Streiks im öffentlichen Dienst Die gewerkschaftliche Strategie: Jeder für sich statt Solidarität

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Die Massenkämpfe der Studenten, Schüler und eines Teils der beschäftigten Arbeiter in Frankreich gegen eine gesetzliche "Lockerung" des Kündigungsschutzes haben die soziale Lage in Deutschland wie auch weltweit zunächst unauffällig und dennoch spürbar geändert.

Nachdem die internationalen Medien sich zunächst wochenlang gegenüber diesen Kämpfen in Schweigen gehüllt hatten, gingen sie Ende März/Anfang April - als das schiere Ausmaß der Auseinandersetzung immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zog - dazu über, das Bild der Bewegung sowie die daraus zu ziehenden Lehren zu verzerren. So wurde eine mittels selbstständiger Vollversammlungen bewusste und durchorganisierte Massenbewegung als eine blinde Gewaltentladung hingestellt oder dem Verdienst der Gewerkschaften zugeschrieben. Was aber dennoch ins Ausland und auch über den Rhein gelang, war die Nachricht, dass es zum ersten Mal seit vielen Jahren einer "Bewegung von unten" gelungen war, einen Angriff gegen die Arbeiterklasse zumindest teilweise abzuwenden.

Diese Nachricht ließ vielerorts aufhorchen. Beispielsweise fanden in fast allen deutschen Großstädten - vornehmlich, aber nicht nur in den Universitäten - Diskussionsveranstaltungen statt, wo Augenzeugen aus Frankreich über die Kämpfe dort berichteten. Dort diskutierte ein vorwiegend - aber nicht ausschließlich - sehr junges Publikum über die Lehren aus dem Nachbarland, welches gegenüber den großen Fragen des Klassenkampfes schon so oft der Welt den Weg gewiesen hat. An der Uni Köln besetzten  französische Fahnen schwenkende Studenten vorübergehend das Rektorat, um gegen die Einführung von Studiengebühren zu protestieren. In mehreren nordrhein-westfälischen Großstädten wandten sich Delegationen der Studenten an die Streikenden des öffentlichen Dienstes, um ein gemeinsames Vorgehen anzuregen. Diese Initiativen verliefen zumeist im Sande, da man in der Regel nur auf eine Handvoll Ver.di-Funktionäre stieß. In Hamburg allerdings gelang es mehreren tausend Studenten im Anschluss an eine große Diskussionsrunde über Frankreich, gemeinsam mit den streikenden Müllwerkern eine spontane Demonstration durch die Innenstadt durchzuführen.

Die Gewerkschaften spalten die Arbeiterklasse

Angesichts dieser ersten Anstrengungen, Lehren aus Frankreich zu ziehen und den überall aufkeimenden Gedanken der Solidarität zu pflegen, ist die herrschende Klasse in Deutschland bemüht, der Arbeiterklasse das Gefühl von Ohnmacht und Zerstrittenheit zu vermitteln. Zu diesem Zweck wird derzeit die Lage im Öffentlichen Dienst und in den Krankenhäusern ausgeschlachtet. Im Öffentlichen Dienst der Länder hat die Gewerkschaft Ver.di soeben einen Tarifabschluss vereinbart, welcher eine Arbeitszeitverlängerung von 38,5 auf durchschnittlich knapp unter 40 Wochenstunden bei empfindlichen Reallohneinbußen festschreibt. Die Ohnmacht, welche die Betroffenen angesichts dieser Niederlage spüren, ist das Ergebnis des juristischen und gewerkschaftlichen Rahmens, welchen der kapitalistische Staat dem Klassenkampf aufzuzwingen versucht. Die Tarifparteien haben durch das Aufspalten der Tarifverhandlung zwischen Bund, Länder und Gemeinden dafür gesorgt, dass die einzelnen Teile der Staatsbeschäftigten getrennt voneinander in den Streik treten müssen. Umgekehrt aber kann ein Abschluss in nur einem dieser Sektoren auf den gesamten öffentlichen Dienst übertragen werden! Außerdem haben zigfache, von den Gewerkschaften emsig mit durchgesetzte Privatisierungen zusätzlich für die Isolation der Streikenden bzw. für das Aufspalten der Beschäftigten der Ämter und bei anderen "Dienstleistern" gesorgt. Der Gipfel dieser Spaltung der Arbeiterklasse wurde dann in den Krankenhäusern erreicht, wo die Streiks der Klinikärzte und des restlichen Personals völlig getrennt voneinander geführt wurden. Dabei kannte das gegenseitige Aufhetzen der Betroffenen durch die Gewerkschaften keine Grenzen. Während z.B. die Länder den Klinikärzten ein "Lohnangebot" von 1,1% unterbreiteten, log das gemeinsame Streikblatt von Ver.di, GEW und der Gewerkschaft der Polizei wie folgt: "Der Marburger Bund fordert für die Ärztinnen und Ärzte 30 Prozent höhere Einkommen. Eine absurde Forderung aus Sicht der Tarifgemeinschaft der Länder, sollte man meinen, wenn man das Verhalten der Arbeitgeber gegenüber allen übrigen Beschäftigten der Kliniken bedenkt. Aber weit gefehlt. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder hat dem Marburger Bund Einkommenssteigerungen von bis zu 45 Prozent in Aussicht gestellt(...) Die provozierende Missachtung gegenüber dem nichtärztlichen Klinikpersonal lässt nur einen Schluss zu: Für die Ärzte hui, für alle anderen Beschäftigten pfui!

