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Betrachtungen über das selbständig werdende revolutionäre Subjekt
Bei uns ist ein Diskussionsbeitrag aus Hamburg eingegangen. Dort wird - offenbar auf sehr hohem Niveau - über das revolutionäre Wesen der Arbeiterklasse debattiert. Da dieser Beitrag sehr lang ist, können wir ihn nicht in unserer Presse vollständig abdrucken. Wir veröffentlichen ihn in voller Länge auf unserer Webseite und verweisen unsere Leser darauf. Der Text ist auch nicht unbedingt leicht zu lesen. Denn er ist sehr anspruchsvoll und befasst sich mit einer sehr schwierigen Materie. Dennoch lohnt es unbedingt, sich die Mühe zu machen, sich damit zu befassen. Uns bietet der Text außerdem die Gelegenheit, auf nicht alltägliche Fragen einzugehen. Damit der Leser die Argumentationen des Textes verfolgen kann und einen Gesamteindruck von dessen hoher Qualität bekommt, zitieren wir ausgiebig daraus. Allerdings können wir aus Platzgründen auch unsere Antwort nur auszugsweise hier bringen. Unsere vollständige Besprechung des Hamburger Textes befindet sich ebenfalls auf unserer Webseite.
Das Proletariat ist nicht die Summe der Proletarier
Nachdem der Text zurecht die Bedeutung der Kritik der politischen Ökonomie und der Permanenz des Klassenkampfes unterstrichen hat, wird festgestellt: “Die Unterscheidung zwischen der Klasse an sich und der Klasse für sich ist daher zwar nützlich, jedoch vor allem künstlich. Im Alltäglichen der Klassengesellschaft ist Mensch - als Individuum und im Kollektiv - zu jeder Zeit und am jedem Ort zugleich Subjekt und Objekt.”
Was hat diese einst in einer Formulierung von Marx gemachte Unterscheidung zwischen “Klasse an sich” und “Klasse für sich” zu bedeuten? Sie wird jedenfalls oft benutzt, um zu unterscheiden zwischen einem gewerkschaftlichen und einem revolutionären Bewusstsein des Proletariats. Diese Unterscheidung, einst von Kautsky und von Lenin in seinem Buch “Was Tun?” gemacht, war schon damals, am Ende des 19. Jahrhunderts falsch. Es gibt nicht zwei verschiedene Arten proletarischen Klassenbewusstseins. Um so gefährlicher wären die Auswirkungen einer solchen Konfusion heute, wo die Gewerkschaften längst zu Instrumenten des bürgerlichen Staates geworden sind. Es würde bedeuten, dass die “niedrigere Form” des Klassenbewusstseins ein “bürgerliches Arbeiterbewusstsein” wäre und, im Umkehrschluss, dass die Gewerkschaften – obwohl nicht revolutionär - Ausdruck des Proletariats sind.
So hat der Text aus Hamburg durchaus recht, eine sehr vorsichtige Haltung gegenüber dieser Unterscheidung einzunehmen, die er als “künstlich” bezeichnet.
Wir, unsererseits, sind davon überzeugt, dass die Formulierung bei Marx sich v.a. auf die Unterscheidung zwischen dem Proletariat als Klasse und dem einzelnen Arbeiter bezieht. Letzterer tritt auf dem Arbeitsmarkt als Konkurrent auf. Mitunter, von seiner Klasse abgespalten, wie an der Wahlurne, erscheint er als Staatsbürger, scheinbar ohne Klasse. Aber wie Marx anmerkte, kommt es im Klassenkampf nicht darauf an, was der einzelne Arbeiter denkt, oder was die Summe aller Arbeiter sich denken und wünschen, sondern darauf, was das Proletariat als Klasse tun muss. Dem Text ist beizupflichten, wenn er erklärt, dass die Arbeiterklasse nicht nur im offenen Kampf existiert, sondern auch wenn sie der täglichen gesellschaftlichen Lohnarbeit nachgeht - in ihrer täglichen Solidarität lebend. Richtig ist auch, dass es neben dem offenen auch einen “versteckten” Klassenkampf gibt (man könnte dazu auch “unterirdischen” sagen).
Der Kampf gegen die Ausbeutung
“Während die Bourgeoisie auf der einen Seite den Kampf mit dem Interesse der (optimalen) Verwertung der Arbeit führt, führt ihn das Proletariat auf der anderen Seite in der Tendenz gegen die Arbeit selbst.”
