von Ressentiments und Rachsucht erfüllt sind. Im Falle Chinas ist es der verletzte Stolz einer Großmacht, die sich von ihren ehemaligen Kolonialherren, dem barbarischen Westen oder Japan, gedemütigt fühlt. Wie wichtig solche Faktoren sein können, zeigt beispielsweise die Situation nach dem Ersten Weltkrieg, als viele MarxistInnen nach der Niederlage des deutschen Imperialismus dachten, der nächste Weltkrieg würde zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten als den stärksten der verbliebenen Großmächte ausgetragen werden. Demgegenüber hat Rosa Luxemburg bereits während des Ersten Weltkriegs zurecht vorausgesagt, dass die Konstellation eines zweiten Weltkriegs aufgrund des Ausmaßes des Hasses und der Rachegelüste, die dieser ausgelöst hatte, eine Art Fortsetzung des ersten Weltkriegs sein würde. Vor diesem Hintergrund ist es von großer Bedeutung, dass in den letzten Jahren aus dem Schoß der bürgerlichen Gesellschaft der Vereinigten Staaten jene Ressentiments krochen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Hass aufweisen, der Deutschland seinerzeit nach seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg eingeimpft wurde, was als Ausdruck der „Demütigung von Versailles“ empfunden wurde, die auf den Krieg folgte. Der Inbegriff dieses Phänomens in den USA von heute ist, dass Amerika seit 1989 die militärische und finanzielle Last getragen hat, den Globus zu überwachen. Der Rest der Welt hat die Gelegenheit genutzt, seinem Wohltäter den Dolch in den Rücken zu stoßen, insbesondere auf wirtschaftlicher Ebene, um Millionen von „amerikanischen Arbeitsplätzen“ zu vernichten. Auf diesem Hintergrund ist eine sehr starke „öffentliche Meinung“ entstanden, die es ablehnt, „amerikanische Leben und amerikanische Dollars“ im Ausland zu verschwenden, unter welchem ​​Vorwand auch immer (sei es „humanitäre Hilfe“, „demokratischer Kreuzzug“ oder „Nationenbildung“). Hinter dem, was sich nach einer starken Antikriegsreaktion anhört, steckt leider auch, ja sogar in erster Linie, ein virulenter amerikanischer Nationalismus, der nicht den Militärabzug erst aus Syrien (unter Trump) und dann aus Afghanistan (unter Biden) an sich erklärt, sondern vor allem den chaotischen und überstürzten Charakter dieser Evakuierungen: Wer in der Lage ist, „unsere Jungs und Mädels“ am schnellsten aus solchen Ländern herauszuholen, ist zu einem wichtigen Faktor im wütenden Machtkampf innerhalb der US-Bourgeoisie geworden. Dieser Nationalismus stellt eine große politische Gefahr für das Proletariat der Vereinigten Staaten dar, da er in der Lage ist, eine starke, auf den Krieg gerichtete Anziehungskraft zu erzeugen, sobald er sich gegen den „wirklichen“ Feind richtet (nicht die Taliban, sondern China, ein Land, das als Auslöscher der amerikanischen Industrie dargestellt wird). Nichts davon bedeutet, dass der Ausbruch der zerstörerischsten Formen kapitalistischer Kriegsführung in den kommenden Jahren unvermeidlich ist. Er ist nicht unvermeidlich. Aber die Tendenz in diese Richtung ist unvermeidlich, solange der Kapitalismus weiter herrscht. 