Deswegen: Der Streik geht weiter. Wir lassen uns das nicht gefallen."

Tatsächlich bedeutet das in der Wirklichkeit: Der Streik soll sich nicht gegen die Kapitalseite richten, sondern gegen die Klinikärzte!

Aus solchen Gegebenheiten wird dann oft geschlossen, dass im Gegensatz zu Frankreich anderswo, v.a. aber in Deutschland, nicht die Solidarität, sondern das Jeder-für-sich in den Reihen der Arbeiterklasse vorherrscht. So argumentiert auch der in Frankreich lebende deutsche Linksintellektuelle Bernhard Schmid, der in Konkret einen Artikel unter dem Titel veröffentlichte: "Untertanen: Warum (erfolgreiche) Massenproteste à la France in Deutschland undenkbar sind." Schmid - der neulich interessante Informationsveranstaltungen über Frankreich abgehalten hat - scheint weniger gut über die Lage in Deutschland unterrichtet zu sein. Denn er schreibt allen Ernstes, dass zuletzt "sogar in der Spießerhochburg Stuttgart" gestreikt wurde, ohne zu wissen, dass Stuttgart die Hochburg des Arbeiterkampfes in Deutschland in den letzten Jahren war und dass gerade dort, bei Mercedes in Stuttgart (und Bremen), schon vor Frankreich, im Frühsommer 2004, die Frage der Arbeitersolidarität gegenüber Entlassungen aufgeworfen wurde, welche seitdem international im Mittelpunkt der proletarischen Bewegungen steht. Auch weiß er in seinen geschichtlichen Betrachtungen in Konkret nichts darüber zu berichten, dass es die Massenstreiks und Massendemonstrationen in Deutschland waren, welche 1918 die Beendigung des Ersten Weltkriegs erzwangen.

Der Eindruck täuscht, dass die Lage in Deutschland grundsätzlich eine andere sei als in Frankreich. Auch westlich des Rheins spalten und sabotieren die Gewerkschaften die Arbeiterkämpfe. Dort ist die Abwehr gegen die kapitalistischen Angriffe erst dann ein machtvoller Faktor geworden, als die Betroffenen ihre eigenen Forderungen aufgestellt, ihren Kampf eigenständig organisiert und sich selbstständig an andere Teile der Klasse gewandt haben.

Wie sehr auch in Deutschland unter dem Deckel der gewerkschaftlichen Spaltung und der staatlichen Reglementierung der Solidaritätsgedanke in den Reihen der Arbeiter aufzukeimen beginnt, zeigte eine kleine Begebenheit. Als der DGB von Nordrhein-Westfalen aus "Solidarität mit Ver.di" auf der Deutzer Werft in Köln zu einer Demo aufrief, kamen nur wenige. Außer den Gewerkschaftsfunktionären waren überwiegend Arbeiterinnen und Arbeiter anwesend, welche noch besonders stark unter gewerkschaftlichem Einfluss stehen. Als sich aber ein Teilnehmer der Kundgebung so sehr über die Hetzreden gegen die Klinikärzte empörte, dass er die Rede von Ver.di-Chef Bsirske wütend unterbrach und sich für einen gemeinsamen Kampf mit den Klinikärzten einsetzte, fand er auch in diesen Reihen sofort lebhafte Zustimmung.

Wir stehen erst am Anfang einer internationalen Entwicklung des Klassenkampfes. Dennoch brodelt es fortwährend an vielen Ecken und Enden. Zurzeit dauern die Streiks der Klinikärzte an. Anfang Juni werden in Berlin Tausende gegen Sozialabbau auf die Straße gehen. An vielen Hochschulen wächst die Unzufriedenheit. Betriebe wie CNH (ehemals: Ohrenstein & Koppel) in Berlin kämpfen seit 100 Tagen gegen die Betriebsschließung. Bei Volkswagen schwebt das Damoklesschwert der Massenentlassungen und des Lohnraubs über den Häuptern der Beschäftigten. Die Lehren aus Frankreich zu ziehen heißt nicht, die dortige Bewegung zu kopieren, sondern die Klassenprinzipien, die dort Anwendung fanden, auch hier anzuwenden. Das bedeutet vor allem, diese Bewegungen miteinander in direkte Verbindung zu bringen, gemeinsame Forderungen aufzustellen, gemeinsam zu kämpfen. Und dies alles macht erforderlich, dass man das Schicksal in die eigenen Händen nimmt.   26.05.06