Uns scheint hier der Gedanke richtig zu sein, die Formulierung aber unklar. Wogegen das Proletariat nicht zum geringsten Teil kämpft, ist gegen die Ausdehnung der Mehrarbeit. Das Besondere an der kapitalistischen Ausbeutung ist, dass die Mehrarbeit nicht mehr sichtbar wird. Während die Leibeigenen des Mittelalters entweder einen Teil des eigenen Produkts abgaben, oder zeitweise auf dem Feld des Herrn zu schuften gezwungen wurden, kann der moderne Proletarier nicht erkennen, ab wann er nicht mehr arbeitet, um das Äquivalent für die Lebensmittel, die er für sich braucht, zu erarbeiten, sondern Mehrarbeit für seine Ausbeuter leistet. Somit nimmt der proletarische Kampf gegen die Ausdehnung dieser Mehrarbeit unterschiedliche Formen an, wie den Lohnkampf und den Kampf gegen die Verlängerung des Arbeitstages oder die Intensivierung der Arbeit. Dabei richtet sich dieser Kampf jedoch nicht gegen die Arbeit als solche, sondern gegen die Ausbeutung. Es ist sogar das “Schicksal” des Proletariats im Kapitalismus, nicht nur arbeiten zu müssen, sondern auch Mehrarbeit leisten zu müssen, solange es durch das System der Lohnarbeit vom Besitz der Produktionsmittel getrennt bleibt. Die Parole des “Kampfes gegen die Arbeit” schmeißt diesen Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung in einen Topf mit dem am ehesten von Bourgeois zu realisierenden Wunschtraum, nicht mehr arbeiten zu müssen. Das Ziel des Proletariats ist nicht die Abschaffung der Arbeit, sondern die Befreiung der Arbeit von der Ausbeutung. Ansonsten verliert der Kampf gegen den Kapitalismus seine klassenspezifische Grundlage.
Der Text hat gerade recht, wenn er behauptet, dass der Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat im Kapitalismus zentral ist. “Die Daseinsweise des Kapitals ist somit auch in dieser Hinsicht notwendig die eigene Krise”.
Ebenso richtig ist der darauf folgende Satz: “Klassenkampf ist, bewusst oder unbewusst, kollektiv.” Der Text hat aber Schwierigkeiten, wenn es darum geht, diese Kollektivität einerseits, und die kapitalistische - auch den Arbeitern aufgezwungene - Konkurrenz andererseits, als Gegensätze aufzufassen. “In Zeiten, in denen die Klasse sich, bewusst oder unbewusst, im Verteilungskampf formiert, formiert sie sich zunächst als Fraktion in Konkurrenz zu anderen Fraktionen. Im Kampf um Arbeitsplatzerhaltung, also Besitzstandswahrung oder Standortpolitik, also Regionalismus oder Nationalismus usw. Für das Gesamtproletariat geht jeder dieser Kämpfe verloren und wirft die Individuen in die Vereinzelung zurück. Erst wenn sich der permanente Kampf gegen die kapitalistische Verwertung der Arbeit, vom Verteilungskampf zum Kampf gegen das Kapital als solchen umwandelt, wenn der Kampf des Proletariats sich gegen die Existenz von Klassen überhaupt richtet, also auch gegen sich selbst als Klasse, findet eine revolutionäre Aufhebung des Widerspruchs zwischen Klasse an sich und Klasse für sich statt.”
Im Gegensatz dazu sind wir der Auffassung, dass der proletarische Klassenkampf sich immer gegen das Kapital richtet (zunächst typischerweise gegen den oder die “eigenen” Kapitalisten) und nicht gegen andere Fraktionen der Arbeiterklasse - sonst ist es kein proletarischer Klassenkampf. Wenn die Arbeiter sich gegen andere Arbeiter richten, so ist das Ausdruck der Konkurrenz unter den Arbeitern. Oder die Arbeiter lassen sich mobilisieren für einen bürgerlichen Fraktionskampf, dessen dramatischste Form der imperialistische Krieg ist. Die Bourgeoisie versucht immer wieder die Arbeiter im Kampf zu spalten, sie zu einem Schulterschluss mit den eigenen Ausbeutern gegen andere Fraktionen des Kapitals zu bewegen. Gelingt dies, so haben die Arbeiter den Boden ihres eigenen Kampfes verlassen. Es gibt nicht zwei verschiedene Arten von Bewusstsein in der Arbeiterklasse. Was es aber gibt, ist das Eindringen fremder Klassenideologie in die Reihen des Proletariats.