In Bezug auf das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen hat die Organisation argumentiert, dass sich meine Position der des „Modernismus“ annähert. Unter Modernismus versteht man in diesem Zusammenhang den Wunsch, den Arbeiterkampf durch eine andere zentrale Kategorie für die moderne bürgerliche Gesellschaft zu ersetzen (wie sie in der Vergangenheit postuliert wurde, etwa den Kampf zwischen Arm und Reich oder zwischen Befehlsgebern und Befehlsempfängern). Der Begriff „modernistisch“ wurde von verschiedenen politischen Strömungen nach dem Zweiten Weltkrieg verwendet, um sich von dem abzugrenzen, was sie für ein inzwischen nicht mehr existierendes Konzept von Arbeiterkämpfen hielten. Andererseits ist auch anzumerken, dass die Ablehnung oder Unterschätzung der defensiven Arbeiterkämpfe viel älter ist als die modernistische Strömung. Schon im 19. Jahrhundert haben die Lassalle-Anhänger in Deutschland beispielsweise gegen Streiks der Arbeiter auf der Grundlage von Lassalles Theorie des „ehernen Lohngesetzes“ argumentiert, wonach nicht einmal vorübergehende Verbesserungen der Arbeitsbedingungen durch Lohnkämpfe möglich seien. In den 1920er Jahren begann die sogenannte Essener Tendenz der linkskommunistischen KAPD, auch in Deutschland die Notwendigkeit des alltäglichen Arbeiterkampfes mit dem Argument abzulehnen, dass nur die Revolution selbst die Klasseninteressen verteidigen könne. Es gibt daher verschiedene Argumente und sogar Traditionen, die die Bedeutung des alltäglichen Klassenkampfs in Frage stellen, nicht nur die des modernistischen Ansatzes. Allen gemeinsam ist die irrige und fatale Unterschätzung der Rolle des alltäglichen Arbeiterkampfes. Ich für meinen Teil teile weder die modernistische Auffassung noch die von Lassalle oder der Essener Tendenz. Im Gegenteil stimme ich mit dem Rest der IKS über die Bedeutung der defensiven Dimensionen des Arbeiterkampfes überein. Bei der Meinungsverschiedenheit in der IKS geht es nicht darum, ob diese Kämpfe wichtig sind oder nicht. Es geht darum, welche Rolle sie in der gegebenen historischen Situation spielen können und müssen. Notwendigerweise muss sich eine solche Diskussion nicht nur mit dem Potenzial dieser Kämpfe auseinandersetzen, sondern auch mit ihren möglichen Grenzen. Die historische Situation heute ist dadurch gekennzeichnet, dass das Weltproletariat das Vertrauen in seinen revolutionären Kompass und in seine Klassenidentität verloren hat. Einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden, ist jetzt eindeutig die zentrale Aufgabe des revolutionären Proletariats. Angesichts dieser Situation fragt sich die IKS: Welche materiellen Kräfte können realistischer Weise einen Weg nach vorne aufzeigen? Die Antwort, die die Organisation derzeit gibt, ist, dass vor allem der tägliche Klassenkampf dieses Potenzial hat. Diese Antwort enthält ein wichtiges Moment der Wahrheit. Auch wenn die ganze Welt die Vorstellung teilen würde, dass der proletarische Klassenkampf der Vergangenheit angehöre, ist er in Wirklichkeit nicht nur sehr lebendig, er ist sogar unzerstörbar, solange der Kapitalismus existiert. Die IKS hat daher absolut recht, wenn sie auf die Dynamik der Klassenantagonismen, auf die Widersprüche der bürgerlichen Produktionsweise, auf das durch die kapitalistische Krise verursachte Leid des Proletariats, auf die Widerstandsfähigkeit der proletarischen Reaktion vertraut. Dinge, die zeigen, dass wir immer noch in einer Klassengesellschaft leben, deren Widersprüche nur durch die Überwindung des Kapitalismus durch das Proletariat gelöst werden können. Ich für meinen Teil kritisiere diese Positionierung keineswegs. Was ich kritisiere, ist ihre Einseitigkeit, die Unterschätzung der theoretischen Dimension des Arbeiterkampfes. Ohne den täglichen Klassenkampf gäbe es weder eine kommunistische Perspektive noch eine proletarische Klassenidentität. Ungeachtet dessen sind weder die kommunistische Perspektive noch die Klassenidentität ein DIREKTES Produkt des unmittelbaren Arbeiterkampfes. Sie sind insbesondere aufgrund ihrer theoretischen Dimension ihr indirektes Produkt. Der proletarische Klassenkampf ist keine mehr oder weniger sinnlose Revolte, er reagiert auch nicht einfach mechanisch auf die Verschlechterung seiner Lage wie die Hunde von Professor Pawlow. Die Abstraktheit der kapitalistischen Verhältnisse zwingt das Proletariat, den Umweg der Theorie zu gehen, um die Klassenherrschaft verstehen und überwinden zu können. Nicht nur die Perspektive des Kommunismus, sondern auch die proletarische Klassenidentität haben eine wesentliche theoretische Dimension, die selbst die größten wirtschaftlichen und politischen Bewegungen bis hin zum Massenstreik und einschließlich desselben erweitern, aber niemals ersetzen können. Sowohl das Schmieden einer revolutionären Perspektive als auch einer angemessenen Klassenidentität