Besser als der Ausdruck “Verteilungskämpfe” (welchen die Gewerkschaften gerne gebrauchen) erscheint uns die Formulierung “Verteidigungskämpfe”. Somit erscheint der Übergang von der Defensive zum offensiven, revolutionären Kampf zwar als ein qualitativer Schritt, nicht aber als eine klassenmäßig andersgeartete Form des Kampfes, oder “die Lösung des Widerspruchs zwischen Klasse an sich und Klasse für sich”. Auch der Verteidigungskampf richtet sich gegen die Ausbeutung. So gesehen ist der revolutionäre Ansturm der Abwehrkampf der Klasse bis zur letzten Konsequenz geführt.
Sehr richtig wird herausgestellt, dass die Entwicklung des Arbeiterkampfes von objektiven und von subjektiven Faktoren abhängt:
“Der Erfolg im Kampf für die organisierte Selbstaufhebung des Proletariats und damit das Zusammenfallen von revolutionärer Theorie und gesellschaftlicher Praxis, ist wiederum von den objektiven Bedingungen innerhalb des Kapitalismus abhängig. Dem Stand der Produktivkräfte. Und von den subjektiven Bedingungen, d.h. einerseits, von der Fähigkeit bzw. Unfähigkeit der Bourgeoisie die permanente Krise des Kapitals im Griff zu behalten, und andererseits von der Fähigkeit des Proletariats seine Kämpfe auszudehnen und zu vertiefen.” Was die objektiven Bedingungen betrifft, würden wir hinzufügen, dass die wesentliche Frage, ob die proletarische Weltrevolution bereits auf der Tagesordnung der Geschichte steht oder nicht, in erster Linie davon abhängt, ob und in wiefern die Produktionsverhältnisse bzw. die Eigentumsverhältnisse bereits die Entfaltung der Produktivkräfte fesseln.
Objektive und subjektive Faktoren
Sehr wichtig ist der Hinweis des Textes, dass die subjektiven Faktoren nicht nur den Stand des Klassenbewusstseins des Proletariats einschließen, sondern ebenso die Fähigkeit der Bourgeoisie, ihre Klassenherrschaft wirkungsvoll zu verteidigen. In Bezug auf das Proletariat fügt der Beitrag aus Hamburg hinzu: “Wobei die quantitative Entwicklung des Klassenkampfes (seine Ausdehnung) seine mögliche qualitative Entwicklung (die Vertiefung des Bewusstseins) in sich trägt. Einfach dadurch, dass durch die Ansammlung von kämpfenden Individuen zugleich eine Ansammlung von Erfahrungen und Wissen, sowie deren intersubjektiver, die Subjekte verändernder Austausch stattfindet.” Diese Unterscheidung zwischen Ausdehnung und Tiefe des Bewusstseins ist sehr wichtig. Denn erst wenn wir diese Unterscheidung vornehmen, können wir begreifen, wie das Klassenbewusstsein - insbesondere durch theoretische Arbeit - vertieft werden kann, selbst in Phasen des Rückflusses im Klassenkampf. Dass der kollektive Kampf der Massen dennoch zur Bewusstseinsentwicklung ungeheu-erlich viel beiträgt, steht außer Frage, ebenso wie der Hinweis, dass dieser Kampf die Subjekte verändert. Unglücklich finden wir aber die Formulierung, wonach dieser gemeinsame Kampf eine “Ansammlung” von kämpfenden Individuen und Erfahrungen hervorbringt, die sich dann “austauschen”. Der kollektive Kampf ist weitaus mehr als nur eine Ansammlung von dessen Bestandteilen. Er ist mehr als das. Gerade das Kollektive bringt das Wesen des Proletariats zum Ausdruck, entfesselt Kräfte und macht Einsichten möglich, von denen der Einzelne keine Ahnung hat.
Arbeiterbewegung und Bewegung der Arbeiter
“Während die revolutionäre Theorie unter der Bewegung der Arbeiter den - teils gewöhnlichen, teils spektakulären - Klassenkampf innerhalb des Kapitalismus als Verteilungskampf mit der immanenten Möglichkeit sich in einen Kampf gegen die Klassengesellschaft zu wandeln, versteht, bezeichnet die Arbeiterbewegung die aus den Klassenkämpfen hervortretende politische Bewegung. Diese beiden Elemente, die sich geschichtlich teils ergänzt, teils widersprochen haben, bilden die Grundlage der revolutionären Klassenanalyse.”
Diese Unterscheidung scheint uns durchaus legitim, sollte aber ergänzt werden. Engels spricht von drei Dimensionen des proletarischen Kampfes, wobei er der ökonomischen und der politischen Dimension eine dritte Dimension zufügt, die theoretische. Diese theoretische Dimension ist auch deshalb wichtig, weil sie deutlich macht, dass die beiden anderen Dimensionen nicht starr voneinander getrennt sind. Im 19. Jahrhundert waren die Gewerkschaften die klassischen “ökonomischen” Organisationen des Proletariats, die Arbeiterparteien seine politischen Organisationen. Jedoch wurde von beiden verlangt, “Schulen des Kommunismus” zu sein - sie sollten Orte sein, in denen theoretische Arbeit geleistet wurde. Unter den Bedingungen des dekadenten Kapitalismus werden sowohl die Gewerkschaften als auch die sozialistischen Massenparteien in den bürgerlichen Staat integriert. Die direkt im Kampf entstehenden Organe der Selbstorganisation des Proletariats - die Keimzellen der Räte - sprengen die bisherige Teilung zwischen politischem und wirtschaftlichem Kampf. Und sowohl die Massenkämpfe als auch die revolutionären Minderheiten sind an der Theoriebildung beteiligt.
Der Text übernimmt die Sichtweise von Canne-Meijer und anderen Rätekommunisten der 1930er Jahre, der zufolge die Revolutionäre “der bis dahin existierenden Arbeiterbewegung den Rücken” kehrten (der Hamburger Text), da “die bisherige organisierte Arbeiterbewegung geschichtlich ihr Ende gefunden hat. Sie kann nicht neu hergestellt werden.” (Canne-Meijer, im Hamburger Text zitiert). Was hier fehlt, ist der Hinweis, dass die ehemaligen Arbeiterorganisationen zwar als Ausdrücke des Proletariats “ihr Ende gefunden” haben, aber als Organe des Kapitals munter weiterleben. So kommt es, dass der Text den mangelnden Einfluss der Linken des Kapitals auf die Arbeiterklasse von heute bedauert. “Heute stehen wir vor der bedrückenden Tatsache, dass die einflussreichsten ideologischen Strömungen der (alten) Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratie und deren verlorene Kinder, die Leninisten, nach dem Fall der Mauer ihren Einfluss auf die Bewegung der Arbeiter immer mehr preisgeben müssen.” Sozialdemokratie, Stalinismus, Trotzkismus stellen keine überholte, gewissermaßen altmodische Arbeiterbewegung dar, sondern den linken Flügel des Kapitals.
Gegen Ende schreibt der Beitrag aus Hamburg: “Es wird deutlich, dass die Bewegung der Arbeiter, die politische Arbeiterbewegung und die revolutionären Minderheiten (als Träger der revolutionären Theorie) stets in einer widersprüchlichen Abhängigkeit zueinander existieren, und dass sie nur in bestimmten, revolutionären Situationen eine Einheit bilden können.”
Wir aber meinen, dass es im niedergehenden Kapitalismus zwar weiterhin drei Dimensionen des proletarischen Kampfes gibt (wirtschaftlich, politisch, theoretisch), aber nicht mehr die herkömmliche Dreiteilung zwischen der Bewegung der Arbeiter, der Arbeiterbewegung und den revolutionären Minderheiten. Sondern es gibt die revolutionären Massenorganisationen der gesamten Klasse, die direkt im Kampf entstehen, sowie die politischen Organisationen der revolutionären Minderheiten. Und jeder Versuch, permanente Massenorganisationen der Klasse zu gründen außer in revolutionären Zeiten oder wiederzubeleben, kann nur dazu führen, das Waffenarsenal des Staates gegen das Proletariat zu stärken. (10.03.06)