ist ohne die Waffe des Marxismus unmöglich. In den Anfängen der Arbeiterbewegung war dies weniger der Fall, weil der Kapitalismus und die bürgerliche Klasse noch nicht weit genug entwickelt waren, die proletarische Revolution noch nicht auf der „Agenda der Geschichte“ stand. Unter solch noch unausgereiften Bedingungen halfen mehr oder weniger utopische und/oder sektiererische Versionen des Sozialismus der Arbeiterklasse immer noch, ihr revolutionäres Bewusstsein und eine eigene Klassenidentität zu entwickeln. Unter den Bedingungen des dekadenten totalitären Staatskapitalismus ist dies nicht mehr möglich: Die verschiedenen nicht-marxistischen Versionen des „Antikapitalismus“ können den Kapitalismus nicht in Frage stellen, sondern bleiben in seiner Logik gefangen. Mein Beharren auf der Unverzichtbarkeit dieser theoretischen Dimension wurde von der Organisation als Ausdruck einer Geringschätzung gegenüber dem täglichen Kampf der Arbeiter missverstanden. Bedeutsamer aber war vielleicht die Kritik, die gegen mich gerichtet wurde, dass ich eine „substitutionistische“ Auffassung des Klassenkampfes verteidige. Mit „substitutionistisch“ ist hier gemeint, dass ich angeblich denke, dass die theoretische Arbeit von gerade einmal ein paar hundert LinkskommunistInnen (in einer Welt mit weit über sieben Milliarden Menschen) allein einen wesentlichen Beitrag dazu leisten könne, das Blatt zugunsten des Proletariats zu wenden. Ich denke in der Tat, dass theoretische Arbeit unerlässlich ist, um das Blatt zu wenden. Aber diese Arbeit muss nicht nur von einigen hundert LinkskommunistInnen geleistet werden, sondern von Millionen ProletarierInnen. Die theoretische Arbeit ist nicht die Aufgabe von Revolutionären allein, sondern die Aufgabe der Arbeiterklasse als Ganzes. Da der Entwicklungsprozess des Proletariats ein ungleichmäßiger ist, ist es insbesondere die Aufgabe der stärker politisierten Schichten des Proletariats, diese Aufgabe zu übernehmen; von Minderheiten also, ja, aber potenziell doch Millionen von ArbeiterInnen umfassend, die, anstatt sich (substitutionistisch) an die Stelle des Ganzen zu setzen, nach vorne drängen, um den Rest zu stimulieren. Die Revolutionäre haben die spezifische Aufgabe, diese von Millionen zu leistende Reflexion zu orientieren und zu bereichern. Diese Verantwortung von Revolutionären ist mindestens genauso wichtig wie beispielsweise die Intervention gegenüber Streikbewegungen. Die Organisation hat jedoch vielleicht vergessen, dass die proletarischen Massen in der Lage sind, sich an dieser Arbeit der theoretischen Reflexion zu beteiligen. Dieses Vergessen drückt meines Erachtens einen Vertrauensverlust in die Fähigkeit des Proletariats aus, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, in die der Kapitalismus die Menschheit gefangen hält. Dieser Vertrauensverlust äußert sich in der Ablehnung jeder Vorstellung, dass das Proletariat in den Jahrzehnten nach 1968 wichtige politische Niederlagen erlitten hat. Ohne dieses Selbstvertrauen spielen wir die Bedeutung dieser sehr schwerwiegenden politischen Rückschläge herunter und trösten uns mit den täglichen Verteidigungskämpfen als dem wichtigsten Schmelztiegel für einen Weg nach vorne – in meinen Augen ist dies ein bedeutendes Zugeständnis an eine „ökonomistische“ Herangehensweise an den Klassenkampf, wie sie bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von Lenin und Rosa Luxemburg kritisiert wurde. Das Verständnis eines „unbesiegten Proletariats“, das in den 1970er und noch in den 1980er Jahren eine richtige und sehr wichtige Erkenntnis war, ist zu einem Glaubensartikel, einem leeren Dogma geworden, zu einem Verständnis, das eine ernsthafte, wissenschaftliche Analyse der Kräfteverhältnisse verhindert. In einem Änderungsantrag zu Punkt 35, betreffend die Bewusstseinsbildung in Bezug auf die Kriegsfrage, habe ich folgenden Zusatz vorgeschlagen (vom Kongress abgelehnt): „In letzter Zeit hat sich die Lage jedoch zu ändern begonnen. Seitdem die Rivalität zwischen den USA und China zum zentralen Antagonismus (nicht umkehrbaren Widerspruch) des Weltimperialismus geworden ist, eröffnet sich die Möglichkeit, dass das Proletariat eines fernen Tages beginnt, die Unersättlichkeit des Imperialismus im Kapitalismus zu begreifen. Wenn beide Faktoren, sowohl die Wirtschaftskrise als auch der Krieg unter günstigen Umständen zu einer revolutionären Politisierung beitragen können, ist es vernünftig anzunehmen, dass die Kombination beider Faktoren noch effektiver sein kann als jeder Einzelfaktor von ihnen für sich.“ Die Änderungskommission des Kongresses schrieb zur Begründung, dass „diese Idee abgelehnt werden muss, da sie nicht berücksichtigt, dass die Bourgeoisie keinen Krieg entfesseln kann”.

Steinklopfer (Dez. 2021)

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Interne Debatte über die Weltlage